Die Gräfin von New York

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Rose ging jetzt turnusmäßig jede Woche zu den Lehrstunden Vater O’Reillys, John immer im Schlepptau mit dabei. Geparkt während der Unterrichtsstunde bei der Haushälterin des Gottesmannes. John gefiel es mittlerweile sehr gut bei der älteren Dame. Die wusste bestens, wie man mit Kindern umgeht. Daher verflog die Zeit für den Jungen in ihrer Obhut manchmal auch gar zu schnell für ihn.

O’Reilly hatte die Eltern der anderen vier im Unterricht verbliebenen Kinder angeschrieben und ihnen mitgeteilt, dass die Bibelstunden in der bisherigen Form wegen Zeitmangels nicht weitergeführt werden können. Er habe aber die Absicht, sie in jedem Falle sofort zu benachrichtigen, sobald wieder welche stattfinden sollten.

Rose bekam also sozusagen Einzelunterricht. Eine ganz spezielle Art von Privatstunden.

Durch den nun planmäßigen Besuch der Bibelstunden offenbarte sich scheinbar eine tiefe Religiosität in dem kleinen Mädchen. Das verunsicherte ihre Mutter sehr, und auch ihr Vater war besorgt darüber. Einmütig teilten sie ihre schwerwiegenden Bedenken. Sie hegten die Befürchtung, dass sie ihr Kind vielleicht noch an ein Kloster verlieren könnten. Wann immer sie gefragt wurde, wie sich der Unterricht denn entwickle, blockte Rose in schöner Regelmäßigkeit ab und wich sofort auf ein anderes Thema aus.

Es ging offenbar niemand außer ihr etwas an, nicht einmal die eigenen Eltern, welche persönlichen Angelegenheiten sie mit ihrem Herrgott und dessen irdischem Gehilfen zu besprechen hatte.

O’Reilly hatte am ersten Tag zögernd angefangen, Rose während seiner Tiraden hin und wieder sanft zu streicheln, irgendwie anders, als ihre Eltern das öfter taten. Diese zärtlichen Berührungen wurden immer häufiger. Da war der aufgeweckten Rose bald klar geworden, dass der fromme Mann sie nicht zu klösterlicher Keuschheit hinführen wollte - eher zum genauen Gegenteil.

Ihre anfängliche Entrüstung und Ablehnung darüber wich schnell einem vorwitzigen Interesse.

Sie war trotz ihres jugendlichen Alters längst schon eitel genug, um sich vom unverhohlenen Begehren dieses erwachsenen Mannes geschmeichelt zu fühlen.

Erstaunt war sie auch über ein ganz anderes Gefühl, das während dieser Hätschelei in ihr wach gerufen wurde und das sie bis zu diesem Tag nur sehr diffus verspürt hatte. Es machte sie neugierig.

Alle verwegene Neugier wurde aber noch weit übertroffen von dem Erstaunen darüber, welche Macht sie mit der Erlaubnis oder dem Verbot solcher Berührungen auf den im Verhältnis zu ihr so alten Mann ausüben konnte.

Rose verspürte eine unheimliche, schon fast sadistische Lust dabei, die vorherrschenden Autoritätsverhältnisse völlig auf den Kopf zu stellen und mit dem hilflosen Opfer nach ihrem Belieben zu spielen.

Schon eine beiläufig geäußerte Überlegung, sie könne der Bibelstunde fürderhin vielleicht fernbleiben, konnten den armen Mann in tiefe Verzweiflung stürzen.

Mittlerweile war Rose zu Hause wieder gesprächiger geworden. Sie hatte sich eine feine Ausrede ausgedacht für ihr Interesse an den sogenannten Bibelstunden.

Sie behauptete, sie werde gerade in der Geschichte der Religionen unterrichtet, speziell auch über die Rolle der Frau innerhalb der Kirchen. Das zöge sie sehr in ihren Bann und das wolle sie unter keinen Umständen versäumen. Das klang recht glaubwürdig. Ihr generelles Interesse für die Rechte der Frauen musste sie nicht extra belegen.

Dass sie ‚Einzelunterricht‘ hatte, verschwieg sie ihren Eltern aber wohlweislich.

Die glaubten ihr ansonsten aufs Wort, weil sie Roses Vorlieben kannten, und waren es denn auch zufrieden.

Das war genau das, was Rose beabsichtigt hatte.

