Jenseits des Spessarts

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Zwei Tage später

Simon Kerner war fast den ganzen Tag in Würzburg unterwegs gewesen und hatte sich Wohnungen angesehen. Jetzt kam er gerade vom Krankenhaus. Er hatte Theresa einige Sushi-Leckerbissen mitgebracht, um das Krankenhausessen etwas aufzupeppen. Bei allem Stress war es ihm wichtig, Zeit mit seiner Familie zu verbringen und Clara zu zeigen, dass ihr Papa für sie da war. Da es ihr aufgrund der durchzuführenden Chemotherapie in Abständen immer wieder schlecht wurde, war das Kind sehr anhänglich, brauchte Streicheleinheiten und wollte immerzu kuscheln.

Kerner kaufte sich am Krankenhauskiosk eine Tageszeitung, dann fuhr er zu Eberhard Brunners Wohnung. Wie erwartet war der Freund nicht da. Kerner ging zum Kühlschrank und warf einen Blick hinein. Er seufzte. Der Bestand hatte sich gegenüber der letzten Inhaltskontrolle nicht geändert. Wie sollte er auch, nachdem er nicht zum Einkaufen gekommen war. Lediglich ein paar Flaschen Bier dominierten die Fächer. Kurz entschlossen entschied sich Kerner, ein paar Straßen weiter einen Dönergrill aufzusuchen. Er hatte den Laden vor kurzem gesehen, als er mit seinem Wagen durch die Straßen gefahren war. In seiner derzeitigen Situation war Fastfood praktisch nicht zu vermeiden. Er schnappte sich den Hausschlüssel, dann verließ er die Wohnung. Die paar Schritte ging er zu Fuß.

Simon Kerner war in Gedanken so sehr mit der Krankheit seiner Tochter beschäftigt, dass ihm das doppelte Augenpaar, das ihn beim Verlassen des Hauses aus einem vor dem Gebäude parkenden Fahrzeug verfolgte, nicht auffiel. Beide Männer starrten auf ein Foto, das offenbar mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden war. Es zeigte Simon Kerner, wie er gerade die Kinderkrebsstation verließ. Omar, der Ältere, deutete darauf.

„Karim, das ist dieser Kerner, der momentan bei Brunner, der Satan soll ihn holen, wohnt. Geh ihm hinterher. Er ist ohne Auto unterwegs, da wird er sich vermutlich nicht weit entfernen. Ruf mich rechtzeitig an, wenn er zurückkommt. Du wartest dann, bis er hineingeht, und hältst dich bereit. Die Wohnung liegt ja im Parterre. Wenn ich ihn vor der Knarre habe, mache ich dir die Verandatür auf, dann kommst du nach. Vergiss nicht die Maske überzuziehen!“

Karim wartete einen Moment, bis Kerner gute hundert Meter entfernt war, dann stieg er aus, rückte seine Basecap zurecht und folgte ihm. Der Mann hinter dem Steuer geduldete sich, bis beide um die nächste Straßenecke verschwunden waren, dann drückte er seine Zigarette im Aschenbecher aus und verließ ebenfalls das Fahrzeug. Er warf sich einen kleinen Rucksack über, dann versicherte er sich, dass die Seitenstraße unbelebt war. Sein Handy steckte in der Brusttasche seiner dunklen Lederjacke. Es war lautlos, nur auf Vibration gestellt. Nachdem er sich diskret Gummihandschuhe übergezogen hatte, entnahm er einer der vorderen Taschen des Rucksacks eine kleine technische Apparatur. Schnell näherte er sich der Haustür, die Kerner vor wenigen Minuten durchschritten hatte. Er führte mehrere Stifte des Geräts ins Schlüsselloch ein, dann drückte er einen Knopf. Es dauerte nicht länger, als wenn er mit einem Schlüssel geöffnet hätte. Mit wenigen Schritten war er an Brunners Wohnungstür. Auch diese Tür war binnen Sekunden geöffnet, zumal Kerner beim Weggehen nicht abgeschlossen hatte. Der Eindringling wusste, dass Eberhard Brunner zurzeit in seiner Dienststelle weilte, er also im Augenblick nicht mit einer Störung durch ihn rechnen musste. Langsam durchquerte er die Wohnung und sah sich um. Er hatte von Safar, seinem Clan-Boss und Cousin, den Auftrag, dem Leiter der Soko Spessart eine deutliche Botschaft zu hinterlassen. Sie lautete: „Lass die Finger von unserer Familie! Wir haben keinen Respekt vor dir und können jeden in deinem privaten Umfeld packen, wann immer wir wollen!“ Wer war besser als Überbringer dieser Botschaft geeignet als der Freund Brunners? Der Typ war offenbar wegen eines kranken Kindes in Würzburg. Er machte optisch nicht den Eindruck einer wehrhaften Person. Ein harmloser Paragrafenreiter, für Omar also ein Kinderspiel. Er beschloss, im Wohnzimmer auf Kerner zu warten. Von dort aus konnte er blitzschnell die Verandatür öffnen und Karim, seinen ältesten Sohn, einlassen. Er hatte ihn heute mitgenommen, weil er bei dieser einfachen Aufgabe etwas lernen konnte. Er setzte sich in einen Sessel und zog sich die Gesichtsmaske über. Mit einem Griff holte er den Revolver mit aufgeschraubtem Schalldämpfer aus dem Schulterholster und legte ihn sich in den Schoß. Er würde ihn sicher nicht benötigen, aber er würde bestimmt Eindruck hinterlassen. In diesem Augenblick vibrierte sein Telefon. Er warf einen Blick auf das Display.

