Der Schoppenfetzer und die Satansrebe

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„Na, Erich“, begrüßte Ron Schneider seinen Stammtischbruder, „hat Hollywood schon angerufen?“ Die anderen lachten.

Rottmann zog eine Grimasse und ließ sich am Tisch nieder. „Ich kann euch sagen, da löse ich lieber den kniffligsten Kriminalfall, als mich hier zum Affen zu machen“, grantelte er und legte sein Fresspaket auf den Tisch. Anni reichte ihm Besteck und einen Teller. Rottmann bediente sich aus einer offenen Weinflasche auf dem Tisch. Der Wirt hatte zur Feier des Tages den Wein spendiert.

Öchsle ließ sich unter Rottmanns Platz nieder. Der schmeichelnde Duft des Leberkäses drang durch die Umhüllung der Alufolie und kitzelte seine Geschmacksnerven. Aus seinem Maul tropfte Speichel auf den Boden.

Rottmann erlöste seinen vierbeinigen Freund von seinen Qualen, indem er ihm einen Brocken Leberkäs hinunterreichte. Dann begann er selbst mit großem Appetit zu essen. Die Vorstellung, hier am Stammtisch an einem vergifteten Schoppen zu sterben, wie es das Drehbuch für „Dr. Schlegelmilch“ vorsah, war für den Schoppenfetzer ein grausiger Gedanke.

Rottmann wurde sehr schnell in die Realität zurückgeholt, als einer der Filmmenschen durch die Schiebetür hereinblickte und rief: „Meine Herren, bitte kommen Sie. Wir müssen eine Beleuchtungsprobe durchführen.“

Schnell schluckte Rottmann den letzten Bissen hinunter und spülte mit einem reichlichen Schluck Silvaner nach. Man konnte nicht einmal in Ruhe essen. Die Stammtischbrüder erhoben sich polternd von ihren Stühlen und eilten zum Set.

Es war Neumond und trotz eines heftigen Gewitterschauers noch schwülwarm. Die Straßenlaternen des unteren Teils der Trautenauer Straße hatten Mühe, mit ihrem Licht das dichte Laub der Alleebäume zu durchdringen.

Der schwarze Geländewagen einer deutschen Nobelmarke parkte schon seit fast zwei Stunden auf der rechten Straßenseite oberhalb des Grünewald-Gymnasiums vor dem Gittertor eines unbebauten Grundstücks. In der Dunkelheit fiel das schwarze Fahrzeug kaum auf. Das Kennzeichen war sehr verschmutzt und unleserlich. Von dieser Stelle aus hatte der dunkel gekleidete Fahrer gute Sicht auf das knapp hundert Meter entfernt gelegene Anwesen auf der anderen Straßenseite. Jetzt, kurz vor Mitternacht, war die Straße kaum befahren. Auf dem Beifahrersitz lag ein kleines Fernglas, dessen zehnfache Vergrößerung dem Mann die Vorderseite und den Vorgarten des Hauses erschloss. Alle Fenster des Hauses waren finster. Der Bewohner, der, wie der Beobachter wusste, dort allein lebte, war noch nicht nach Hause gekommen. Nach seinen Recherchen befand er sich auf einer Feier. Dennoch war der Mann, der sich zum Rächer berufen fühlte, extrem vorsichtig. Ein einziger Fehler, eine unüberlegte Handlung und sein ganzer Plan würde scheitern.

Der Mann warf einen Blick auf die handliche Sporttasche aus dunkelblauem Stoff, die auf dem Beifahrersitz lag. Sie enthielt alles, was er für sein Vorhaben benötigte. Er legte seine rechte Hand auf den festen Stoff. Als er eine leichte Bewegung im Innern spürte, huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. Mit einem Handgriff langte er in seine Jackentasche und holte ein paar kräftige Gummihandschuhe heraus, die er sich überstreifte. Der Rächer prüfte nochmals eingehend, ob er allein auf der Straße sein würde. Dann nahm er die Tasche, öffnete die Fahrertür und stieg aus. Um das bestätigende Intervallleuchten der Blinker zu unterbinden, schloss er die Wagentür nicht mit der Fernbedienung, sondern mit dem Schlüssel ab. Dann überquerte er zügig die Fahrbahn und näherte sich dem Anwesen. Das Haus war von einer mannshohen Hecke umgeben. Der nächtliche Besucher drückte die Klinke des Gartentors herunter und trat ein. Sofort wurde er vom Schatten der hochwüchsigen Büsche aufgenommen, die den zum Hauseingang führenden Plattenweg begleiteten. An der Haustür blieb er kurz stehen und lauschte. Das Geräusch, das seine Aufmerksamkeit erregt hatte, war das kurze verschlafene Zwitschern eines Vogels, dessen Nachtschlaf er gestört haben mochte. Dann trat wieder Ruhe ein. Ein Namensschild am Türrahmen bestätigte ihm, dass er an der richtigen Adresse war.

