Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung

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2.2 Ein qualitativ orientiertes, für Therapie flexibel nutzbares Tranceverständnis

Um die Konfusion zu reduzieren, die sich durch aus dem Kontext gerissene, jeweils Einzelphänomene des Erlebens aufzählende Versuche der Definition von „Trance“ schnell einstellen kann, erweist es sich als wesentlich nützlicher, mehr qualitativ operierende Definitionen zu nutzen. Einen sehr wertvollen Beitrag hierfür hat z. B. Beahrs (1982) geliefert. Beim Vergleich zahlreicher Konzepte zum Thema „Hypnose“ und „Trance“ in der Fachliteratur konnte er zeigen, dass sich viele dieser Konzepte erheblich unterscheiden und auch widersprechen, in einigen Kategorisierungen aber stimmen alle diese Konzepte überein. Will man einen Begriff definieren, hat dies nur Sinn, wenn man ihn von anderen abgrenzt. In der Gegenüberstellung dessen, was man „übliches Wachbewusstsein“ und was man davon unterschieden als „Trance“ bezeichnen kann, fand Beahrs drei nützliche Unterscheidungskriterien: Dies sind die Kategorien willkürlich/unwillkürlich, strukturierte Wahrnehmung/fließend-bildhafte Wahrnehmung und Sekundär-/Primär-/Tertiärprozess.

Erlebt jemand etwas als Teil seiner üblichen Alltagswahrnehmungsprozesse (was M. Erickson jeweils subsumiert hat unter dem sehr unscharfen Begriff „Bewusstes“), dann erlebt er dies als von ihm selbst willkürlich gemacht, beeinflusst, als selbst verantwortete Wahrnehmung und zu ihm in seinem üblichen Selbstverständnis gehörend. Für diese üblichen Alltagswahrnehmungsprozesse hat B. Schmid (persönliche Mitteilung, 1988) den Ausdruck „Gewohnheitswirklichkeit“ vorgeschlagen, den ich dafür hervorragend finde.

In dieser „Gewohnheitswirklichkeit“ ist das Denken auch gekennzeichnet durch mehr strukturiertes, analytisches, schärfer ordnendes Denken, ebenso durch das, was S. Freud als „Sekundärprozess“ bezeichnet hat, in dem vor allem gedacht wird in „Entweder-oder-Logik“ („Ein Drittes gibt es nicht“).

Erlebt jemand etwas als Trancequalität (ganz unabhängig davon, um welches inhaltliche Erlebnisphänomen es sich dabei handelt), geht dies einher damit, als ob er es gar nicht selbst täte, sondern es wie von allein unwillkürlich geschehe. Das gesamte Erleben wird mehr als im üblichen Wachbewusstsein auf autonome Selbstregulation umgeschaltet. Das Denken ist dann auch mehr imaginativ ausgerichtet, lockerer, man lässt es mehr fließen bzw. erlebt es so, dass es mehr fließt (wie von allein), es sind auch erhebliche Wahrnehmungsverzerrungen (bezogen auf das übliche Wahrnehmen) möglich, Widersprüche lösen sich eher auf, man kann z. B. gerade ganz jung gewesen sein und dann sich plötzlich ziemlich alt fühlen oder eben noch am Meer und sofort darauf in hohen Bergen sein („Sowohl-als-auch-Logik“). In diesem manchmal auch als „Tertiärprozess“ definierten Erleben (Arieti 1976) können oft weit kreativer und auch konstruktiver Lösungen für schwierige Fragen gefunden werden können, Primär- und Sekundärprozess also sich in ganzheitlich kompetenterer Weise zu einer großen schöpferischen Kompetenz vereinigen können (die Tertiärprozess genannt wird). Z. B. soll Kekoulé so die Lösung für die Struktur des Benzolrings gefunden haben, als ihm nachts im Traum nach langen, ergebnislosen kognitiven Bemühungen das Bild einer Schlange erschien, die sich in den eigenen Schwanz biss (ebd.).

