Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Ein Menschenleben

I.

Jo­han­na hat­te ih­ren Kof­fer ge­packt und nä­her­te sich jetzt dem Fens­ter. Es reg­ne­te un­auf­hör­lich. Die gan­ze Nacht über hat­te das Un­wet­ter ge­gen Dä­cher und Fens­ter ge­klatscht. Es schi­en, als ob alle Schleus­sen des dicht­be­wölk­ten Him­mels ge­öff­net sei­en, um mit dem her­ab­strö­men­den Was­ser den Erd­bo­den auf­zu­wei­chen, der sich all­mäh­lich in eine breii­ge Mas­se ver­wan­del­te. Hin und wie­der fuhr ein lau­er Wind­sto­ss heu­lend durch die Luft. In den men­schen­lee­ren Stras­sen er­tön­te das Ge­klap­per schlecht be­fes­tig­ter Ja­lou­si­en. Die Häu­ser so­gen die Feuch­tig­keit wie Schwäm­me auf, und bei der lau­en Luft schwitz­ten ihre Mau­ern vom Kel­ler bis zum Dach­first.

Jo­han­na, die so­eben der stren­gen Zucht der Klos­ter­pen­si­on ent­schlüpft war, um in die große Welt ein­zu­tre­ten, de­ren Glück und Freu­den sie sich schon seit Lan­gem in tau­send Far­ben aus­ge­malt hat­te, fürch­te­te, das schlech­te Wet­ter wer­de ih­ren Va­ter von der bal­di­gen Abrei­se zu­rück­hal­ten. Schon zum hun­derts­ten Male prüf­te sie heu­te Mor­gen das Aus­se­hen des Him­mels.


Dann fiel ihr ein, dass sie ver­ges­sen hat­te, ih­ren Ka­len­der in die Rei­se­ta­sche zu pa­cken. Sie nahm den klei­nen Kar­ton, auf wel­chem die zwölf Mo­na­te ne­ben­ein­an­der ver­zeich­net wa­ren und in des­sen Mit­te sich ein Bild­chen mit der gold­ge­druck­ten Jah­res­zahl 1819 be­fand, von sei­nem Plat­ze. Dann fuhr sie lang­sam mit dem Blei­stift die vier ers­ten Rei­hen ent­lang und durch­strich so je­den Tag bis zum 2. Mai, dem Da­tum ih­res Austritts aus dem Klos­ter.

Eine Stim­me an der Tür rief: »Jo­han­na!«

»Komm her­ein, Papa!« ant­wor­te­te sie, wor­auf der­sel­be die Tür öff­ne­te.

Der Baron Sig­mund Ja­kob Le Per­thuis des Vauds war die vollen­de­te Er­schei­nung ei­nes Edel­man­nes aus dem vo­ri­gen Jahr­hun­dert, mit al­len Feh­lern und Vor­zü­gen ei­nes sol­chen. Ein lei­den­schaft­li­cher An­hän­ger J. J. Rous­se­aus, lieb­te er schwär­me­risch die Na­tur, Feld, Wald und Tie­re.

Ari­sto­krat von Ge­burt, heg­te er einen in­stink­ti­ven Hass ge­gen al­les, was mit dem Jah­re 1793 zu­sam­men­hing; aber Phi­lo­soph aus Nei­gung und li­be­ral in Fol­ge sei­ner Er­zie­hung, trug er einen harm­lo­sen und thea­tra­li­schen Ab­scheu ge­gen die Ty­ran­nei zur Schau.

Sein grös­ster Vor­zug aber auch zu­gleich sei­ne gröss­te Schwä­che war sei­ne Her­zens­gü­te, die nicht Hän­de ge­nug fand, um wohl­zu­tun, um zu lin­dern und zu trös­ten, wie die al­les um­fas­sen­de, al­les über­win­den­de Güte des Schöp­fers ge­gen sei­ne Ge­schöp­fe. Sie war ihm zur zwei­ten Na­tur ge­wor­den und bil­de­te die Trieb­fe­der all’ sei­nes Han­delns. Man hät­te sie als sei­ne Lei­den­schaft be­zeich­nen kön­nen.