Durch seine Recherchen wusste der Rächer, dass das Haus keine Alarmanlage besaß. Auch ein Hund, der seinen Plan hätte durchkreuzen können, war nicht vorhanden. Er griff in die Seitentasche und holte einen kleinen Gegenstand heraus, führte die zwei Stifte, die an dem Kästchen hervorragten, in das Türschloss ein und betätigte einen Schalter. Ein leises, hektisches Schnarren ertönte, dann wechselte eine Leuchtdiode auf der Oberseite des Geräts von Rot auf Grün. Mit einem kaum hörbaren Knacken ging das Schloss auf und die Tür schwang nach innen. Angespannt starrte er in den schwarzen Hausflur. Fast eine Minute lang blieb er regungslos stehen und lauschte. Beiläufig nahm er den Geruch des Hauses in sich auf: eine Mischung aus abgestandener Luft und dem Hauch eines herben Herrendufts. Schließlich trat er ein und schloss die Tür lautlos hinter sich. Im Schein seiner schwach leuchtenden Taschenlampe erkundete er den Flur. Auf der rechten Seite führte eine Steintreppe in das obere Stockwerk, gegenüber befand sich eine schmale Tür, auf der eine Comicfigur darauf hinwies, dass sich dort die Toilette befand. Danach kam die Garderobe. Gegenüber dem Hauseingang führte eine weitere Tür in die Wohnräume.

Die weichen, profillosen Sohlen seiner Sportschuhe verursachten auf dem Nadelfilz des Flures keinerlei Geräusche, als er durch die Tür trat. Wieder blieb er stehen und lauschte. Lediglich das Ticken einer Uhr unterbrach die Stille. Urplötzlich empfand der Rächer ein starkes Gefühl der Macht: Macht über dieses Haus und damit auch über seinen Bewohner. Gemächlich nahm er die Räumlichkeiten des Untergeschosses in Augenschein: Küche, Wohnzimmer, Esszimmer, daran angeschlossen eine großflächige Veranda an der Hinterseite des Hauses. Die Wohnung war ordentlich, fast pedantisch aufgeräumt. Der Lichtstrahl der kleinen Lampe fiel auf Plastiken und Bilder. Der Rächer verstand zwar nicht allzu viel davon, aber dass sie wertvoll waren, davon war er überzeugt. Er wusste, dass der Eigentümer Kunstsammler war und sich dieses Hobby auch leisten konnte. Der Mann zuckte mit den Schultern. Er war nicht hier, um sich zu bereichern. Sein Ziel war ein anderes. Ohne etwas berührt zu haben, verließ er den unteren Bereich der Wohnung, schloss die Tür hinter sich und betrat die Treppe zum oberen Stockwerk.

Hier befanden sich zwei Schlafräume und eine Bibliothek, die wohl auch als Arbeitszimmer diente. In den Regalen der Bibliothek standen Bücher über viele Meter. Auf einem massiven Eichenschreibtisch lag ein geschlossener Laptop. Zwischen den beiden Schlafräumen, von denen der kleinere offenbar als Gästezimmer genutzt wurde, befand sich ein Bad, zu dem vom größeren Schlafraum aus eine Verbindungstür führte. Durch eine weitere Tür gelangte man in einen geräumigen begehbaren Kleiderschrank. Auf der einen Seite befanden sich, farblich sortiert, Anzüge und in einem Regal gebügelte Hemden. Gegenüber in einem weiteren Regal standen zahlreiche Schuhe.

Der Rächer ging zurück in den Schlafraum und blickte eine Zeit lang auf das großflächige Doppelbett, das ebenfalls korrekt gerichtet war. Nach wenigen Minuten stand sein Plan fest. Er betrat wieder den begehbaren Kleiderschrank und setzte sich auf einen kleinen Hocker. Aus der Tasche zog er einen Elektroschocker und legte ihn neben sich. Die Tür zum Schlafraum ließ er angelehnt, so dass er Geräusche aus dem Haus gut hören konnte. Der Rächer war bereit.

