Berliner Leichenschau

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V. Die Obduzenten behalten sich ein endgültiges Gutachten ausdrücklich vor.

VI. Prof. Dr. med. Robert Schwarz, Dr. med. Lisa Schöneberg

»Morgen bekommt ihr unser Gutachten schriftlich«, versprach Schwarz. »Aber lasst mich noch etwas hinzufügen: Ich glaube nicht, dass ein Tier den Mann in die Tiefe gerissen hat. Den Angriff eines großen Wels, der sein Revier verteidigt, kann man zwar in unseren Gewässern nicht grundsätzlich ausschließen, aber das würde anders aussehen.«

»Ich bin der Überzeugung, dass hier am ehesten Menschenhand im Spiel war – und das meine ich wörtlich«, entgegnete Kommissar Granow. »Es sieht ja fast so aus, als hätte ihn jemand gepackt und unter Wasser gezogen.«

»Die Hautabschürfungen und vor allem die kräftigen Weichteilunterblutungen oberhalb der Fußknöchel sprechen für einen heftigen Todeskampf«, pflichtete ihm Schwarz bei.

»Das muss fürchterlich gewesen sein«, sagte Theresa Marotzke. »Vielleicht treibt hier ja tatsächlich ein irrer Kampfschwimmer oder Taucher sein Unwesen.«

***

Mit den Erkenntnissen, die das detaillierte Gutachten von Prof. Schwarz geliefert hatte, schwärmten Granow und seine Leute am nächsten Tag aus, um den Täter zu finden. »Nach Lage der Dinge kann es nur ein Taucher gewesen sein, der die Schwimmerinnen und Schwimmer in die Tiefe gerissen hat«, erklärte Granow den angerückten Polizeireportern. »Kann es nicht auch ein Einmann-U-Boot gewesen sein?«, fragte Charly Packebusch, einer der Journalisten und ein stadtbekannter Scherzbold zudem, und verwies darauf, dass in Deutschland gegen Ende des Zweiten Weltkrieges über dreihundert solcher Kleinst-U-Boote gebaut worden waren. »Vielleicht hat jemand so ’n Ding über all die Jahre heimlich aufbewahrt und versetzt jetzt die Schwimmer damit in Angst und Schrecken.« »Ein Einmann-U-Boot ist wohl eher unwahrscheinlich«, sagte Granow, als das Gelächter verklungen war. »Aber ein ehemaliger Kampfschwimmer ist durchaus nicht auszuschließen. Der Spur werden wir auf alle Fälle nachgehen.« Theresa Marotzke erzählte, dass die DDR-Volksmarine ein Kampfschwimmerkommando unterhalten hatte. Ein Freund ihrer Eltern hatte als ganz normaler Berufstaucher angefangen und war dort gelandet. »Da passt ja alles«, kam es aus den hinteren Reihen der Presseleute. »Das letzte Opfer war ja auch ein typischer imperialistischer Klassenfeind.« Der Mann, den es in der Nähe der Landzunge 44 erwischt hatte, war der 67-jährige Journalist Herbert Heidereuter, der beim RIAS gearbeitet und unaufhörlich über die Missstände in der DDR berichtet hatte.

»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Granow. »Aber die ungewöhnliche Mordmethode spricht eher dafür, dass es sich bei Heidereuter um ein reines Zufallsopfer handelt.«

»Das ist am wahrscheinlichsten, wenn es stimmen sollte, dass wir es mit einem Serientäter zu tun haben«, fügte Theresa Marotzke hinzu.

In der Tat gab es in den Biographien der fünf im Umkreis von Schmöckwitz ertrunkenen Menschen keinerlei Parallelen. Leider waren die Toten alle eingeäschert worden, so dass sich keine Obduktion mehr vornehmen ließ und nicht auszuschließen war, dass es sich doch um Unfälle gehandelt hatte.

»Ein irrer Taucher schwimmt also los und sucht sich wahllos ein Opfer aus.« Granow – und bald auch die ganze Mordkommission – war sich da sicher. »Was benötigt ein Taucher eigentlich?«, fragte Granow in die Runde.