„Er kommt!“, lautete die WhatsApp-Nachricht. Als Antwort schickte er einen Daumen hoch.

Fünf Minuten später betrat Simon Kerner wieder die Wohnung. Da er so großen Hunger verspürte, hatte er sich einen Döner-Teller mit frittierten Kartoffelchips genehmigt. Beim Weg durch den Flur in die Küche blieb er plötzlich stehen. Konnte es sein, dass es hier irgendwie schwach nach Rauch roch? Kerner schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war es das Essen in seiner Tragetasche, das sehr intensiv roch. Er holte den Styroporbehälter aus der Plastiktüte und stellte ihn auf den Küchentisch. Ein Teller war überflüssig, den musste man nur spülen. Das Bier aus dem Kühlschrank war schön kalt und würde zu der kräftigen Mahlzeit passen. Simon Kerner holte aus einer Schublade Besteck, dann setzte er sich mit dem Rücken zur Tür an den Küchentisch und schob die erste Gabel in den Mund. Plötzlich hielt er inne. Seine über Jahre in der wilden Natur Afrikas geschärften Instinkte sagten ihm, dass hier etwas nicht stimmte! Aber statt herumzufahren und aufzuspringen, blieb er ganz ruhig sitzen und kaute weiter. Aus den Augenwinkeln heraus nahm er einen dunklen Schatten in der Türöffnung zum Wohnzimmer wahr.

„Ganz langsam aufstehen und die Hände hoch“, befahl eine sonore Männerstimme. „Wird’s bald!“

Kerner stand im Zeitlupentempo auf. Ohne groß nachzudenken, ließ er mit einer Hand das Küchenmesser im Ärmel seines Hemdes verschwinden, wo er es hinter dem Armband seiner Uhr festklemmte. Simon Kerner schoss Adrenalin ein und übergangslos kam er in den Kampfmodus. Vorsichtig blickte er hinter sich.

„Jetzt mach dir nicht gleich in die Hosen!“, erklärte der Maskierte, der Kerners langsame Bewegungen als Ausdruck seiner Furcht betrachtete. „Los, komm rüber ins Wohnzimmer!“

Ohne Kommentar folgte Kerner dem Mann, der rückwärts vor ihm herging, dabei musterte er seinen Revolver. Ein größeres Kaliber mit Schalldämpfer, wie er sehen konnte. Wie es aussah, war der Kerl ein Profi. Er gab sich keine Blöße, die Kerner hätte nutzen können.

„Stehen bleiben!“, verlangte er, dann ging er weiter rückwärts zur Verandatür und öffnete sie. Dabei ließ er Kerner keine Sekunde aus den Augen. Einen Augenblick später kam ein zweiter Mann herein, ebenfalls maskiert, gleichfalls mit einem schallgedämpften Revolver bewaffnet. Seinem Verhalten entnahm Kerner, dass er nicht so routiniert war wie sein Partner. Er zögerte verschiedentlich und sah seinen Kumpan fragend an, weil er offenbar nicht genau wusste, wie er sich verhalten sollte. Er bekam von seinem Anführer ein paar Anweisungen in arabischer Sprache, wie Kerner erkannte.

„Umdrehen, Hände auf den Rücken“, befahl er wieder auf Deutsch.