Als „Trance“ sollte also zweckmäßigerweise jeder Erlebnisprozess definiert werden, bei dem unwillkürliches Erleben vorherrscht, sowohl mit bewusster Wahrnehmung dessen, dass nun gerade mehr unwillkürliches Erleben dominiert, als auch dann, wenn dieses Vorherrschen unwillkürlichen Erlebens nicht bewusst wahrgenommen wird. Trance wird allgemein aufgefasst als Erlebnisweise, in der im Spektrum des Erlebens von willkürlicher Kontrolle zu mehr unwillkürlicher Selbststeuerung des Organismus übergeleitet wird (Beahrs 1982). Besonders Erickson wies auch immer wieder darauf hin, dass diese Prozesse charakteristischerweise noch verbunden sind damit, dass die vielen Brennpunkte der Aufmerksamkeit, die typisch sind für das Alltagswachbewusstsein, auf relativ wenige innere Wirklichkeiten beschränkt werden (oder, allgemeiner: auf die derzeit für die entsprechende Person relevantesten Wirklichkeiten) – als innerlich gelenkter Zustand. Der Fokus der Aufmerksamkeit wird konzentrierter, neues Lernen wird dadurch intensiver und einfühlsamer. Trance ist ein aktiver Prozess unbewussten Lernens, d. h., die durch die üblichen Alltagsbezugsrahmen gelernten Begrenzungen werden erweitert (Erickson a. Rossi 1979).

Mit „Schlaf“ (hypnos: der griechische Gott des Schlafes) hat das, was mit dem Begriff „Hypnose“ gemeint ist, gar nichts zu tun, auch wenn manchmal (bei bestimmten Entspannungstrancen) die KlientInnen relativ bewegungslos (kataleptisch), mit ruhiger Atmung und geschlossenen Augen verharren. Hypnose und Schlaf sind deutlich unterschiedliche Bewusstseinszustände. Deshalb schlug Braid, der Erfinder des Hypnosebegriffs auch – allerdings ohne Erfolg – vor, diesen durch „Monoideismus“ zu ersetzen.

Auch die Vorstellung, dass unbedingt bei jeder Trance Entspannung auftreten müsse, ist ein längst widerlegter Mythos. Hypnotische Induktionen sind wirksam auch ohne körperliche Entspannung, z. B. beim Fahren eines Fahrradergometers.

Der hier vorgeschlagene, gezielt auf qualitatives Erleben ausgerichtete Trancebegriff wird gerade von praktisch allen wichtigen VertreterInnen der Erickson’schen Hypnotherapie in unterschiedlicher Intensität bevorzugt (siehe z. B. Gilligan 1991; Yapko 1990; Rossi 1986). Erickson selbst sprach gerne von „common everyday trance“, um dies zu charakterisieren (Erickson a. Rossi 1979). Wie ich weiter unten noch ausführen werde, kann als eine Konsequenz eines solchen Trancebegriffs abgeleitet werden, dass es keineswegs nötig ist, ja oft sogar als hinderlich angesehen wird, eine offizielle, den traditionellen Vorstellungen entsprechende Tranceinduktion durchzuführen. Vielmehr wird in der Erickson’schen Hypnotherapie gerne auf so genannte Konversationstranceprozesse zurückgegriffen, d. h., man versucht, in ganz üblichem Konversationsstil jemand zu solcher Fokussierung einzuladen, so dass sich die gewünschten Erlebnisprozesse ganz wie von selbst einstellen. Gerade für die Arbeit mit größeren Systemen (z. B. Familien, Paaren, Teams, ganzen Organisationen etc.) lässt sich mit solchem Tranceverständnis viel flexibler und wirksamer arbeiten (wir kommen noch darauf zurück).

Abb. 1: Differenzierung zwischen diversen Bewusstseinsprozessen und „Trance“

In Abbildung 1 wird noch einmal verdeutlicht, wie man sich eine Einordnung diverser Erlebnisprozesse vorstellen kann, eingeteilt nach den zwei wichtigsten qualitativen Erlebniskriterien, nämlich willkürlich/unwillkürlich und strukturiertes/fließend-bildhaftes Denken. Das übliche Alltagsbewusstsein wäre einzuordnen im Quadranten „willkürlich und strukturiert“, das typische tranceartige Erleben im Quadranten „unwillkürlich und fließend/bildhaft“. Prozesse, wie man sie z. B. ganz gezielt einsetzt bei Kreativitätstrainings, der Entwicklung neuer Ideen in der Werbung und anderswo, oft als Brainstorming oder gezielte Imaginationen bezeichnet, lassen sich hier einordnen im Quadranten „fließend/bildhaftes Denken“, welches aber ganz willkürlich angestrebt und kombiniert wird. Außerdem finden wir ja häufig Erlebnisprozesse, die mit heftigen Verspannungen oder eigentümlichen Eigenbewegungen einhergehen (wie z. B. sich spontan am Kopf kratzen, „Ähm, ähm“ sagen, spontan-automatisiert lächeln etc.). Diese laufen meist deutlich unwillkürlich ab, sind aber durchaus verbunden mit der strukturierten Denkweise eines rational ausgerichteten Alltagserlebens.

