Die Gräfin von New York

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Die Demokratische Partei glaubte, den tragischen Tod ihres zwar umstrittenen, aber populären Mitglieds umgehend ausschlachten zu müssen.

Keine gute Idee.

Eine politische Partei muss zu derartigem Treiben immerhin keine ethischen Grundsätze über Bord werfen. Diese Art von Ballast ist in solchen Organisationen völlig unbekannt.

Dem Exkandidaten nützte es zwar nicht mehr, dem Ersatzkandidaten aber sollte es gleich für den Einstieg Stimmen bringen. Ein Vorgehen nach dem Motto: der Kandidat ist tot, es lebe der Kandidat.

Schon bald nach dem tragischen Unglück am Capitol traten Vertreter der Demokraten also mit einer haarsträubenden Hypothese an die Öffentlichkeit:

Die junge, unbedarfte Sekretärin ihres Kandidaten sei von seinen republikanischen Gegnern durch eine an sie adressierte größere Geldzuwendung dazu angestiftet worden, ihn hinterrücks die Treppe hinabzustoßen.

Das stand jetzt so im Raum.

Die bedauernswerte Dame wurde daraufhin stundenlang und tagelang von Beamten verhört.

Ein Staatsanwalt, natürlich ein Mitglied der Demokraten, sicherte Liz Hutton völlige Straffreiheit und einen Job in der parteieigenen Administration zu, wenn sie im Gegenzug zu der Aussage bereit wäre, dass sie ein Republikaner, oder ein Unbekannter, das durfte sie sich aussuchen, zu dieser Tat angestiftet oder gar erpresst habe.

Zuerst war es nur ein Vorschlag, den er ihr machte. Als sie sich nicht darauf einlassen wollte, wurde er rabiater und versuchte es unverhohlen mit Drohung. Die junge Frau wusste bald nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.

„Geben Sie doch endlich zu. Wir wissen über alles Bescheid. Mit Ausflüchten bringen Sie sich nur weiter in die Bredouille. Ausreden helfen Ihnen jetzt nicht mehr weiter. Nur noch bedingungslose Kooperation mit uns kann Ihre Lage verbessern! Wie ich schon einmal sagte, wir sind bereit, auf eine Anklage gegen Sie zu verzichten, wenn Sie endlich ein Geständnis ablegen.“

Bedingungslose Kooperation klang mehr als verdächtig nach bedingungsloser Kapitulation.

Miss Hutton blieb jedoch weiter standhaft; wurde schließlich vom Staatsanwalt und dessen Vernehmungsbeamten weiter so lange mit Fragen und Anschuldigungen malträtiert, bis sie kollabierte und mit einem Nervenzusammenbruch in der Psychiatrie landete.

Herausgekommen war bei den Vernehmungen noch weniger als gar nichts. Nicht einmal von der Spur eines Beweises für die krude These eines Attentats konnte die Rede sein.

Der Presse war das völlig gleichgültig. Die Zeitungen berichteten genüsslich und täglich über die haltlosen Anschuldigungen, die gegenüber Freymans Sekretärin vorgebracht wurden und gaben ihren vom Verleger vorgegebenen Senf zum jeweils aktuellen Stand der Dinge.

Aufgrund dieser penetranten Berichterstattung meldeten sich drei Zeugen, die unter Eid aussagten, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, wie Liz Hutton kurz vor der Treppe stehengeblieben war, um auf die Uhr zu sehen.

Dadurch sei sie mindestens zwei Armlängen hinter dem Senator geblieben, als dieser zu Sturz kam. Es war ihr also schon vom Abstand her überhaupt nicht möglich gewesen, irgendetwas zum Stolpern ihres Vorgesetzten beizutragen, nicht einmal aus Versehen.

Mit geheucheltem Bedauern, wie im politischen Geschäft üblich, mussten die Lügenbeutel um den Staatsanwalt zugeben, dass sie sich wohl geirrt hätten.

Einer der selbsternannten Ankläger, aus der zweiten Reihe, hatte genug Anstand, zurückzutreten.

Nicht genug aber, um sich nicht noch am selben Tag in den vorzeitigen Ruhestand versetzen zu lassen. Er war begeisterter Fliegenfischer und sah die große Chance, bei guten Ruhestandsbezügen sich ganz auf sein entspannendes Hobby konzentrieren zu können.