Rechtsanwalt Theodor Friedrich Seibold liebte Gesellschaft, besonders die von deutlich jüngeren Damen. Das gab ihm das Gefühl, ebenfalls jung zu sein und dem Alter trotzen zu können. Als er die Einladung zur Promotionsfeier der Tochter eines Kollegen erhalten hatte, hatte er mit Freude zugesagt, weil er sich sicher war, dort jede Menge ansprechende Weiblichkeit anzutreffen. Seibold sah man seine zweiundsechzig Jahre definitiv nicht an. Mit seinen Einmeterfünfundachtzig und der schlanken sportlichen Figur ging er locker als zehn Jahre jünger durch. Dazu kam, dass er sich in seiner Freizeit betont jugendlich kleidete. Seinen immer noch vollen Haaren half er mit etwas Tönung auf die Sprünge, damit das Dunkelblond durch keine graue Strähne beleidigt wurde. Allenfalls an den Schläfen gestattete er sich ein paar silbrige Fäden.

Die Promotionsfeier fand im Haus einer Würzburger Studentenverbindung in der Rottendorfer Straße statt. So ungefähr bis Mitternacht lief die Feier einigermaßen geordnet ab, da aber der Alkohol reichlich floss, wurden die Gäste immer ausgelassener. Die Musik dröhnte aus den geöffneten Fenstern und beschallte die Straße.

Seibold hatte einem ausgesprochen fruchtigen Riesling reichlich zugesprochen und dazwischen einige Cocktails geleert. Nachdem er sich in der letzten Stunde ausgiebig einer Jurastudentin im letzten Semester gewidmet hatte, musste er, als er von einem Toilettenbesuch zurückkam, feststellen, dass die junge Dame verschwunden war. Als irgendwann später zwei Polizeibeamte im Saal standen und nicht unfreundlich, aber sehr nachdrücklich auf einer Reduzierung des Lärms bestanden, beschloss Seibold, die Feier zu verlassen. Er kannte die Signale seines Körpers und wusste, wann er genug hatte.

Seibold verabschiedete sich von der ebenfalls betrunkenen Gastgeberin, dann trat er in die Dunkelheit hinaus. Die nächtliche Brise kühlte sein erhitztes Gesicht.

Von der Studentenverbindung bis zu seinem Haus war es ein Fußweg von fünfzehn Minuten. Zügig marschierte er die Straße hinauf. Jetzt, an der frischen Luft, bekam er die Wirkung des Alkohols heftig zu spüren. Ihm fiel auf, dass der Asphalt des Gehsteigs hier sonderbarerweise erhebliche Wellen schlug, denen auszuweichen ihm nur durch gekonntes Gegensteuern gelang.

 

Am Letzten Hieb – eine Ortsbezeichnung aus Würzburgs mittelalterlicher Vergangenheit, als verurteilte Menschen hier vorbei zum wenig entfernten Galgenberg zur Hinrichtung geführt wurden – blieb er erneut kurz stehen und atmete durch, dann marschierte er die Wittelsbacher Straße hinunter. Es bedurfte seiner ganzen Konzentration, da hier der Gehsteig plötzlich eine spürbare Schräglage bekam.

Er kicherte leise vor sich hin. Eigentlich hatte er in Bezug auf Alkohol ganz gute Nehmerqualitäten, aber diesmal war er offensichtlich am Limit angelangt. Kurz dachte er an seine gutaussehende Gesprächspartnerin der letzten Stunde. Vor zwanzig Jahren wäre sie ihm sicher nicht entwischt. Er machte eine wegwischende Handbewegung, die so heftig ausfiel, dass er Mühe hatte, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Es wurde wirklich höchste Zeit, dass er ins Bett kam.

Als er die Haustür hinter sich schließen wollte, rutschte sie ihm aus der Hand und knallte mit einem lauten Schlag ins Schloss. Er schaltete das Licht an und hängte seinen Hausschlüssel an den Haken. Vielmehr wollte er das, da er ihn aber verfehlte, flog der Schlüsselbund klappernd auf den Boden. Er vollführte eine gleichgültige Handbewegung, dann stieg er die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Jetzt war er wirklich platt. Schnurstracks ging er ins Bad und begann sich auszuziehen. Leise vor sich hin brabbelnd, zog er sich bis auf die Boxershorts aus und griff nach der Zahnbürste. Er hatte einen üblen Geschmack im Mund. Als er mit den abendlichen Verrichtungen fertig war, löschte er das Licht im Bad und betrat sein Schlafzimmer. Mit einem vernehmlichen Grunzen ließ er sich quer auf sein Bett fallen, das sofort die Eigenschaften eines Karussells annahm und in jede Richtung schwankte.