Denn nicht nur fand sie größten Gefallen an der Macht über den Priester, wenngleich das jetzt auch ihr Hauptvergnügen war. Sie nutzte auch während des gesamten Zeitraumes, über den sich die Bibelstunden hinzogen, die nicht völlig ausgeräumte Angst ihrer Eltern, sie könnte sich doch noch für ein Kloster entscheiden.

Um zu ihren Gunsten etwas durchzusetzen, wenn es ihr zunächst auch strikt versagt wurde, reichte oft genug, wenn sie nur wie nebenbei anmerkte: „Dann gehe ich vielleicht doch lieber ins Stift!“ Um damit nicht zu überreizen, was irgendwann vielleicht doch noch ein Verbot des Besuches ihrer Stunden nach sich gezogen hätte, setzte sie dieses Druckmittel sehr sparsam und durchdacht ein.

Zwischen der ehrlichen Beteuerung, ein Kloster höchstens von außen sehen zu wollen und dem vorgespielten Berufswunsch Äbtissin lavierte sie so geschickt hin und her, dass sie bald völlig neu eingekleidet war und schon teureren Schmuck bekam, als Mary-Ann ihn je bekommen hatte.

Der ‚Segen des Herrn‘ erreichte sie auf dem Umweg über ihre geschickte Strategie.

Die Wochen vergingen.

Nach drei Monaten konnte Rose ihre Neugier nicht länger zügeln. Sie wollte jetzt wissen, wie das Spiel ausgeht, wenn man den vollen Einsatz wagt und die Karten auf den Tisch gelegt werden. Dass sie alle Trümpfe in der Hand hielt, das wusste sie bereits. Und so spielte sie das Spiel mit Vater O’Reilly zu Ende.

Das Preisgeld für eine gewonnene Partie war bereits vorher festgelegt: Rose musste Maria sein.

So kam es, dass beim diesjährigen Krippenspiel des Sprengels zum ersten Mal in der Geschichte der Basilica of St. Patrick’s Old Cathedral die Jungfrau Maria nicht von der Tochter eines der höchsten städtischen Beamten gespielt wurde. Eine Sensation für die gesamte Gemeinde.

Denn es war bis dahin ein zwar ungeschriebenes, aber über all die Jahre strikt eingehaltenes Vorrecht der Stadtoberen gewesen, eine der Töchter aus ihren Kreisen im Rampenlicht dieser renommierten und viel beachteten Aufführung zu sehen. Dieses Jahr aber hatte Vater O’Reilly ein anderes Mädchen auserwählt.

Na ja - auserwählen müssen.

Gegen den immer wieder ausdrücklich und sehr heftig vorgebrachten Einwand seiner Prinzipale. Er hatte sich jedoch durchgesetzt und sich für die Tochter eines zwar hochgeachteten, aber ansonsten ohne städtisches Amt und Würde bedachten Steuerzahlers entschieden. Für Rose.

Noch ein weiteres absolutes Novum gab es bei diesem Krippenspiel, seit es 1876 zum ersten Mal aufgeführt wurde.

Das ahnte freilich niemand, es verlieh dem Spiel aber unbeabsichtigt einiges mehr an Authentizität durch seine größere Nähe zur Lebenswirklichkeit:

Die ‚Heilige Jungfrau‘ im Stück, nach katholischem Aberglauben die unbefleckte leibliche Mutter des Jesus von Nazareth - und befruchtet durch einen heiligen Geist - wurde dieses Jahr zum allerersten Mal nicht von einem unberührten Mädchen gespielt.

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John und der „Rote Halbaffe“ - New York 1910

Mit erst zehn Jahren war John für sein Alter schon überdurchschnittlich entwickelt. Jedenfalls körperlich.

Nicht so wie seine Schwester Rose, die in seinem jetzigen Alter manchmal schon so schlaue Sachen sagte, dass man sie oft fälschlicherweise als ‚altklug‘ bezeichnete.

Johns geistige Entwicklung vollzog sich etwas langsamer. Allerdings konnte man bei ihm den Eindruck gewinnen, sie sei auch entsprechend intensiver.

Von seinem Wuchs her konnte man ihn durchaus ein paar Jahre älter einschätzen.

Dieser äußerliche Anschein von schon etwas fortgeschrittener Reife, dazu sein vom Vater vererbter blonder Schopf und seine, ebenfalls von den väterlichen Genen vorgegebenen blauen Augen machten ihn auch für einige der älteren Mädchen in der Straße interessant.

Wenn man ‚älter‘ und so um die zwölf bis fünfzehn Lebensjahre nicht als völlig unvereinbaren Gegensatz sieht.