Es sei aber darauf hingewiesen, dass dieser hier bevorzugte qualitative Trancebegriff nicht unumstritten ist. Gerade wissenschaftlich arbeitende Hypnoseexperten plädieren für die oben geschilderten phänomenologischen Zugänge (z. B. Weitzenhoffer 1994). Das hat sicher auch damit zu tun, dass für wissenschaftliche Forschung Replizierbarkeit und genauere Überprüfbarkeit vieler Phänomene notwendig erscheint, auch dann, wenn sich dies therapeutisch als eher hinderlich erweisen könnte.

Noch ein Hinweis: Die oft synonym verwendeten Begriffe „unbewusst“ und „unwillkürlich“ unterscheiden sich. Nicht jeder unwillkürliche Prozess auch unbewusst sein muss. Sie können z. B. ganz bewusst wahrnehmen, wie Sie vielleicht sehr heftig zu schwitzen beginnen oder Ihr Herz so heftig klopft, dass Sie meinen, andere würden es hören, oder Sie erröten plötzlich stark, obwohl Sie das gar nicht wollen. Dies sind alles unwillkürliche Phänomene. Alles, was unbewusst abläuft, ist sicher unwillkürliches Erleben, nicht aber umgekehrt. Der Begriff „Unbewusstes“ ist also ein Oberbegriff, unter den Unwillkürliches auch subsumiert werden kann.

Werden Tranceprozesse jeweils definiert als solche, bei denen intensiv unwillkürliches Erleben vorherrscht, bei denen jemand den Eindruck hat, dass „es wie von alleine passiert“, eröffnet sich uns der Blick auf ein weit gespanntes Spektrum von Variationen von Bewusstseinsprozessen (oder „Trance“-Prozessen). Dies macht die Arbeit im Dienste der Nutzung solcher Prozesse viel flexibler und umfassender, wir können das Wissen darüber, wie man hilfreiches Erleben aktiviert, in viel mehr Kontexten anwenden, als wir es mit dem klassischen Tranceverständnis können. Dann wird es auch viel leichter möglich, sie als wichtige Hilfe für aktive Handlungsvorbereitung im Alltag zu nutzen, die dann Handlungen im „Flow“ ermöglicht (also erfüllende Tätigkeit im Alltag in optimalem Kontakt mit allen dafür hilfreichen Eigenkompetenzen). Im Grunde wird der ganze „Trance“-Begriff abgelöst durch den von kontextbezogenen und zielbezogenen, mehr oder weniger funktional wirkenden Bewusstseinsprozessen.

 

2.3 Unser „dreifältiges Gehirn“ und der daraus abgeleitete Nutzen einer systematischen Arbeit mit Tranceprozessen

Die Unterscheidungen willkürlich/unwillkürlich und die Modelle, die sich mit Trancearbeit und den damit assoziierten hypnotherapeutischen Strategien beschäftigen, sind für nachhaltig wirksame Therapie- und Beratungsprozesse sehr wichtig und nützlich. Dies ergibt sich sehr schlüssig daraus:

Unwillkürliche Prozesse wirken grundsätzlich immer schneller, effektiver und auch energetisch ökonomischer (man braucht dabei wesentlich weniger Energie für gute Ergebnisse). Beobachtet man z. B. erfolgreiche Sportler oder perfekt wirkende Musiker, zeigt es sich, dass ihre Bewegungsabläufe sich im Unterschied zu weniger erfolgreichen KollegInnen als fließender, geschmeidiger erweisen, so als ob sie gar nicht selbst es wären, die sich bewegen oder die spielen, sondern so, als ob „es“ wie von alleine spielen oder sich bewegen würde und ihr bewusstes „Ich“ nur als koordinierende, steuernde Kraft das Ganze unterstützen würde. Subjektiv werden solche Prozesse meist erlebt, als ob sie wie automatisiert abliefen. Sie wirken umso intensiver, je mehr das Erleben der Beteiligten absorbiert wird in diese quasi automatisiert ablaufenden Prozesse, also je mehr man sich davon wie erfasst oder darin „versunken“ erlebt. Wenn diese unwillkürlichen Abläufe in Übereinstimmung erlebt werden mit dem bewussten Wollen des üblichen „Ich“, wird dies fast immer als äußerst angenehm und erfüllend und dabei ganz mühelos empfunden.

