Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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IV.

Sie war nun ver­hei­ra­tet. Es war ihr zu Mute, als be­fän­de sie sich in ei­ner tie­fen Gru­be, aus der kei­ne Flucht mög­lich war, und als schweb­ten über ih­rem Kopf alle Ar­ten von Un­glück wie rie­si­ge Fel­sen, je­den Au­gen­blick be­reit, auf sie nie­der zu stür­zen. Ihr Gat­te kam ihr vor wie je­mand, den sie be­stoh­len hat­te und der dies ei­nes Ta­ges mer­ken wür­de. Und dann dach­te sie an ihr Kind, von dem all’ ihr Un­glück kam, das aber auch zu­gleich ihr ein­zi­ges Glück auf Er­den aus­mach­te.

Zwei­mal im Jah­re be­such­te sie es und kam je­des Mal trau­ri­ger nach Hau­se.

Al­lein mit der Zeit ge­wöhnt man sich an al­les. Ihr Herz wur­de ru­hi­ger, und sie sah mit mehr Ver­trau­en auf ihre jet­zi­ge Lage, die nur hin und wie­der noch durch eine flüch­ti­ge Re­gung der Furcht be­ein­träch­tigt wur­de.

Die Zeit ver­ging. Das Kind war nun schon sechs Jah­re alt. Sie war jetzt so­gar fast glück­lich, als plötz­lich bei dem Päch­ter eine fins­te­re Stim­mung sicht­lich im­mer mehr Platz griff.

Schon seit zwei oder drei Jah­ren schi­en er an ei­ner in­ne­ren Un­ru­he zu lei­den, ir­gend eine Sor­ge mit sich her­um­zu­tra­gen, ir­gend einen bö­sen Ge­dan­ken, der von Tag zu Tag wuchs. Wenn das Es­sen schon vor­über war, blieb er noch lan­ge am Ti­sche sit­zen, den Kopf in den Hän­den ver­gra­ben, trau­rig, so trau­rig, als wür­de er von ei­nem tie­fen Kum­mer ver­zehrt. Er sprach lau­ter, ja barsch zu­wei­len, und es schi­en un­will­kür­lich, als habe er einen Hin­ter­ge­dan­ken ge­gen sei­ne Frau, denn er be­geg­ne­te ihr öf­ters mit Rau­heit, ja mit Zorn so­gar.

Ei­nes Ta­ges kam ein Nach­bars­jun­ge in den Hof, um Eier zu ho­len. Da sie ge­ra­de sehr be­schäf­tigt war, ließ sie ihn et­was barsch an, als plötz­lich hin­ter ihr ihr Mann mit bos­haf­tem Tone sag­te:

»Wenn das Dein Kind wäre, wür­dest Du es nicht so an­fah­ren.«

Sie stand einen Au­gen­blick sprach­los da; dann ging sie mü­den Schrit­tes ins Haus zu­rück. Alle ihre Qua­len wa­ren aufs Neue er­wacht.

Bei Tisch sprach der Päch­ter nicht mit ihr und sah sie kaum an; er schi­en sie zu ver­ab­scheu­en und zu ver­ach­ten. Er muss­te et­was wis­sen.

Sie ver­lor den Kopf und wag­te nicht, nach dem Es­sen mit ihm al­lein zu blei­ben. Sie ging hin­aus und lief zur Kir­che.

Der Abend brach her­ein. Das schma­le Schiff der Kir­che war schon ganz dun­kel, aber sie hör­te Schrit­te da un­ten am Chor; es war der Sa­kris­tan, der die ewi­ge Lam­pe vor dem Al­ta­re für die Nacht zu­recht mach­te. Die­ser Licht­schim­mer, der aus dem Dun­kel des Ge­wöl­bes auf­tauch­te, er­schi­en Rose wie der Ver­kün­der ei­ner letz­ten Hoff­nung; sie warf sich auf die Knie und be­te­te, die Au­gen auf den Al­tar ge­hef­tet.

Knis­ternd brann­te die klei­ne Flam­me neu em­por. Bald schlürf­ten wie­der Trit­te durch den Gang, de­nen das gleich­mäs­si­ge Geräusch ei­nes an der Mau­er sich rei­ben­den Strickes folg­te: Die klei­ne Glo­cke der Kir­che rief zum »An­ge­lus.« Als der Mann her­aus ging, schloss sich Rose ihm an.

»Ob der Herr Pfar­rer wohl zu Hau­se ist?« frag­te sie.

»Ich glau­be wohl;« ant­wor­te­te er, »er speist im­mer nach dem An­ge­lus.«

Mit zit­tern­der Hand öff­ne­te sie die Türe des Pfarr­hau­ses.

Der Pfar­rer war ge­ra­de beim Es­sen und hiess sie sich set­zen.

»Ja, ja«, sag­te er, »Euer Mann hat mir schon von dem ge­spro­chen, was Euch zu mir führt.«

Die arme Frau knick­te zu­sam­men.

»Was gibt es also, mein Kind?« fuhr der Pries­ter fort, und ass schnell ei­ni­ge Löf­fel Sup­pe, wo­bei ihm ver­schie­de­ne Trop­fen auf sei­ne et­was fle­cki­ge, ab­ge­nutz­te Sou­ta­ne fie­len.

Rose wag­te nicht zu spre­chen; sie ver­moch­te es nicht, ihr Leid zu kla­gen und ihn um Hil­fe zu bit­ten. Stumm er­hob sie sich.

