Die Erziehung der Gefühle

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Deslauriers hatte seine Schöne längst verabschiedet und schrieb am Tisch mitten im Zimmer. Gegen vier Uhr kam Cisy zu ihm.

Auf Dussardiers Veranlassung hatte er sich am vorhergehenden Abend mit einer Dame verabredet und sie sogar mit ihrem Mann im Wagen bis an die Schwelle ihres Hauses begleitet, wo sie ein Rendezvous mit ihm verabredet hatte. Er kam daher. Man kannte dort ihren Namen gar nicht.

»Was wollen Sie, daß ich dabei tue?« sagte Frédéric.

Da begann der Junker von allem möglichen zu reden; er sprach von Mademoiselle Vatnaz, der Andalusierin und all den anderen. Schließlich, nach vielen Umschweifen erklärte er den Zweck seines Besuches: im Vertrauen auf die Verschwiegenheit seines Freundes bäte er ihn, ihm in einer Sache beizustehen, in der er sich entschieden als Mann zeigen würde, und Frédéric schlug es ihm nicht ab. Er erzählte dann Deslauriers die Geschichte, ohne zu verraten, was ihn persönlich dabei betraf.

Der Schreiber fand, daß »er sich jetzt ganz gut mache«. Dies Annehmen seiner Ratschläge erhöhte noch seine gute Laune.

Durch diese hatte er Mademoiselle Clémence Daviou, Goldstickerin für Militärausrüstungen, das süßeste Wesen von der Welt und schlank wie ein Schilfrohr, mit großen, immer verwunderten blauen Augen, vom ersten Tage ab bezaubert. Der Schreiber nutzte ihre Arglosigkeit so weit aus, sie glauben zu machen, er sei dekoriert; er schmückte seinen Überrock bei ihren Zusammenkünften mit einem roten Bande, versagte sich aber, es öffentlich zu tun, um seinen Vorgesetzten nicht zu demütigen, wie er sagte. Im übrigen hielt er sie sich fern, ließ sich liebkosen wie ein Pascha und nannte sie lachend »Tochter des Volkes«. Sie brachte ihm jedesmal kleine Veilchensträuße. Frédéric hätte eine solche Liebe nicht gemocht.

Wenn sie aber Arm in Arm ausgingen, um bei Barillon oder Pinson zu essen, empfand er eine seltsame Traurigkeit. Frédéric wußte ja nicht, wie sehr Deslauriers seit einem Jahre jeden Donnerstag gelitten hatte, wenn er sich die Nägel bürstete, ehe er in die Rue Choiseul zum Diner ging.

Eines Abends, als er sie eben von seinem Balkon oben hatte fortgehen sehen, gewahrte er Hussonnet von weitem auf dem Pont d’Arcole. Der Bohémien machte ihm Zeichen, herunterzukommen, und als Frédéric seine fünf Stockwerke herabkam, sagte er:

»Die Sache ist nämlich die! Am nächsten Samstag, dem 24., ist der Namenstag von Madame Arnoux.«

»Aber sie heißt doch Marie?«

»Auch Angèle, was tut das übrigens? Er wird in ihrem Landhaus in Saint-Cloud gefeiert; ich bin beauftragt, Sie davon zu benachrichtigen. Sie finden um drei Uhr ein Fuhrwerk vor der Redaktion! Also abgemacht! Verzeihung, daß ich Sie herunter bemüht habe. Aber ich habe so viele Gänge!«

Kaum hatte Frédéric sich umgewandt, als der Portier ihm einen Brief übergab:

»Monsieur und Madame Dambreuse geben sich die Ehre, Monsieur F. Moreau am Sonnabend, den 24. zum Diner einzuladen. – U.A.w.g.«

»Zu spät,« dachte er.

Nichtsdestoweniger zeigte er Deslauriers den Brief.

»Ah! endlich!« rief dieser aus. »Aber du scheinst nicht zufrieden zu sein. Warum?«

Etwas zögernd sagte Frédéric, daß er für denselben Tag eine andere Einladung habe.

»Tu mir den Gefallen und bleib mir mit der Rue Choiseul vom Halse! Keine Dummheiten! Ich werde für dich antworten, wenn es dir unangenehm ist.«

Und der Schreiber schrieb in der dritten Person eine Zusage.