Den Überlegungen in 2.2 folgend, können wir solche Prozesse als „Trance“-Prozesse beschreiben. Sie weisen übrigens viele Ähnlichkeiten mit so genannten Flow-Erlebnissen (Csikszentmihalyi 1996) auf. Auch Flow-Erlebnisse sind gekennzeichnet durch ein hohes Maß an optimaler Koordination zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Prozessen, mit ausgesprochen hoher Kompetenz und Effektivität verbunden, oft sogar mit dem Erleben reinen Glücksgefühls.

Gerade also das qualitative Erlebniskriterium „unwillkürlich“ und seine optimale Koordination mit willkürlichen „Ich“-Prozessen (ichsyntones Erleben) erweist sich als von besonderem Interesse für eine erfolgreiche Lebensgestaltung. Für Therapie und Beratung, aber auch generell für erfolgreiche Lebensgestaltung kann es von entscheidender Bedeutung sein, solche unwillkürlichen Prozesse zu nutzen. Denn gelingt es, Kompetenzen abzurufen und sie unwillkürlich wirken zu lassen, hat dies deutlich mehr Erfolgschancen und Wirksamkeit, als wenn man versucht, sie willkürlich zu aktivieren. Dies geht zwar auch manchmal, aber wirkt deutlich „hölzerner“ und ist immer weniger wirksam, dafür aber anstrengender. Will man also ein Erleben oder ein Verhalten nachhaltig für sich entwickeln und einsetzen, empfiehlt es sich sehr, es auf unwillkürlicher Ebene aufzubauen und ablaufen zu lassen.

Ein weiteres Prinzip Erickson’scher Arbeit ist außerdem, dass unwillkürliche Prozesse auf unbewusster Ebene quasi autonom (also auch ohne ein dabei aktiv beteiligtes bewusstes, gezieltes Wollen) wirksam werden können. Das so genannte unbewusste Wissen kann so verstanden werden als sehr wichtiger, vertrauenswürdiger Bereich, dessen hilfreiche Kompetenzen man wie eine eigenständig funktionsfähige „Abteilung“ nutzen kann. Perspektiven dieser Art drücken eigentlich nur aus, was jeder Mensch in seiner Alltagserfahrung ohnehin aus vielen Episoden kennt.

Oft erlebt man ja z. B., dass man sich nach dem Namen einer Person fragt oder nach einem bestimmten Buch, dieser einem dann aber nicht „einfällt“ (dieser Begriff weist ja schon darauf hin, dass etwas offenbar von irgendwoher ins Bewusste herein„fällt“). Je mehr man sich dann bewusst bemüht, sich an das Erfragte zu erinnern, desto mehr „entgleitet“ es einem. Man gibt dann vielleicht auf und wendet sich anderen Dingen zu. Nach Stunden, man hat vielleicht sogar schon wieder vergessen, dass man sich überhaupt gefragt hat, „fällt“ es einem dann doch noch spontan, „wie aus heiterem Himmel“, ein, obwohl (besser gesagt, gerade weil) man sich bewusst und willkürlich überhaupt nicht mehr darum bemüht hat, sich zu erinnern. „Es“ hat sich, ganz eigenständig und sehr kompetent, für einen erinnert.

Die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung weisen noch deutlicher und nachdrücklicher darauf hin, wie zentral es für TherapeutInnen und BeraterInnen ist, sich mit der systematischen Beeinflussung unbewusster und unwillkürlicher Prozesse zu beschäftigen.

Die für Handlungen, aber auch sonstiges Erleben entscheidenden Bewertungsprozesse finden vor allem im limbischen System statt, also Teilen des Gehirns, die entwicklungsgeschichtlich älter sind als die Großhirnrinde und sich über verschiedene Bereiche des Gehirns verteilen. Die Hauptfunktion des limbischen Systems „besteht in der Bewertung dessen, was das Gehirn tut“ (Roth 1996, S. 209). Es steuert unser Erleben durch Gefühle als Rückmeldeverfahren, welches uns leitet nach dem Prinzip „Gut für uns, schlecht für uns“ (duales Prinzip, quasi nach dem Entweder-oder-Verfahren). Ohne diese Gefühlsfeedbacks „ist vernünftiges Handeln unmöglich. Wer nicht fühlt, kann auch nicht vernünftig entscheiden oder handeln“ (ebd., S. 212).