Die anderen Beteiligten an der Schmutzkampagne dachten nicht einmal im Traum an Rücktritt – ebenso wenig an irgendeine Form der Entschuldigung.

Nur kurz konnte dieses an den Haaren herbeigezogene Thema die Schlagzeilen bestimmen. Zum Leidwesen vieler Mitglieder der Demokratischen Partei. Die falschen Anschuldigungen wurden von den Medien immerhin schnell unter den Teppich gekehrt.

Fortan drängten sich erneut die nach wie vor offenen Widersprüche in den Geburtsdaten des Präsidentschaftskandidaten in den Vordergrund.

Fest stand nachweislich, dass im Kirchenbuch als Geburtsdatum des Dorian Freyman der 13. Januar 1922 verzeichnet war. Die Namen der Eltern waren nicht aufgeführt.

Seltsamerweise aber fehlte in den beiden entsprechenden Zeilen der Vermerk ‚nicht bekannt‘, so wie es bei allen anderen Fällen eingetragen war, in denen die Namen von Vater und Mutter ebenfalls fehlten.

In der offiziellen Geburtsurkunde hingegen war als Geburtsdatum der 13. Januar 1917 angegeben; als Eltern waren dort Eleonora Freyman und Joseph Freyman eingetragen.

Es konnte sich bei so offensichtlicher Abweichung kaum um einen Zahlendreher oder um einen Schreibfehler handeln. Auch nicht um eine um ein paar Tage verspätete Registrierung, bei der aus Versehen das Datum des Bearbeitungstages statt des tatsächlichen Tages der Geburt angegeben wurde. Ganze fünf Jahre Unterschied; das gab allen an der Sache Interessierten zu denken. Da musste einfach bewusst getäuscht worden sein. Hier, oder dort. Ein Versehen oder eine Nachlässigkeit konnte man bei Lage der Dinge wohl sicher ausschließen. Es roch zu sehr nach einer bewussten Manipulation.

Mysteriös war auch ein anderer Vorgang, der erst einige Zeit später zur Überraschung aller zutage gefördert wurde.

Für den entsprechenden Tag, also dem 13. Januar im Jahr 1922, war in den Unterlagen des ‚Home of the Lord for Children‘ für die späten Abendstunden ein Neuzugang vermerkt, ohne Nennung irgendwelcher Angehöriger, nur mit dem Zusatz versehen: ‚little Dorian J. F.‘

Herausgefunden hatte dies das Journalistenduo Woodward und Bernstein von der Washington Post. Die zwei witterten nach dem Watergate-Skandal jetzt um Dorian Freyman ihren nächsten großen Fall.

Wie Spürhunde nahmen sie die Fährte auf und hatten sich, nachdem sie damit schon bei Präsident Richard Nixon erfolgreich waren, nun in den aller Voraussicht nach zukünftigen Präsidenten, Dorian Freyman, verbissen.

Tagelang waren sie in dem betreffenden Heim gewesen und hatten sich von der Heimleiterin alle verfügbaren Unterlagen um den betreffenden Zeitpunkt zeigen lassen. Sie hatten so lange darin herumgeschnüffelt, bis sie auf den besagten Vermerk gestoßen waren. Als sie nach dem Studium der verstaubten Akten wieder draußen in ihrem Wagen Platz genommen hatten, kurbelten sie zuallererst die Seitenfenster herab. Nach ein paar tiefen Atemzügen analysierten sie, welche Bedeutung der entdeckte handschriftliche Eintrag haben mochte. Welche Bedeutung für sie selber in Bezug auf eine Veröffentlichung und welche für die Aufklärung dieses Falles.

Carl Bernstein war sich ziemlich sicher:

„Bob, hier liegt der Schlüssel zur Klärung des Falles. Das ist der endgültige Beweis. Hier muss etwas gedreht worden sein, und das war in jedem Falle oberfaul.“

Woodward war nicht weniger überzeugt. Er öffnete das Handschuhfach, um sein Notizbuch hineinzuschieben, in das er alles aufgeschrieben hatte, was ihm wichtig schien. Dann lehnte er sich in die Rückenpolster zurück und drehte den Kopf zu seinem Kollegen hinüber.

„Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Dorian Freyman heiß…, ja, ja, ich sehe es genauso. Da ist in aller Stille und unter Einhaltung größter Verschwiegenheit etwas unter der Hand gelaufen. Ich glaube zwar an Zufälle, aber nicht an eine endlose Aneinanderreihung von Zufällen. Es ist schon frappierend, wie eindeutig die Kürzel zum Namen passen. Das Datum stimmt auch perfekt überein.“

Carl Bernstein bedauerte, dass es nicht mehr möglich war, Information aus erster Hand zu bekommen.

„Weißt du was, Bob? Jammerschade, dass wir die damalige Heimleiterin nicht mehr befragen können. Das hätte uns sicher einen großen Schritt weiter gebracht. Vielleicht sogar bis ins Ziel.“

„Lebte sie noch, könnte sie uns bestimmt zeigen, wo der Schlüssel zur Lösung liegt. Und wenn wir es mit einigen Tricks aus ihr rauskitzeln müssten. Aber nun gut, das geht leider nicht mehr. Tote geben keine Geheimnisse mehr preis. Carl, machen wir uns wieder an die Arbeit - nutzen wir die Möglichkeiten, die wir haben.“

Bernstein legte achselzuckend den Ganghebel ein und lenkte den Wagen aus der Parklücke.

Im Fall des ‚Waisenhausmysteriums‘, wie sie selbst es in ihren viel gelesenen Kolumnen nannten, hatten sie in einer Sache zweifellos Recht. Und die Leser der Berichte fragten in ihren Zuschriften ebenfalls fast immer nur nach diesem einen rätselhaften Punkt.

Warum eigentlich sollte der Sohn einer wohlhabenden Familie nach seiner Geburt zuerst einmal in ein Waisenhaus verbracht werden, wenn es um seine Herkunft nichts zu verbergen gab?

Niemand konnte oder wollte zu dieser Sachlage eine ausreichende Erklärung geben.

Das war das eine.

Andererseits konnte es aber ebenso möglich sein, dass dieses Kürzel ‚Dorian J. F.‘ in keinerlei Zusammenhang mit jenem Dorian Jeremias Freyman stand, um den es hier ging.

Der Name Dorian war zwar nicht allzu geläufig im Land, aber es gab zu dieser Zeit auch genug männliche Nachkommen, die von ihren Eltern mit diesem Namen bedacht wurden. Und sogar an Mädchen wurde der Name vergeben, wenngleich auch sehr selten.

Und ‚J.‘ war der Anfangsbuchstabe von Vornamen, die im Lande auch nicht gerade selten waren. Auch das ‚F.‘ konnte für alle möglichen Familiennamen stehen: Franklin, Freeman, Finder, Foreman, Field, Ford, Ferrer, Floyd - und weiß Gott wie viele andere mehr.

Freyman musste es nicht zwangsläufig bedeuten.

Ihr gutes Gespür für Ungereimtheiten und ihren Drang zu ebenso sauberer wie hartnäckiger Recherche hatten die zwei Zeitungsleute bereits dadurch nachgewiesen, dass sie den vorherigen Präsidenten, den von jedermann Tricky Dicky genannten Richard Nixon, zu Fall gebracht hatten.

 

Trotzdem knabberten sie an der Causa Freyman, die ja offiziell eigentlich noch gar keine war, nun schon seit über zehn Jahren. Gerüchte, Verdächtigungen, Spekulationen, viel mehr war bisher nicht bekannt.

Theorien dazu hatten sie mittlerweile einige, aber keine einzige davon war so richtig belastbar. Und noch viel weniger, beziehungsweise gar nichts, konnte bisher von ihnen eindeutig nachgewiesen werden.

Schon in den Anfangsjahren der politischen Karriere des Dorian Freyman war die Unstimmigkeit über seine Geburt zum ersten Mal publik geworden. Damals konnte sie vor regionalen Wahlen noch immer so leidlich unter den Teppich gekehrt werden, da er als nicht sehr bedeutender Lokalpolitiker entsprechend weniger im direkten Rampenlicht stand. Und nach den jeweiligen Abstimmungen verlor sich jeder Verdacht ohnehin schon sehr bald wieder im politischen Alltagsgeschäft.