Da er die Welt nie anders als durch das Fieber seiner Begierden gesehen hatte, stellte er sie sich wie eine künstliche Schöpfung vor, die auf Grund mathematischer Gesetze funktionierte. Eine Einladung zum Diner, die Begegnung mit einem Staatsbeamten, das Lächeln einer hübschen Frau konnte durch eine Reihe aufeinander folgender Handlungen gigantische Folgen haben. Gewisse Pariser Salons waren für ihn wie Maschinen, die den Stoff im Rohzustand aufnehmen und ihn hundertfältig an Wert wiedergeben. Er glaubte an Kourtisanen, die Diplomaten beeinflussen, an reiche Heiraten, die durch Intriguen zustande kommen, an das Genie von Galeerensklaven, die Gefügigkeit des Schicksals unter starken Händen. Kurz, er hielt den Umgang mit den Dambreuses für so nützlich und sprach so gut, daß Frédéric nicht mehr wußte, wozu er sich entschließen sollte.

Da es der Namenstag von Madame Arnoux war, konnte er nicht unterlassen, ihr ein Geschenk zu machen; er dachte natürlich an einen Sonnenschirm, um seine Ungeschicklichkeit wieder gut zu machen. Er entdeckte auch einen Knick-Schirm von taubengrauer Seide mit einem kleinen chinesischen Griff von geschnitztem Elfenbein. Aber er kostete fünfundsiebzig Francs, und er hatte nicht einen Sou, lebte schon auf Kredit des nächsten Quartals. Allein er wollte ihn haben, ihm lag daran, und wenn auch widerwillig nahm er seine Zuflucht zu Deslauriers.

Deslauriers erwiderte ihm, daß er kein Geld habe.

»Aber ich brauche es,« sagte Frédéric, »brauche es sehr notwendig!«

Als der andere dieselbe Entschuldigung mehrmals wiederholt hatte, wurde er hitzig:

»Du könntest wohl bisweilen…«

»Was denn?«

»Nichts!«

Der Schreiber hatte verstanden. Er nahm von seinen Ersparnissen die gewünschte Summe und sagte, als er Stück für Stück hinlegte:

»Ich verlange keine Quittung von dir, da ich auf deine Kosten lebe!«

Frédéric warf sich ihm mit tausend zärtlichen Einwendungen in die Arme, aber Deslauriers blieb kalt. Dann, als er am nächsten Morgen den Schirm auf dem Piano bemerkte, sagte er:

»Ach so! Also war es dafür!«

»Ich schicke ihn vielleicht hin,« sagte Frédéric feige.

Der Zufall half ihm, denn er erhielt abends einen schwarz geränderten Brief, in dem Madame Dambreuse ihm den Verlust eines Oheims anzeigte und sich entschuldigte, das Vergnügen, seine Bekanntschaft zu machen, auf später hinausschieben zu müssen.

Er kam gegen zwei Uhr in das Bureau der Redaktion. Anstatt ihn zu erwarten, um ihn in seinem Wagen mitzunehmen, war Arnoux, der dem Bedürfnis nach frischer Luft nicht widerstehen konnte, schon am Tage vorher hinausgefahren.

Jedes Jahr im ersten Grün brach er, mehrere Tage hintereinander, morgens auf, machte weite Wege durch die Felder, trank auf den Pachthöfen Milch, tändelte mit den Bäuerinnen, erkundigte sich nach den Ernten und brachte in seinem Taschentuch Salatköpfe mit nach Haus. Schließlich hatte er sich, um einen alten Traum zu verwirklichen, ein Landhaus gekauft.

Während Frédéric mit dem Kommis sprach, kam Mademoiselle Vatnaz dazu und war enttäuscht, Arnoux nicht zu treffen. Er würde vielleicht noch zwei Tage fortbleiben. Der Kommis riet ihr, »dorthin« zu fahren, aber sie konnte nicht; oder einen Brief zu schreiben; doch sie hatte Furcht, der Brief könne verloren gehen. Frédéric bot sich an, ihn selbst mitzunehmen. Sie schrieb ihn schnell und beschwor Frédéric, ihn ohne Zeugen abzugeben.

Vierzig Minuten später landete er in Saint-Cloud.

Das Haus lag hundert Schritt hinter der Brücke, auf halber Höhe des Hügels. Die Gartenmauern waren durch zwei Reihen Linden verdeckt, und ein breiter Grasplatz führte bis zum Ufer des Flusses hinunter. Die Gittertür stand offen, Frédéric trat ein.

Arnoux spielte auf dem Rasen ausgestreckt mit einem Wurf kleiner Kätzchen. Diese Zerstreuung schien ihn unendlich zu fesseln. Der Brief von Mademoiselle Vatnaz riß ihn aus seiner Versunkenheit.