Am Beispiel einer typischen Angstdynamik kann man die Organisationsprinzipien von Wahrnehmungsprozessen und die zentrale Rolle der unbewussten, unwillkürlichen Prozesse gut verdeutlichen. Ein Signal aus der Außenwelt z. B. wird über die Sinnesorgane zunächst an den sensorischen Thalamus geleitet. In jedem Fall wird es dann zur weiteren Bewertung und der (unwillkürlichen) Entscheidung über die jeweils adäquate Reaktion zum Mandelkern (Amygdala) geleitet, einem Kern des limbischen Systems, der zentraler Bestandteil des Gefahrabwendungssystems ist. Hier werden Emotionen und Erinnerungen verarbeitet, je nach Einschätzung und Wichtigkeit werden durch ihn Angst, Flucht, Kampfreaktionen ausgelöst mit allen damit verbundenen Hormonausschüttungen und körperlichen Reaktionen wie Blutdruck, Herzschlag etc.

Vom Thalamus gibt es nun verschiedene Verbindungswege zur Amygdala. Um schnellste Reaktionen zu ermöglichen, führt eine direkte Verbindung ohne Umwege zur Amygdala. Sie stellt eine sehr undifferenzierte Art der Bewertung dar, die Amygdala-Reaktion wird nicht differenziert durch andere Prozesse. Sie läuft auch so schnell ab, dass wir keinerlei willkürliche und bewusste Vermittlung dazwischenschalten können. Wird die Amygdala erregt, und signalisiert sie Gefahr, löst sie eine Kaskade weiterer dazu passender Reaktionen z. B. des autonomen Nervensystems und des hormonellen Systems aus. Von ihr aus gehen auch wesentlich mehr Bahnen an andere Hirnzentren als umgekehrt. Schneller, als wir es bewusst registrieren, reagieren wir mit Abwehrreflexen, der Ausschüttung von Stresshormonen und Angriffsoder Flucht- und Schutzreaktionen, wenn in der Amygdala die eingehenden Reize als Erinnerung an mögliche Gefahren interpretiert werden (neben der angeborenen Grundbereitschaft zu Alarmreaktionen speichert sie also auch gelernte Gefahrensituationen von innen und außen). Ihr Vorteil ist, dass sie uns schon Reaktionen ermöglicht, bevor wir „denken“ können. Im Laufe der Evolution hat sich dieser Weg als zentrale Überlebenshilfe ausgebildet und bewährt.

Ein anderer Weg führt vom sensorischen Thalamus zur sensorischen Großhirnrinde im präfrontalen Cortex, in der die Signale (auch unter Rückgriff auf Erinnerungen, gelernte Erfahrungen) differenziert verarbeitet werden, geprüft und eingeschätzt wird, was adäquate Reaktionen sind etc. Von dort aus wird dann auch der Hippocampus einbezogen, der für spezifische Kontextzuordnungen und entsprechende Gedächtnisleistungen zuständig ist, z. B. dafür, ob es sich bei einem lauten Hilfeschrei um eine reale Gefahr auf der Straße oder einen Schrei aus einem laut laufenden Film im Fernsehen handelt. Dieser Weg erlaubt uns sehr differenzierte Beurteilungen und kontextadäquates Handeln, er ist aber wesentlich langsamer als der direkte Weg zur Amygdala.

Wenn aber jemand z. B. unter Ängsten, Depressionen oder traumatisierenden, sehr belastenden Erlebnissen leidet, ist seine Amygdala intensiv erregt und feuert viel schneller und intensiver als in einem mehr ausgeglichenen Zustand. Dadurch werden auch viele andere Bereiche des Gehirns in die Richtung dieser emotionalen Erregung beeinflusst, z. B. auch das Langzeitgedächtnis und der Kurzzeitgedächtnisbereich, der so genannte Arbeitsspeicher. Der oben beschriebene langsamere Weg über die differenzierende Aktivität des Cortex und die wirksame Einbeziehung des Hippocampus, der hilft, ohne starke Affekte die Wahrnehmungen situationsspezifisch einzuordnen, gelangen dann kaum noch zu Bedeutung. Die gesamte Aufmerksamkeit wird intensiv und einseitig ausgerichtet auf die Erinnerungen, Fantasien, Einschätzungsprozesse, die assoziiert sind mit gerade solchen belastenden Erfahrungen. Und alle aktuellen Eindrücke werden mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder aus der Perspektive der Gefahrenwahrnehmung interpretiert, was die Angst- und Stresskaskade wieder rückbezüglich verstärkt. So baut sich ein sich aufschaukelnder Rückkoppelungsprozess auf, der besonders auf unbewusster und unwillkürlicher Ebene sehr leidvolle Prozesse mit intensiv eingeengten Wahrnehmungsprozessen aufrechterhält.