Jetzt aber, da Freyman allerbeste Chancen dazu hatte, der neununddreißigste Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, da war die Sachlage eine ganz andere.

Vor zehn Jahren noch hatte Dorian Freymans Mutter gelebt. Ihr zweiter Sohn erfüllte schon als Heranwachsender all ihre Wünsche, die ihr älterer Sohn John nicht einzulösen bereit war. Sie hatte es von diesem allerdings auch nie explizit verlangt. Wohlgemeinte Ratschläge hat sie ihm gegeben, die ihn auf die von ihr gewünschte Spur bringen sollte.

Sie alle hatten nichts genutzt.

Er ging seinen eigenen Weg. Sie nahm daher die Schuld daran auch ganz alleine auf sich. John war eben zum Sunnyboy geboren, man konnte nie böse mit ihm sein. Am allerwenigsten konnte sie es selbst.

Aber John war John, und Dorian war eben einfach anders. Sie musste dem Jüngeren nicht einmal vorschlagen, was er tun sollte. Er tat es schon aus purem Eigeninteresse. Dass es seiner Mutter gefiel, war für ihn eine schöne Zugabe.

Da standen unter anderem zu Buche das Jurastudium im elitären Harvard - statt Ökonomie an der weniger renommierten Columbia University;

eine zurückhaltende Lebensführung, die ihrer gehobenen Stellung in der Gesellschaft bestens angepasst war - statt sich wiederholender erotischer Eskapaden;

zukunftsorientierte Karriereplanung - statt die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen.

Das alles gefiel ihr.

Und dann, last not least, der politische Höhenflug.

Die Freymans waren mit den Kennedys sehr gut befreundet. Nie ließ sich Dorians Mutter auf deren Partys anmerken, wie sie die glamouröse Familie darum beneidete, dass sie bereits einen Präsidenten im Stammbaum führte.

Dass aber Dorian eines Tages auch einmal Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein wird, das war für Mrs. Freyman so sicher wie das Amen in der Kirche. Zur Feier seiner Promotion ließ sie ein rauschendes Fest arrangieren, als wäre er es gerade geworden.

Und es gab auch später noch Anlässe genug, ihren Sohn ausgiebig feiern zu lassen. Zum Beispiel als er hochdekoriert aus dem Krieg in Korea nach Hause kam.

Er war bekannt als einer der besten Piloten der Air Force. Mehrfach hatte er durch seinen heldenhaften Einsatz Kameraden aus Lebensgefahr gerettet.

Vor seiner endgültigen Rückkehr in die Vereinigten Staaten wurde der First Lieutenant Dorian Freyman noch für ein halbes Jahr nach Deutschland, in die oberbayerische Stadt Erding, abkommandiert.

Es war im Sommer 1946, da hielt der Bürgermeister dieser Stadt die Laudatio, als die dort gerade in Gründung befindliche Wasserwacht Dorian Freyman zu ihrem Ehrenmitglied ernannte und er von der Stadt noch zusätzlich eine schmucke Ehrenmedaille überreicht bekam.

Zugesprochen wurde ihm beides, weil er, ohne Rücksicht auf die eigene große Gefahr, eine Gruppe von vier zwölf- bis dreizehnjährigen Schülern im Stadtpark aus dem Fluss gerettet hatte, ehe sie von dem heimtückischen Strudel vor einem Wehr in die Tiefe gezogen werden konnten.

Besucher des Parks hatten ihm in buchstäblich letzter Minute ein Seil zugeworfen, kurz bevor der Sog ihn zusammen mit dem einzig noch nicht geretteten Schüler beinahe noch selber bis zum Grund hinabgezogen hätte.

„Mister Freyman, es ist eine große Ehre für mich, Ihnen diese Medaille zu überreichen. Möge sie Ihnen als Erinnerung dienen für unseren Dank, so wie wir uns auch immer an Sie erinnern werden wegen Ihres tapferen und selbstlosen Handelns. Und wir bedanken uns darüber hinaus auch dafür, dass Sie die Ehrenmitgliedschaft unserer zukünftigen Wasserwacht angenommen haben.