Offenbar sollte sein Kumpel ihm die Hände auf den Rücken fesseln, denn er zog einen Kabelbinder aus der Oberschenkeltasche seiner Hose. Um dieses Vorhaben zu realisieren, benötigte er allerdings beide Hände, was bedeutete, dass er seinen Revolver ablegen musste. Das war Kerners Chance, denn mit gefesselten Händen würde ein Gegenschlag schwierig werden.

Der Maskierte näherte sich Kerner von hinten. Es sprach für seine Unerfahrenheit, dass er dabei seinem Kollegen direkt in die Schussbahn trat. Der bemerkte dies auch sofort und schrie ihn auf Arabisch an. Dadurch war der Angerufene irritiert, zögerte und ließ seine Waffe etwas sinken. Die Chance für Simon Kerner. Er explodierte regelrecht! Herumwirbeln und die Waffenhand seines Gegners fassen war eine flüssige Bewegung. Kerner entriss ihm den Revolver. Dabei achtete er darauf, dass der Mann zwischen ihm und dem anderen Angreifer stand. Der war total geschockt und riss seinen Revolver in die Höhe. Die beiden Schüsse fielen fast gleichzeitig, so dass sie sich zu einem gemeinsamen Plopp vereinigten. Der Gegner, den Kerner als Schild benutzt hatte, zuckte zusammen und knickte mit einem heiseren Schrei nach vorne ein. Kerner war jetzt schutzlos. Sein Schuss hatte den anderen Mann nicht erkennbar getroffen. Er hatte keine Zeit zum Zielen gehabt. Sein Gegner registrierte, dass er statt Kerner seinen Kumpel getroffen hatte, und zögerte einen Moment.

„Waffe weg!“, brüllte Kerner.

Mit einem wütenden Schrei riss der Maskierte den Revolver wieder in die Höhe, um erneut zu schießen. Kerner blieb Zeit, die Waffe mit beiden Händen zu fassen. Er beugte sich leicht nach vorne und schoss. Sein Angreifer kam nicht mehr dazu, abzudrücken. Das Projektil aus Kerners Waffe traf ihn mitten in die Stirn. Tödlich getroffen brach er zusammen.

Ganz langsam richtete sich Kerner wieder auf und atmete hörbar aus. Das war knapp gewesen! Sofort beugte er sich über den Mann, der stöhnend vor ihm auf dem Boden lag. Auf der Brust seines Hemdes bildete sich auf der rechten Seite ein roter Fleck, der sich rasant vergrößerte. Obwohl sich Kerner vergewissert hatte, dass von dem anderen Gegner keine Gefahr mehr ausging, schob er dessen Revolver mit dem Fuß außer Reichweite. Er beugte sich über den Verwundeten und zog ihm die Maske vom Kopf. Jetzt konnte er sehen, wie jung sein Gegner war.

 

„Bleib ganz ruhig“, versuchte er auf ihn einzuwirken, während er zum Telefon griff und die Notrufzentrale anwählte. „Es ist gleich Hilfe unterwegs!“

Nachdem er den Notruf abgesetzt hatte, wählte er sofort die Nummer von Eberhard Brunner.

„Eberhard, ich wurde in deiner Wohnung angegriffen“, rief er ins Handy. „Einen der Kerle habe ich in Notwehr erschossen, der andere wurde von seinem eigenen Mann schwer verletzt. Was soll ich machen? Soll ich die Mordkommission verständigen? Das muss ja polizeilich aufgenommen werden.“

Brunner brauchte einen Augenblick, um die Nachricht zu verdauen, dann erwiderte er: „Das ist ja Wahnsinn! Bist du in Ordnung?“ Kerner beruhigte ihn. „Bleib einfach vor Ort“, fuhr Brunner dann fort, „ich werde alles Weitere veranlassen.“

Der Notarzt war zuerst da. Ihm folgte im kurzen Abstand ein Rettungswagen. Da Lebensgefahr bestand, wurde der überlebende Angreifer sofort in die Notaufnahme des Zentrums für Innere Medizin des Universitätsklinikums eingeliefert. Wenig später folgte die alarmierte Mordkommission unter KHK Kauswitz, in deren Gefolge die Spurensicherung und die Rechtsmedizin. Die Straße rund um die Wohnung Brunners war total verstopft, zwei Streifenwagenbesatzungen leiteten den Verkehr um.

Kauswitz saß mit Kerner in der Küche von Brunners Wohnung und führte die erste Vernehmung. Kerner war ihm kein Unbekannter. Kauswitz war damals bei den Ermittlungen um den Tod von Steffi, Kerners damaliger Lebensgefährtin, beteiligt gewesen. Kerner hatte die Dönerbox zur Seite geräumt. Während der Aussage von Kerner kam Brunner herein.