Adjektivische Zuschreibungen werden schließlich immer auch von der Relation bestimmt. Einen zwei Meter langen Grashüpfer würde man sicher als riesig bezeichnen, einen gleich großen Elefanten eher nicht.

John war es seit einiger Zeit erlaubt, ohne Begleitung das Haus zu verlassen. Das war für ihn vorerst das Wichtigste. Keine Aufpasserinnen mehr dabei. Endlich.

Und er nutzte diese Bewilligung durch seine Eltern auch weidlich. Noch war die Balz um das andere Geschlecht nebensächlich, erst musste die Rangordnung auf der Straße innerhalb des eigenen behauptet werden.

In der Pearl Street war er immerhin bereits der unumstrittene ‚Boss‘ unter den Jugendlichen, die sich nach der Schule stundenlang, manchmal bis spät in die Abende hinein, auf der Straße herumtrieben.

Es war nicht nur seine körperliche Dominanz gegenüber den anderen etwa gleichaltrigen Kindern, die ihm diese Stellung zusprachen. Es war auch das Vermögen seines Vaters, von dem er indirekt profitierte.

Das hatte zwar während der Finanzkrise 1907 leicht gelitten, aber die Panik an der Börse hatte neben ganz großen, schon vorher finanziell angeschlagenen Unternehmen, vornehmlich den kleineren und mittleren Firmen zugesetzt.

Mr. Freyman aber hatte fast ausschließlich potente Kunden, deren Vermögen bereits in einer solchen Größenordnung in Grundbesitz umgewandelt war, dass fallende Börsenkurse sie nicht mehr ernsthaft in ihrer Existenz gefährden konnten. Aus diesem Grund liefen auch die Geschäfte des Mr. Freyman weiterhin entsprechend gut.

John hatte daher immer aktuelle Spielsachen, modische Sportgeräte, das neueste Fahrrad und noch andere Dinge mehr. Außerdem war er immer bestens gekleidet.

Vor allem aber hatte er stets Softdrinks, Schokolade und andere Süßigkeiten dabei, und das nicht zu knapp. Die teilte er freigebig mit den anderen.

Das alles zusammen machte erst den ‚Boss‘.

Die Clique der Pearl Street: Das war John, als Anführer, Hank Williams, der Sohn des Möbelhändlers, der im Freyman Building seinen Laden mit der Werkstatt gleich dahinter hatte und auch im gleichen Gebäude wohnte; dazu kam Michael Bloom, der mehr oder weniger Gast war, denn er war als einziger der Gruppe nicht ansässig in der Straße, sondern kam fast täglich aus Brooklyn herüber.

 

Von ihm wusste man nichts über seine Herkunft, er sprach nie darüber und wenn ihn einer fragte, dann wich er solchen Fragen geschickt aus; das Einzige, was er sich aus der Nase ziehen ließ, war die Straße, in der er wohnte. Er sagte, es wäre die Bedford Avenue. Ob das stimmte, wusste keiner. War auch keinem so wichtig.

Des Weiteren gehörte zur Gang ein gewisser Steven Coleman. Er war der Sohn des Frank Coleman, der gleich vorne an der Ecke zur Liberty Street eine sehr noble Herrenschneiderei betrieb und sozusagen in zweifacher Hinsicht gut betucht war.

Und nicht zuletzt war da auch der eher zurückhaltende Casey Norman, den alle in der Gang nur die ‚Blinde Kanone‘ nannten, weil ihm ein Auge fehlte. Seine Eltern betrieben ein Waffengeschäft. Beim Einschießen einer restaurierten Winchester 73 für einen Sammler war ihm unglücklicherweise ein Querschläger eines Geschosses in das Auge gedrungen - als er es noch hatte.

Seit diesem tragischen Vorfall trug er davor eine schwarze Augenklappe. Er mochte diesen Namen, den sie ihm verpassten, gar nicht. Und weil er sich anfangs so vehement dagegen wehrte, blieb er ihm auch erhalten.

Die Fünf nannten sich Bande und fühlten sich furchterregend und gefährlich. Das übermütige Quintett war aber tatsächlich nicht mehr als eine Rasselbande.

Oft lungerten sie stundenlang drunten an den Piers herum und schauten wehmütig einem der neuen, riesigen Dampfschiffe nach, deren Qualm, je nach Wetterlage, den Himmel über dem ganzen Hafenviertel verdüstern konnte.