Ihre Mitgliedschaft wird deren Aufbau vorantreiben, weil der Stolz auf ein solches Beispiel an Mut und Entschlossenheit viele unserer jungen Burschen dazu ermutigen wird, in Ihre Fußstapfen zu treten.”

Der Bürgermeister schüttelte dem Lebensretter unter dem Applaus der Bürger dankbar die Hand.

Dorian Freyman war nur First Lieutenant, weil er eine militärische Karriere nie angestrebt hatte. Er war auch in der Air Force längst schon mehr Politiker als Soldat. Seine Antwort geriet auch entsprechend der des Bürgermeisters: schöne Worte ohne jegliche Verbindlichkeit.

„Thank you so much for your warm words and the great honor. I will carry both of them to my country and hand them over to the people of the United States. God bless you, God bless my country, God bless America!”

Mrs. Freyman hatte durch ihren Einfluss dafür gesorgt, dass die Ehrung samt der emotionalen Rede durch fast alle Rundfunkstationen von der Ostküste bis hinüber zur Westküste übertragen wurde. Nur eine Woche später stiftete sie ihrerseits eine nationale Lebensrettungsmedaille.

Die sollte an verdiente Mitglieder der Bay Watch und der Fire Rescue für besondere Leistungen vergeben werden: die ‚Dorian Freyman Medal of Honor‘.

Bei allen weiteren finanziellen Stiftungen, bei denen sie selber im Rampenlicht stand, vergaß sie nie hervorzuheben, dass sie nur die Überbringerin sei, tatsächlich aber jetzt ihr Sohn Dorian Freyman hinter den Spenden stünde.

Alle Bemühungen, die Presse, das Volk, und vor allem den politischen Gegner, durch die Präsentation einer ehrenvollen und geradlinigen Vita davon abzubringen, sich weiter um die Widersprüchlichkeit bei Dorian Freymans Geburt zu kümmern, waren letztendlich vergebens.

Dass er Mitglied einer Freimaurerloge sein sollte, das war nicht gesichert. Aber das war George Washington auch gewesen. Und so machte man auch kein großes Aufheben um diese unbewiesene Tatsache, die er selber niemals bestritt. Was dem ersten Präsidenten der USA billig war, das konnte auch einem zukünftigen recht sein. Man nahm es eher respektvoll, fast ehrfürchtig, zur Kenntnis.

Es blieb die große Frage, ob er nun fünf Jahre jünger war oder älter. Ob er ein Freyman war - oder nicht. Ein Amerikaner - oder nicht.

Und das fragten sich neben den interessierten Wählern in der Bevölkerung namentlich auch immer wieder die beiden Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein, die bei der Washington Post schon einmal mit der Aufklärung eines brisanten Falles für Furore gesorgt hatten.

Eleonora Freyman, die sich nach dem unvermuteten Ableben ihres Mannes mit Gräfin ansprechen ließ, wurde von Woodward noch im Jahr ihres Todes mehrmals aufgesucht, zuletzt auf ihrem Alterssitz auf Long Island, um ihr das Geheimnis um die abweichenden Eintragungen zur Geburt ihres Sohnes zu entlocken.

Kurz vor Ende des letzten Gespräches mit ihr, wollte er sie mit einem Coup zu einer Aussage provozieren.

Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass er mit dieser Taktik Erfolg gehabt hätte.

Er glaubte, er könne sie überrumpeln und sie damit zu einem Fehler verleiten während ihrer Antwort. Sie könnte dadurch unbeabsichtigt etwas preisgeben. Damit rechnete er, als er ihr frech ins Gesicht sagte:

„Wissen Sie was, verehrte Gräfin, Sie haben die amtlichen Daten in der Geburtsurkunde schlicht und einfach fälschen lassen. Mit Ihrer Autorität war Ihnen das leicht möglich. Ich weiß zwar noch nicht, warum Sie das getan haben, aber ich werde es noch herausfinden.“

Diesem unverblümten Vorwurf seinerseits folgte allerdings umgehend der Rauswurf ihrerseits.