»Mut! mei­ne Toch­ter …« woll­te der Pfar­rer fort­fah­ren, aber schon wank­te sie hin­aus.

Sie kam zum Hof zu­rück, ohne recht zu wis­sen, wie sie da­hin ge­lang­te. Ihr Mann war­te­te auf sie; die Ar­beits­leu­te wa­ren schon fort­ge­gan­gen. Da sank sie von Schmerz über­wäl­tigt vor ihm auf die Knie und frag­te mit trä­nen­er­stick­ter Stim­me:

»Was hast Du doch nur ge­gen mich?«

»Was ich habe?« schrie er to­bend auf, »dass ich kei­ne Kin­der habe, bei Gott! Wenn man hei­ra­tet, so will man doch das gan­ze Le­ben hin­durch nicht zu Zwei­en blei­ben. Das ist’s, was ich habe. Wenn eine Kuh kei­ne Käl­ber hat, so taugt sie nichts. Hat eine Frau kei­ne Kin­der, so ist sie gleich­falls nichts wert.«

»Es ist doch nicht mei­ne Schuld«, stam­mel­te sie wei­nend. »Was kann ich denn da­für?«

»Das sage ich auch nicht«, ent­geg­ne­te er et­was mil­der ge­stimmt. »Aber es ist doch gar zu är­ger­lich.«

V.

Von die­sem Tage an hat­te sie nur noch den einen Wunsch, ein Kind zu ha­ben, ein zwei­tes Kind; und sie ver­trau­te al­ler Welt ih­ren Wunsch an.

Eine Nach­ba­rin gab ihr ein Mit­tel an: Sie soll­te ih­rem Man­ne je­den Abend ein Glas Was­ser mit ei­ner Mes­ser­spit­ze voll Asche zu trin­ken ge­ben. Der Päch­ter er­klär­te sich dazu be­reit, aber das Mit­tel half nichts.

»Vi­el­leicht gibt es da­für ir­gend ein Ge­heim­mit­tel«, sag­ten sie sich und zo­gen Er­kun­di­gun­gen ein. Man be­zeich­ne­te ih­nen einen Schä­fer, wel­cher sechs Mei­len von dort wohn­te; und ei­nes Ta­ges spann­te Meis­ter Val­lin sein Til­bu­ry ein und fuhr dort­hin. Der Schä­fer stell­te ihm ein Brot zu, auf wel­chem er ge­wis­se Zei­chen ge­macht hat­te, ein mit be­son­de­ren Kräu­tern durch­kne­te­tes Brot, von dem sie bei­de, so oft sie zu­sam­men schlie­fen, vor­her und nach­her es­sen soll­ten.

Bald war das gan­ze Brot auf­ge­zehrt, ohne das ein Er­folg ein­ge­tre­ten wäre.

Der Pfar­rer riet zu ei­ner Wall­fahrt zum heil. Blut von Fe­camp. Rose be­eil­te sich, die­sem Rate zu fol­gen, und pil­ger­te mit ei­ner großen Schar von Gläu­bi­gen zur Wall­fahrts­kir­che; in­stän­dig fleh­te sie den Him­mel an, sie noch ein­mal zu seg­nen. Es war um­sonst.

Da war sie über­zeugt, dass der Him­mel sie für ih­ren ers­ten Fehl­tritt be­stra­fen wol­le, und ein un­ge­heu­rer Schmerz be­mäch­tig­te sich ih­rer.

Sie ver­ging vor Kum­mer; auch ihr Mann al­ter­te sicht­lich; er »ver­zehr­te sich selbst« vor in­ne­rem Gram, wie man so zu sa­gen pfleg­te, hat­te aber da­bei fast je­den Mo­nat ein­mal wie­der eine neue Hoff­nung.

Das Ver­hält­nis zwi­schen bei­den wur­de im­mer un­er­träg­li­cher; er be­lei­dig­te sie auf alle mög­li­che Wei­se und schlug sie schliess­lich so­gar. Er quäl­te sie den gan­zen Tag und die gan­ze Nacht mit sei­nen Vor­wür­fen und rück­sichts­lo­sen Grob­hei­ten.

Ei­nes Nachts, als er schon nicht mehr wuss­te, wel­che neue Qual er für sie er­sin­nen soll­te, be­fahl er ihr auf­zu­ste­hen und bei dem hef­tigs­ten Re­gen draus­sen im Hofe auf den An­bruch des Ta­ges zu war­ten. Als sie nicht fol­gen woll­te, er­griff er sie am Hal­se und trak­tier­te sie mit Faust­schlä­gen ins Ge­sicht. Sie sag­te nichts und rühr­te sich nicht. Aus­ser sich vor Wut knie­te er auf ihr; er knirsch­te mit den Zäh­nen und hät­te sie am liebs­ten ums Le­ben ge­bracht. Da bäum­te sich ihr gan­zes In­ne­re auf, und mit ei­ner hef­ti­gen Be­we­gung schleu­der­te sie ihn ge­gen die Wand, setz­te sich auf und rief ihm mit völ­lig ver­än­der­ter gel­len­der Stim­me zu:


»Ich habe ein Kind, ja, ich habe eins; ich habe es von Jac­ques, Du weißt schon, von Jac­ques. Er hät­te mich hei­ra­ten sol­len; aber er hat sich da­von ge­macht.«

Wie ver­stei­nert blieb der Mann an der Wand lie­gen, er war eben­so aus­ser sich, wie sie selbst.