Als Mann der Theo­rie sann er un­auf­hör­lich über einen Er­zie­hungs­plan für sei­ne Toch­ter nach; er woll­te sie glück­lich, edel, recht­schaf­fen und weich von Ge­müts­art se­hen.

Sie war bis zum zwölf­ten Jah­re im El­tern­hau­se ge­blie­ben; dann wur­de sie, trotz der Trä­nen ih­rer Mut­ter, ins Sa­cré-Coeur ge­bracht.

Dort ver­leb­te sie ihre Zeit in stren­ger klös­ter­li­cher Zucht, un­be­kannt für je­der­mann und fern von dem Trei­ben der Welt. Der Va­ter woll­te, dass sie ihm mit dem sieb­zehn­ten Le­bens­jah­re rein und un­be­fleckt zu­rück­ge­ge­ben wür­de. Er be­trach­te­te den Auf­ent­halt im Klos­ter bei sei­nem poe­sie­vol­len Ge­mü­te wie ein rei­ni­gen­des stär­ken­des Bad, nach des­sen Ge­brauch er dann selbst ihre kind­li­che See­le in­mit­ten der frei­en Got­tes­na­tur, um­ge­ben von grü­nen­den Wäl­dern und frucht­ba­ren Äckern, beim An­blick der harm­lo­sen Ge­schöp­fe, die sie be­leb­ten, der Lie­be des Schöp­fers er­schlies­sen woll­te.

Jetzt ver­liess sie das Klos­ter strah­lend vor Le­bens­lust mit ei­nem un­be­stimm­ten Ver­lan­gen nach Glück, und be­gie­rig auf alle Freu­den, auf alle hei­te­ren Ge­schen­ke des Zu­falls, wel­che ihr die Fan­ta­sie in ih­ren Mu­se­stun­den und in schlaflo­sen Näch­ten vor­ge­zau­bert hat­te.

Sie schi­en wie ein Por­trät von Ve­ro­ne­se mit ih­rem glän­zen­den Blond­haar, wel­ches gleich­sam mit ih­rer Haut zu ver­schwim­men schi­en, ei­ner ech­ten, kaum von ei­nem ro­si­gen Schim­mer an­ge­hauch­ten Ari­sto­kra­ten­haut. Ein leich­ter Flaum, den man nur be­merk­te, wenn die Son­ne sie um­strahl­te, be­deck­te die­se Haut wie ein duf­ti­ger Schlei­er. Ihre Au­gen wa­ren blau, von je­nem un­durch­sich­ti­gen Blau, wie es die Por­träts der al­ten Hol­län­di­schen Schu­le auf­wei­sen.

Auf dem lin­ken Na­sen­flü­gel und eben­so rechts am Kinn hat­te sie ein klei­nes Schön­heits­mal, aus de­nen ei­ni­ge Här­chen spross­ten, die man kaum be­mer­ken konn­te; so sehr äh­nel­ten sie der Far­be ih­rer Haut. Sie war ziem­lich groß, hat­te eine ent­wi­ckel­te Büs­te und eine schlan­ke Tail­le. Ihre hel­le Stim­me moch­te zu­wei­len et­was scharf er­schei­nen; aber ihr mun­te­res La­chen wirk­te ge­ra­de­zu an­ste­ckend. Sie hat­te die An­ge­wohn­heit, bei­de Hän­de zu­wei­len an die Schlä­fen zu le­gen, als woll­te sie ihre Haa­re glät­ten.