»Zum Teufel! den Teufel auch! das ist fatal! Ja, sie hat recht. Ich muß zurück!«

Dann, nachdem er das Schreiben in seine Tasche geschoben hatte, machte er sich das Vergnügen, sein Besitztum zu zeigen. Er zeigte alles, den Stall, den Wagenschuppen, die Küche. Der Salon lag rechts und ging auf der Seite von Paris auf einen von Klematis überrankten Gitter-Vorbau. Von oben, über ihrem Kopfe ertönte ein Triller: Madame Arnoux, die sich allein glaubte, vertrieb sich die Zeit mit Singen. Sie sang Tonleitern, Koloraturen, Glissandi. Lange Töne schienen sich schwebend zu halten, andere fielen, sich überstürzend, wie Tropfen einer Kaskade, und ihre Stimme drang durch die Jalousie, unterbrach die tiefe Stille und stieg zum blauen Himmel empor.

Als Monsieur und Madame Oudry, zwei Nachbarn, sich einfanden, hörte sie plötzlich auf.

Darauf erschien sie oben auf der Freitreppe, und als sie die Stufen hinabschritt, sah er ihren Fuß. Sie trug kleine, niedrige Schuhe aus goldkäferfarbigem Leder mit drei Querspangen, die ein Goldgitterwerk auf ihre Strümpfe zeichneten.

Die Geladenen langten an. Außer Monsieur Lefaucheur, dem Advokaten, waren es die Donnerstag-Gäste. Jeder hatte ein Geschenk mitgebracht. Dittmer eine syrische Schärpe, Rosenwald ein Romanzen-Album, Burrieu ein Aquarell, Sombaz seine eigene Karikatur und Pellerin eine Kohlezeichnung, die eine Art Totentanz darstellte, eine schauderhafte Phantasie in mittelmäßiger Ausführung. Hussonnet hatte kein Geschenk für sie.

Frédéric wartete, um das seine zuletzt anzubieten.

Sie dankte ihm erfreut darüber. Darauf sagte er:

»Aber… es ist fast eine Schuld! Ich war so ärgerlich.«

»Worüber denn?« fragte sie. »Ich verstehe nicht!«

»Zu Tisch!« rief Arnoux, ihn beim Arm fassend, wobei er ihm ins Ohr flüsterte: »Sie sind sehr boshaft!«

Nichts konnte hübscher sein als der Speisesaal, der in seegrüner Farbe gehalten war. An dem einen Ende tauchte eine Nymphe ihre Zehe in ein muschelförmiges Bassin. Durch die geöffneten Fenster sah man den ganzen Garten und den langen Rasenplatz mit einer alten, zum größten Teil kahlen schottischen Kiefer daneben und von ungleichen Blumenbeeten unterbrochen. Und drüben, jenseits des Flusses, dehnte sich in einem weiten Halbkreis das Bois de Boulogne, Neuilly, Sèvres, Meudon. Gegenüber vor dem Gitter lavierte ein Segelboot.

 

Man sprach zuerst von der Aussicht, die man hier hatte, darauf von der Landschaft im allgemeinen; und die Diskussionen begannen, als Arnoux seinem Diener den Auftrag gab, den Wagen gegen einhalb zehn Uhr anzuspannen. Ein Brief seines Kassierers riefe ihn zurück.

»Willst du, daß ich mit dir zurückkehre?« sagte Madame Arnoux.

»Aber gewiß!« und mit einer tiefen Verbeugung fügte er hinzu: »Sie wissen, Madame, daß man ohne Sie nicht leben kann.«

Alle beglückwünschten sie zu einem solchen Manne.

»Ach, das gilt nicht mir allein!« erwiderte sie sanft, auf ihr Töchterchen weisend.

Dann, als die Unterhaltung auf die Malerei gekommen war, wurde von einem Ruysdaël gesprochen, für den Arnoux eine beträchtliche Summe zu erhalten erwartete; und Pellerin fragte ihn, ob es wahr sei, daß der berühmte Saul Mathias aus London ihm im vorigen Monat dreiundzwanzigtausend Francs dafür geboten habe.

»Nichts ist wahrer!« und zu Frédéric gewendet: »Das ist derselbe Herr, den ich neulich in der Alhambra umherführte, wider meinen Willen, versichere ich Sie, denn diese Engländer sind nicht amüsant.«

Frédéric, der in dem Brief von Mademoiselle Vatnaz eine Weibergeschichte argwöhnte, hatte die Gewandtheit bewundert, mit der Arnoux einen schicklichen Vorwand gefunden, um sich aus dem Staube zu machen; aber seine neue, absolut überflüssige Lüge öffnete ihm die Augen.