„Sie wissen wohl nicht, wen Sie vor sich haben? Solch eine impertinente, weil falsche Anschuldigung steht Ihnen keinesfalls zu. Wer sind Sie denn? Ich sage Ihnen nur eines: es käme Sie teuer zu stehen, wenn es nicht unter meiner Würde wäre, gegen einen Niemanden wie Sie vorzugehen. Verlassen Sie sofort mein Haus und wagen Sie nicht, es je wieder zu betreten, mein Herr!“

Damit war die Audienz auch schon beendet.

Und immer, wenn sie jemanden mit ‚mein Herr’ betitelte, dann bedeutete das für den auf diese Weise ‚geehrten‘ nichts Gutes. Das war inzwischen allgemein bekannt.

Ihre noch schnell nachgeschobene, unverhohlene Drohung, den unliebsamen Fragesteller durch einflussreiche Dritte gesellschaftlich ‚vernichten‘ zu lassen, falls er sie künftig nicht endlich in Ruhe ließe, nahm dieser so ernst, wie es angeraten war.

Woodward wusste sehr wohl, dass der Herausgeber der ‚Washington Post‘, Philip Graham, bis zu seinem Suizid in 1963, fast jeden Donnerstag sich mit seiner Gattin bei Mrs. Freyman zum gemeinsamen Kaffee getroffen hatte.

Und dass diese Treffen zum gegenseitigen Austausch, nach seinem freiwilligen Tod, mit seiner Witwe, Katherine Graham, weitergeführt wurden.

Wenn auch nicht mehr ganz so häufig, da Mrs. Graham jetzt nicht mehr so viel Zeit hatte. Ihr war die alleinige Führung des Verlages übertragen worden und sie war gut beschäftigt damit, das Unternehmen zu einem immer größer werdenden Medienimperium auszubauen.

Schon eine Frau alleine kann einem Mann so zusetzen, dass er seines Lebens nicht mehr froh wird. Aber diesen zwei Damen mit ihrer Machtfülle ausgesetzt zu sein - da war Vernichtung eindeutig das Wort der Wahl.

Auch Mr. Woodward war das klar.

Und auch Carl Bernstein stimmte mit ihm darin überein, als Woodward ihm über seinen kalkulierten Fauxpas und dessen nicht erwartete Auswirkungen berichtete.

Sie beide vermieden von da ab strikt, sich bei Aufenthalten in Long Island weiter als bis auf einen Straßenzug an das Haus der Gräfin am Bay Drive anzunähern. Und mit dem Freyman Building in New York hielten sie es vorsichtshalber auf die gleiche Weise.

Feigheit konnte man das sicher nicht nennen, was sie dazu veranlasste. Es war ganz einfach der gesellschaftliche Selbsterhaltungstrieb; der völlig verständliche Wunsch, ihre Stellung in der Öffentlichkeit nicht zu verlieren. Gegen einen so übermächtigen Gegner.

Mrs. Freyman jedenfalls blieb von den zwei Journalisten die letzten Monate, Wochen und Tage ihres Lebens unbehelligt. Und von all den wenigen Personen, die Kenntnis hatten zu den Umständen um Dorian Freymans Geburt, nahm sie ihr Geheimnis als erste mit ins Grab.

Schon die Jahre zuvor hatten die beiden Zeitungsleute im Rahmen ihrer Nachforschungen auch immer wieder versucht, Heiminsassen ausfindig zu machen, die um die Zeit der besagten Eintragung dort gemeldet waren.

Vielleicht konnte sich ja einer von denen daran erinnern, was in jener Nacht im Heim vor sich gegangen war. Wer da zu später Stunde gebracht wurde und Mitbewohner wurde. Dass er gar Zimmernachbar für jemanden geworden sei, das war eher unwahrscheinlich. Denn Kleinkinder waren in einem eigenen Flügel des Hauses untergebracht.

Schon allein die Suche nach diesen Personen, die vor so langer Zeit in dem Waisenhaus untergebracht waren, hatte sich äußerst schwierig gestaltet. Von den weiblichen Aspiranten hatten wohl die meisten geheiratet und trugen inzwischen andere Namen; sie waren daher unter ihrem ursprünglichen Mädchennamen her nicht mehr auffindbar.