»Außer Anzug, Maske, Sauerstoffflasche, Flossen und Bleigürtel braucht er vor allem eine Basis«, erwiderte Theresa Marotzke schnell. »Kein Taucher ohne Basis.«

Sofort war einer der Kollegen am Computer. »Mist, die nächstgelegene Tauchschule haben wir in Karlshorst. Rings um Schmöckwitz gibt es nichts.«

»Dann müssen wir unseren Suchradius eben erweitern«, sagte Granow bestimmt und verteilte die Aufgaben. »Es gilt jetzt, bei allen Tauchschulen, Tauchsportvereinen und allen Geschäften für Taucherbedarf nachzufragen und zu sehen, ob sich ein Anhaltspunkt ergibt. Auf zu den Dive-Centern! Theresa und ich besorgen uns ein Motorboot und befragen alle, die wir an den Ufern von Großer Krampe, Langem und Seddinsee antreffen.«

»Und an den Einsatz von Lockvögeln … ich meine, an Lockschwimmern ist nicht gedacht?«, fragte einer.

»Doch, ich stoße Theresa ins Wasser und rase dann davon«, scherzte Granow.

»Wehe!«, rief Theresa Marotzke.

Granow und Theresa Marotzke machten sich nun mit professionellem Können und höchstem Eifer an die Arbeit, schipperten über die besagten Gewässer und befragten alle Uferbewohner, Camper und Badegäste – doch zwei Tage lang blieben sie ohne Erfolg.

»Buchen wir die zwei Tage als außerordentlichen Urlaub ab«, sagte Granow schließlich.

»Wenn de recht hast, haste recht. Is ja ooch ’ne herrliche Jegend hier!«

Granow war schon dabei, einen Schlussstrich unter ihre Ermittlungen zu ziehen, da sahen sie, dass drüben am westlichen Ufer der Großen Krampe jemand am Ufer stand und ihnen zuwinkte. Es war einer der Männer, die in der kleinen Bucht hinter Krampenburg auf einem Hausboot lebten. Er sah aus wie einer der Autonomen, die bei den Kreuzberger Festspielen am 1. Mai immer Brandsätze auf ihre Kollegen warfen, und konnte sich daher grundsätzlich keiner großen Sympathie bei ihnen erfreuen.

»Sie sind doch sicher von der Kripo und ermitteln in diesem mysteriösen Badeunfall?«

»Warum fragen Sie?«

Der Mann beugte sich verschwörerisch zu ihnen hinunter. »Ich wollte Ihnen nur sagen, dass hier auf dem Hausboot nebenan ein Assistent der Humboldt-Uni wohnt, und der scheint mir nicht ganz sauber zu ticken. Manchmal sehe ich ihn nachts seine Taucherausrüstung anziehen und stundenlang tauchen gehen. Und tagsüber sitzt er oft grimmig am Ufer und starrt die Leute, die hier baden gehen, äußerst merkwürdig an. Sein Name ist Arnulf Affinghausen. Aber ich will nichts gesagt haben …«

Granow bedankte sich für diese Auskunft. Die beiden Kommissare maßen dem Ganzen keine besondere Bedeutung bei.

»Das wird ein Student gewesen sein, der sich für eine schlechte Note rächen will«, befand Theresa Marotzke.

»Das würde ich auch sagen«, stimmte Granow zu.

Aber sicher war sicher, sie mussten allen möglichen Spuren nachgehen, bevor es ein nächstes Opfer gab. Als sie wieder im Büro waren, setzte sich Granow an den Computer. Und da das, was die Kolleginnen und Kollegen im Falle des ertrunkenen Ex-RIAS-Journalisten Herbert Heidereuter zusammengetragen hatten, auch auf seiner Festplatte zu finden war, rief Granow den betreffenden Ordner auf und ließ das Programm nach Arnulf Affinghausen suchen. Plötzlich schrie er auf. »Mensch, das gibt’s doch nicht!«

Theresa Marotzke erschrak und schnellte von ihrem Bürosessel hoch. »Was ist denn?«

»Der gute Affinghausen hat sich in Karlshorst eine Taucherausrüstung gekauft – und er lebt tatsächlich auf einem Hausboot, das in Krampenburg vor Anker liegt …«

»Mit seinem Jagdrevier sozusagen direkt von dem Fenster«, ergänzte Theresa Marotzke.

»Und nun?« Granow war unentschlossen.