Der Kaufmann fügte unbefangen hinzu:

»Wie heißt doch dieser große junge Mann, Ihr Freund?«

»Deslauriers,« sagte Frédéric lebhaft.

Und um das Unrecht wieder gut zu machen, dessen er sich ihm gegenüber schuldig fühlte, rühmte er ihn wie ein höheres Wesen.

»Ach! wirklich? Aber er scheint nicht ein so guter Kerl zu sein wie der andere, der Kommis aus dem Fuhrgeschäft.«

Frédéric verwünschte Dussardier. Sie mußte glauben, daß er mit gewöhnlichen Leuten umgehe.

Darauf war die Rede von Verschönerungen der Hauptstadt, von neuen Stadtteilen, und der gute Oudry nannte Monsieur Dambreuse unter den großen Spekulanten.

Frédéric ergriff die Gelegenheit, sich zur Geltung zu bringen und sagte, daß er ihn kenne. Aber Pellerin fiel in einer stürmischen Rede über die Krämer her, Kerzenhändler oder Geldwechsler, er sah darin keinen Unterschied. Rosenwald und Burrieu unterhielten sich über Porzellan; Arnoux sprach über Gärtnerei mit Madame Oudry; Sombaz, ein Spaßmacher der alten Schule, belustigte sich damit, ihren Gatten aufzuziehen; er nannte ihn Odry, nach dem Schauspieler, erklärte, daß er von d’Oudry, dem Hundemaler, abstammen müsse, denn der Tierhöcker sei auf seiner Stirn sichtbar. Er wollte sogar seinen Schädel betasten, allein der andere weigerte sich wegen seiner Perücke und das Dessert endete unter lautem Lachen.

Nachdem man unter den Linden rauchend den Kaffee getrunken sowie einige Rundgänge im Garten gemacht hatte, wurde ein Spaziergang den Fluß entlang unternommen.

Die Gesellschaft blieb vor einem Fischer stehen, der in einem Fischkasten Aale reinigte. Die kleine Marthe wollte sie sehen. Er leerte seinen Kasten auf den Rasen, und das kleine Mädchen warf sich auf die Knie, um sie zu fangen, lachte vor Vergnügen und schrie zugleich vor Schreck. Sie waren alle fort, Arnoux bezahlte sie.

Dann hatte er die Idee, eine Bootfahrt zu machen.

Eine Seite des Horizonts begann zu verblassen, während sich auf der andern eine tiefe Orange-Farbe weit über den Himmel verbreitete, die sich über den völlig schwarz gewordenen Gipfeln der Hügel mehr purpurn rötete. Madame Arnoux saß mit diesem Feuerschein hinter sich auf einem großen Stein. Die anderen schlenderten umher. Hussonnet warf unten am Ufer Kiesel flach über das Wasser.

Arnoux kam mit einer alten Schaluppe zurück, und trotz aller Vorstellungen der Vorsichtigen packte er seine Gäste hinein. Sie kenterte und es mußte gelandet werden.

In dem dunkelblau tapezierten Salon mit Kristall-Armleuchtern an den Wänden brannten schon alle Kerzen. Mutter Oudry schlummerte sanft in einem Fauteuil, und die anderen hörten Monsieur Lefaucheur zu, der sich über die Zierden der Advokatur ausließ. Madame Arnoux stand allein am Fenster; Frédéric trat zu ihr.

Sie plauderten über allerlei. Sie bewunderte die Redner; er aber zog den Ruhm der Schriftsteller vor. Man müßte, fuhr sie fort, einen viel stärkeren Genuß empfinden, selbst direkt Einfluß auf die Menge auszuüben und die Gefühle der eignen Seele auf sie übertragen zu können. Diese Triumphe lockten Frédéric nicht, der gar keinen Ehrgeiz besaß.

»Ach! warum?« sagte sie. »Man muß ein wenig ehrgeizig sein!«

Sie standen dicht nebeneinander in der Fensternische. Die Nacht vor ihnen spannte sich wie ein ungeheurer, silbergewirkter, dunkler Schleier. Zum erstenmal sprachen sie nicht von nichtssagenden Dingen. Er lernte sogar ihre Antipathie und ihren Geschmack kennen: gewisse Parfüms widerten sie an, Bücher über Geschichte interessierten sie, sie glaubte an Träume.

Er berührte das Kapitel der sentimentalen Abenteuer. Sie beklagte das Unheil der Leidenschaft, war aber empört über schmachvolle Heuchelei. Und diese Geradheit des Geistes stimmte so gut mit der regelmäßigen Schönheit ihres Antlitzes überein, daß sie davon abhängig schien.