Untersuchungen (mit bildgebenden Verfahren) bei Menschen, die sich als massiv traumatisiert erleben, haben gezeigt, dass durch solche Prozesse die Erinnerungen in sehr verwirrender Weise fragmentiert werden. Besonders belastend scheint dabei zu wirken, dass während der Erinnerung an Traumata die Aktivität der linken Hirnhemisphäre – und da wieder gerade die Bereiche, die für Sprache zuständig sind (Broca-Areal) – deutlich reduziert wird, die Aktivität von Bereichen der rechten Hemisphäre – besonders im Bereich der Amygdala (und der Insel etc.) – hingegen intensiv aktiviert ist. Damit verbunden, werden starke emotionale Prozesse ausgelöst, die aber in wesentlichen Aspekten unbewusst ablaufen und auch nicht oder durch Sprache direkt beeinflusst werden können (Van der Kolk a. Fisler 1995; Van der Kolk et al. 1997; Hofmann 1999).

Das Erleben wird außerdem stark beeinflusst durch unterschiedliche Formen des Gedächtnisses, die für Menschen relevant sind, z. B. unterscheidet man zwischen dem so genannten expliziten, narrativen Gedächtnis und dem so genannten impliziten Gedächtnis. Interventionen der kognitiven, auch mit Sprache assoziierten Art von Gedächtnis können die Prozesse des expliziten Gedächtnisses oft sehr gut und wirksam erreichen und dadurch zu hilfreichen Veränderungen von Problemmustern beitragen. Das implizite Gedächtnis aber, das ganz oder teilweise unbewusst funktioniert, setzt je nach Auslösereiz blitzschnell Bruchstücke von Erinnerungen, Einschätzungen, Körperreaktionen und Handlungsimpulsen frei, die sich auch gegen willkürliche Gegensteuerung meist kraftvoll durchsetzen. Wenn jemand gerade einen Prozess mit hoher Erregung der Amygdala erlebt, springen gerade die Bereiche des impliziten Gedächtnisses an, die mit Angst, Gefahrenerleben, sehr unangenehmen Gefühlen etc. assoziiert sind. Je mehr diese Einfluss gewinnen, desto einflussreicher werden wieder diese Prozesse. Dazu trägt auch bei, dass z. B. durch die damit verbundene erhöhte Cortisolausschüttung der Hippocampus belastet und geschädigt werden kann, dadurch schwächer wird und noch weniger zu differenzierender Korrektur der Angsteskalation beitragen kann; die Amygdala wird dabei gleichzeitig (als wenn ein Muskel trainiert würde) größer und damit wieder stärker (Grawe 2004).

Aus hypnotherapeutischer Perspektive könnte man die Analogie zeichnen, dass die beschriebenen Prozesse gekennzeichnet sind durch intensive Imaginationsprozesse auf der Amygdala-Ebene. Die Amygdala und die mit ihr kooperierenden anderen erwähnten Gehirnbereiche wirken wie ein höchst erfolgreicher Hypnosespezialist, wobei sie allerdings eine oft extrem leidvoll wirkende Trance (ungewünschtes Unwillkürliches herrscht vor) induzieren. Will man dies ändern, sollte man mindestens genauso kompetent und effektiv kommunizieren wie dieser „Quasihypnotherapeut“, wobei man ihn erreichen und auch mit ihm kooperieren sollte, denn gegen dessen enorme Kraft und Schnelligkeit kommt man sonst nicht an.

Diese mit dem impliziten Gedächtnis und der erhöhten Amygdala-Aktivität verbundenen, immer mehr Leid induzierenden Prozesse sind aber leider meist nicht wirksam durch die in unserer Kultur üblichen sprachlichen Prozesse erreichbar und beeinflussbar (die linkshemisphärischen Bereiche sind ja dabei tendenziell mehr deaktiviert). Gerade diese Prozesse sind aber entscheidend beteiligt an der nachhaltigen Aufrechterhaltung der Problemmuster. Für nachhaltige Besserung müssen aber besonders diese Prozesse erreicht und verändert werden.