Jetzt stürz­te sie auf ih­ren Va­ter zu, küss­te ihn und sag­te schmei­chelnd:

»Nun, fah­ren wir?«

Er lä­chel­te, schüt­tel­te das schon er­grau­te Haupt und ent­geg­ne­te, mit der Hand zum Fens­ter hin­aus deu­tend:

»Wie kann man denn bei sol­chem Wet­ter rei­sen?«

Aber sie be­gann ihn von Neu­em mit al­ler­lei zärt­li­chen Schmei­che­lei­en zu bit­ten:

»Ach, Papa, lass uns doch fah­ren, ich bit­te Dich. Es wird die­sen Nach­mit­tag si­cher ganz schö­nes Wet­ter.«

»Aber Dei­ne Mut­ter wird es nie­mals zu­ge­ben.«

»Das lass mich be­sor­gen, ich ver­spre­che es Dir.«

»Nun, an mir soll es nicht lie­gen, wenn Du Mama dazu bringst.«

So­fort stürz­te sie nach dem Zim­mer der Baro­nin. Denn sie hat­te mit stets wach­sen­der Un­ge­duld auf die­sen Tag der Abrei­se ge­war­tet.

Seit ih­rem Ein­tritt ins Pen­sio­nat war sie nicht von Rou­en fort­ge­kom­men, da der Va­ter vor dem fest­ge­setz­ten Al­ter kei­ne be­sond­re Zer­streu­ung er­laub­te. Nur zwei­mal in der gan­zen Zeit hat­te man sie auf vier­zehn Tage nach Pa­ris ge­nom­men; aber dies war auch nur eine Stadt und sie träum­te stets vom Land­le­ben.

Jetzt woll­ten sie den Som­mer auf ih­rem Schlos­se Peup­les, ei­nem al­ten Fa­mi­li­en­sit­ze an der Küs­te, nicht weit von Yport, zu­brin­gen, und sie mal­te sich im­mer wie­der die zahl­lo­sen Ver­gnü­gun­gen aus, die sie dort in der gol­de­nen Frei­heit, so­zu­sa­gen am Ge­sta­de des Mee­res, er­le­ben wür­de. Ne­ben­bei galt es als aus­ge­macht, dass man ihr das Schloss als Hei­rats­gut mit­ge­ben wür­de; es war so­mit ge­wis­ser­mas­sen der Auf­ent­halts­ort ih­res gan­zen zu­künf­ti­gen Le­bens.

Der hef­ti­ge Re­gen, wel­cher seit ges­tern Abend fiel und ihre Abrei­se hin­zu­hal­ten droh­te, war der ers­te große Kum­mer ih­res Le­bens. Aber schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten kam sie ei­lig aus dem Zim­mer ih­rer Mut­ter und rief durchs gan­ze Haus:

»Papa, Papa! Lass an­span­nen! Mama ist ganz ein­ver­stan­den.«

Das Un­wet­ter ließ in­des­sen kei­nes­wegs nach; es schi­en sich viel­mehr ver­dop­pelt zu ha­ben, als der Rei­se­wa­gen vor­fuhr.

Jo­han­na stand schon zum Ein­stei­gen be­reit, als die Baro­nin die Trep­pe her­un­ter­kam. Sie wur­de auf der einen Sei­te von ih­rem Gat­ten und auf der and­ren von der Kam­mer­jung­fer ge­stützt. Letz­te­re, kräf­tig und von männ­li­chem Wuchs, war eine Nor­man­nin aus der Um­ge­gend von Caux. Man hät­te sie min­des­tens für eine Zwan­zi­ge­rin ge­hal­ten, wenn­gleich sie erst acht­zehn Jah­re zähl­te. In der Fa­mi­lie be­han­del­te man sie wie eine zwei­te Toch­ter, denn sie war Jo­han­nas Milch­schwes­ter ge­we­sen. Sie hiess Ro­sa­lie.

Ihre Haupt­auf­ga­be war üb­ri­gens die, ihre Her­rin beim Ge­hen zu un­ter­stüt­zen. Die­sel­be war in Fol­ge ei­ner Herz­ver­fet­tung, wel­che den Ge­gen­stand ih­rer un­aus­ge­setz­ten Kla­ge bil­de­te, aus­ser­or­dent­lich stark ge­wor­den.

Die Baro­nin er­reich­te pus­tend und stöh­nend den Flur des alt­mo­di­schen Ho­tels, und warf einen Blick auf den vom Re­gen be­spül­ten Hof.