Der Schmerz kam überraschend und gewaltig. Sein heiserer Schrei erstarb, denn er bekam keine Luft mehr, dann schwanden ihm schlagartig die Sinne.

Der Rächer steckte den Elektroschocker an den Gürtel. Jetzt musste er sich beeilen, denn die Lähmung würde nicht allzu lange anhalten. Er nahm eine fertig aufgezogene Spritze aus seiner Sporttasche und eilte zu Seibold. Mit einem schnellen Handgriff schob er dessen Boxershorts in die Höhe und musterte das Gesäß. Schließlich trieb er die Spitze der Nadel im unteren Bereich des linken Gesäßmuskels in einen Leberfleck. Langsam drückte der Rächer das Narkotikum in das Gewebe, dann zog er die Spritze wieder heraus und trat einen Schritt zurück. Der Einstich war praktisch nicht zu sehen. Das Betäubungsmittel wirkte schnell. Als er sicher war, dass Seibold nicht mehr aufwachen würde, beugte er sich über ihn und drehte ihn auf den Rücken. Einige Zeit lang betrachtete er den so daliegenden Mann mit zusammengekniffenen Augen. Seibold bewegte sich nicht, aber an seinem sich leicht bewegenden Brustkorb konnte er sehen, dass er gleichmäßig atmete.

Jetzt war der große Augenblick gekommen. Die Stunde des Vollstreckers hatte geschlagen. Der Rächer bückte sich und zog vorsichtig einen Stoffbeutel aus der Sporttasche. Als er ihn hochhob, waren darin deutliche Bewegungen zu erkennen.

Nach dem Verlassen von Seibolds Haus fuhr der Rächer nach Hause. Er befand sich in einem heftigen Erregungszustand. Es war ein bisher nie gekanntes Gefühl von Macht und Überlegenheit, das ihn erfüllte.

Nachdem er den Vollstrecker versorgt hatte, ging er ins Wohnzimmer und goss sich einen doppelten Whisky ein. Dann öffnete er in einem Schrank zwei kleine Flügeltüren aus Metall, welche die Stärke eines Tresors hatten und durch eine Zahlenkombination geschützt waren. Als er sie auseinanderzog, ging im Innern ein gelbliches Licht an und beleuchtete eine Steintafel von etwa zwanzig Zentimetern Höhe und fünfzehn Zentimetern Breite.

Der Rächer setzte sich dem Schrein gegenüber in einen Sessel, nippte an seinem Whisky und versank in der Betrachtung der Tafel und der reliefartigen Darstellung, die aus ihrer Fläche herausgearbeitet war. Trotz ihrer Schlichtheit war deutlich zu erkennen, was der Künstler hatte ausdrücken wollen. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich. Er spürte die starken Schwingungen, die von dem Stein magisch auf ihn einwirkten. Sie ergriffen Besitz von seiner Persönlichkeit und weckten sein tief verborgenes zweites Ich. Der Rächer begann ihn immer stärker zu beherrschen. Bereitwillig gab er sich den Gewaltfantasien hin, die ihn wie eine Woge überschwemmten. Es war reiner Hass, der wie ein Seeungeheuer an die Meeresoberfläche kam, um zu rauben und zu zerstören. Ihm wurde gar nicht bewusst, wie er am ganzen Körper zitterte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Irgendwann ließ dieser Zustand nach und der Rächer kehrte langsam in die Wirklichkeit zurück. Wie nach jedem dieser Anfälle verspürte er so starke Kopfschmerzen, als würde ihm jeden Moment der Schädel platzen.

„Dein Vermächtnis wird erfüllt werden, Meister“, murmelte er leise vor sich hin. Nach dem zweiten Whisky wurde er ruhiger. Der Kopfschmerz allerdings blieb.

Wenig später erhob er sich, schloss den Schrein und begab sich ins Bad. Dort nahm er eine starke Kopfschmerztablette und stellte sich unter die Dusche. Draußen begann es bereits zu dämmern. Der Mann ging ins Schlafzimmer und stellte den Wecker, denn er wollte rechtzeitig vor Ort sein. Dann legte er sich hin. Nur eine Minute später war er eingeschlafen. Sein Schlaf wurde von quälenden Träumen begleitet.