Zuweilen lächelte sie, indem sie ihre Augen eine Minute auf ihm weilen ließ. Dann fühlte er ihre Blicke seine Seele durchdringen wie jene starken Sonnenstrahlen, die bis auf den Grund des Wassers hinabtauchen. Er liebte sie ohne Hintergedanken, ohne Hoffnung auf Gegenliebe, unumschränkt; und in dieser stummen Verzückung, die einer lebhaften Dankbarkeit glich, hätte er ihre Stirn mit einer Flut von Küssen bedecken mögen.

Allein eine innere Regung hob ihn über sich selbst hinaus; es war ein Verlangen, sich zu opfern, ein Bedürfnis unmittelbarer Hingabe, die um so stärker war, als er es nicht stillen konnte.

Er ging nicht mit den anderen fort, Hussonnet ebenfalls nicht. Sie sollten mit dem Wagen zurückkehren, und als dieser am Fuß der Freitreppe wartete, ging Arnoux in den Garten hinunter, um Rosen zu pflücken. Dann, nachdem er den Strauß, aus dem die Stiele ungleich hervorragten, mit einem Faden umwunden hatte, suchte er in seiner mit Papieren gefüllten Tasche, nahm aufs Geratewohl eins heraus, umhüllte sie damit, befestigte sein Werk mit einer starken Nadel und bot es seiner Frau mit einer gewissen Gerührtheit an.

»Nimm, meine Liebe, verzeih’, daß ich dich vergessen habe!«

Aber sie stieß einen kleinen Schrei aus; die Nadel, ungeschickt hineingesteckt, hatte sie verwundet, und sie ging in ihr Zimmer hinauf. Es wurde fast eine Viertelstunde auf sie gewartet. Endlich erschien sie wieder, hob Marthe in die Höhe und stieg rasch in den Wagen.

»Und dein Strauß?« sagte Arnoux.

»Ach, es lohnt der Mühe nicht!«

Frédéric lief, um ihn zu holen; sie rief ihm zu:

»Ich will es nicht!«

Aber er brachte ihn doch und sagte, daß er ihn eben wieder in die Hülle getan hätte, da er die Blumen auf der Erde gefunden. Sie steckte sie unter die Lederschutzdecke an dem Sitz, und sie fuhren ab.

Frédéric, der neben ihr saß, bemerkte, daß sie furchtbar zitterte. Dann, als sie die Brücke passiert hatten und Arnoux nach links wendete, rief sie:

»Nicht doch! du irrst dich! dorthin, rechts!«

Sie schien gereizt; alles störte sie. Schließlich, als Marthe die Augen geschlossen hatte, zog sie den Strauß heraus und schleuderte ihn über den Wagenschlag hinaus, faßte darauf Frédéric am Arm und machte ihm dabei ein Zeichen mit der andern Hand, niemals davon zu sprechen.

Darauf drückte sie ihr Taschentuch an die Lippen und regte sich nicht mehr.

Die beiden anderen auf dem Bock unterhielten sich über Druckereien und Abonnenten. Arnoux, der unaufmerksam kutschierte, verirrte sich mitten im Bois de Boulogne. Da mußten sie Nebenwege einschlagen. Das Pferd ging im Schritt; die Zweige der Bäume streiften das Verdeck. Frédéric sah in der Dunkelheit nichts von Madame Arnoux als die beiden Augen; Marthe lag ausgestreckt auf ihren Knien, und er stützte ihr den Kopf.

»Sie belästigt Sie!« sagte die Mutter.

Er erwiderte:

»Nein! O nein!«

Langsam wirbelte der Staub auf; sie kamen durch Auteuil; alle Häuser waren geschlossen; hier und dort erhellte eine Gaslaterne einen Mauerwinkel, dann tauchte man wieder in die Finsternis; einmal bemerkte er, daß sie weinte.

Waren das Gewissensbisse? ein Wunsch? was mochte es sein? Dieser Kummer, den er nicht kannte, interessierte ihn wie etwas, das ihn persönlich betraf; jetzt gab es zwischen ihnen ein neues Band, eine Art Mitschuld; und er sagte mit einer so liebevollen Stimme, wie er konnte:

»Sie leiden?«

»Ja, ein wenig,« erwiderte sie.

Der Wagen rollte weiter, und Geißblatt und Jasmin fluteten über die Gartenzäune und entsandten erschlaffende Düfte in die Nacht. Die zahlreichen Falten ihres Kleides bedeckten seine Füße. Und er fühlte sich mit ihrer ganzen Person im Zusammenhang, weil das Kind zwischen ihnen ausgestreckt lag. Er beugte sich zu dem kleinen Mädchen hinab, und indem er seine hübschen braunen Haare zur Seite schob, küßte er es sanft auf die Stirn.