»Es ist der rei­ne Un­sinn«, mur­mel­te sie seuf­zend.

»Aber es war doch ge­ra­de Ihr Wunsch, Ma­da­me Ade­laï­de!« mein­te ihr Gat­te mit höf­li­chem Lä­cheln.

Er setz­te dem hoch­tra­ben­den Na­men Ade­laï­de stets das Wort »Ma­da­me« vor; doch hat­te die­se re­spekt­vol­le Be­zeich­nung einen klei­nen Bei­ge­schmack von Sar­kas­mus.

Mit großer An­stren­gung klet­ter­te die Baro­nin in den Wa­gen, des­sen sämt­li­che Fe­dern be­denk­lich knack­ten. Der Baron setz­te sich ne­ben sie, wäh­rend Jo­han­na und Ro­sa­lie auf dem Rück­sit­ze Platz nah­men.

Die Kö­chin Lu­di­vi­ne schlepp­te eine Men­ge Män­tel her­bei, wel­che man über die Knie aus­brei­te­te. Dann schob sie noch zwei Kör­be un­ter die Wa­gen­sit­ze. Hier­auf klet­ter­te sie zu Papa Si­mon auf den Bock, sich von oben bis un­ten in eine mäch­ti­ge De­cke ein­hül­lend. Der Haus­meis­ter und sei­ne Frau schlos­sen un­ter tie­fen Bück­lin­gen den Schlag und emp­fin­gen die letz­ten Be­feh­le we­gen der Kof­fer, die auf ei­ner Kar­re fol­gen soll­ten. Als­dann roll­te der Wa­gen da­von.

Papa Si­mon, der Kut­scher, sass bei dem hef­ti­gen Re­gen mit tief ge­senk­tem Haup­te und stark ge­krümm­ten Rücken auf sei­nem Sit­ze; er ver­schwand fast ganz un­ter dem drei­fa­chen Kra­gen sei­nes eng­li­schen Kut­scher­man­tels. Unauf­hör­lich klatsch­te der Re­gen an die Fens­ter­schei­ben, wäh­rend die Stras­se ei­nem See glich.

 

Der Wa­gen roll­te in schar­fem Tra­be dem Ha­fen­damm ent­lang bei den großen Schif­fen vor­bei, die mit ih­ren lee­ren Mas­ten und Raen und dem schlaff her­ab­hän­gen­den Tau­werk wie ent­blät­ter­te Bäu­me trau­rig gen Him­mel starr­ten. Dann bog er in den lan­gen Bou­le­vard du mont Ri­bou­det ein.

Bald fuhr man an weit­ge­streck­ten Wie­sen vor­über. Hin und wie­der tauch­te eine Wei­de ihre her­ab­hän­gen­den Zwei­ge in die blin­ken­de Was­ser­flä­che. Sonst zeig­te sich nichts Le­ben­des in die­ser trost­lo­sen Öde. Man hör­te nur den Huf­schlag der tra­ben­den Ros­se und das Rol­len des Wa­gens, des­sen vier Rä­der wie große Was­ser­schei­ben aus­sa­hen.

Im In­nern herrsch­te all­ge­mei­nes Schwei­gen; der Geist der Rei­sen­den schi­en wie die Erde in der Feuch­tig­keit zu er­sti­cken. Mama hat­te den Kopf an die Pols­ter ge­lehnt und schloss die Au­gen. Der Baron be­trach­te­te ge­lang­weilt die ein­för­mi­ge trie­fen­de Ge­gend; Ro­sa­lie, die ein Packet auf dem Schos­se hat­te, träum­te in je­ner stumpf­sin­ni­gen Art der Leu­te aus dem Vol­ke. Nur Jo­han­na fühl­te bei die­sem ein­för­mi­gen Ge­rie­sel des Re­gens ih­ren Geist neu er­wa­chen, wie eine Pflan­ze, die man aus dem dump­fen Zim­mer in die fri­sche Luft bringt. In ih­rem Her­zen war kein Platz für trüb­sin­ni­ge Ge­dan­ken. Wenn­gleich sie sich eben­falls stumm ver­hielt, so hät­te sie doch am liebs­ten laut ge­sun­gen und die Hän­de zum Fens­ter her­aus­ge­streckt, um den Re­gen auf­zu­fan­gen. Sie freu­te sich, dass der schar­fe Trab der Pfer­de sie im­mer wei­ter ins Land her­aus­führ­te, des­sen Öde für sie nichts Ab­schre­cken­des hat­te.