»Was sagst Du«, stot­ter­te er; »was sagst Du da?«

Sie konn­te nun end­lich wie­der wei­nen und stam­mel­te un­ter hef­ti­gem Schluch­zen:

»Des­halb woll­te ich Dich ja nicht hei­ra­ten, bloß des­halb. Ich konn­te es Dir ja nicht sa­gen; Du hät­test mich mit samt mei­nem Kin­de brot­los ge­macht. Du hast ja von so et­was kei­ne Ah­nung; Du weißt es nicht, Du fühlst das nicht.«

»Du hast ein Kind? Wirk­lich, Du hast ein Kind?« wie­der­hol­te er im­mer wie­der ma­schi­nen­mäs­sig, mit stets wach­sen­dem Er­stau­nen.

»Du hast mich mit Ge­walt zur Dei­nen ge­macht«, sag­te sie un­ter hef­ti­gem Schluch­zen. »Du weißt es doch noch? Ich woll­te Dich ja gar nicht hei­ra­ten.«

Da stand er auf, zün­de­te Licht an und be­gann, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab zu ge­hen. Sie wein­te fort­wäh­rend, sich in die Kis­sen ver­gra­bend. Plötz­lich blieb er vor ihr ste­hen:

»Also an mir liegt der Feh­ler?« sag­te er. Sie ant­wor­te­te nicht. Er ging wie­der wei­ter, dann blieb er wie­der ste­hen und frag­te:

»Wie alt ist denn Dein Klei­nes?«

»Sechs Jah­re ist es ge­wor­den«, mur­mel­te sie.

»Aber warum hast Du es mir denn nicht ge­sagt?« frag­te er wie­der.

»Konn­te ich das denn?« seufz­te sie.

»Vor­wärts!« sag­te er, im­mer noch auf sei­nem Plat­ze blei­bend, »steh auf!«

Mit Mühe er­hob sie sich. Dann als sie auf ih­ren Füs­sen stand, an die Mau­er ge­lehnt, be­gann er plötz­lich laut zu la­chen; es war das gut­mü­ti­ge, herz­li­che La­chen frü­he­rer Tage. Und als sie noch fas­sungs­los blieb, sag­te er:

»Nun gut, wir wol­len das Kind ab­ho­len, da wir doch kein andres ha­ben.«

Sie war so ver­blüfft, dass sie im ers­ten Au­gen­blick dach­te, er sei när­risch ge­wor­den; und sie wäre da­von ge­lau­fen, wenn ihr die Kraft nicht ge­fehlt hät­te. Aber der Päch­ter rieb sich die Hän­de und sag­te halb­laut vor sich hin:

 

»Ich woll­te eins ad­op­tie­ren, jetzt ist eins ge­fun­den; wir ha­ben schon eins. Ich hat­te den Pfar­rer um ein Wai­sen­kind ge­be­ten.«

Dann küss­te er, im­mer­fort la­chend, sei­ne ganz er­staun­te sprach­lo­se Frau auf bei­de Wan­gen und rief, als ob sie nicht gut hö­ren könn­te:

»Vor­wärts, Mut­ter, lass se­hen, ob es noch et­was Sup­pe gibt; ich ässe gern einen Tel­ler voll.«

Sie zog ih­ren Rock an und bei­de gin­gen zu­sam­men her­un­ter. Wäh­rend sie nie­der­knie­te und das Feu­er un­ter dem Kes­sel wie­der an­zün­de­te, ging er mit großen Schrit­ten in der Kü­che auf und ab und wie­der­hol­te fort­wäh­rend ganz ver­gnügt:

»Ach, das macht mir wahr­haf­tig Spaß; es ist nicht zu glau­ben. Aber ich bin ver­gnügt, sehr ver­gnügt.«

*

Im Familienkreise

Die Tram­way von Neuil­ly hat­te so­eben die »Por­te Mail­lot« pas­siert und fuhr nun die große Ave­nue ent­lang, wel­che auf die Sei­ne zu führt. Die klei­ne Dampf­ma­schi­ne, wel­che den Wa­gen zog, keuch­te mäch­tig bei der star­ken Stei­gung der Stras­se, und stiess ruck­wei­se ihre Rauch­wol­ken aus; es klang wie das Schnau­ben ei­nes Lau­fen­den, dem der Atem aus­geht, und die Ei­sen­glie­der ih­rer Kol­ben brach­ten ein leb­haf­tes Geräusch her­vor. Die er­schlaf­fen­de Schwü­le ei­nes zur Nei­ge ge­hen­den Som­mer­ta­ges lag auf der Stras­se, auf wel­cher sich trotz der Wind­stil­le eine dich­te, wei­ße, er­sti­cken­de und glü­hen­de Staub­wol­ke er­hob, die die feuch­te Haut be­deck­te und in Nase und Ohren drang.

Ein­zel­ne Leu­te tra­ten un­ter die Tü­ren, um et­was fri­sche Luft zu schöp­fen.