Und wenn sie endlich eine dieser Frauen gefunden hatten, deren Name auf der Belegungsliste angegeben war, und von der sie glaubten, sie müsste dort auch einige Zeit verbracht haben, dann kannte die oft nicht einmal das Home of the Children. In dem sollten sie als Jugendliche aber angeblich gewesen sein - und nach dem wurden sie nun von den zwei Zeitungsleuten nach so langer Zeit gefragt. Nicht eine einzige der Befragten konnte sich an eine Jugendzeit in einem Waisenhaus erinnern.

Das Aufstöbern von männlichen Heiminsassen jener Zeit war dagegen etwas leichter.

Aber deshalb noch lange nicht ergiebiger.

Die undurchsichtige Geschichte lag schließlich auch schon Jahrzehnte zurück. Klar, wenn tagsüber ein Heranwachsender ins Heim gebracht wurde, dann war man schon mal neugierig und betrachtete ihn oder sie genauer, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. Weil es um einen neuen Spielkameraden oder eine Spielkameradin ging, auf die man einfach gespannt war.

 

Aber für neu ankommende Babys interessierte sich eigentlich kaum jemand. Vor allem aber machte der Zeitpunkt der Ankunft dieses Babys, nach dem gefragt wurde, jegliche Erinnerung unmöglich. Zu dieser weit vorgerückten Stunde mussten alle Heimbewohner, die nicht zum Personal gehörten, bereits in ihren Betten liegen. Ob Mädchen oder Junge.

Die Jagd nach Informationen im Umfeld des Waisenhauses wäre durch die Befragung der damaligen Heimleiterin sicher am erfolgreichsten gewesen. Aber die Dame war leider schon seit langem verstorben.

„Bob, wir kommen nicht weiter auf dieser Schiene. Die paar Leutchen, die wir ausfindig gemacht haben, wissen einfach nichts mehr darüber. Ich habe nicht den Eindruck, als ob auch nur ein einziger von ihnen sich an irgendeine signifikante Begebenheit erinnern hätte können, geschweige denn, bewusst eine Erinnerung zurückbehalten hätte.“

„Du hast Recht, Carl, diese Schiene führt auf ein Abstellgleis“, erwiderte Woodward lapidar.

Damit war zu der Suche nach ehemaligen Heimbewohnern alles Nötige gesagt.

In dieser Richtung war die Suche nach Klarheit im Sande verlaufen und wurde daher von den beiden nach dieser Unterhaltung auch vollständig fallen gelassen. Locker lassen im ‚Waisenhausmysterium‘, oder gar ganz aufgeben, das wollten sie dennoch auf gar keinen Fall.

„Wer zum Teufel ist dieser Mann, der sich Dorin Freyman nennt, Bob? Und warum war er, verdammt nochmal, in diesem Haus für Waisenkinder? Als Sohn der Freymans! Oder ist er doch gar nie dort gewesen?“

„Wir werden es herausfinden, Carl - und wenn wir dafür die ganze Stadt auf den Kopf stellen müssen.“

„Die ganze Stadt auf den Kopf stellen? Na ja, du meinst sicher, außer Long Island Bay Drive und außer einem gewissen Karree an der Pearl Street…“

Bob Woodward knurrte wie ein Hund, dem man unter der Schnauze den Fressnapf wegzieht. Dann bezeichnete er Mrs. Freyman mit einem Ausdruck, den die Gräfin sicher als höchst ungebührlich zurückgewiesen hätte.

Die zwei Aufklärer wandten sich in der Folge wieder anderen Aspekten der Affäre zu. Die vielen Einzelteile, die sie beharrlich ansammelten, gedachten sie irgendwann zu einem aussagekräftigen Bild zusammenzusetzen.

Noch einen weiteren beachtenswerten Punkt gab es neben der Sache mit dem Waisenhaus.

Für die beiden rastlosen Reporter war auch die Tatsache hoch interessant, dass Elenora Freyman sich im Alter von über sechzig Jahren einen dreißig Jahre jüngeren Mann ins Haus geholt hatte. Der galt offiziell als Erzieher für den zu dieser Zeit vierzehnjährigen Dorian, als Ersatz für dessen verstorbenen Vater. Es wurde aber schon zu jener Zeit gemunkelt, als diese Liaison erstmals bekannt wurde, dass dieser attraktive Herr für die nach wie vor lebenslustige Witwe wohl auch für die einem Gatten entsprechende Funktion zuständig sei.