Die Krup­pen der Pfer­de glänz­ten un­ter dem nie­der­strö­men­den Re­gen wie blan­ke Spie­gel.

All­mäh­lich schlief die Baro­nin rich­tig ein. Ihr von sechs Lo­cken­rei­hen gleich­för­mig um­rahm­tes Ge­sicht sank im­mer tiefer auf die drei­fa­che Wöl­bung ih­res Un­ter­kinns, des­sen letz­ter Teil sich bei­na­he mit ih­rer hoch­ge­wölb­ten Brust ver­ei­nig­te. End­lich neig­te sich ihr Haupt nach rück­wärts, ihre hoch­geröte­ten Wan­gen blie­sen sich bei je­dem Atem­zu­ge auf, wäh­rend zwi­schen ih­ren halb­ge­öff­ne­ten Lip­pen ein kräf­ti­ges Schnar­chen her­vor­drang. Ihr Mann beug­te sich zu ihr her­über und leg­te lei­se in ihre ge­fal­te­ten Hän­de eine klei­ne Le­der­ta­sche.

Sie wach­te bei die­ser Berüh­rung auf und be­trach­te­te den Ge­gen­stand mit schlaf­trun­ke­nem Blick wie je­mand, der aus tie­fem Trau­me em­por­fährt. Das Täsch­chen fiel her­un­ter und aus sei­nem In­ne­ren roll­ten Gold­stücke auf den Bo­den der Ka­le­sche, wäh­rend meh­re­re Bank­no­ten neu­gie­rig her­vor­lug­ten. Sie er­wach­te jetzt völ­lig bei dem herz­haf­ten kind­li­chen Ge­läch­ter ih­rer Toch­ter.

»Schau, mei­ne Teu­re!« sag­te der Baron, das Geld zu­sam­men­raf­fend und ihr in den Schoss le­gend, »das ist al­les, was mir vom Ver­kauf des Pacht­ho­fes von Ele­tot üb­rig ge­blie­ben ist. Wir müs­sen es für die Re­stau­rie­rung von Peup­les ver­wen­den, wo wir zu­künf­tig sehr oft woh­nen wer­den.«

Sie zähl­te sechs­tau­send vier­hun­dert Fran­cs, wel­che sie ru­hig in ihre Ta­sche steck­te.

Von den ein­und­dreis­sig Pacht­hö­fen, die ih­nen die El­tern hin­ter­las­sen hat­ten, war dies der neun­te, den sie ver­kauf­ten. Sie be­sas­sen im­mer­hin noch zwan­zig­tau­send Li­vres an Ein­künf­ten aus ih­ren Be­sit­zun­gen, die bei halb­wegs gu­ter Ver­wal­tung leicht auf dreis­sig­tau­send hät­ten ge­stei­gert wer­den kön­nen.

Bei ih­rer an sich ein­fa­chen Le­bens­wei­se hät­te die­ses Ein­kom­men voll­stän­dig ge­nügt, wenn es in ih­rem Haus­hal­te nicht ein un­er­gründ­li­ches Loch ge­ge­ben hät­te: ihre Her­zens­gü­te. Die­se ließ das Geld un­ter ih­ren Hän­den schmil­zen wie den Schnee un­ter der Son­ne. Kaum ein­ge­nom­men, war es auch schon wie­der da­hin. Wo­hin? Nie­mand wuss­te es ge­nau. Je­den Au­gen­blick sag­te ei­nes von ih­nen: »Ich möch­te nur wis­sen, wie das zu­geht; ich habe heu­te wie­der hun­dert Fran­cs ge­braucht, ohne et­was Be­son­de­res ge­kauft zu ha­ben.«

Üb­ri­gens bil­de­te die­se Frei­ge­big­keit ihr gröss­tes Le­bens­glück; in die­sem Punk­te ver­stan­den sie sich bei­de vor­treff­lich.