„Ist mit dir alles in Ordnung?“, wollte er besorgt wissen. Kerner beruhigte ihn. Nachdem er den gesamten Ablauf nochmals in allen Einzelheiten geschildert hatte, gab es für Brunner nur einen Schluss.

„Dieser Überfall galt mir. Davon bin ich überzeugt. Wenn vielleicht nicht direkt meiner Person, dann doch zumindest indirekt als Botschaft an mich.“ Er stand auf und sah durch die Tür ins Wohnzimmer hinaus. „Es ist dir klar, dass du in den nächsten Tagen hier nicht wohnen kannst, das ist ein Tatort und wird versiegelt werden, bis die Kollegen fertig sind.“

Simon Kerner sah Kauswitz an. „Wie lange wird die Wohnung nicht betretbar sein?“

„Ich denke, drei Tage, dann können wir sie wieder freigeben.“

„Dann gehst du so lange in ein Hotel“, erklärte Brunner. „Ich werde das organisieren.“

„Wir benötigen dann auch noch ein offizielles Protokoll“, stellte Kauswitz fest. „Es ist zwar offensichtlich, dass es sich hier um Notwehr handelt, trotzdem müssen wir eine Anzeige aufnehmen.“

Kerner nickte. Er war Jurist und das Prozedere war ihm bekannt.

*

Safar ibn Abdallah al-Hilabar lief außer sich vor Wut in seinem Arbeitszimmer auf und ab und tobte. Er hatte diese Aktion in der Sanderau angeordnet und war sich dabei sehr raffiniert vorgekommen. Eine deutliche Botschaft als Beginn eines Drohpotentials, das man bei Bedarf, Stück für Stück sich steigernd, abspielen konnte. Stattdessen jetzt dieses Desaster! Omar tot, sein Sohn schwer angeschossen. Einer der Sanitäter des Rettungswagens zeigte sich gegen ein kleines Honorar sehr redefreudig. Offenbar hatten sie diesen Kerner total unterschätzt. Oder seine beiden Sendboten hatten sich angestellt wie die letzten Anfänger. Omar war tot. Das war bedauerlich und würde zur gegebenen Zeit gerächt werden. Das Problem war Karim. Der Junge war zwar schwer verletzt, aber seine Mutter hatte die Auskunft erhalten, dass er die Operation wohl überleben würde. Es war ein Fehler gewesen, dass Omar ohne seine Zustimmung den Jungen zu dieser Aktion mitgenommen hatte. Er hatte seine Zweifel, ob Karim der trickreichen Vernehmung durch erfahrene Kriminalbeamte standhalten würde. Die Frage, wie viel Informationen Omar seinem Sohn weitergegeben hatte, war im Augenblick nicht zu beantworten. Safar pflegte derartige Probleme rational anzugehen. Für solche Probleme gab es Achmed. Achmed hatte längere Zeit für eine Spezialeinheit im Irak gekämpft und war mit allen Mitteln der Problembeseitigung vertraut. Safar hatte ihn aufgenommen, weil er trotz seines Saubermannimages, das er sich in den letzten Jahren angeeignet hatte, hin und wieder doch einen Mann fürs Schmutzige benötigte.


Der fensterlose Raum hatte ungefähr fünfundzwanzig Quadratmeter, war rechteckig und einschließlich Boden völlig weiß gekachelt. In der Mitte des Bodens konnte man einen versenkten Ablauf in einen Kanal erkennen. An der Decke hing eine Klimaanlage, die auch als Absaugeinrichtung fungieren konnte. An einer Längsseite stand ein durchgehender Metalltisch. Über dem Tisch verbreitete eine Reihe Neonröhren ein fast blendendes Licht.

Fast lautlos öffnete sich eine Tür an der einen Schmalseite und ein kräftiger Mann mittleren Alters mit kurzen schwarzen Haaren und Vollbart trat ein. Der Bärtige hatte einen stabilen Holzstuhl mit Lehne dabei, den er über den Gully in der Mitte stellte. Die Sitzgelegenheit war eine Spezialanfertigung, beste Schreinerarbeit. An den Armauflagen, den Beinen und der Lehne befanden sich stabile Gurte mit Metallschließen. Wie es aussah, hatte hier ein Elektrischer Stuhl Modell gestanden. Danach betrat er die Tiefgarage und klopfte an die Schiebetür eines Mercedes Sprinters, der gerade eben eingefahren war. Ein Typ mit Glatze und Piercings im Ohr öffnete.