Seine junge Kollegin ergriff die Initiative. »Wir verschaffen uns einen Durchsuchungsbefehl und sehen, ob wir was finden. Aufzeichnungen oder so …«

»Und wenn nicht? Ohne etwas Handfestes gegen ihn wird er kein Geständnis ablegen. Und wir stehen dann als Idioten da.«

»Wenn wir bei ihm auftauchen, kommt das einem Warnschuss gleich. Er würde sich sicherlich hüten, wieder zuzuschlagen.«

»Weiß man’s, ob nicht doch dunkle Triebkräfte im Spiele sind?« Granow überlegte. »Mir wäre schon lieber, wir sorgen dafür, dass dieser Mann, der sich wahllos irgendwelche Opfer aussucht, im Knast oder meinetwegen in der Psychiatrie landet – jedenfalls sicher verwahrt. Doch dafür brauchen wir sein Geständnis. Oder aber wir müssen ihn auf frischer Tat ertappen.«

Theresa Marotzke hatte eine Idee. »Wir besorgen uns Kampfschwimmer der Bundeswehr und setzen sie als Lockvögel ein.«

So exotisch dieser Vorschlag anfangs auch schien, die Vorgesetzten stimmten schließlich zu. Die Aktion endete jedoch ohne Erfolg. Keiner der eingesetzten Männer wurde angegriffen, so dass man sich am Ende der Badesaison doch entschloss, Affinghausens Hausboot zu durchsuchen.

Mit der Staatsanwältin Dr. Monique Müller-Linthe an der Spitze und einem Durchsuchungsbefehl in der Tasche rückte man in Krampenburg an. Affinghausen war nicht auf seinem Hausboot, aber die Türen ließen sich leicht öffnen. Und die Kommissare hatten Glück! Sie fanden nicht nur eine komplette Taucherausrüstung, sondern auch Affinghausens Tagebuch. Das enthielt wirre Sätze und Zeichnungen, die alles bewiesen. Unter anderem war zu lesen:

Im Brunnen sitzt der Hakenmann. Was macht er in dem Wasser drin? Er lauert mit der Hakenstange, auf dass er kleine Kinder fängt.

Dieses Greuelmärchen hat mir meine Großmutter auf dem Bauernhof in der Prignitz oft erzählt, damit ich um den Brunnen einen großen Bogen machte und ja nicht hineinfiel. Ich gehe die Sache jetzt wissenschaftlich an. Die langen Vorbereitungen haben sich gelohnt, niemand ist mir auf die Schliche gekommen. Wie meine Opfer gestrampelt haben, herrlich! Nun bin ich selbst ein Hakenmann.

Die Kommissare machten sich sofort zur Humboldt-Universität auf, um den verrückten Arnulf Affinghausen festzunehmen. Doch als sie in den Hörsaal stürmten, stürzte der Assistent ans Fenster und versuchte, sich mit einem Sprung auf die Straße in Sicherheit bringen.

Im nächsten Sommer sollte es um Schmöckwitz herum keine Badeunfälle mehr geben. Denn Arnulf Affinghausen überlebte den Sturz aus dem Fenster seines Hörsaals nicht.

***

Schon auf der Heimfahrt von der Sektion der Wasserleiche aus der Dahme dachte Schwarz über seine Fälle nach, bei denen in den vergangenen Jahrzehnten Wasser ein Rolle gespielt hatte.

 

Wasser – im Sinne von Gewässer – war, kriminalistisch betrachtet, höchst vielseitig: Es konnte Tötungsmittel, Tatort, Transportmittel und Versteck sein. Wurde ein Toter aus dem Wasser geborgen, so war die Frage zu klären, ob es Tötung, Selbsttötung oder ein Unfall war, wobei die Unfälle statistisch deutlich überwogen. Zur Klärung, die schwierig und gelegentlich sogar unmöglich sein konnte, mussten alle Ermittlungsergebnisse, Beobachtungen von Zeugen sowie mitunter Gutachten verschiedener Experten herangezogen werden. Das konnten neben Kriminalisten und Rechtsmedizinern unter Umständen auch Tauchexperten, Meereskundler oder Schifffahrtsexperten sein.

Der Mensch war eben kein Fisch. Wenn die Sauerstoffzufuhr drei bis fünf Minuten unterbrochen wurde, trat der Tod ein. Im Wasser war dies also ein Erstickungstod. Der Begriff »Ertrinken« war irreführend und historisch begründet. Er ging wohl auf den griechisch-römischen Arzt Galen zurück. Zwar schluckt der Ertrinkende in der Regel auch Flüssigkeit, aber er stirbt nicht durch Magenüberfüllung, sondern durch Eindringen der Ertrinkungsflüssigkeit in die Luftwege mit Verhinderung des Sauerstoffaustauschs in der Lunge.