Die Schei­ben des Wa­gens wa­ren her­un­ter­ge­las­sen, und bei der schnel­len Fahrt flat­ter­ten die Vor­hän­ge im Luft­zu­ge. Nur we­ni­ge Per­so­nen be­fan­den sich im In­nern; denn bei die­sen heis­sen Ta­gen zog man das Ver­deck der Om­ni­bus­se vor. Es wa­ren dies kor­pu­len­te Da­men mit auf­fal­len­den Toi­let­ten, jene Sor­te von Be­woh­ne­rin­nen der Vor­städ­te, die das, was ih­nen an Vor­nehm­heit fehlt, durch eine ge­wis­se un­an­ge­mes­se­ne Steif­heit zu er­set­zen su­chen; fer­ner ab­ge­ar­bei­te­te Bü­ro­men­schen mit auf­ge­schwemm­ten Ge­sich­tern und kur­z­er Tail­le, de­ren eine Schul­ter in Fol­ge der ewi­gen vor­ge­beug­ten Hal­tung bei ih­ren Ar­bei­ten et­was in die Höhe ge­zo­gen war. Ihre un­ru­hi­gen und be­küm­mer­ten Mie­nen spra­chen aus­ser­dem noch von häus­li­chen Nö­ten, dro­hen­den Geld­sor­gen und von der gänz­li­chen Ver­nich­tung einst­mals viel­leicht glän­zen­der Hoff­nun­gen. Sie schie­nen alle zu je­ner Klas­se ar­mer Teu­fel zu ge­hö­ren, die in ei­nem je­ner klei­ner weiß­ge­stri­che­nen Häu­schen mit ei­nem Stück­chen Gar­ten, wie man sie auf dem Lan­de in der Um­ge­gend von Pa­ris zu Tau­sen­den fin­det, nur mit grös­ster Spar­sam­keit ihr Da­sein fris­ten.

Ganz nahe an der Türe sass ein klei­ner un­ter­setz­ter Herr mit auf­ge­dun­se­nem Ge­sicht, des­sen Bauch so­zu­sa­gen zwi­schen sei­nen ge­öff­ne­ten Schen­keln ruh­te. Er war ganz schwarz ge­klei­det und trug ein Or­dens­band im Knopf­loch. Sein Ge­gen­über, mit dem er sich eif­rig un­ter­hielt, war ein großer, ma­ge­rer Mann von nach­läs­si­gem Äus­se­ren. Sein wei­ßer Dril­lich-An­zug war sehr schmut­zig, und auf dem Kop­fe trug er einen al­ten eben­falls stark mit­ge­nom­me­nen Pa­na­ma-Hut. Der ers­te Herr sprach lang­sam, so­dass er zu­wei­len den Ein­druck ei­nes Stot­terers mach­te; es war Herr Ca­ra­van, Bü­ro­be­am­ter im Ma­ri­ne­mi­nis­te­ri­um. Der an­de­re war frü­her Kran­ken­wär­ter an Bord ei­nes Han­dels­schif­fes ge­we­sen und hat­te sich schliess­lich in Cour­be­voie nie­der­ge­las­sen, wo er bei der är­me­ren Be­völ­ke­rungs­klas­se den Rest von me­di­zi­ni­schen Kennt­nis­sen ver­wer­te­te, den er sich aus sei­nem dunklen aben­teu­er­li­chen Le­ben be­wahrt hat­te. Er hiess Che­net und hör­te sich ger­ne »Dok­tor« nen­nen; über sei­nen Cha­rak­ter gin­gen al­ler­lei Gerüch­te her­um.

Herr Ca­ra­van hat­te von je­her das gleich­mäs­si­ge Le­ben ei­nes Bü­ro­men­schen ge­führt. Seit dreis­sig Jah­ren ging er un­ver­än­der­lich je­den Mor­gen auf dem­sel­ben Wege in sein Büro, be­geg­ne­te zu der­sel­ben Stun­de und an den­sel­ben Stel­len den­sel­ben Leu­ten, die ih­ren Ge­schäf­ten nach­gin­gen; und eben­so kehr­te er abends auf dem­sel­ben Wege zu­rück, wo er noch die­sel­ben Ge­sich­ter sah, die er schon vor dreis­sig Jah­ren ge­se­hen hat­te.

Je­den Tag, nach­dem er sich an ei­ner Ecke des Fau­bourg Saint-Ho­noré sein Sou-Blätt­chen ge­kauft, hol­te er sich sei­ne zwei Bröd­chen und ging dann ins Mi­nis­te­ri­um, wie ein Ver­ur­teil­ter, der sei­ne Haft an­tre­ten will; schnell trat er in sein Büro ein, denn er wur­de die ste­te in­ne­re Un­ru­he nicht los, ob er nicht bei sei­ner An­kunft ir­gend einen Ta­del we­gen ei­nes Ver­se­hens zu er­war­ten hät­te.

Nichts hat­te bis­her die ein­för­mi­ge Ord­nung sei­nes Da­seins ge­än­dert, denn aus­ser sei­nen Bü­ro­ge­schäf­ten, Avan­ce­ments und Gra­ti­fi­ka­tio­nen be­rühr­ten ihn die sons­ti­gen Er­eig­nis­se nicht. Moch­te er nun im Mi­nis­te­ri­um oder in sei­ner Fa­mi­lie sein (er hat­te näm­lich die Toch­ter ei­nes Kol­le­gen, ohne jede Mit­gift, ge­hei­ra­tet), nie­mals sprach er von et­was an­de­rem als vom Dienst. Sein durch die geist­tö­ten­de täg­li­che Ar­beit ver­knö­cher­ter Sinn hat­te kei­ne an­de­ren Ge­dan­ken, kei­ne an­de­ren Träu­me und Hoff­nun­gen mehr, als die, wel­che sich auf sein Mi­nis­te­ri­um be­zo­gen. Aber eins ver­bit­ter­te ihm stets die Selbst­zu­frie­den­heit sei­nes Be­am­ten­da­seins: die Zu­las­sung der Ma­ri­ne-Kom­missa­re, der Klemp­ner, wie man sie ih­rer sil­ber­nen Lit­zen we­gen nann­te, zu den Stel­len der Sous-Chefs und so­gar der Chefs; und je­den Abend beim Es­sen de­mons­trier­te er sei­ner Frau, die üb­ri­gens ganz sei­nen Groll teil­te, un­ter leb­haf­ten Ge­bär­den vor, wie un­ge­recht es auf alle Fäl­le sei, die Stel­len in Pa­ris mit Leu­ten zu be­set­zen, die na­tur­ge­mä­ss für das See­le­ben be­stimmt wä­ren.