Oder sie bewunderten einen der großen Segler, die sich auf die Reise nach Europa machten oder zu einem anderen Teil der Welt aufbrachen. Starrten gebannt auf die Matrosen, die bäuchlings über den Rahen hingen, um die Segel herunterzulassen für die große Fahrt.

Ein unerklärliches Gefühl der Sehnsucht nach Ferne und Abenteuer überkam sie dabei.

John betrachtete die unterschiedliche Menge, die am Kai stand und den abfahrenden Riesen nachwinkte, noch aufmerksamer als seine Freunde. Er hielt bewusst nach ganz bestimmten Indizien Ausschau.

Von denen hatte sein Vater oft gesprochen.

Es ging um die Anzeichen, an denen man gerade am Hafen alle möglichen Arten von Menschen beobachten und an ihrem Habitus gut erkennen kann.

Er erinnerte sich gut an seine Worte.

„Junge, da siehst du zum einen die Erfolgreichen. Das sind die, deren Angehörige unbesorgt eine Reise nach Europa antreten können, zum Vergnügen, und natürlich auch, um den finanziellen und damit gesellschaftlichen Aufstieg der Familie jetzt in der ehemaligen Heimat, bei ihren Verwandten, Bekannten und Freunden, voller Stolz vorzuweisen.

Deren Verwandtschaft am Landungssteg winkt den Reisenden nach, eingehüllt in den Duft teurer Parfüms und Tabaksorten, gekleidet in edlem Pelz, kostspieligem Leder und bestem Tuch. Mit ein paar rührseligen Tränen des Abschiedsschmerzes auf ihrem fleischigen Gesicht, auf ein baldiges Wiedersehen ihrer Angehörigen hoffend.“

John hatte aufmerksam zugehört und wollte nun hier am Pier sehen, ob denn Vaters Beobachtungen auch stimmten.

Und ja, die Erfolgreichen konnte er leicht ausmachen.

Sie standen winkend vor ihren Kutschen oder Motorwagen, vornehm gekleidet, wie Vater es beschrieben hatte.

„Zum anderen gibt es die Gescheiterten“, hatte Joseph Freyman ihm weiter erklärt, „die kann man nicht sehen, sie sind schon im Bauch des Schiffes verstaut. Es sind diejenigen, die sich mit ihren letzten zusammengekratzten Ersparnissen gerade noch eine Passage für die Rückfahrt leisten konnten. Sie kehrten jetzt bitter enttäuscht dorthin zurück, von woher sie mit ihren Träumen und Hoffnungen so zuversichtlich aufgebrochen waren.“

Die anderen, die noch schlimmer dran waren als jene, die ‚nur‘ gescheitert waren, die ‚Abgestürzten‘, wie er sie nannte, die hatte er ihm auch beschrieben.

Es waren jene, die nicht in die untersten Klassen der Schiffe gepfercht waren. Und das aus einem sehr einfachen Grund.

Sie konnten es sich gar nicht mehr leisten.

Diese Leute sah John etwas abseits vom Landesteg herumlungern. Wie hätten diese Ausgestoßenen auch genug Geld für eine Passage auftreiben können - wo sie doch schon kaum etwas zu essen hatten.

An ihren hageren Gesichtern und der abgerissenen Kleidung an ihren ausgemergelten Körpern konnte man sie leicht erkennen. Mit düsterem Gesicht beobachteten sie, wie sich die Bordwand des ablegenden Dampfers oder Seglers immer weiter von der Hafenmauer entfernte. Sie sahen keinerlei Chance mehr für sich, eines Tages noch mit an Bord gehen zu können.

Diese Menschen hatten auch keine Tränen mehr auf ihren knöchernen Wangen. Die hatten sie längst ausgeweint in den entweder brütend heißen oder bitter kalten langen und hoffnungslosen Nächten der Not und Verzweiflung.

Es waren jene, die diese nach außen hin so einladend glitzernde, aber in ihrem Kern gnadenlose Stadt einfach ausgespuckt hat. Auf sie wartete zur Schlafenszeit meist eine harte Bank im Central Park, vielleicht eine trockene Nische in den finsteren Röhren der Subway oder ein zugiger Winkel an einer der Brückenauffahrten.

Wenn sie Glück hatten, ergatterten sie irgendwo her eine alte Matratze zum Schlafen, oder wenigstens eine achtlos weggeworfene Zeitung, mit der sie sich auf dem nackten Boden notdürftig zudecken konnten.