Ja, wenn wir unsere Kiemen noch hätten, um den Sauerstoffgehalt des Wassers zu nutzen!, sagte sich Schwarz. Wie viele Menschen wissen wohl, dass wir in unserem Hals-Nasen-Ohren-Bereich noch Reste von Kiemenbögen und -spalten besitzen? Die stammen aus unserer Embryonalperiode und sind damit Zeugen unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung aus Meeresbewohnern. Der Zoologe Ernst Haeckel hatte dies genial in seinem biogenetischen Grundgesetz formuliert: Die Ontogenese ist eine kurze Wiederholung der Phylogenese.

Schwarz erinnerte sich an junge Männer, gute Schwimmer, die ihre Kräfte überschätzt hatten und überhitzt ins Wasser gesprungen waren. Eine besonders üble Rolle spielte immer wieder die Alkoholisierung. Schwarz wurde bei privaten Gesprächen wie in seinen Vorlesungen nicht müde, auf die Unvereinbarkeit von Trunkenheit und Badefreuden hinzuweisen. Die Erfahrungswerte waren klar, die pathophysiologischen Mechanismen beim lautlosen Untergehen Betrunkener hingegen weithin unerforscht, und die Einsicht seiner Zuhörer erschien ihm auch meist begrenzt.

In Gerichtsprozessen war bei Todesfällen im Hallen- oder Strandbad die Pflichtverletzung von Aufsichtspersonen verhandelt worden, häufig ohne oder mit widersprüchlichen Zeugenbeobachtungen. Die Todesursache war rechtsmedizinisch meist zu klären, nicht immer aber der Hergang des Geschehens. Denn dem finalen Ertrinken konnten unterschiedlichste pathophysiologische Vorgänge vorausgegangen sein. Und es gab auch Todesfälle im Wasser ohne Ertrinken, die durch natürliche Todesursachen eintraten und im Sammelbegriff »Badetod« zusammengefasst wurden.

Auch die schrecklichen Querschnittslähmungen mit oder ohne Todesfolge fielen Prof. Schwarz ein. Sie waren durch einen Sprung in zu flache, meist unbekannte Gewässer entstanden und betrafen in der Regel junge, sportliche Schwimmer. Auch hierzu erinnerte Schwarz sich an schwierige Gerichtsverfahren. So war ein junger Mann nach einem Sprung vom Startblock eines öffentlichen Strandbades mit einer hohen Querschnittslähmung bewusstlos geborgen worden. Er überlebte die Halswirbelfraktur, war aber an den Rollstuhl gebunden, berufsunfähig geworden und hatte den Betreiber des Bades auf Schadenersatz verklagt. Als Gutachter hatte Schwarz die Weltliteratur zu dem Thema »Wassertiefe und Halswirbelsäulenverletzung« studiert. Der Beklagte verwies darauf, dass die Wassertiefe bei dem betreffenden fließenden Gewässer schwankte. Letztlich war das Faktum der Wirbelfraktur infolge Stauchung und Überstreckung der Halswirbelsäule im konkreten Fall bei geringer Sprunghöhe nur durch Bodenkontakt und damit durch unzureichende Wassertiefe zu erklären.

In einem weiteren Fall von Querschnittslähmung in einem Strandbad war die Entstehung einzig durch Kopfsprung mit Auftreffen des Verletzten auf einen anderen Badenden möglich. Der bei der Obduktion anwesende Staatsanwalt einer brandenburgischen Kreisstadt hatte große Behälter mitgebracht, um Wasser aus dem Strandbad auf tödliche Gifte untersuchen zu lassen. Nachdem Schwarz und seine Kollegen geklärt hatten, dass die weiteren rund zweihundert Badegäste wohlauf waren und der Tote an einer hohen Querschnittslähmung gestorben war, konnte auf die toxikologische Analyse verzichtet werden.

Der Rechtsmediziner wusste, dass neben der Temperatur auch die Zusammensetzung der Ertrinkungsflüssigkeit – beispielsweise der Salzgehalt (Süß- oder Salzwasser) – für die Ausbildung der Leichenbefunde bedeutsam waren. Mit Salzwasserleichen hatte man als Rechtsmediziner in Berlin-Brandenburg naturgemäß wenig praktische Erfahrung.