Ein neuer Tag

Erich Rottmann war an diesem Morgen ausgesprochen gut gelaunt. Endlich waren die für ihn lästigen Dreharbeiten im Maulaffenbäck beendet. Höchste Zeit, dass er mit Öchsle an die frische Luft kam. „Auf geht’s, du fauler Stinker“, forderte der Exkommissar seinen vierbeinigen Freund temperamentvoll auf, der sofort freudig erregt zur Wohnungstür rannte. Rottmann war froh, dass am Abend wieder ein ganz normaler Stammtisch stattfand, ohne die Störung durch einen nervigen Regisseur. Rottmann fiel ein, dass sich ein neues Stammtischmitglied, ein gewisser Theodor Friedrich Seibold, ehemaliger Rechtsanwalt für Strafrecht, zum Stammtisch gesellen würde. Die Schoppenfetzer waren bestimmt kein abgehobener, elitärer Club, der spezielle Aufnahmerituale hatte. Im Prinzip konnte jeder im Ruhestand befindliche Kriminalist oder Jurist am runden Tisch platznehmen. Allerdings legten die Stammtischbrüder schon Wert darauf, dass ein Neuer auch zu ihnen passte. Bei Theodor Seibold sollte dies allerdings kein Problem sein. Es handelte sich bei ihm um einen erfahrenen Strafjuristen, der in jungen Jahren in einer großen Frankfurter Kanzlei gearbeitet und sich später in einer Sozietät in Würzburg niedergelassen hatte. Die Empfehlung war von Ron Schneider gekommen. Da musste es eigentlich passen.

Als der Rächer sich um acht Uhr erhob, fühlte er sich wenig erholt. Zum Frühstück gab es nur eine starke Tasse Kaffee. Dann packte er seinen Rucksack mit einigen Fruchtriegeln und Getränken und verließ das Haus. Als er die Trautenauer Straße wieder erreicht hatte, parkte er ein Stück unterhalb der Stelle, an der er in der Nacht gestanden hatte. Von hier aus konnte er den Eingang von Seibolds Grundstück mit dem Fernglas überwachen. Der Rächer war sich nicht sicher, wann sein Opfer wieder erwachen würde, da er nicht wusste, wie lange das Betäubungsmittel vorhielt, das er ihm gespritzt hatte. Er öffnete das Fenster und ließ frische Luft herein. Er musste aufpassen, dass er nicht im Wagen einschlief. Sein Schlafmangel machte sich langsam bemerkbar, er wollte sich aber der Früchte seiner nächtlichen Aktion auf keinen Fall berauben lassen. Um die Mittagszeit nahm er eine Kleinigkeit zu sich. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Als der Nachmittag fortschritt, machte sich der Rächer langsam Gedanken. Vielleicht hatte sein Opfer die Wirkung des Elektroschocks und der Betäubungsspritze nicht vertragen. Womöglich lag Seibold tot in der Wohnung. Darüber wäre der Rächer sehr enttäuscht gewesen. Bestandteil seiner Racheaktion war, dass das Opfer leiden musste und er dieses Leid sehen konnte.

Es war kurz nach siebzehn Uhr, als plötzlich die Haustür aufging, Seibold heraustrat und sich in Richtung Innenstadt bewegte. Der Rächer beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Über sein Gesicht glitt ein freudloses Lächeln. Lange würden die ersten Anzeichen sicher nicht mehr auf sich warten lassen. Er folgte seinem Opfer in einigem Abstand. Wenn es losging, wollte er dabei sein.

Es war fast achtzehn Uhr, als sich Rottmann dem Maulaffenbäck näherte. Schon von draußen vernahm er das typische Stimmengemurmel. Die Weinstube war wieder einmal gerammelt voll. Wahrscheinlich lag dies nicht zuletzt daran, dass der Bericht von den Filmaufnahmen im Maulaffenbäck in der Zeitung gestanden hatte und auch dem Regionalfernsehen einen Beitrag wert gewesen war. Das lockte Neugierige an.

Mit dem gewohnten Einkehrschwenk betrat Rottmann die Weinstube. Das draußen noch dezent wirkende Stimmengemurmel entwickelte sich drinnen zu einem lauten Gesprächswirrwarr.

Anni, die Bedienung, huschte mit rotem Kopf zwischen den Tischen hin und her und hatte für ihren Stammgast nur ein kurzes Nicken übrig.

Rottmann wusste jedoch, dass sie ihm umgehend seinen üblichen Silvanerschoppen bringen würde.