Den Gedanken daran, dass er als Vater für Dorian Freyman in Frage käme, verwarfen die beiden Journalisten nie völlig, obwohl es ihnen manches Mal doch mehr als unwahrscheinlich schien.

Vage Hinweise gab es. Sehr vage.

Verdächtig kam ihnen in diesem Zusammenhang vor, dass genau diesem ehemaligen Ziehvater vor einigen Jahren eine bestens dotierte Stelle im Justizministerium zugesprochen wurde. Und zwar just während der Zeit, in der Dorian Freyman das Amt des Justizministers innehatte. Dem eigenen Vater ließe man über seine Beziehungen ganz gewiss eine solche Stelle zukommen.

Aber mehr als eine Überlegung war auch das nicht.

Denn dieser ehemalige Mentor an Vaters Stelle, den der Minister Freyman ins Amt berief, kam aus dem Polizeidienst, den er von der Pike auf gelernt hatte. Für seine spezielle Aufgabe im Ministerium war er qualifiziert wie kaum ein anderer. Und auch diesen Mann auf ihrer umfangreichen Liste hatten sie mehrfach befragt, waren bei ihm jedoch ebenfalls auf nichts als Ablehnung und Schweigen gestoßen. Wie sie es auch anstellten.

Nur ein einziges Mal hatte er ihnen zwischen Tür und Angel unwirsch geantwortet und gesagt, er habe mit dieser Angelegenheit nichts zu tun und sei auch keinesfalls der leibliche Vater von Dorian Freyman.

„Mister, wollen Sie in ihrem Alter nicht reinen Tisch machen und uns sagen, was Sie über die Angelegenheit wissen? Glauben Sie nicht, es ihnen selber schuldig zu sein?“

Ein forscher Appell an die Ehre, den Carl Bernstein an den distinguierten Herrn im eleganten Hausmantel richtete.

Ebenso forsch wie dieser Appell war, so kaltschnäuzig und frech war er auch.

Denn sie konnten dem unbescholtenen Mann ja nicht einmal das Geringste vorwerfen.

Der Fragesteller hatte seinen Fuß in der Tür, der andere, Woodward, setzte sein unschuldigstes Gesicht auf. Es sollte Absolution versprechen für jeden möglichen Frevel, den der Befragte in der Vergangenheit begangen haben könnte und jetzt endlich eingestehen sollte.

Eine mögliche Absolution, die durch nichts anderes autorisiert war, als durch die Arroganz der Journalisten.

„Meine Herren, es gibt nichts in meinem Leben, was ich mir vorzuwerfen hätte. Vor allem nicht die von ihnen unterstellte Vaterschaft - und damit basta“, murrte der Mann, der sie erst gar nicht in seine Wohnung gelassen hatte.

Carl Bernstein nahm schnell seinen Fuß aus der Tür, als sie von dem auf gut Glück beschuldigten Privatier energisch zugedrückt wurde. Pech gehabt.

Es klang ihnen hinreichend glaubhaft, zumal was die Kindszeugung betraf. Trotz der Existenz einiger Hinweise, die auch dafür sprachen. Doch gerade alle diesbezüglichen Indizien waren und blieben mit großen Fragezeichen versehen. Fragezeichen sogar mit Ausrufezeichen kombiniert, wenn es so ein Doppelzeichen denn überhaupt gäbe.

Aber dass der inzwischen über sechzig Jahre alte Mann ihnen über die undurchsichtige Angelegenheit um seinen ehemaligen Zögling, den Senator Freyman, viel mehr hätte berichten können, als er es wollte und es auch tat, davon ließen sie sich nicht abbringen.

Von nichts und niemandem.

Und so beschlossen sie, so lange in dem vermeintlichen Morast weiter zu stochern, bis sie eine plausible Erklärung für alles gefunden hätten. Bis sie, durch stichhaltige Beweise abgesichert, diese Fragen definitiv beantworten könnten:

Wurde bei der Geburt des Senators, der als Dorian Freyman bekannt war, etwas verschleiert?

Und wenn ja, warum wurde es getan und wem nützte es?

Wer war dieser Mann also wirklich?