Ein besonders unschönes Kapitel waren die Wasserleichen im Sommer. Schwarz konnte sich noch gut an die zurückliegenden Jahre im Sektionssaal ohne Klimaanlage erinnern – doch mittlerweile gehörte das glücklicherweise der Vergangenheit an. Bei langer Liegezeit im Wasser, speziell bei hohen Temperaturen, konnten die Fäulnisveränderungen so hochgradig sein, dass Körperoberfläche wie innere Organe kaum noch zu beurteilen waren. Meist war auch eine Identifizierung durch Inaugenscheinnahme des Leichnams unmöglich, da Gesicht, Rumpf und Gliedmaßen verfärbt und aufgetrieben waren. Dazu kam der penetrante Geruch. Weitere Erschwerungen entstanden durch sogenannte Algen- oder Schlammrasen auf der Leichenhaut. Einige Male hatte Schwarz erlebt, dass sich Hinterbliebene auch durch deutlich formulierte Warnungen nicht von einer Besichtigung des vermutlichen Angehörigen abhalten ließen – und das erstaunlich gut bewältigt hatten.

Die Gasproduktion in dem verfaulenden Leichnam führte zu einem starken Auftrieb im Wasser, was den versunkenen Leichnam nach einiger Zeit wieder an die Oberfläche brachte. Schwarz hatte in den vergangenen Jahren mehrfach Beschwerungen an Wasserleichen vorgefunden, die einen Auftrieb nicht verhindert hatten. Solche Gewichte verschiedenster Art aus Stein oder Metall wurden sowohl bei Selbsttötung als auch bei Mord angebracht. Sie mussten wie auch Fesselungen sorgfältig geprüft werden, um Hinweise für Selbst- oder Fremdanbringung zu gewinnen. Nur bei der Teil- oder sogar Ganz-Betonierung des Körpers, früher in amerikanischen Gangsterkreisen zur Beseitigung von Mordopfern in Gewässern beliebt, konnten kaum Zweifel aufkommen.

Da Wasserleichen auf dem Bauch liegen, wenn sie frei treiben, Kopf und Gliedmaßen nach unten hängend, waren Aufdunsung und Verfärbung im Gesicht besonders ausgeprägt. In den filmischen Darstellungen von Wasserleichen, zum Beispiel bei großen Schiffskatastrophen, sah Schwarz häufig falsche Rekonstruktionen: Wasserleichen, die auf dem Rücken trieben. Dann konnte er sich nicht verkneifen zu kommentieren: »So haben wir als Kinder im Wasser Toter Mann gespielt, doch das entspricht leider nicht der Realität.«

Als sein Haus in Sichtweite war, verdrängte Schwarz die unschönen Gedanken an den Tod im Wasser, welche der ungewöhnliche Mordfall ausgelöst hatte. »Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps!« Eigentlich liebte er das Wasser und schaute gerne aus seinem Häuschen auf die nahe Dahme. Doch noch mehr mochte er es, selbst in die Fluten zu springen – am liebsten war ihm die Ostseeküste. Wenn hier immer warme Sommertemperaturen herrschen würden, könnte er auf die beliebten Ferienziele am Mittelmeer, Atlantik oder Pazifik glatt verzichten! Aber so weit war die Klimaerwärmung noch nicht vorangeschritten.

Wie vom Blitz getroffen

Es war zu einem Ritual geworden: Regelmäßig wanderten sie durch die Mark Brandenburg, immer an die zwanzig Kilometer und zumeist im Dutzend. Diesmal aber waren wegen der unerträglichen Hitze, unter der Berlin nun schon seit einer Woche zu leiden hatte, nur vier Gruppenmitglieder am Ausgangspunkt, dem Bahnhof Potsdam Park Sanssouci, erschienen: die Kulturjournalistin Medea Meier-Ebersbach, der Schauspieler Bo Rommerskirchen, der Architekt Ludger Krügelstein und seine Frau, die Grundschullehrerin Katharina Krügelstein.

Katharina Krügelstein blickte misstrauisch zum Himmel hinauf. »Von Westen her scheint ein Gewitter heraufzuziehen.«

Medea Meier-Ebersbach winkte ab. »Solange es nicht das Jünger’sche Stahlgewitter ist, kann ich damit leben.«

Bo Rommerskirchen schaltete sich ein und rezitierte einige Zeilen aus Gottfried Kellers Gedicht Gewitter im Mai: »In Blüten schwamm das Frühlingsland, / Es wogte weiss in schwüler Ruh; / Der dunkle feuchte Himmel band / Mir schwer die feuchten Augen zu

Ludger Krügelstein war währenddessen vollauf damit beschäftigt, sein GPS-Gerät in Gang zu setzen. Als ihm das nach einigen vergeblichen Versuchen endlich gelungen war, gab er das Kommando zum Abmarsch. »Wir wandern durch den Park Sanssouci, dann den Ruinenberg hinauf und durch die russische Kolonie zum Schloss Cecilienhof. Von dort geht es an der Havel entlang über die Glienicker Brücke zum Wirtshaus Moorlake, wo wir einkehren und zu Mittag essen können.«