Er war jetzt alt ge­wor­den, ohne zu be­mer­ken, wie das Le­ben ver­flog; denn das Gym­na­si­um hat­te ohne ei­gent­li­che Un­ter­bre­chung sei­ne Fort­set­zung im Büro ge­fun­den und die Leh­rer, vor de­nen er frü­her ge­zit­tert hat­te, wa­ren jetzt durch die Chefs er­setzt, vor de­nen er bei­na­he noch eine grös­se­re Angst hat­te. An der Schwel­le die­ser Büro-De­spo­ten über­lief ihn stets ein hei­li­ger Schau­er, und von die­ser fort­ge­setz­ten Ängst­lich­keit hat­te er sich all­mäh­lich eine lin­ki­sche Art des Auf­tre­tens, die­se de­mü­ti­ge Hal­tung, die­ses ge­wis­se ner­vö­se Stot­tern an­ge­wöhnt.

Er kann­te von Pa­ris ei­gent­lich nicht viel mehr, als ein Blin­der, der von sei­nem Hun­de täg­lich an den­sel­ben Stand­platz ge­führt wird, und wenn er in sei­nem Sou-Blätt­chen die täg­li­chen Neu­ig­kei­ten und Skan­dal-Ge­schich­ten las, so durch­flog er sie wie hüb­sche Mär­chen, die ei­gens er­fun­den wa­ren, um den klei­nen Be­am­ten et­was Un­ter­hal­tungs­stoff zu bie­ten. Ein Mann der Ord­nung, ein Re­ak­tio­när ohne be­stimm­te Par­tei­rich­tung, aber ein ab­ge­sag­ter Feind al­ler Neue­run­gen, über­schlug er die po­li­ti­schen Nach­rich­ten, wel­che sein Blatt üb­ri­gens, je nach­dem es be­zahlt wur­de, ent­spre­chend ent­stell­te. Und wenn er abends die Ave­nue des Champs-Elysées wie­der her­auf­ging, so be­trach­te­te er die hin- und her­wo­gen­de Men­ge der Spa­zier­gän­ger und das Ge­trie­be der Wa­gen, wie ein hei­mat­lo­ser Wan­de­rer, der frem­de Ge­gen­den durch­quert.

Da er zu eben die­ser Zeit sei­ne dreis­sig Dienst­jah­re hin­ter sich hat­te, so hat­te man ihm zum 1. Ja­nu­ar das Kreuz der Ehren­le­gi­on über­reicht, wo­mit man bei den Mi­li­tär-Ver­wal­tun­gen die lan­ge und elen­de Skla­ve­rei -- man nennt sie: »Red­li­che Diens­te« -- be­lohnt, in der die­se ar­men Sträf­lin­ge am grü­nen Ti­sche schmach­ten. Die­se un­er­war­te­te Aus­zeich­nung, wel­che ihm von sei­nen Be­fä­hi­gun­gen einen ganz neu­en und ho­hen Be­griff bei­brach­te, hat­te in sei­nem We­sen eine voll­stän­di­ge Um­wäl­zung her­vor­ge­ru­fen. Von nun an ver­bann­te er sei­ne far­bi­gen Ho­sen und Fan­ta­sie-Wes­ten; er trug nur noch schwar­ze Bein­klei­der und lan­ge Über­rö­cke, auf de­nen sein sehr brei­tes Band sich bes­ser aus­nahm. Je­den Mor­gen war er glatt ra­siert, sei­ne Nä­gel pfleg­te er mit Sorg­falt, und alle zwei Tage wech­sel­te er die Wä­sche in ei­nem ganz rich­ti­gen Ge­fühl der Hochach­tung und Ehr­furcht vor dem na­tio­na­len Or­den, den er trug. So war er über Nacht ein an­de­rer, ein selbst­be­wus­s­ter, zu­ge­knöpf­ter und her­ab­las­sen­der Ca­ra­van ge­wor­den.

Zu Hau­se sprach er bei je­der Ge­le­gen­heit von »sei­nem Kreu­ze.« Er war dar­in so ei­fer­süch­tig, dass er nicht ein­mal im Knopf­loch ei­nes an­de­ren ir­gend ein bun­tes Band se­hen konn­te. Vor al­lem er­ei­fer­te er sich beim An­blick frem­der Or­den, »die man in Frank­reich gar nicht zu tra­gen er­lau­ben soll­te.« Er be­ton­te dies be­son­ders mit Be­zug auf den »Dok­tor« Che­net, den er je­den Abend auf der Tram­way mit ir­gend ei­ner weiß-blau­en, oran­ge­far­be­nen oder grü­nen De­ko­ra­ti­on im Knopf­loch an­traf.