„Aber vergiss niemals“, hatte ihn Vater beschworen, „dass es auch noch eine ganz andere Art von Gescheiterten gibt.

Achte gut darauf, dass du nie zu denen gehörst. Denn diesen Menschen kann nicht einmal ein unverhoffter Glücksfall aus ihrer ewigen Betrübnis helfen.“

Er hatte seine Stimme eindringlich erhoben, als er weitersprach, und sogar, wie zur Warnung, seinen Zeigefinger zu ihm hin ausgestreckt, was er sonst eigentlich nie tat.

„Damit meine ich die, deren kalten Herzen jegliche Wärme fremd ist und in die niemals ein Sonnenstrahl eindringt. Diese Menschen sind nicht die Luft wert, die sie atmen.

Sie sind trotz ihres Erfolgs und ihres dadurch erworbenen Vermögens gescheitert – als Mensch.

Hüte dich gut davor, einer von denen zu werden!

Ich spreche von jenen Menschen, die bereits durch emsige Rastlosigkeit ihre Million Dollar gemacht haben, sich aber ständig grämen, dass es keine zwei sind. Und wenn sie endlich zwei haben, ist es auch nicht genug. Dann sollen es mindestens drei sein, oder am besten noch mehr.

Diese Leute sind auch gescheitert - an fehlender Demut.

Mein Junge, versuche nicht, nur Geld zu machen oder Vermögen zu erwerben. Bemühe dich immer, und das vor allem anderen, ein Mensch zu werden. Das ist sicher das schwierigste Unterfangen im Leben, aber auch das erstrebenswerteste - eigentlich das einzig erstrebenswerte.“

Es war eine kleine Pause entstanden, während derer John die mahnenden Worte auf sich wirken ließ.

Nach einigem Grübeln glaubte er, in den Worten seines Vaters einen Widerspruch ausgemacht zu haben.

Den wollte er geklärt haben.

„Aber Dad, wie kannst du mir solche Ratschläge erteilen? Du hast doch auch eine Million nach der anderen gemacht. Deshalb bist du doch nicht gescheitert, das Gegenteil ist der Fall“, entgegnete John provozierend.

Mit zehn Jahren spielt man gerne mal Opposition, wenn sich scheinbar die Gelegenheit dazu bietet, weil man glaubt, eine Ungereimtheit in einer Aussage zu erkennen.

„Richtig, mein Junge. Aber zwei gleich aussehende Dinge sind oft nicht ein und dasselbe.

Ich habe nicht verbissen auf die Millionen hingearbeitet, sondern lediglich auf mein Ziel, ansprechende Gebäude zu errichten und sie harmonisch in ihre Umgebung zu setzen. Mein vorrangiges Bestreben war es, die eher naturfeindlichen Bedürfnisse der Menschen mit unserer Umwelt, so gut es geht, zu vereinen. Unser Vermögen, mein lieber John, ist der Lohn für all diese Bemühungen, nicht das Ergebnis der gierigen Jagd nach ihm.“

John hatte verstanden; er wollte mit seinem Einwurf auch nicht das Lebenswerk seines Vaters ernsthaft kritisieren, sondern damit lediglich die von ihm angenommene Unvereinbarkeit in der vorgebrachten Auslassung erklärt haben.

Mr. Freyman hatte noch etwas anzufügen.

„Wenn einen die ganze Welt singen hören will…“, er spielte auf das Konzert Carusos in seinem Hause an, „oder einen die ganze Welt tanzen sehen will, oder ein anderer Kunstwerke schafft, die die Welt begeistern, seien es Gemälde oder Skulpturen, dann ist es auch gerechtfertigt, dass der Künstler entsprechende Honorare erhält und dadurch reich wird - er bereichert die Welt ja auch seinerseits.

Aber ein schäbiger Nichtsnutz, der seinen Reichtum zum Beispiel durch gezielte Spekulationen erwirbt, die oft genug andere Menschen ins tiefe Elend stürzen, der gibt der Welt nichts außer Not und Harm.

Das tun auch jene Fabrikanten und Händler, die außer ihrem eigenen Profit nichts anderes im Kopf haben und deren einzige Ambition es ist, ihre Unternehmen wie bösartige Geschwüre immer weiter anwachsen zu sehen. Zu Lasten der Umwelt und vor allem zum Nachteil ihrer Mitmenschen, von derer Hände Arbeit sie letztendlich leben.“

John nickte versonnen mit dem Kopf und ging auf seinen Vater zu. Er hatte das Gefühl, ihn umarmen zu müssen.