Sofort setzte sich die Gruppe in Bewegung, mit Ludger Krügelstein an der Tete, wie Medea Meier-Ebersbach es lachend ausdrückte. Er achtete anhand seines GPS-Gerätes streng darauf, dass die Gruppe die Geschwindigkeit von 4,5 Stundenkilometern nicht unterschritt. Tat sie das doch einmal, rief er den anderen zu, dass man eine Wandergruppe und keine Seniorengruppe sei, die vor ihrem Heim spazieren ging. »Ihr schiebt doch noch keinen Rollator vor euch her!«

Die erste Verzögerung gab es, als Medea Meier-Ebersbach mit großer Geste eine mitgebrachte Kartoffel auf die Grabplatte Friedrichs des Großen legte und dabei aus seinen Randverfügungen zitierte.

Für eine zweite Verzögerung sorgte Bo Rommerskirchen, der eigentlich Boris mit Vornamen hieß, aber nicht an Boris Becker erinnert werden wollte und deshalb die zweite Silbe wegließ. Da Bo ein schwedischer Vorname war, dachten viele, er käme aus dem Pippi-Langstrumpf-Land, was er gern mit dem Kalauer »Ich komme nicht aus Schweden, sondern aus Schwedt« kommentierte. Da er recht beleibt war, empfand er die Wanderung im Gegensatz zu den anderen als beschwerlich. Keuchend warf er sich, endlich oben auf dem Ruinenberg angekommen, ins Gras und verlangte eine Pause.

Doch kurze Zeit später drängte der ruhelose Ludger Krügelstein zum Weitergehen. »Kinder, unsere Durchschnittsgeschwindigkeit ist schon auf 3,3 Stundenkilometer abgesunken! Manche Schildkröte ist schneller als ihr.«

»Soll ich dich nun erschlagen«, brummte Bo Rommerskirchen, »oder reicht es, wenn ich dein blödes Gerät zertrete?«

Trotz des Gejammers ging die Gruppe zunehmend schneller, denn die Gewitterfront rückte näher und näher. Ohne weiteren Zwischenhalt kamen sie bei der Glienicker Brücke an, und für Ludger Krügelstein, der jede Wanderung genauestens protokollierte, gab es diesmal nichts Bedeutendes zu notieren. Dann aber ereignete sich doch noch ein merkwürdiger Zwischenfall.

Vor ihnen lief eine Joggerin mit auffallend knapp geschnittener Kleidung, als plötzlich ein Radfahrer neben ihr hielt, absprang und sie festhalten wollte.

»Lass mich in Ruhe!«, schrie die Joggerin, stieß den Mann zur Seite und lief weiter Richtung Moorlake.

Der Mann schwang sich wieder auf sein Rad, kehrte um und radelte an ihnen vorbei zurück zur Glienicker Brücke.

Sie hätten das Ganze wohl noch des Längeren diskutiert, wäre nicht in diesem Moment ein Sturm losgebrochen, der sie, als seien sie trockene Blätter, das Havelufer entlangwehte. Und schon setzte ein Platzregen ein, der Donner rollte derart, dass ihnen das Trommelfell zu platzen drohte, und kurz hinter ihnen fuhren schon die ersten Blitze nieder. Mit Müh und Not und schon ein wenig durchnässt, erreichten sie das Wirtshaus Moorlake und waren erst einmal in Sicherheit. Wie die Medien später berichten sollten, waren sie in eines der schwersten Gewitter geraten, die Berlin seit Jahren erlebt hatte.

Hungrig von der Wanderung, bestellten sie sich rasch etwas zu essen und zu trinken. Die beiden Männer entschieden sich für Bollenfleisch.

Katharina Krügelstein fragte, ob denn alle wüssten, was im Berlinischen Bollen seien.

»Na, Bollen sind Zwiebeln«, war die Antwort von Medea Meier-Ebersbach. »Und so nennt man auch die Löcher in den Strümpfen.«

»Das stimmt, aber Bollen bedeuten auch noch Hoden. In Zilles Hurengesprächen etwa tritt eine Frau namens Bollenjuste auf.«

»Ah«, rief Bo Rommerskirchen, »daher also kommt der Ausdruck ›Du kannst mir mal die Bollen lecken‹.«

 

Medea Meier-Ebersbach verzog angewidert die Nase, worauf Bo Rommerskirchen herzlich lachte.