 

Diese Überlegungen haben aus meiner Sicht gerade für das Feld der systemischen Therapie und Beratung große Relevanz. Dort wird vielfach betont, dass die menschlichen Realitätskonstruktionen vor allem durch Sprache beeinflusst werden. Die hier dargelegten Erkenntnisse der modernen Hirnforschung stellen diese Sicht deutlich infrage.

Die hier beschriebenen Prozesse der quasi automatisierten Aktivitäten der Amygdala und der damit assoziierten anderen Hirnbereiche sind aber nicht grundsätzlich ein Problem oder ein Defizit. Sie können sehr wohl als Ausdruck von wichtigen Fähigkeiten verstanden werden, die in vielen Kontexten überlebenswichtig werden können. Zum Problem werden sie nur dadurch, dass sie, wenn sie einseitig unwillkürlich dominieren, zum subjektiv erlebten Verlust von Wahlmöglichkeiten führen, sodass sich die bewusste, willkürliche „Ich“-Seite eines Menschen als ausgeliefertes Opfer wahrnimmt und sich in Hilflosigkeit gestürzt fühlt, was wieder gerade die Angstprozesse verstärkt. Diese Prozesse können, wieder den Überlegungen in Abschnitt 2.2 folgend, ebenfalls als Äquivalente von Trance-Prozessen (vorherrschend ist Unwillkürliches) verstanden werden, allerdings nicht von gewünschten, sondern von sehr leidvollen, die hier als „Problemtrance“ bezeichnet werden (siehe auch Kapitel 4). Daraus kann gefolgert werden, dass alle Interventionen wieder eigene Gestaltungsfähigkeit und mehr Wahlmöglichkeiten erlebbar machen sollten. Man könnte diese Interventionsrichtung (im Gegensatz zum Begriff „Tranceinduktion“) als „Problemtranceexduktion“ bezeichnen.

Diese Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen auch, dass der in unserer Kultur noch immer bevorzugte und vertraute Glaube, dass Menschen rational und bewusst-willkürlich ihr Leben steuern, sich als Missverständnis des bewussten Ego herausstellt. Libet (1978) und nach ihm viele andere konnten zeigen, dass offenbar alle Denk- und Erlebnisprozesse nicht im Bereich der bewussten Großhirnrindenaktivität beginnen, sondern immer schon vorher Vorentscheidungsprozesse im Zusammenhang mit unbewussten Bereichen unseres Gehirns stattgefunden haben, bevor die bewussten Bereiche davon überhaupt etwas bemerken können.

Wenn sich ein Mensch einseitig parteiisch macht für die Seite der kognitiven Funktionen, wenn deren so genannte Rationalität als die vorrangig oder allein gültige Entscheidungsbasis wird und das so genannte Irrationale aus dem unwillkürlichen Erlebnisbereich tendenziell vernachlässigt oder abgewertet wird, blockiert er damit einen ganz entscheidenden Teil seiner Wahrnehmungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Das Primat des aufgeklärten, rationalen bewussten Denkens ist schlicht eine Illusion, die aber destruktive Folgen haben kann. „Die Erfahrung mit Patienten [mit Hirnschädigungen; G. S.] lässt darauf schließen, dass die kühle Strategie, die Kant und andere vertreten haben, weit eher der Art und Weise entspricht, wie Patienten mit präfrontaler Schädigung [des Gehirns; G. S.] an Entscheidungen herangehen, als der üblichen Verfahrensweise“ (Damasio 1997) gesunder Menschen. Die Großhirnrinde braucht also für erfolgreiche Entscheidungsfindung und Kommunikation dringend die „irrationalen“, entwicklungsgeschichtlich viel älteren Bereiche unseres „dreifältigen Gehirns“ (wie Paul MacLean, der Pionier der Erforschung des limbischen Systems, es nannte). Das Stammhirn und das Mittelhirn, so MacLean (1990), entsprechen dem Entwicklungsstand der Reptilien, z. B. des Alligators („der Alligator in uns“ – mit mehr als 200 Millionen Jahre an Geschichte) und der frühen Säugetiere. Sie sind besonders einflussreich und schnell wirksam für physiologische, aber auch für emotionale und für Entscheidungsprozesse. „Auf das limbische System zu hören ist die klügste Verhaltensweise überhaupt. Die Ebene des Verstandes und der Vernunft [gemeint ist die rational-analytische Vernunft der Großhirnrinde; G. S.] bildet sich in der Hirnentwicklung erst sehr spät aus und erhält auch nie einen im wahrsten Sinne entscheidenden Einfluss auf das Verhalten. Das limbische System benutzt sprichwörtlich den Verstand, um komplexe Situationen differenziert bewerten zu können, gibt aber nie die Letztentscheidung ab“ (Roth 2004). Der bewusste Verstand wirkt also höchstens als eine Art Berater, der sehr nützlich und wichtig ist. Aber: Der die Entscheidungen fällende „Vorstand“ der Entscheidungshierarchie sitzt im limbischen System, eine Willensfreiheit auf bewusster, willkürlicher Ebene haben Menschen nicht (Roth 2004, S. 145).