Die Un­ter­hal­tung die­ser bei­den vom Arc de Triom­phe bis Neuil­ly war üb­ri­gens täg­lich die glei­che; und auch heu­te be­schäf­tig­ten sie sich, wie im­mer, mit lo­ka­len Übel­stän­den, über die sie sich bei­de är­ger­ten, wäh­rend der Maire von Neuil­ly sie viel zu leicht neh­me. Dann brach­te Ca­ra­van, wie das in Ge­gen­wart ei­nes Arz­tes ja stets ge­schieht, das Ge­spräch auf das Ka­pi­tel der Krank­hei­ten, in­dem er hoff­te, auf die­se Wei­se ei­ni­ge ärzt­li­che Ratschlä­ge gra­tis zu er­hal­ten. Sei­ne Mut­ter mach­te ihm üb­ri­gens seit ei­ni­gen Ta­gen wirk­lich Sor­gen. Sie hat­te öf­ters län­ge­re Ohn­machts­an­fäl­le und woll­te sich da­bei trotz ih­rer neun­zig Jah­re noch kei­ne Scho­nung auf­er­le­gen.

Ihr ho­hes Al­ter mach­te Ca­ra­van im­mer ganz weich­mü­tig, und un­auf­hör­lich frag­te er den »Dok­tor« Che­net: »Ha­ben Sie das schon oft er­rei­chen se­hen?« Und da­bei rieb er sich im­mer ganz glück­lich die Hän­de, nicht so sehr weil er glaub­te, dass das Le­ben sei­ner Mut­ter auf Er­den ewig dau­ern wür­de, son­dern weil die lan­ge Dau­er des müt­ter­li­chen Le­bens ihm selbst ein ho­hes Al­ter zu ver­spre­chen schi­en.

»Ja!« fuhr er fort, »in mei­ner Fa­mi­lie lebt man sehr lan­ge; ich bin si­cher, dass ich gleich­falls sehr alt wer­de, wenn nichts Be­son­de­res ein­tritt.«

Der ehe­ma­li­ge Kran­ken­pfle­ger warf einen mit­lei­di­gen Blick auf ihn. Er be­trach­te­te einen Au­gen­blick das röt­li­che Ge­sicht sei­nes Nach­barn, sei­nen flei­schi­gen Hals, sei­nen auf­ge­trie­be­nen Leib, der sich zwi­schen zwei schwam­mi­gen fet­ten Schen­keln ver­lor, die gan­ze apo­plek­ti­sche Er­schei­nung des ver­weich­lich­ten al­ten Be­am­ten; und in­dem er mit ei­nem Hän­de­druck sich den grau­en Stroh­hut zu­recht­rück­te, ant­wor­te­te er halb ernst, halb la­chend:

»Nicht so si­cher als Sie den­ken; Ihre Mut­ter ist die per­so­ni­fi­zier­te Ma­ger­keit und Sie sind die rei­ne Pou­lar­de.«

Ca­ra­van wur­de ver­le­gen und schwieg.


In­zwi­schen hat­te die Tram­way ih­ren Hal­te­punkt er­reicht und die bei­den Her­ren stie­gen aus. Herr Che­net schlug vor, einen Wer­mut im Café du Glo­be zu trin­ken, wo sie bei­de ih­ren Stamm­tisch hat­ten. Der Chef, ein al­ter Freund von ih­nen, reich­te ih­nen zwei Fin­ger, die sie über Fla­schen und Glä­sern hin­weg schüt­tel­ten; dann be­ga­ben sie sich an einen Tisch, wo drei Lieb­ha­ber des Do­mi­nos schon seit Mit­tag beim Spiel­chen sas­sen. Freund­schaft­li­che Re­dens­ar­ten, dar­un­ter das un­ver­meid­li­che »Was gib­t’s Neu­es« wur­den aus­ge­tauscht. Hier­auf setz­ten sich die Spie­ler wie­der zu ih­rer Par­tie und sie wünsch­ten den­sel­ben einen gu­ten Abend. Jene reich­ten ih­nen die Hän­de, ohne von ih­ren Stei­nen auf­zu­se­hen, und die bei­den Her­ren gin­gen zum Es­sen nach Hau­se.

Ca­ra­van be­wohn­te nahe beim Ron­del von Cour­be­voie ein klei­nes zwei­stö­cki­ges Haus, des­sen Erd­ge­schoss ein Fri­seur in­ne­hat­te.

Zwei Zim­mer, ein Spei­se­zim­mer und eine Kü­che, in de­nen Roll­ses­sel je nach Be­darf hin- und her­ge­scho­ben wur­den, bil­de­ten die bei­den ein­zi­gen Räu­me, in de­nen Ma­da­me Ca­ra­van ihre Ar­beits­zeit zu­brach­te, wäh­rend ihre zwölf­jäh­ri­ge Toch­ter Ma­ria-Loui­se und der neun­jäh­ri­ge Sohn Phil­ipp-Au­gust sich mit der gan­zen Stras­sen­ju­gend des Vier­tels in der Gos­se her­um­balg­ten.

 

Über sich hat­te Ca­ra­van sei­ne Mut­ter ein­lo­giert, de­ren Geiz in der gan­zen Um­ge­gend be­rühmt war und von de­ren Ma­ger­keit man sich sag­te, dass der Herr­gott bei ihr sei­ne ei­ge­nen Spar­sam­keits-Grund­sät­ze an­ge­wandt habe. Stets schlech­ter Lau­ne ließ sie kei­nen Tag ohne ihre be­son­de­ren Kla­gen und Hef­tig­keits-Aus­brü­che ver­ge­hen. Sie zank­te sich vom Fens­ter aus mit den Nach­ba­rin­nen vor der Türe, mit den Krä­mer­frau­en, den Gas­sen­keh­rern und den Stras­sen­jun­gen, die sie aus Ra­che beim Aus­ge­hen von Wei­tem mit dem Rufe »Seht die Bett­näs­se­rin« ver­folg­ten.