„Kann’s losgehen?“, fragte er.

„Bringt ihn rein“, befahl der Bärtige.

Der Glatzkopf sprang aus dem Wagen und drehte sich zum Führerhaus um. Ein zweiter Mann, genauso kahlköpfig, packte dort einen dritten, der auf dem mittleren Sitz in sich zusammengesunken lag, vorne am Hemd und zerrte ihn unsanft in eine sitzende Position.

„Der Kerl ist noch total weggetreten“, stellte er fest.

„Ich hoffe, er kommt schnell zu sich“, äußerte der Bärtige, „sonst kann es Ärger geben.“

„Keine Sorge, ein paar aufmunternde Worte und er ist wieder topfit.“ Er lachte keckernd.

Die beiden packten den schlanken, dunkelhaarigen, etwa ein Meter achtzig großen Mann an den Armen und zerrten ihn aus dem Sprinter. Einer schlug die Schiebetür zu, dann nahmen sie den Mann zwischen sich und betraten den Gang in Richtung Kellerraum. Drinnen schleppten sie den betäubten Mann zu dem Stuhl.

„Zieht ihn aus!“, befahl der Bärtige. Ohne Zögern riss ihm der eine die Kleidung vom Leib, während ihn der andere festhielt.

„Anbinden!“

Die beiden Kahlköpfe setzten ihn jetzt richtig auf den Stuhl und führten den breiten Gurt über seine Brust, damit er nicht vom Sitz herunterrutschen konnte. Seine Hände gurteten sie an den Armlehnen fest, seine Unterschenkel an den Stuhlbeinen. Während der ganzen Prozedur hing ihm der Kopf haltlos auf die Brust, aus seinem Mund lief Speichel.

„Was jetzt?“, wollte einer der Glatzköpfe wissen.

„Wir wecken ihn auf!“, erwiderte der Bärtige. „So kann Mustafa al-Asmani jedenfalls nichts mit ihm anfangen.“ Er stellte sich vor den Gefangenen und gab ihm ein paar klatschende Ohrfeigen. Sein Kopf pendelte dabei haltlos hin und her und aus seinem Mund kam halblaut ein weinerlicher Ton, ansonsten veränderte sich nichts. Der Bärtige zuckte mit den Schultern. Das war ziemlich sinnlos.

Er trat an die andere Seitenwand und öffnete eine Klappe. Auch hier öffnete sich die Wand auf Knopfdruck, fuhr nach oben und gab eine Nische frei. Der Bärtige zog einen kleineren Tisch und verschiedene Gerätekonsolen heraus, von denen Stromkabel abgingen. Als die beiden Kahlköpfe die Utensilien sahen, wurden sie ganz unruhig. Der Bärtige bemerkte es und zeigte ein böses Lächeln.

„Macht euch nicht in die Hosen!“, bemerkte er bissig. „Das ist nicht für euch bestimmt. Ihr könnt euch verpissen! Bleibt aber telefonisch erreichbar, es kann sein, dass Ihr heute noch einen weiteren Transport durchführen müsst.“ Er warf dem Mann auf dem Stuhl einen bezeichnenden Blick zu. Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen.

Der Bärtige prüfte den Puls des Gefangenen. Er raste regelrecht. Seine medizinischen Kenntnisse sagten ihm, hier musste gegengesteuert werden, sonst bestand die Gefahr eines Herzinfarkts. Die beiden Kerle hatten dem Mann offenbar eine ziemlich hohe Dosis des Narkotikums verabreicht, um zu verhindern, dass er ihnen während der Fahrt Schwierigkeiten machte. Er öffnete einen Kühlschrank und entnahm ihm eine verschweißte Packung einer Einwegspritze. Er durchstieß mit der Nadel die Alumembran einer Medikamentenflasche und zog den Kolben der Spritze hoch, bis die Kammer zur Hälfte gefüllt war. Das müsste reichen, dachte er, dann trat er an die Seite des Gefangenen. Als er den Oberarm mit einem Desinfektionsmittel besprühte, musste er leise lachen. Der Mann würde sicher nicht mehr so lange leben, dass er von dem Einstich eine Infektion bekommen könnte. Er drückte den Kolben ganz herunter, dann zog er die Nadel heraus und wischte flüchtig mit dem Tupfer über die Einstichstelle. Die Wirkung setzte relativ schnell ein. Langsam richtete sich der Mann auf und hob den Kopf. Sein trüber Blick klärte sich und er musterte mit erstaunten Augen seine Umgebung. Aus seinem Mund kam ein heiseres Krächzen.