Aus meiner an Erickson’schen Modellen orientierten Sicht finde ich allerdings manche der Äußerungen z. B. von G. Roth zu einseitig und zu linear. Sicher kann die bewusste, willkürliche, im üblichen Sinne als rational beschriebene Seite des Funktionierens unseres Gehirns nicht mehr als die alleinige Steuerungsinstanz angesehen werden. Aber oft werden die neuen Erkenntnisse aus der Hirnforschung so dargestellt, als ob ein Mensch keinen freien Willen habe und deshalb vielleicht für seine Entscheidungen sogar nicht selbst verantwortlich gemacht werden könnte. Ich halte diese Sicht für viel zu linear-kausal angelegt. Es kommt wohl darauf an, was man als das Selbst, welches verantwortlich gemacht werden könnte, ansieht. Unsere empirische Erfahrung in klinischer und Beratungsarbeit und auch im persönlichen Leben sprechen sehr dafür, dass Eigenverantwortung sehr wohl ein sehr sinnvolles Konstrukt ist. Es setzt nur voraus, dass wir eben selbstverantwortlich in sehr kommunikativer und kooperativer Weise den Austausch, die Wechselwirkungen zwischen unwillkürlichen und willkürlichen Prozessen optimieren.

Prozesse, die üblicherweise außerhalb der bewussten Wahrnehmung ablaufen, also von ihr dissoziiert waren, äußern sich meist durch unwillkürliche Impulse, z. B. über unwillkürliche Körpersignale, Empfindungen, Änderungen der Atmung, Verspannungen, Gefühle etc. (die oft auch als dominierende Restriktionen erlebt werden), die in den bewussten Wahrnehmungs- und Kommunikationszusammenhang drängen. Will man ihren Wert verstehen und sie nutzen, setzt dies einen sehr wertschätzenden Umgang mit ihnen voraus. Sie können optimal genutzt werden als kompetente Instrumente des Feedbacks an das bewusste, willkürliche Erleben für stimmige Entwicklungen und als Warnsignale bei Unstimmigkeiten (Konzept der „somatischen Marker“, Damasio 1997).

Dies heißt aber nicht, dass man jedem spontanen Impuls folgen müsste und dass der intuitive Bereich allein dominieren sollte und die Kompetenzen des bewussten, rationalen Denkens übergehen sollte. Ratsam ist aber, in respektvollen Dialog mit ihm zu treten, um mit seiner Energie zieldienlich für das Gesamtsystem kooperieren zu können. Es stellt sich die Aufgabe, eine wertschätzende Kooperationsbeziehung zwischen den willkürlichen („Ich“-) und unwillkürlichen („Es“-)Seiten menschlicher Kompetenz aktiv herzustellen und zu nutzen. Dies erfordert den Aufbau und die systematische Beachtung einer Art innerer Moderatorenfunktion im Menschen für diese unterschiedlichen Kulturprozesse in uns, die immer gleichzeitig ablaufen. „Ich“ und „Es“ (also dieser unwillkürliche, intuitive Bereich) sollten, metaphorisch gesagt, gestaltet werden wie ein kooperatives Team. Nur dann können wertschätzende Verhandlungen und Übersetzungsleistungen zwischen diesen Teilbereichen unserer Kompetenz entstehen, und nur dann kann eine ganzheitliche Integration unserer Kompetenzbereiche gewährleistet werden.

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