»Ist es jetzt hübsch, mein Schloss?« frag­te Jo­han­na.

»Du sollst ’mal se­hen, lie­bes Kind!« sag­te der Baron ver­gnügt.

Die Hef­tig­keit des Un­wet­ters mil­der­te sich all­mäh­lich. Es fiel nur noch ein fei­ner Sprüh­re­gen. Der Wol­ken­schlei­er schi­en sich im­mer mehr zu he­ben, der Him­mel hell­te sich auf und plötz­lich fiel durch ein Loch im Ge­wölk ein blen­den­der Son­nen­strahl auf die Ge­fil­de.

Im­mer lo­cke­rer wur­de das Ge­wölk und ließ das Blau des Äthers her­vor­tre­ten, wie ein Schlei­er, der lang­sam in Fet­zen zer­ris­sen wird. Über der Erde lach­te wie­der ein herr­li­cher azur­ner Him­mel.

Es ging ein fri­scher er­qui­cken­der Luft­zug wie ein be­glück­tes Auf­seuf­zen der Erde. Und wenn man jetzt, wo die Ge­gend wie­der be­leb­ter wur­de, an Gär­ten oder Ge­höl­zen vor­bei­fuhr, so hör­te man hin und wie­der den mun­te­ren Ge­sang ei­nes Vo­gels, der sein Ge­fie­der trock­ne­te.

Der Abend brach her­an. Im Wa­gen schlief jetzt al­les aus­ser Jo­han­na. Zwei­mal mach­te man an Gast­häu­sern Halt, um die Pfer­de zu trän­ken und sie bei ih­rem Fut­ter et­was ver­schnau­fen zu las­sen.

Die Son­ne war un­ter­ge­gan­gen; aus der Fer­ne klan­gen die Abend­glo­cken. In ei­nem klei­nen Dor­fe muss­te man die La­ter­nen we­gen der Dun­kel­heit an­zün­den; auch am Him­mel wim­mel­te es von Ster­nen. Hin und wie­der glänz­ten die er­leuch­te­ten Fens­ter ei­nes Hau­ses durch das Dun­kel der Nacht. Und plötz­lich stieg hin­ter ei­nem Hü­gel zwi­schen dem Ge­äst der Kie­fern­bäu­me das vol­le röt­li­che Licht des Mon­des auf, der wie im Traum be­fan­gen lang­sam sei­ne Bahn da­hin­zog.

Es war so lau, dass man die Fens­ter her­un­ter­las­sen konn­te. Jo­han­na, die mit of­fe­nen Au­gen sich glück­li­chen Träu­men hin­ge­ge­ben hat­te, mach­te sich’s jetzt auch be­que­mer. Nur zu­wei­len er­wach­te sie durch einen leich­ten Ruck des Wa­gens oder das ver­än­der­te Tem­po der Pfer­de. Wenn sie dann auf einen Au­gen­blick hin­aus­schau­te, be­merk­te sie im Vor­bei­fah­ren hier eine Farm, dort ein paar Kühe, die be­hag­lich wie­der­käu­end lang­sam den Kopf nach dem Wa­gen um­wand­ten. Hier­auf such­te sie in ei­ner neu­en Lage den halb­vollen­de­ten Traum wie­der an­zu­spin­nen; aber das Rol­len des Wa­gens wirk­te er­mü­dend auf ihre Sin­ne. Ihre Ge­dan­ken ver­wirr­ten sich und end­lich war auch sie ziem­lich fest ein­ge­schlum­mert.