„Na, ausgeschlafen?“ Der Bärtige stelle sich direkt vor ihn, packte ihn an den Haaren und sah ihm direkt in die Augen. „Willkommen in der Hölle!“

Jetzt bemerkte der Gefangene, dass er nackt und gefesselt war, und begann panisch an den Gurten zu zerren. Der Bärtige ließ die Haare des Mannes los und gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Lass das, sonst wird es sofort unerfreulich für dich!“ Er sprach dabei ganz ruhig, als würde er ein paar Sätze über die aktuelle Wetterlage äußern.

„Was ist …?“, lallte der Mann auf dem Stuhl. „Wo bin ich hier?“

„Das wirst du schon noch früh genug erfahren“, erklärte der Bärtige emotionslos. Er musterte den Gefangenen kurz. Es würde noch einen Moment dauern, bis er wieder voll da war. Ohne eine Erklärung abzugeben, verließ er den Raum und betrat die Tiefgarage. Sie war technisch so ausgestattet, dass man hier Funkempfang hatte. Die Zielnummer war als Kurzwahl auf seinem Handy eingespeichert. Es dauerte zwei Klingeltöne, ehe die Gegenstelle abnahm.

„Hier Jamal“, meldete er sich, „es ist alles vorbereitet.“

Die Antwort war knapp. Langsam schlenderte der Bärtige zurück. Auf dem Weg dahin holte er aus dem angrenzenden Kellerraum einen bequemen Campingstuhl. Der Gefangene saß mittlerweile mit klarem Blick auf dem Stuhl und sah Jamal ängstlich entgegen. Anscheinend begann er langsam seine Situation zu begreifen, wusste aber nicht, wo er war und mit wem er es zu tun hatte. Jamal stellte den Stuhl vor dem Mann auf. Dann machte er einige Schritt in den Raum hinein, so dass er hinter dem Gefangenen zu stehen kam. Jetzt konnte der ihn nicht mehr sehen. Eine stressige Situation, da er die Bedrohung hinter sich fühlte, aber nicht erkennen konnte, was sein Bewacher machte. Ständig drehte er den Kopf, aber Jamal stand im toten Winkel. Er begann zu zittern.

Wenig später öffnete sich die Tür und Mustafa al-Asmani betrat langsam den Raum. Als der Gefangene den Clan-Chef erkannte, erschrak er zutiefst. Mustafa al-Asmani fixierte den nackten Mann einige Zeit. Ohne Gemütsbewegung registrierte er jede Reaktion des Gefangenen. Schließlich trat er noch immer wortlos einige Schritte nach vorne und ließ sich in den Campingstuhl fallen.

„Du weißt, wer ich bin?“, fragte er auf Arabisch.

Der Gefangene nickte. „Ja, Ya Sayyid, Herr.“ Er antwortete automatisch in derselben Sprache.

„Du bist Fahdi, der Sohn meines verstorbenen Cousins aus dem Norden Syriens, wie man mir sagte.“

Der Gefangene nickte erneut.

„Gib eine respektvolle Antwort!“, kam Jamals Stimme scharf aus dem Hintergrund, garniert mit einem Schlag. Der Gefangene zuckte zusammen.

„Ja, Ya Sayyid.“, beeilte er sich zu antworten.

„Du bist 2015 mit dem großen Flüchtlingstreck nach Deutschland gekommen und wurdest von meinem ältesten Sohn Malik in seine Familie aufgenommen, da dein Vater und seine Familie von dem Henker in Damaskus getötet wurden.“

„Ja, Ya Sayyid.“

„Malik hat dir Essen, Kleidung und eine neue Familie gegeben. Er gab dir Arbeit und die Möglichkeit, viel Geld zu verdienen, damit du auf eigenen Füßen stehen kannst. Du hast eine schöne Wohnung, ein teures Auto und viel Spaß mit Frauen, die man für Geld kaufen kann. Mein Sohn hat dich ins Vertrauen gezogen und mit dir über Geschäftsgeheimnisse gesprochen, was er nicht hätte tun sollen.“

 

„Ja, Ya Sayyid.“, antwortete er leise.

Al-Asmani sah ihn lange an, dann fuhr er fort: „Kannst du mir dann sagen, weshalb du dich dann von der al-Hilabar-Familie bezahlen lässt, um unsere Geschäfte zu verraten? Um uns, deinen Wohltätern, zu schaden?“

„Herr, das habe ich nicht getan! Ich schwöre bei Allah und sämtlichen Propheten, dass ich das nicht getan habe!“ Seine flehende Stimme überschlug sich.