Und er tat es auch.

Und jetzt, hier unten am Pier, waren die so verschiedenen Welten und ihre Protagonisten zu sehen, genau wie Vater sie so drastisch und emotional geschildert hatte. Wie auf ein riesiges Bühnenbild projiziert.

Die wahren Dramen in diesem brodelnden Moloch aber spielten sich hinter den Kulissen ab. Dort, wo das Elend seinen festen Wohnsitz hatte, dort, wo niemand hinsehen konnte - und auch gar niemand hinsehen wollte.

Ein paar Straßen weiter, aber auch um die nächste Ecke schon, konnte sich gerade ein verzweifelter Familienvater eine Kugel in den Kopf jagen, ein entwurzelter Zuwanderer mit heißem Blut eine junge Frau schänden, ein Ausgestoßener just in diesem Moment einem wehrlosen Passanten die Kehle durchschneiden, für ein paar Dollar - oder auch nur für ein paar lumpige Cents.

So etwas las man anderentags mit leichtem Gruseln in der Zeitung - und vergaß es am liebsten schnell wieder.

*****

Keiner von ‚Johns Bande‘ hatte kriminelle Neigungen, keiner von ihnen trug eine Waffe bei sich. Weder Messer noch Schlagring hatten sie, von Pistolen oder noch größeren Handfeuerwaffen ganz zu schweigen.

Streiche spielten sie, harmlose Streiche. Die waren auch manchmal für den ein oder anderen Betroffenen etwas ärgerlich. Aber richtig Böses hatten sie nie im Sinn. Eine völlig harmlose, manchmal auch übermütige Rasselbande - ja genau, das waren sie.

Auf dem Nachhauseweg von der Schule wollte John heute noch im Laden der Delanos vorbeischauen, um sich bei dem Besitzer für eine der zuletzt angestellten Dummheiten seiner Truppe zu entschuldigen.

Die Delanos hatten seit Jahren ein Obstgeschäft genau gegenüber dem Gebäude der Freymans.

Das Ehepaar Pasquale Delano und Giulia Delano betrieb das Geschäft schon lange Zeit bevor Joseph Freyman das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite erwarb.

Auf dem Schild über dem Eingang warben sie mit ‚Fresh Fruit from your Italian‘. Das war zwar nicht grundsätzlich falsch, schließlich waren sie Italiener.

Dennoch war es leicht irreführend, kam doch all ihr Obst, das sie verkauften, aus dem sonnigen Kalifornien herüber. Von dort wurde es hergebracht mit den neuen Kühlwaggons. Auch im Hochsommer kam es frisch und knackig in New York an. Werbetechnisch war der Hinweis auf Italien dennoch kaum zu beanstanden. Die Leute interessierte vor allem, dass das Obst frisch war und ohne zu viele Flecken, und nicht so sehr, wo es herkam. Und dass es nicht extra aus dem fernen Italien herangeschafft würde, das war ohnehin jedem klar.

John und seine Kumpane hatten zwei Tage vorher ein Schild angefertigt, auf dem in großen Lettern nur zwei Worte standen: ‚Today Free‘.

Das hatten sie nachts heimlich unter das Firmenschild des Obsthändlers gehängt. Pasquale Delano hatte deswegen ziemlichen Ärger mit einigen Kunden gehabt, denen er erklären musste, dass dieses Schild nicht von ihm stammte, sondern ein übler Scherz von Unbekannten war.

Trotzdem hatte er einigen der aufgebrachtesten aus seiner Stammkundschaft, dem lieben Frieden zu Willen, etliche Kilo seiner Ware kostenlos abgeben müssen, bevor er endlich dazu kam, das Schild wieder abzunehmen.

John wollte die Delanos noch vor dem Lunch um Verzeihung bitten und Schadenersatz anbieten. Er steuerte daher mit einem leichten Unbehagen, aber fest entschlossen, auf der seinem Elternhaus gegenüber liegenden Straßenseite auf das Ladengeschäft der Delanos zu.

 

Er blickte kurz zur anderen Seite hinüber, wollte sehen, ob ihn jemand aus seiner Familie vielleicht aus dem Fenster beobachtete, wie er in das Geschäft hineinging. Das wollte er eigentlich vermeiden, weil man ihn sonst am Mittagstisch fragen könnte, was er denn dort gemacht hätte, wenn er, ohne Obst gekauft zu haben, wieder herauskam.