Am runden Tisch saßen bereits einige Stammtischbrüder und begrüßten Rottmann freundlich. Öchsle strebte zügig zu seinem Stammplatz unter der Bank. Rottmann ließ sich auf seinen Platz plumpsen. Zur Begrüßung klopfte er auf den Tisch.

„Na, Erich, heute mal ungeschminkt?“, stichelte Xaver Marschmann.

„Ja, ich habe auch den Eindruck, dass unser Hauptdarsteller heute etwas blässlich aussieht.“ Ron Schneider ließ keine Gelegenheit aus, wenn er einen Schoppenfetzer aufziehen konnte.

Rottmann blieb ihm nichts schuldig: „Nur kein Neid, Jungs, nur kein Neid. Bei euch würde ja nicht einmal mehr eine Schönheitsoperation was retten. Also bleibt gelassen.“

Dr. Horst Ritter, ehemaliger Leiter der Würzburger Staatsanwaltschaft, hatte das Begrüßungsgeplänkel abgewartet, jetzt meinte er: „Heute kommt ja der Neue. Ron hat ihn vorsorglich eine Viertelstunde später bestellt, damit wir dann auch wirklich alle beisammen sind. Ich denke, es ist sinnvoll, dass wir uns alle ein Bild von ihm machen.“ Zustimmendes Gemurmel in der Runde.

Rottmann, dem Anni bereits seinen Silvanerschoppen serviert hatte, nahm einen kräftigen Schluck und ließ den Wein mit seinen Geschmacksknospen spielen.

In diesem Augenblick ging die Tür der Weinstube auf und ein hochgewachsener, schlanker Mann trat ein. Ron Schneiders Mimik war zu entnehmen, dass es sich bei dem neuen Gast um den Erwarteten handelte. Schneider erhob sich auch gleich und ging Seibold einige Schritte entgegen. Er schüttelte ihm die Hand, dann wandte er sich seinen Stammtischbrüdern zu: „Freunde, das ist Theodor Friedrich Seibold, Rechtsanwalt, wie ich euch bereits gesagt habe, und seit einem Vierteljahr im Ruhestand.“

Rottmann musterte den Neuankömmling mit dem geübten Blick des Kriminalisten und verschaffte sich einen ersten Eindruck. Er kannte ihn nicht, weil Seibold während seiner aktiven Zeit als Kommissar noch nicht in Würzburg war. Aber so wie es aussah, war der Typ nicht unsympathisch. Was Rottmann jedoch sofort auffiel, war Seibolds ausgesprochen blasser Teint. Er lächelte zwar in die Runde, aber irgendwie hatte dies etwas Gezwungenes. Erich Rottmann glaubte zu spüren, dass es dem Mann in diesem Moment nicht sonderlich gutging.

Während Seibold jedem Schoppenfetzer die Hand schüttelte, registrierte der Exkriminalbeamte, dass der neue Gast eine feuchte Handfläche hatte. Rottmann wunderte sich. Dass ein Mann dieses Formats, der als Anwalt unzählige Male stressigen Situationen ausgesetzt gewesen war, bei der Begegnung mit den Schoppenfetzern nervös wurde, konnte er fast nicht glauben.

Nachdem sich Seibold auf einem freien Stuhl niedergelassen hatte, erklärte er: „Es freut mich sehr, dass ich hier in dieser Runde platznehmen darf. Ron hat mir erzählt, dass sich hier alle duzen. Mich nennen meine Freunde Theo. Ich darf euch doch alle zum Einstand zu einer Runde Schoppen einladen?“

Die allgemeine Zustimmung war ihm sicher. Damit war das Eis gebrochen und das Begrüßungsritual abgeschlossen. Anni kam gleich herbei, um die Schoppenfetzer nach ihren Wünschen zu fragen. Als der Neue einen trockenen Silvaner bestellte, stellte Rottmann fest, dass der Mann, zumindest was seinen Weingeschmack betraf, ausgezeichnet in die Runde passte.

Die Aufmerksamkeit der Schoppenfetzer wandte sich langsam wieder dem zurzeit aktuellen Thema in Würzburg zu: dem Film. Selbstverständlich wurde Seibold sofort in das Gespräch miteinbezogen. Dennoch beschränkte er sich in erster Linie auf die Rolle des Zuhörers. Rottmanns erster Eindruck, dass sich der Mann unwohl fühlte, erhärtete sich. Hin und wieder, wenn er sich unbeobachtet fühlte, drückte er seine Hand gegen den Bauch. Als wenn Seibold Rottmanns Gedanken gelesen hätte, erklärte er später, dass er am Vorabend auf einer Party gewesen sei und einiges an Alkohol konsumiert habe. „Ich bin heute total gerädert“, schloss er seine Erklärung und lächelte um Verständnis bittend in die Runde.