»Sie sind gut,« sagte Madame Arnoux.

»Warum?«

»Weil Sie Kinder lieben.«

»Nicht alle!«

Er fügte nichts hinzu, streckte aber weitgeöffnet die linke Hand nach ihrer Seite hin aus, – indem er sich einbildete, sie würde es vielleicht machen wie er, und ihre Hand würde die seine berühren. Dann schämte er sich und zog sie wieder zurück.

Bald kamen sie auf die Straße. Der Wagen fuhr schneller, man sah mehr Gaslaternen, es war Paris. Vor dem »Gardes-Meubles« sprang Hussonnet vom Bock herunter. Frédéric wartete mit dem Aussteigen bis sie auf dem Hof waren; dann stellte er sich an der Ecke der Rue Choiseul auf die Lauer und sah Arnoux langsam auf die Boulevards zugehen. –

Vom nächsten Tage an begann er mit aller Kraft zu arbeiten.

Er sah sich vor einem Schwurgericht, an einem Winterabend, am Schluß der Plaidoyers, wo die Geschworenen bleich sind und die atemlose Menge die Schranken im Gerichtssaal einzudrücken droht, sah sich schon seit vier Stunden sprechen, alle seine Beweise kurz zusammenfassen, neue entdecken, und fühlte bei jeder Frage, bei jedem Wort, jeder Geste das hinter ihm schwebende Fallbeil der Guillotine sich heben; dann sah er sich auf der Tribüne in der Kammer als Redner, an dessen Lippen das Heil eines ganzen Volkes hängt, der seine Gegner durch seine zündende Rede überwältigt, mit einer schnellen Antwort, mit dröhnenden Worten oder wohltuendem Klang in der Stimme vernichtet, ironisch, pathetisch, hingerissen, erhaben; und sie würde da sein, irgendwo, mitten unter den anderen, würde die Tränen der Begeisterung unter ihrem Schleier verbergen; dann würden sie sich wiederfinden; – und die Entmutigungen, die Verleumdungen und Beleidigungen würden ihm nichts anhaben, wenn sie ihm mit ihren sanften Händen über die Stirn striche und sagte: »Ah! das war schön!«

Diese Bilder strahlten wie Leitsterne am Horizonte seines Lebens. So angefeuert wurde sein Geist viel freier und stärker. Bis zum August schloß er sich ein und wurde dann zu seinem letzten Examen zugelassen.

Deslauriers, den es soviel Mühe gekostet hatte, ihm Ende Dezember nochmals das zweite und Ende Februar das dritte einzupauken, überraschte sein Eifer. Nun erwachten die alten Hoffnungen wieder. In zehn Jahren würde Frédéric Deputierter sein; in fünfzehn Minister; warum nicht? Mit seinem Erbteil, das ihm bald zur Verfügung stehen würde, konnte er zuerst ein Blatt gründen, als Debut; dann würde man weiter sehen. Was ihn selbst anbetraf, so strebte er immer noch nach einer Professur an der juristischen Fakultät; und er verfocht seine These für das Doktorat in so bemerkenswerter Weise, daß es ihm Komplimente von den Professoren eintrug.

Frédéric machte sein Examen drei Tage später. Ehe er zu den Ferien abreiste, wollte er zum Abschluß der Sonnabend-Vereinigungen ein Picknick veranstalten.

Er war in heiterer Stimmung. Madame Arnoux war jetzt bei ihrer Mutter in Chartres. Aber bald würde er sie wiedersehen und schließlich ihr Geliebter werden.

Deslauriers, der am selben Tage zum Diskutierklub d’Orsay zugelassen worden war, hatte mit vielem Beifall eine Rede gehalten. Obwohl er mäßig war, berauschte er sich und sagte beim Dessert zu Dussardier:

»Du bist ehrlich! Wenn ich reich werde, setze ich dich als Verwalter ein.«

Alle waren glücklich. Cisy wollte sein Rechtsstudium nicht beenden; Martinon seine kommissarische Anstellung in der Provinz beibehalten, wo er zum Substituten ernannt werden sollte; Pellerin arbeitete an einem großen Bilde, »der Geist der Revolution«; Hussonnet sollte dem Direktor der Déclassements den Entwurf zu einem Stück vorlesen, an dessen Erfolg er nicht zweifelte.