Ein klei­nes un­glaub­lich dum­mes Dienst­mäd­chen aus der Nor­man­die be­sorg­te den Haus­halt und schlief des Nachts im zwei­ten Stock bei der Al­ten, für den Fall, dass die­ser et­was zu­stos­sen soll­te.

Als Ca­ra­van nach Hau­se kam, fand er sei­ne Frau da­mit be­schäf­tigt, mit­tels ei­nes Fla­nell­lap­pens die ver­ein­zelt im Zim­mer ste­hen­den Ma­hago­ni­stüh­le wie­der auf­zu­po­lie­ren; sie litt näm­lich an chro­ni­scher Putz­sucht. Ihre Hän­de wa­ren stets von Zwirn­hand­schu­hen be­deckt, ihr Haupt war mit ei­ner Müt­ze ge­schmückt, von wel­cher bun­te Bän­der her­ab­flat­ter­ten und die stets schief auf ei­nem Ohre sass. Je­des Mal wenn sie boh­nend, bürs­tend, fir­nis­send oder sei­fend an­ge­trof­fen wur­de, pfleg­te sie zu sa­gen: »Ich bin nicht reich, bei mir ist al­les ein­fach; aber die Rein­lich­keit ist mein Lu­xus und dar­in bin ich man­cher and­ren über.«

Mit prak­ti­schem Ver­stan­de be­gabt, be­herrsch­te sie ih­ren Mann in al­lem. Je­den Abend bei Tisch und spä­ter noch im Bett spra­chen sie lan­ge noch von Büro-An­ge­le­gen­hei­ten, und ob­schon sie zwan­zig Jahr jün­ger war wie er, so ver­trau­te er sich ihr wie ei­nem Beicht­va­ter an und folg­te in al­lem ih­ren Ratschlä­gen.

Sie war nie­mals hübsch ge­we­sen; jetzt war sie so­gar häss­lich, von klei­ner schmäch­ti­ger Fi­gur. Ihre un­schein­ba­re Klei­dung ließ bei ihr jene äus­se­ren weib­li­chen For­men völ­lig ver­schwin­den, wel­che ein gut sit­zen­der An­zug künst­lich her­vor­he­ben kann. Ihre Klei­der­rö­cke wa­ren stets an ir­gend ei­ner Stel­le in die Höhe ge­schla­gen und sie pfleg­te sich häu­fig, ganz gleich­gül­tig wo, zu krat­zen, ohne jede Rück­sicht auf et­wai­ge An­we­sen­de und mit ei­ner In­ten­si­vi­tät, die ge­ra­de­zu et­was krank­haf­tes hat­te. Der ein­zi­ge Schmuck, den sie sich leis­te­te, war je­ner Auf­putz von sei­de­nen Bän­dern ver­schie­den­ar­tigs­ter Far­ben auf den stol­zen Häub­chen, die sie zu Hau­se zu tra­gen pfleg­te.

So­bald sie ih­ren Mann be­merk­te, er­hob sie sich, küss­te ihn auf bei­de Wan­gen und frag­te ihn dann: »Hast Du an Po­tin ge­dacht, lie­ber Freund?« (Es han­del­te sich um eine Be­stel­lung, die er aus­zu­rich­ten ver­spro­chen hat­te.) Er ließ sich er­schreckt auf einen Stuhl fal­len, denn er hat­te es jetzt ge­ra­de zum vier­ten Male ver­ges­sen. -- »Es ist ein Elend« sag­te er, »ein wah­res Elend! Ich kann den gan­zen Tag mich dran er­in­nern, und abends ver­ges­se ich es doch je­des Mal.« Aber als sie sah, dass es ihn al­te­rier­te, such­te sie ihn schnell zu trös­ten: »Lass doch nur! Mor­gen be­sorgst Du’s mir schon. Nichts Neu­es im Mi­nis­te­ri­um?«

»Al­ler­dings, eine große Neu­ig­keit so­gar; noch ein Klemp­ner ist Sous-Chef ge­wor­den.«

Sie wur­de sehr er­regt.

»In wel­cher Ab­tei­lung?«

»In der Ab­tei­lung für aus­wär­ti­ge Er­wer­bun­gen.«

»An Stel­le Ra­mon’s also«, sag­te sie är­ger­lich, »ge­ra­de die ich mir für Dich aus­ge­dacht hat­te. Und Ra­mon? Pen­sio­niert?«

»Pen­sio­niert«, stam­mel­te er.

»Da­mit ist’s nun aus, mit die­ser schö­nen Ge­le­gen­heit;« sag­te sie hef­tig, wäh­rend ihr Häub­chen auf die Schul­ter rutsch­te. »Es lässt sich im Au­gen­blick nichts ma­chen. Und wie heisst er denn, Dein Kom­mis­sair?«

»Bo­nas­sot«.

Sie nahm die Ma­ri­ne-Ran­glis­te, die sie stets zur Hand hat­te, und schlug nach:

»Bo­nas­sot. -- Tou­lon. -- Geb. 1851. -- Kom­missa­ri­ats-Ele­ve 1871, Un­ter-Kom­missar 1875. -- Hat er zur See ge­dient, der da?«

Bei die­ser Fra­ge hei­ter­te sich Ca­ra­van’s Ant­litz wie­der auf. Er lach­te, dass ihm der Bauch wa­ckel­te.