Plötz­lich gab es einen schar­fen Ruck und der Wa­gen hielt an. Män­ner und Frau­en stan­den um­her mit Lich­tern in den Hän­den. Man war zu Hau­se. Jo­han­na war kaum er­wacht, als sie auch schon aus dem Wa­gen hüpf­te. Ihr Va­ter und Ro­sa­lie, de­nen ein Päch­ter leuch­te­te, tru­gen bei­na­he die ganz er­schöpf­te, vor Atem­not seuf­zen­de Baro­nin, wel­che fort­wäh­rend mit dün­ner Stim­me jam­mer­te: »Ach Gott! Mei­ne ar­men Kin­der! Welch lan­ger Weg!« Sie woll­te nichts es­sen und nichts trin­ken, ging so­fort zu Bett und schlief nach we­ni­gen Mi­nu­ten.

Jo­han­na und der Baron setz­ten sich al­lein zu Ti­sche.

Sie schau­ten sich lä­chelnd an, drück­ten sich zu­wei­len die Hän­de und gin­gen nach auf­ge­ho­be­ner Ta­fel so­fort an die Be­sich­ti­gung des re­stau­rier­ten Schlos­ses.

Es war dies ei­nes je­ner ho­hen weit­läu­fi­gen Ge­bäu­de, wie man sie in der Nor­man­die so oft fin­det, halb Schloss, halb Land­haus, in grau­em Sand­stein, ge­räu­mig ge­nug für ein gan­zes Ge­schlecht.

Ein un­ge­heu­rer Haus­flur, der nach je­der Sei­te hin eine Aus­gangs­tür hat­te, teil­te es der Län­ge nach in zwei Hälf­ten. Eine Dop­pel­trep­pe, die nach oben hin in eine brücken­ar­tig an­ge­leg­te Ga­le­rie en­de­te, wel­che die Mit­te des großen Rau­mes frei ließ, diente als Ver­bin­dung mit dem ers­ten Stock­werk.

Im Erd­ge­schoss trat man rechts in einen weit­läu­fi­gen Sa­lon, des­sen Go­bel­ins pracht­vol­les Ran­ken­werk mit al­ler­lei Vö­geln dar­in auf­wie­sen. Die fei­ne Sti­cke­rei des ge­sam­ten Meuble­ments stell­te lau­ter Sze­nen aus La­fon­tai­ne’s Fa­beln dar. Jo­han­na war aus­ser sich vor Ent­zücken, als sie einen Stuhl wie­der­fand, an dem schon in der Kin­der­zeit ihr Herz ge­han­gen hat­te und der die Er­zäh­lung vom Fuchs und dem Storch ver­sinn­bild­lich­te.

Ne­ben dem Sa­lon be­fan­den sich die Biblio­thek voll al­ter Bü­cher und noch zwei un­be­nutz­te Zim­mer. Links war der Spei­se­saal mit neu­em Ge­tä­fel, die Lein­wand­kam­mer, die Sil­ber­kam­mer, die Kü­che und ein klei­nes Ba­de­zim­mer.

Die gan­ze ers­te Eta­ge durch­schnitt ein lan­ger Gang, auf wel­chen zu bei­den Sei­ten zehn Zim­mer mün­de­ten. Ganz hin­ten rechts fand Jo­han­na das ih­ri­ge. Er­war­tungs­voll trat sie ein. Der Baron hat­te es neu her­rich­ten las­sen, in­dem er Vor­hän­ge und Mö­bel vom Bo­den ent­nahm, wo sie bis­her un­be­nutzt ge­la­gert hat­ten.

Ganz an­ti­ke vlä­mi­sche Ta­pe­ten be­deck­ten die Wän­de die­ses klei­nen Hei­lig­tums.

Als Jo­han­na einen Blick auf ihr Bett warf, stiess sie einen Freu­den­schrei aus. An den vier En­den tru­gen vier große aus Ei­che ge­schnitz­te Vö­gel, glän­zend schwarz po­liert, den Vor­hang, und schie­nen gleich­sam sei­ne Hü­ter zu sein. Die brei­ten Strei­fen des­sel­ben stell­ten Blu­men-Guir­lan­den mit Früch­ten dar. Vier fein ge­schnitz­te Säu­len mit ko­rin­thi­schen Ka­pi­ta­len tru­gen ein Kar­nies, wel­ches mit Ro­sen und Amo­ret­ten ge­ziert war.