Während sie aßen, zog das Gewitter langsam ab, und als Ludger Krügelstein nach dem letzten Bissen auf sein GPS-Gerät blickte, schrie er erschrocken auf. »Unser Gesamtschnitt ist auf 2,9 Kilometer pro Stunde abgesunken. Nun aber los!«

»Aber bitte mit ’ner Taxe!«, erwiderte seine Frau. »So quatschnass, wie ich noch immer bin, wandere ich nicht gern.«

»Das kommt nicht in Frage!«, rief Bo Rommerskirchen, der sich wegen seines Geizes bei den anderen schon öfter unbeliebt gemacht hatte. Aber es war nur seine Erfolglosigkeit als Schauspieler, die ihn zur Sparsamkeit zwang.

»Ich habe ebenfalls keine Lust, bis zum S-Bahnhof Wannsee zu laufen«, maulte jetzt auch Medea Meier-Ebersbach.

Katharina Krügelstein suchte nach einem Kompromiss. »Was hieltet ihr davon, wenn wir quer durch den Wald zur Königstraße gehen? Da fährt ein Bus zum Bahnhof Wannsee.«

Der Vorschlag wurde mit einer Gegenstimme angenommen, nur Ludger Krügelstein hatte missmutig dagegen gestimmt, denn er hätte zu gern auch heute seine zwanzig Kilometer geschafft. Sie zahlten und machten sich sogleich auf den Weg Richtung Süden. Ludger Krügelstein hatte eine Karte bei sich, und so lag die Wahrscheinlichkeit, sich zu verlaufen, nur bei 27, 23 Prozent, wie seine Frau einmal anhand seiner bisherigen diesbezüglichen Heldentaten ausgerechnet hatte.

Als sie den Punkt erreicht hatten, wo es rechts hinter dem Schneewittchenweg etwas aufsteigend zum Finkenberg ging, hielt Bo Rommerskirchen plötzlich inne. »Da liegt doch jemand!«, rief er den anderen zu.

Jetzt erkannten auch sie den leblosen Frauenkörper, der gekrümmt am Fuße einer mächtigen Buche lag. Der Sportkleidung nach musste es sich um eine Joggerin handeln.

Da sich den gesamten Stamm der Buche eine schwarze Furche hinunterzog, schien offensichtlich, was sich hier ereignet hatte: Die Frau hatte Schutz vor dem gewaltigen Gewitter gesucht und war vom Blitz erschlagen worden.

»Buchen sollst du suchen …«, murmelte Medea Meier-Ebersbach.

Katharina Krügelstein, die einen Kurs in Erster Hilfe mitgemacht hatte, zog einen kleinen Spiegel aus dem Rucksack und hielt ihn der Joggerin vor den Mund. »Nichts. Die dürfte es erwischt haben.«

Trotzdem forderte ihr Mann per Handy Feuerwehr und Notarzt an.

Die morgendliche Zeitungslektüre gehörte für Gunnar Granow zu seinen dienstlichen Pflichten, denn als Mitglied einer Mordkommission konnte man auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn man ganz genau wusste, was in Berlin Tag für Tag geschah. Sein Anspruch, zu den gebildeten Ständen zu zählen, verbot ihm eigentlich die Lektüre aller Boulevardzeitungen, doch da bei einer von ihnen sein junger Freund Charly Packebusch tätig war, las er sie dennoch – schon wegen der literarisch so wertvollen Überschriften. Eine der heutigen besagte: 42-jährige Dichterin Verena Löwe aus Wannsee in der Nähe des Schäferbergs vom Blitz erschlagen.

Dies hätte ihn nun nicht weiter interessieren müssen, denn Unfälle fielen nicht in sein Ressort, und den Herrgott konnte man schwerlich wegen fahrlässiger Tötung eines Menschen vor Gericht stellen. Doch in der darauffolgenden halben Stunde gab es zwei Anrufe, die dies änderten.

Der erste kam von einem Architekten namens Krügelstein und schien im ersten Augenblick nicht weiter von Bedeutung zu sein.

»Ich war gestern mit meiner Wandergruppe unterwegs«, berichtete ihm Herr Krügelstein, »und wir haben die Frau gefunden, die womöglich vom Blitz erschlagen worden ist.«

»Sie meinen wohl den Unfall in der Nähe des Schäferbergs«, murmelte Granow.