 

»Denn die Bühnengewandtheit des Dramas gesteht man mir zu, Leidenschaften, ich habe mich genug herumgetrieben, um mich darauf zu verstehen, und was den Witz anbetrifft, so ist das mein Metier!«

Er machte einen Sprung, fiel auf beide Hände zurück und marschierte eine Weile mit den Beinen in der Luft um den Tisch herum.

Aber dieser Jungenstreich heiterte Sénécal nicht auf. Er sollte aus seiner Pension verjagt werden, weil er den Sohn eines Aristokraten geschlagen hatte. Da seine Not sich noch verschlimmerte, griff er die soziale Ordnung an, er schmähte die Reichen und schüttete Regimbart, der immer mehr enttäuscht, verbittert, angewidert war, sein Herz aus. Der Citoyen kam jetzt auf Budgetfragen zu sprechen und beschuldigte die Kamarilla, Millionen in Algier zu vergeuden.

Da er nicht schlafen konnte, ohne die Wirtschaft Alexandre aufgesucht zu haben, verschwand er gegen elf Uhr. Die übrigen gingen später, und Frédéric erfuhr, als er sich von Hussonnet verabschiedete, daß Madame Arnoux am vorhergehenden Abend hatte zurückkehren sollen.

Er ging daher zur Post, um seinen Platz für den nächsten Tag einzutauschen, und begab sich zu ihr. Der Hausmeister teilte ihm mit, daß ihre Rückkehr um acht Tage verschoben sei. Frédéric aß allein und schlenderte auf den Boulevards umher.

Rosige Wolken in Gestalt von breiten Bändern dehnten sich über den Dächern; die Sonnenzelte vor den Läden wurden in die Höhe gezogen; Sprengwagen schütteten einen Regen auf den Staub, und eine unerwartete Frische mischte sich mit den Ausdünstungen der Cafés, durch deren offene Türen man zwischen Silbergerät und Vergoldungen Blumensträuße sah, die sich in den hohen Scheiben widerspiegelten. Die Menge schob sich langsam vorwärts, Gruppen von Männern standen plaudernd mitten auf dem Trottoir; und Frauen gingen vorüber mit einer Mattigkeit in den Augen und jenem Kamelien-Teint, den erschlaffende große Leidenschaften weiblichem Fleische verleihen. Etwas Unfaßbares lag über allem, hüllte die Häuser ein. Niemals war ihm Paris so schön erschienen. Er sah in der Zukunft nichts als eine unendliche Reihe von Jahren der Liebe.

Vor dem Theater Porte Saint-Martin blieb er stehen, um die Zettel zu lesen, und nahm aus Langeweile ein Billet.

Es wurde eine alte Zauberposse gegeben. Die Zuschauer waren nur spärlich, und durch die Dachfenster des Olymps fiel das Licht in kleinen, blauen Vierecken, während die Lampen an der Rampe eine einzige Linie von gelben Flammen bildeten. Die Bühne stellte einen Sklavenmarkt zu Peking dar, mit Glockenspiel, Tamtam, Sultanen, spitzen Hüten und Spaßvögeln. Dann, als der Vorhang gefallen war, irrte er einsam in den Foyers umher und bewunderte auf dem Boulevard, am Fuß der Freitreppe, einen grünen Landauer mit zwei Schimmeln davor, die ein Kutscher in Kniehosen hielt.

Als er wieder auf seinem Platz anlangte, traten ein Herr und eine Dame in die Proszeniumsloge des ersten Ranges. Der Mann, von jenem eisigen Aussehen, das den Diplomaten kennzeichnen soll, mit der Rosette der Offiziere der Ehrenlegion, hatte ein blasses, von einem grauen Bart umrahmtes Gesicht.

Seine Frau, die mindestens zwanzig Jahre jünger, weder groß noch klein, weder häßlich noch hübsch war, trug ihr blondes Haar auf englische Art in langen, gedrehten Locken, ein Kleid mit glatter Taille und einen großen, schwarzen Spitzenfächer. Wenn Leute dieser Kreise zu dieser Jahreszeit das Schauspiel besuchten, mußte man annehmen, daß ein Zufall oder die Unlust, ihren Abend im Tête-â-tête zu verbringen, sie dazu veranlaßte. Die Dame nagte an ihrem Fächer und der Mann gähnte. Frédéric konnte sich nicht erinnern, wo er dieses Gesicht schon gesehen hatte.