 

„Man ist halt nicht mehr ganz der Jüngste“, stellte Ron Schneider fest. „Vor zehn Jahren hätten wir derartige Feten locker weggesteckt.“

Seibold zuckte mit den Schultern. Eine knappe Stunde später erklärte er der Runde überraschend: „Ich bitte mir das nicht zu verübeln, aber ich möchte mich jetzt doch gern verabschieden. Ich fühle mich wirklich nicht fit. Wahrscheinlich eine Magenverstimmung. Ich hoffe, dass ich beim nächsten Stammtisch besser beieinander bin.“ Er nahm sein Glas und tat einen kräftigen Zug, trank es aber nicht ganz leer. Schließlich erhob er sich schwerfällig. Die Stammtischbrüder riefen ihm Grüße zu, dann ging er zur Tür. Für einen Augenblick hatte Rottmann den Eindruck, als würde der Mann ein wenig schwanken. Da musste der Gute, wenn er bei den Schoppenfetzern bestehen wollte, noch etwas an sich arbeiten. Als sich die Aufmerksamkeit des Exkommissars wieder auf den Tisch richtete, streifte sein Blick zufällig das Glas mit dem Rest Silvaner, das Seibold stehengelassen hatte. Er stutzte, dann zog er das Glas näher zu sich heran und betrachtete den Inhalt eingehender. Im Weinrest schwebte eine rötliche Schliere. Es gab eigentlich keine andere Erklärung: Das war ganz offensichtlich Blut!

„Na, Erich, seit wann trinkst du die Reste anderer Leute aus? Haben sie dir die Pension gekürzt?“ Xaver Marschmann grinste ihn schelmisch an.

„Quatsch“, gab Rottmann zurück, ging nicht weiter darauf ein und wandte sich wieder der allgemeinen Unterhaltung zu.

Seibold hatte in der Weinstube nur mit größter Selbstbeherrschung durchgehalten. Schon den ganzen Tag über spürte er merkwürdige Schmerzen in der Magengegend, die sich langsam, aber stetig verschlimmerten. Zunächst dachte er, er hätte sich bei der Feier eine Magenverstimmung eingehandelt. Der Alkoholkonsum war reichlich gewesen und er hatte auch durcheinandergetrunken – was ihm noch nie sonderlich gut bekommen war. Aber diese Schmerzen gingen über das bekannte Unwohlsein in Folge eines Katers hinaus und hatten auch insgesamt eine andere Qualität. Schon am späten Morgen, als er mit dröhnenden Kopfschmerzen aufgewacht war, hatte er sich gefühlt, als wäre er unter eine Dampfwalze geraten. Zwei Aspirin statt Frühstück hatten ihm nur wenig Erleichterung gebracht. Den ganzen Tag hatte er gegen dieses Unwohlsein angekämpft. Es hatte ihm wirklich sehr viel Energie abverlangt, den Stammtisch im Maulaffenbäck aufzusuchen. Aber nachdem dies die erste Einladung in diesen Kreis gewesen war, wollte er auf gar keinen Fall absagen.

Nach dem Verlassen des Maulaffenbäck blieb er zunächst einmal an eine Hauswand gelehnt stehen und schöpfte Luft. Plötzlich musste er sauer aufstoßen. Er griff in die Hosentasche, zog ein Papiertaschentuch heraus und wischte sich den Mund ab. Als er danach einen Blick auf das Tuch warf, stutzte er. Im Licht der Straßenlampe sah er, dass es stellenweise dunkel verfärbt war. Er sammelte Speichel im Mund und spuckte auf das Taschentuch. Es gab keinen Zweifel, das war Blut.