»Wie Ba­lin, ge­nau wie sein Chef Ba­lin.«

Und mit noch stär­ke­rem La­chen füg­te er einen al­ten Witz hin­zu, der im gan­zen Mi­nis­te­ri­um kur­sier­te:

»Man dürf­te sie ja nicht ein­mal aus­schi­cken, um die Ma­ri­ne­sta­ti­on Point-Du-Jour zu in­spi­zie­ren; sie wür­den un­ter­wegs an der See­krank­heit ster­ben.«

Aber sie blieb ernst, als hät­te sie nichts ge­hört; dann mur­mel­te sie, sich lang­sam am Kinn krat­zend:

»Wenn man nur einen De­pu­tier­ten an der Hand hät­te! Wüss­te die Kam­mer al­les, was da drin­nen vor­geht, so müss­te das Mi­nis­te­ri­um auf der Stel­le sprin­gen …«

Lau­tes Schrei­en auf der Trep­pe schnitt ihr die wei­te­ren Wor­te ab. Ma­rie-Loui­se und Phil­ipp-Au­gust, wel­che von der Gas­se her­auf­ka­men, be­ar­bei­te­ten sich ge­gen­sei­tig auf je­der Trep­pen­stu­fe mit Püf­fen und Fuss­trit­ten. Ihre Mut­ter rann­te zor­nig her­aus, nahm Je­des am Arme und stiess sie bei­de ins Zim­mer, wo­bei sie sie kräf­tig schüt­tel­te.

So­bald sie ih­ren Va­ter sa­hen, stürz­ten sie auf ihn los und er küss­te sie lan­ge zärt­lich; dann nahm er bei­de auf sei­ne Knie und plau­der­te mit ih­nen.

Phil­ipp-Au­gust war ein gars­ti­ger blas­ser Bur­sche, schmut­zig von oben bis un­ten und hat­te ein Ge­sicht wie ein Kre­tin. Ma­rie-Loui­se glich jetzt schon sehr ih­rer Mut­ter; sie sprach wie die­se, in­dem sie de­ren Wor­te wie­der­hol­te und so­gar ihre Ge­bär­den nach­ahm­te: »Was gib­t’s Neu­es im Mi­nis­te­ri­um?«

»Dein Freund Ra­mon«, sag­te er scher­zend, »der je­den Mo­nat bei uns isst, wird uns ver­las­sen, Töch­ter­chen! Ein an­de­rer Sous­chef tritt an sei­ne Stel­le.«

Sie hob die Au­gen zu ih­rem Va­ter em­por und sag­te mit ei­nem für ihr Al­ter früh­rei­fen Mit­leid:

»Noch ei­ner also, der Dir über den Kopf ge­klet­tert ist!«

Er hör­te auf zu la­chen und ant­wor­te­te nicht; dann brach­te er das Ge­spräch auf ein andres The­ma, in­dem er sich zu sei­ner Frau wand­te, die jetzt Fens­ter­schei­ben putz­te:

»Der Mut­ter geht’s gut oben?« frag­te er.

Ma­da­me Ca­ra­van hör­te auf zu rei­ben, wand­te sich um und brach­te mit ei­nem Ruck das Häub­chen, wel­ches ihr jetzt voll­stän­dig auf dem Rücken hing, wie­der in Ord­nung.

»Ach ja,« sag­te sie mit zu­cken­den Lip­pen, »lass uns von Dei­ner Mut­ter spre­chen. Sie hat mir einen net­ten Är­ger be­rei­tet. Den­ke Dir, als heu­te Ma­da­me Le­bau­din, die Frau des Fri­seurs, wäh­rend ich aus­ge­gan­gen war, her­auf­kommt, um von mir ein Packet Stär­ke zu lei­hen, hat Dei­ne Mut­ter sie fort­ge­jagt und sie eine ›Bett­le­rin‹ ge­schimpft. Aber ich habe ihr mei­ne Mei­nung ge­sagt, der Al­ten. Sie tat na­tür­lich wie­der, als höre sie nichts, wie im­mer, wenn man ihr mal die Wahr­heit sagt, aber sie ist nicht tau­ber, weißt Du, wie ich; es ist Ver­stel­lung und wei­ter nichts. Der Be­weis da­für ist der, dass sie so­fort nach oben in ihr Zim­mer ge­gan­gen ist, ohne wei­ter ein Wort zu re­den.«

Ca­ra­van, dem die­se Wen­dung des Ge­sprä­ches pein­lich war, schwieg klüg­lich still, zu­mal jetzt das Dienst­mäd­chen mel­de­te, es sei an­ge­rich­tet. Dann nahm er, um sei­ne Mut­ter hier­von zu be­nach­rich­ti­gen, einen Kehr­be­sen aus der Ecke, wo er im­mer ruh­te, und klopf­te da­mit drei­mal an die Zim­mer­de­cke. Hier­auf ging man ins Spei­se­zim­mer und Ma­da­me Ca­ra­van jr. teil­te die Sup­pe aus, wäh­rend man auf die Mut­ter war­te­te. Die­se kam je­doch nicht und die Sup­pe fing schon an kalt zu wer­den. Man be­gann lang­sam zu es­sen; aber als die Tel­ler leer wa­ren, war­te­te man im­mer noch ver­ge­bens.