»Es sah tatsächlich alles nach einem Blitzschlag aus«, fuhr Krügelstein fort. »Allerdings ist mir heute früh eingefallen, dass wir auf dem Weg zwischen der Glienicker Brücke und dem Wirtshaus Moorlake eine kleine Szene beobachtet haben. Da hat ganz offensichtlich ein Radfahrer eine Joggerin belästigt. Das war kurz vor dem Gewitter.«

»Und – ist er ihr gefolgt?«

»Nein, er ist dann in die andere Richtung gefahren.«

Granow überlegte einen Augenblick. »Haben Sie denn in der Toten unter der Buche vielleicht die Joggerin wiedererkannt, die belästigt worden ist?«

»Nein, wir hatten sie nur von hinten und aus einiger Entfernung gesehen. Aber von der Kleidung her könnte sie es durchaus gewesen sein. Sie trug eine dunkle Jacke und eine blaue Hose, mit Regenbogenfarben abgesetzt.«

»Vielen Dank, Herr Krügelstein, wir werden der Sache nachgehen.«

Damit wäre der Fall für Granow möglicherweise bereits erledigt gewesen, wenn die Kriminalassistentin Theresa Marotzke, die ihm gegenüber den Sportteil seiner Zeitung las, nicht mitgehört hätte. »Sag mal, das müsste dich doch an etwas erinnern …«

»Dass ich mal mit dem Rad hinter einer Joggerin hergefahren bin?« Er lachte. »Aber das war meine Frau. Und die hatte damals Angst, dass sie auch …« Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn und rief: »Mensch, die ermordete Joggerin im Spandauer Forst!« Am 20. Juni 2009 war eine 39-jährige Psychologin von einem Mann ermordet worden, der mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einem roten Fahrrad unterwegs gewesen war. Bis heute hatte man den Mann nicht finden können.

Während sie noch über diesen Mordfall und mögliche Parallelen diskutierten, kam der zweite Anruf.

»Mein Name ist Jocelyn Naumann«, sagte die Frau am Apparat. »Ich bin die Schwester von Verena Löwe, die vom Blitz erschlagen worden sein soll. Ich möchte zu der Angelegenheit eine wichtige Aussage machen.«

»Bitte, ich höre …«

»Verstehen Sie, ich möchte nichts sagen, wenn jemand mithören kann. Kommen Sie doch bitte zu mir nach Hause!« Sie nannte noch ihre Adresse, dann legte sie auf.

Granow rang eine Weile mit sich. Was ging ihn die Sache eigentlich an? Das roch doch alles nur nach Wichtigtuerei. Aber auf der anderen Seite sagte ihm sein Gefühl, dass da womöglich doch nicht alles mit rechten Dingen zuging. Er sah seine junge Assistentin an. »Komm, fahren wir mal schnell zum Ku’damm!«

Theresa Marotzke verzog das Gesicht. »Wenn’s unbedingt sein muss …« Als geborene Neuköllnerin fühlte sie sich am Kurfürstendamm nicht sonderlich wohl. Hier wohnten Menschen, die ein Vielfaches mehr verdienten als sie und sich oft für etwas Besseres zu halten schienen.

Beide trugen sie der Armut des Landes Berlin Rechnung, indem sie auf ein dienstliches Fahrzeug verzichteten und mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu Tatorten und Vernehmungen fuhren. Früher hatten sie sich noch Freifahrscheine geben lassen, jetzt nutzten sie ihre privaten Monatskarten. So stiegen sie am S-Bahnhof Halensee aus, um von dort über die Westfälische Straße zur Joachim-Friedrich-Straße zu gelangen, wo nahe dem Kurfürstendamm die Schwester der Löwe wohnen sollte.

Der Hauseingang wirkte so feudal, dass sich Granow an das alte Berliner Stadtschloss erinnert fühlte. Sie stiegen die vornehme Treppe hinauf und klingelten bei Jocelyn Naumann.

Eine verhutzelt aussehende Frau öffnete ihnen sogleich die Tür. Frau Naumann wirkte recht verbittert – warum, sickerte in dem Gespräch mit den Beamten bald durch: Sie hatte stets im Schatten ihrer erfolgreichen Schwester gestanden. Ihre Gedichtbände waren weithin unbeachtet geblieben, den letzten hatte sie sogar selbst finanzieren müssen.

Granow brachte das Gespräch auf ihre verstorbene Schwester und deren Ehemann. »Leonhard Löwe ist Makler?«

»Ja, und er hat mit seiner Firma eine Menge Geld gemacht. Aber in letzter Zeit ist sein Geschäft nicht mehr gut gelaufen, doch er hatte eine Menge Ausgaben – für seine Yacht, für seine teuren Autos, für seine noch teureren Geliebten.«