Natürlich ahnte seine Familie bisher nichts von den Streichen, die unter seiner Regie im Viertel durchgeführt wurden. Das sollte seinem Willen nach auch besser so bleiben.

Und tatsächlich.

Seine Mutter stand gerade an einem der Fenster im ersten Stock und schaute auf die Straße herunter. Sie hatte ihn leider auch schon gesehen, was John durch ihr freundliches Winken bestätigt wurde.

An der nächsten Straßenecke sah er zwei seiner Freunde herumlungern: Hank Williams und die ‚Blinde Kanone‘, Casey Norman. Die beiden wussten, was John gerade vorhatte und wollten ihn anschließend sprechen, um zu erfahren, ob seine Bitte um Entschuldigung angenommen wurde.

Hatten sie jedenfalls gesagt. Wahrscheinlich aber waren sie viel eher erpicht darauf, neue Streiche auszuhecken und sie gleich mit John zu besprechen.

Etliche Schritte hinter dem Eingang des Ladens saß der fünfjährige Sohn der Delanos auf dem Treppenabsatz des nächsten Hauseingangs. Jener Junge, der just an dem Tag geboren wurde, als John aus Unachtsamkeit unter einem Fuhrwerk gelandet war und mit viel Glück so gerade noch seinem frühzeitigen Tod entronnen war.

Fast täglich konnte man den kleinen Burschen dort sitzen sehen. Er zog einen saftigen Pfirsich aus seiner ausgebeulten Hosentasche, den ihm seine Mutter wieder einmal zugesteckt hatte. Kurz vor seinem sechsten Geburtstag ließ sie ihm öfter mal ein paar Früchte nebenher zukommen.

Der Junge saß oft an diesem Platz und beobachtete, was auf der Straße so vor sich ging. Auch jetzt, beim Biss in den prallen Pfirsich, wobei ihm der Saft an den Mundwinkeln herablief, ließ er seine Umgebung nicht unbeobachtet. Aus den Augenwinkeln hatte er sie jederzeit im Blick.

John überdachte indessen sein weiteres Vorgehen. Sollte er die Entschuldigungsaktion abbrechen? Es am nächsten Tag wieder versuchen? Oder reingehen und nach seiner Bitte um Entschuldigung einfach noch etwas Obst mitnehmen?

Das wäre ein zusätzliches Zeichen von Reue einerseits, was den Ladeninhaber beeindrucken könnte, und außerdem die natürliche Erklärung seiner Mutter gegenüber für den Besuch im Laden der Delanos.

Immer öfter kamen Typen von den Brooklyn Hights herüber in den Bezirk: Oder von der anderen Seite Manhattans, aus den dunkleren Vierteln rund um die ausgedehnten Hafenanlagen am Hudson River. Manche kamen sogar aus der Bronx herunter. Diese Gestalten hatten ganz anderes im Sinn, als Johns Freunde. Ganz anderes als nur jemanden einen harmlosen Streich zu spielen oder anderweitig Schabernack zu veranstalten.

Sie kamen hierher, um Drogen anzubieten, Passanten auszurauben und Läden zu überfallen. Das waren keine Rasselbanden mehr, das waren Kriminelle. Manche kamen sogar aus anständigem Elternhaus, andere jedoch wuchsen schon mit Gewalt und Gesetzesübertretung auf. Ihre alltäglichen Diebstähle, kleinere und größere, wurden beinahe schon als normal empfunden.

Johns Überlegungen zum Ablauf seiner Entschuldigungsaktion wurden abrupt unterbrochen, als plötzlich die Ladentür der Delanos von innen aufgerissen wurde. Ein Kerl sprang heraus und die Treppen hinunter.

Die beiden Taschen an seiner Jacke waren weit ausgebeult. Gefüllt waren sie mit rot-grün gefleckten Äpfeln, von denen einige daraus hervorschauten. Und diese Früchte gehörten noch immer den Delanos.

Denn bezahlt waren sie offensichtlich nicht. So stellte sich die Situation jedenfalls ziemlich eindeutig dar.

Unter den linken Arm hatte sich der Bursche, der so mächtig in Eile war, außerdem einen länglichen, bis oben hin gefüllten Korb Erdbeeren geklemmt. Er schaute sich kurz nach allen Seiten um, und rannte dann genau in die Richtung weg, aus der John heranspaziert kam.