Seibold stieß sich von der Hauswand ab. Er würde sich in der Nähe des Mainfrankentheaters ein Taxi nehmen. Scheinbar brütete er irgendeine Krankheit aus. Er wollte nur noch nach Hause. Seibold überquerte die Schönbornstraße und lief weiter durch die Herzogenstraße, weil dies der kürzeste Weg zum Theater war. Nach einigen Metern verspürte er plötzlich einen fürchterlichen Stich in seiner Leibesmitte, so als wäre in seinem Inneren etwas zerrissen. Gleichzeitig wurde ihm schwarz vor Augen. Nur mit letzter Kraft ließ er sich auf einen der leeren Stühle fallen, die an den Tischen der Trattoria Augusto, einem Edelitaliener, standen. Würgend musste er sich plötzlich übergeben. An den anderen Tischen saßen Gäste, die den Mann, der stark angetrunken schien, verärgert anstarrten. Es gab erboste Bemerkungen, die Vittorio, der Kellner, hörte. Als er sah, dass der ungebetene Gast sich über den Tisch erbrochen hatte, begann er laut zu schimpfen. Das Erbrochene war dunkelrot und roch stark nach Alkohol. Für Vittorio war es keine Frage, dass sich der Mann sinnlos mit Rotwein hatte volllaufen lassen. Da Seibold keine Reaktion zeigte, wurde der Kellner wütend und begann heftig an ihm zu zerren, um ihn zum Gehen zu bewegen. Der einzige Erfolg, den er damit erzielte, bestand darin, dass der Mann vom Stuhl rutschte und vor Vittorio auf den Boden krachte. Sein Kopf schlug dabei haltlos gegen das Stuhlbein.

Jetzt hatte der Italiener genug. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer der Polizei. Der Kerl musste so schnell wie möglich weg von hier. Einige Gäste griffen schon nach ihren Gläsern, um sich ins Innere der Trattoria zu setzen.

Die Polizeistreife war schnell vor Ort. Die Beamten betrachteten die Szene und hörten sich Vittorios Schimpfkanonade an. Beiläufig warf einer der Beamten einen Blick auf das Erbrochene. Er stutzte, dann rief er seinem Kollegen zu: „Ruf den Notarzt! Das hier ist kein Rotwein, sondern Blut.“

Der zweite Polizist griff zum Funkgerät und verständigte die Einsatzzentrale. Anschließend brachten die beiden Beamten Seibold in die stabile Seitenlage. Er atmete ganz flach und aus seinem Mundwinkel lief ein rotes Rinnsal.

Schon hörte man in der Ferne die Sirene eines Rettungswagens, der mit hoher Geschwindigkeit die Schönbornstraße entlanggerast kam. Als die Rettungsassistenten ihre Utensilien ausluden, näherte sich mit dem Klang eines weiteren Signalhorns aus Richtung Juliusspital der Notarzt.

Keine Minute später wimmelte es um den bewusstlosen Seibold von Männern in weißen Hosen und roten Jacken mit dem Symbol des Malteserkreuzes.

Plötzlich rief der Notarzt: „Vorsicht, er erbricht sich wieder!“ Ein weiterer Schwall Blut ergoss sich aus dem Mund des Liegenden. Der Notarzt wandte sich an den Fahrer des Rettungswagens. „Verständigen Sie die Notrufzentrale, dass sie das Juliusspital anfunken sollen. Wir bringen einen Patienten mit schwersten inneren Blutungen. Einen Transport in ein weiter entferntes Krankenhaus würde er nicht überstehen.“

Der Rächer hatte alles verfolgt. Als Seibold gegen 18 Uhr 15 in den Maulaffenbäck gegangen war, hatte er sich an einen der Tische gesetzt, die in der Maulhardgasse vor der Weinstube aufgestellt waren, eine Weinschorle bestellt – und gewartet. Als Seibold dann überraschend früh wieder in der Tür der Weinstube erschienen war, hatte der Rächer beobachten können, wie sich sein Opfer erschöpft gegen eine Hausmauer gelehnt und sich dabei gekrümmt hatte. Dabei war ein böses Lächeln über das Gesicht des Rächers gehuscht, der nun die erwartete Wirkung eintreten sah. Er war Seibold in einigem Abstand gefolgt und hatte noch dessen Zusammenbruch beobachtet, bevor er sich unter die Neugierigen vor der Trattoria mischte. Ihm war sofort klar gewesen, dass das rote Erbrochene kein Rotwein war. Mit dem kühlen Interesse, das ein Wissenschaftler einer im Versuch verendenden Laborratte widmet, hatte der Rächer den am Boden liegenden Mann gemustert. Als der Notarzt den Atemstillstand festgestellt und massive Rettungsmaßnahmen eingeleitet hatte, hatte sich der Rächer dann doch über den plötzlich so rasanten Fortgang gewundert. Der Vollstrecker hatte ganze Arbeit geleistet.

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