Al-Asmani schüttelte bedauernd den Kopf. „Du solltest nicht solche frevelhaften Schwüre ausstoßen. Du bist ein Lügner und wirst in der tiefsten Hölle brennen. Du solltest deine Seele erleichtern und ein Geständnis ablegen. Jamal, mein Sohn, ist ein Spezialist auf dem Gebiet dieser Art der Befragung. Je schneller du redest, desto leichter wird dein Tod sein. Das solltest du bedenken. Ich will wissen, was du genau Safar verraten hast. Wir haben demnächst, wie du von Malik erfahren hast, ein großes Geschäft vor, das uns vor Safar al-Hilabar einen Vorsprung auf dem Markt geben wird. Wir müssen wissen, ob er uns durch deinen Verrat in die Quere kommen kann.“

Der Gefangene wand sich auf dem Stuhl. „Bitte, Herr, ich habe nichts verraten!“

Al-Asmani gab Jamal ein Zeichen. „Mein Sohn, du weißt, welche Fragen du ihm stellen musst. Ruf mich, wenn er sich zur Wahrheit entschlossen hat.“ Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Raum. Die Schreie des Gefangenen verfolgten ihn, bis sich die schalldichte Tür des Kellers hinter ihm schloss. Der ganze Raum war schalldicht. Aber das war eigentlich egal, hier in dem Haus befanden sich nur die Zentral-Büros des Firmenkonsortiums al-Asmani Enterprises und im obersten Stockwerk seine Wohnung. Hier lauschten keine fremden Ohren.

Jamal zog eines der Geräte, das auf Rollen lief, aus der Nische nach vorne. Es war mit einem Kabel ans Stromnetz angeschlossen. Es sah wie ein überdimensionales Batterieladegerät aus. Von ihm gingen zwei lange Kabel ab, die in einer roten Plus- und einer schwarzen Minusklemme endeten. Jamal arbeitete ganz gemächlich und achtete darauf, dass der Gefangene alle seine Handlungen gut beobachten konnte. Mit aufgerissenen Augen wimmerte er vor sich hin.

„Bitte, ich habe niemand verraten! Bitte, ich bin kein Verräter! “

Der Bärtige sah ihn nur emotionslos an. „Ich habe dir gesagt, du bist hier in der Hölle.“ Er schaltete das Gerät ein, auf dessen Oberseite sich eine Skala mit einem Drehrad befand, das offenbar zum Einstellen der Stärke der Stromstöße diente.

Jamal stellte sich breitbeinig vor den Gefangenen und beugte sich nach vorne, um die rote Klemme an seinem Ohrläppchen zu befestigen. Fahdi wich immer weiter nach hinten aus.

„Das nützt dir nichts“, brummte der Bärtige.

In diesem Augenblick schnellte Fahdis Kopf mit einem Schrei nach vorne und seine Stirn knallte Jamal mit voller Wucht gegen die Nase, die mit einem hörbaren Knacken brach. Jamal brüllte vor Schmerz. Seine Hände ließen das Kabel los und fuhren zu seinem Gesicht. Blutüberströmt taumelte er nach hinten.

Aus Fahdi, dem wimmernden Gefangenen, wurde von einem Augenblick auf den anderen eine explodierende Kampfmaschine. Vorhin, als er, Verzweiflung vortäuschend, den Kopf nach vorne sinken ließ, hatte er sich ausgerechnet, dass er mit den Zähnen den Gurt der rechten Hand würde lösen können. Das gelang ihm auch. Mit einer befreiten Hand, riss er blitzschnell den Brustgurt auf und löste die Schnalle an der anderen Hand. Die Fußgurte folgten. Er wusste, es kam auf Sekunden an. Jamal würde sich schnell erholen und angreifen. Zum Glück hatte er bei ihm keine Waffe festgestellt. Da griff der Bärtige auch schon mit blutüberströmtem Gesicht und einem tierischen Brüllen an. Sein Angriff wurde von Wut gesteuert und entbehrte jeglicher Kampftaktik. Fahdi war aufgesprungen und wartete, bis er in Reichweite seiner Hände war, dann stieß er seine Finger mit Wucht nach vorne, hinein in die Augen seines Gegners. Der Schwung des Angriffs riss Jamal trotz der Schmerzen in den Augen nach vorne. Erneut schlug Fahdi zu, diesmal gegen den Oberkörper Jamals, dessen Schwung nach vorne dadurch in eine Seitenbewegung umgelenkt wurde. Fahdi machte eine halbe Drehung und traf mit Wucht mit der Handkante die Halswirbelsäule. Als Jamal den Boden berührte, war er bereits tot. Das Blut aus seiner gebrochenen Nase suchte sich in einem dünnen Rinnsal den Weg in den Ablauf.