In der entgegengesetzten Richtung, nicht weit entfernt, hatte er eine größere Gruppe von Menschen stehen sehen und sich für den vermutet einfacheren Fluchtweg entschieden. Dort eine Ansammlung von Menschen, hier nur ein Junge; die Wahl fiel nicht schwer.

Inzwischen waren Pasquale Delano und seine Frau auch schon in der Tür aufgetaucht und schimpften und zeterten dem Dieb hinterher. Pasquale hob dabei seine Faust und schüttelte sie drohend; sinnvolleres machen konnte er jedoch nicht mehr. Viele der Diebe aus den anderen Stadtteilen waren als äußerst gewalttätig bekannt, eine Verfolgung war daher nicht ratsam. Die achtjährige Ricarda hing ängstlich am Rockzipfel ihrer Mutter und betrachtete mit offenem Mund die Szenerie.

Da waren also Mama und Mrs. Delano, insgesamt aber eigentlich drei Frauen, wenn man noch Ricarda großzügig hinzuzählte, und für einen zehnjährigen Jungen ist eine Achtjährige durchaus so etwas wie eine Frau.

Außerdem noch zwei ‚Untergebene‘, die nun allesamt den Vorgang beobachten konnten. Da durfte und wollte John partout nicht als Feigling oder Drückeberger dastehen.

Zwar erkannte er den Dieb sofort, es war der ‚Rote Halbaffe‘, der Sohn eines irischen Zuhälters aus dem Stadtteil Inwood. Und John wusste, der war unberechenbar und allen bekannt als äußerst gewaltbereit.

Roter Halbaffe wurde er genannt, weil nicht nur sein Kopf, sondern auch sein Rücken ziemlich dicht mit rötlichem Haar bewachsen war, das am Hals hinten sogar über dem Hemdkragen herausquoll und weil seine vollends feuerroten Backenkoteletten fast sein gesamtes Gesicht bedeckten.

John trat Patrick McCoy, so hieß der Rote Halbaffe mit richtigem Namen, mit einem Ausfallschritt beherzt in den Weg, stoppte ihn mit angespanntem Oberkörper und packte ihn dabei so fest wie er konnte am linken Oberarm.

McCoy war vollkommen überrascht.

Als er blitzschnell seinen Fluchtweg festgelegt hatte, da hätte er nicht im Traum daran gedacht, dass dieses Milchgesicht sich mit ihm anzulegen wage.

„Lass mich sofort los Freundchen, sonst kannst du was erleben!“, brüllte der Ire aufgebracht.

Er quetschte den Erdbeerkorb fester an sich und versuchte, sich aus Johns Griff zu befreien und sich mit einer leichten Drehung seitlich an ihm vorbeizudrücken.

Doch der blieb standhaft und ließ ihn nicht los. Packte noch etwas fester zu.

„Du kommst hier nicht mehr weg, wenn du nicht die Sachen auf der Stelle zurückgibst“, entgegnete John, nicht halb so laut wie der Rotschopf, aber, halb aus Angst und halb vor Mut, mindestens genau so energisch.

„Lass jetzt sofort los, oder du wirst es bereuen“, zischelte jetzt Johns Kontrahent gefährlich leise und sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze brutaler Entschlossenheit, „das ist jetzt meine letzte Warnung!“

John ahnte, dass er ab sofort in Lebensgefahr war.

Aber er wusste auch genau, dass er beobachtet wurde. Fünf Augenzeugen waren es, zwei ‚seiner Männer‘ und drei Frauen, die ihn alle kannten.

Schon waren erste Passanten, auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite, voller Neugier auf die kommende Auseinandersetzung stehengeblieben. Manche hofften gar darauf. Einige der Personen auf der gleichen Seite der Straße, die den Vorgang ebenfalls bemerkt hatten, zogen sich vorsichtshalber schnell in Mauernischen oder Hauseingänge zurück und lugten halb ängstlich, halb erwartungsvoll dahinter hervor.

Auch die Passanten also Augenzeugen seines Mutes oder seiner Feigheit. Die dritte Eigenschaft, irgendwo dazwischen, die in solchen Fällen wirklich zählt, die Vernunft, geht in solchen Situationen gerne unter.

John ließ nicht locker, vor allem, weil er sich beobachtet fühlte. Er verkrallte sich in den Iren und ließ ihn einfach nicht an sich vorbeikommen.

Der riss sich jetzt vehement nach hinten von John los, wobei der Korb mit den Erdbeeren im großen Bogen auf den Bürgersteig fiel. Einige Äpfel aus den Taschen fielen hinterher und kullerten auf die Straße.

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