Im nächsten Zwischenakt, als er einen Gang durchschritt, begegnete er den beiden; bei seinem flüchtigen Gruß erkannte ihn Monsieur Dambreuse, sprach ihn an und entschuldigte sich wegen seiner unverzeihlichen Nachlässigkeit. Das war eine Anspielung auf die zahlreichen Visitenkarten, die er auf den Rat des Schreibers geschickt hatte. Jedoch verrechnete er sich in der Zeit und glaubte, Frédéric stehe erst im zweiten Jahr seines Rechtsstudiums. Er beneidete ihn um seine Reise aufs Land. Auch er habe das Bedürfnis nach Ruhe, aber die Geschäfte hielten ihn in Paris zurück.

Madame Dambreuse neigte, auf seinen Arm gestützt, leicht das Haupt; und die geistvolle Anmut ihres Gesichts stimmte gar nicht mit dem vorher so mürrischen Ausdruck darin überein.

»Man findet hier doch angenehme Zerstreuungen,« sagte sie bei den letzten Worten ihres Gatten. »Wie dumm dieses Stück ist, nicht wahr?« Und alle drei blieben stehen, und sprachen über Theater und neue Stücke.

Frédéric, der an das Gebaren der Provinzdamen gewöhnt war, hatte noch bei keiner Frau eine solche Gewandtheit der Manieren, diese Einfachheit gesehen, die ein Raffinement ist, das naive Leute für den Ausdruck augenblicklicher Sympathie nehmen.

Sie rechneten nach seiner Rückkehr auf ihn; Monsieur Dambreuse trug ihm Grüße für Vater Roque auf. Zu Haus verfehlte Frédéric nicht, Deslauriers von dieser Aufnahme zu erzählen.

»Famos!« erwiderte der Schreiber, »aber laß dich von deiner Mama nicht einschüchtern. Komm sofort zurück.«

Am Morgen nach seiner Ankunft, nach dem Frühstück, führte Madame Moreau ihren Sohn in den Garten.

Sie pries sich glücklich, ihn in einem Beruf zu sehen, denn sie waren nicht so reich wie man annahm; der Boden hatte wenig Ertrag, die Pächter zahlten schlecht; sie war sogar gezwungen, ihren Wagen zu verkaufen. Kurz, sie schilderte ihm ihre Lage. In den ersten Verlegenheiten ihres Witwentums hatte Monsieur Roque, der sehr verschlagen war, ihr Gelddarlehen gewährt, die wider ihren Willen erneuert und prolongiert wurden. Plötzlich war er gekommen, sie zurückzufordern, und sie war auf seine Bedingungen eingegangen, indem sie ihm das Gut Presles zu einem Spottpreise abtrat. Zehn Jahre später sei ihr Kapital bei dem Bankrott eines Bankhauses in Melun verloren gegangen. Als Vater Roque sich von neuem meldete, hatte sie aus Furcht vor Hypotheken und wegen der Zukunft ihres Sohnes den nützlichen äußeren Schein zu wahren, nochmals auf ihn gehört. Doch jetzt wäre sie schuldenfrei und es blieben ihnen etwa zehntausend Francs Rente, wovon zweitausenddreihundert als sein Erbteil ihm gehörten.

»Das ist nicht möglich!« rief Frédéric.

Sie machte eine Kopfbewegung, die andeutete, daß es sehr möglich sei.

Aber sein Oheim würde ihm doch etwas hinterlassen?

Noch war nichts sicher.

Und schweigend machten sie einen Gang durch den Garten. Dann zog sie ihn an ihr Herz und sagte mit tränenerstickter Stimme:

»Ach, mein armer Junge! Ich habe viele Träume aufgeben müssen!«

Er setzte sich auf die Bank im Schatten einer hohen Akazie.

Sie riet ihm, Gehilfe des Anwalts Monsieur Prouharam zu werden, der ihm seine Praxis übergeben würde; wenn er sie dann recht in die Höhe brächte, könnte er sie wieder verkaufen und eine gute Partie machen.

Frédéric hörte nicht mehr zu. Mechanisch blickte er über die Hecke in den andern Garten gegenüber.

Ein kleines rothaariges Mädchen von etwa zwölf Jahren befand sich ganz allein darin. Es hatte sich Ohrringe von Ebereschenbeeren gemacht, sein Leibchen von grauer Leinwand ließ die von der Sonne leise goldig gebräunten Schultern frei, das weiße Röckchen hatte Obstflecke; und über der ganzen Gestalt lag die Anmut eines jungen, wilden, nervösen und zugleich zarten Tieres. Die Gegenwart eines Unbekannten überraschte es offenbar, denn es war mit seiner Gießkanne in der Hand plötzlich stehen geblieben und heftete seine hellen, grünlichblauen Augäpfel auf ihn.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?