Der Kampf hatte nur Sekunden gedauert. Fahdi atmete tief durch, dann suchte er nach seinen Kleidern. Die beiden Kahlköpfigen hatten sie achtlos in eine Ecke geworfen. Schnell zog er sich an. Die ganze Prozedur der Gefangennahme, die Betäubung durch das Narkosemittel, das Theater, um als ängstlicher Gefangener zu wirken, und der finale Kampf hatten ihn doch ziemlich mitgenommen. Jetzt musste er zusehen, dass er hier heil herauskam. Er hatte keine Ahnung, wie die Leute von al-Asmani ihm auf die Schliche gekommen waren. Für eine Analyse war aber später Zeit. Hastig durchsuchte er die Taschen des Bärtigen. Wie erwartet fand er ein Mobiltelefon, das er einsteckte.

Er sah sich um. Hier in diesem Raum konnte er zwar keine Kamera entdecken, aber er war sich sicher, dass draußen die Tiefgarage überwacht wurde. Er musterte kurz die Gerätschaften in der Nische. Vielleicht konnte er notfalls irgendetwas als Waffe benutzen, obwohl er davon ausging, dass in der nächsten Zeit niemand den Raum betreten würde, weil der Clan-Chef ja auf ein Ergebnis durch Jamals Verhör wartete. Eine Art Brechstange schien ihm geeignet. Mit einem letzten Blick auf den toten Jamal verließ er das Labor.

Die Tiefgarage war menschenleer, es brannte nur eine Notbeleuchtung. Ein Blick zur Ausfahrt zeigte ihm, dass es draußen dunkel war. Durch die Betäubung hatte er sein Zeitgefühl völlig verloren. Als die beiden Kahlköpfe ihn überrumpelten, war es früher Nachmittag gewesen. Eilig verließ er seine Deckung. Sofort sprangen an der Decke Neonröhren an. Bewegungsmelder, dachte er, dann sprintete er los. Die Ausfahrt war durch ein Gitter verschlossen. Ein Stück davor hing ein Kabel von der Decke herab. Er zog hastig daran und das Gitter setzte sich zügig in Bewegung. Einen Augenblick später war es so weit offen, dass er sich darunter durchrollen konnte. Die Dunkelheit schützte ihn vor den Blicken vorbeifahrender Autofahrer. Jetzt konnte er sich orientieren. Das Gebäude befand sich, wie er wusste, in einem Industriegebiet am Rande von Aschaffenburg. Er war sich sicher, dass er während seiner Flucht von verschiedenen Überwachungskameras aufgenommen worden war. Das konnte er jetzt aber nicht ändern. Fahdi öffnete das Handy. Wie erwartet war es mit dem Fingerabdruck des Besitzers verschlüsselt. Wie bei allen Mobiltelefonen konnte man aber, ohne sich einzuloggen, einen Notruf über die 110 absetzen. Er wählte. Als sich die Einsatzzentrale meldete, gab er folgende Nachricht durch:

„Achtung! Dies ist ein Notruf der Priorität eins von einem Agenten im Außeneinsatz. Mein Deckname ist Fahdi. Verständigen Sie bitte umgehend das LKA München, Kriminaldirektor Seebach, dass ich enttarnt wurde. Ich fahre mit einem Taxi zur Autobahnraststätte Spessart, in Fahrtrichtung Würzburg. Er soll mich am dortigen Kinderspielplatz abholen lassen. – Ich wiederhole nochmals: Das ist ein Notruf und kein Fake.“

Er unterbrach das Gespräch. Mit einem Ruck öffnete er den Deckel des Handys, entfernte den Akku und die SIM-Karte. Das Telefon und den Akku ließ er in einen Gully fallen. Die SIM-Karte rieb er über eine raue Hauswand, dann warf er sie auf die Ladefläche eines vorbeifahrenden Lasters, der Erdaushub transportierte. Er war sich sicher, dass die al-Asmani-Familie über Möglichkeiten verfügte, die Handys ihrer Leute zu orten. Jetzt jedoch nicht mehr. Anschließend warf er das Brecheisen mit Schwung in ein Gebüsch.

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