Bei al­ler Mas­si­vi­tät und dem düs­te­ren Ein­druck des al­ten Hol­zes mach­te sich das Gan­ze doch sehr gra­zi­ös.

Die Bett­de­cke und der Bett­him­mel flim­mer­ten wie zwei Fir­ma­men­te. Sie wa­ren aus an­ti­ker dun­kelblau­er Sei­de mit ein­ge­wirk­ten großen gol­de­nen Blät­tern und Li­li­en ge­fer­tigt.

Als Jo­han­na al­les ge­nü­gend be­wun­dert hat­te, hob sie die Ker­ze hö­her, um das Su­jet der Go­bel­ins bes­ser be­trach­ten zu kön­nen. Ein jun­ger Mann und ein jun­ges Mäd­chen, selt­sam in grü­ne, gel­be und rote Far­ben ge­klei­det, plau­der­ten un­ter ei­nem blau­en Bau­me, an wel­chem wei­ße Früch­te reif­ten. Nicht weit da­von wei­de­te ein fet­tes Ka­nin­chen, eben­falls weiß, in grau­em Gra­se.

Ober­halb die­ser Grup­pe be­merk­te man in an­ge­mes­se­ner Ent­fer­nung fünf run­de Häu­schen mit spit­zen Dä­chern, und ganz oben, fast im Him­mel, eine auf­fal­lend rote Wind­müh­le. Da­zwi­schen rank­ten über­all große selt­sa­me Blu­men.


Die bei­den an­de­ren Fel­der hat­ten mit dem ers­ten vie­le Ähn­lich­keit; nur sah man aus den Häu­sern vier Leut­chen in vlä­mi­scher Tracht tre­ten, die die Hän­de teils vor Er­stau­nen, teils im höchs­ten Zorn gen Him­mel streck­ten.

Das vier­te Feld hin­ge­gen stell­te eine sehr trau­ri­ge Sze­ne dar. Ne­ben dem Ka­nin­chen, wel­ches im­mer noch wei­de­te, lag der jun­ge Mann an­schei­nend tot im Gra­se. Die jun­ge Dame durch­bohr­te sich, ihn an­schau­end, die Brust mit ei­nem De­gen; die Früch­te an dem Bau­me wa­ren schwarz ge­wor­den.

Schon woll­te Jo­han­na dar­auf ver­zich­ten, den Sinn die­ser Dar­stel­lung zu er­fas­sen, als sie in ei­ner Ecke ein win­zi­ges Tier­chen er­blick­te, wel­ches das Ka­nin­chen, wenn es ge­lebt hät­te, wie einen Gras­halm hät­te ver­spei­sen kön­nen. Und doch stell­te es einen Lö­wen dar.

Da fiel ihr die un­glück­li­che Ge­schich­te von Py­ra­mus und Thys­be wie­der ein. Wenn­gleich sie über die Nai­ve­tät der Dar­stel­lung lä­cheln muss­te, so fühl­te sie sich doch glück­lich, von die­sem Lie­bes-Aben­teu­er um­ge­ben zu sein, wel­ches zu ih­rem Her­zen stets von zärt­li­chen Hoff­nun­gen re­den und ihre Träu­me so­zu­sa­gen jede Nacht mit die­ser an­ti­ken sa­gen­haf­ten Lie­be aus­schmücken wür­de.

Der Rest des Mo­bi­li­ars ver­ei­nig­te in sich die ver­schie­dens­ten Sty­le. Es wa­ren jene Art von Mö­beln, wie sie in je­der Fa­mi­lie von Ge­ne­ra­ti­on zu Ge­ne­ra­ti­on wan­dern und man­chen Häu­sern das Aus­se­hen ei­nes bunt zu­sam­men­ge­wür­fel­ten Mu­se­ums ver­lei­hen. Zu bei­den Sei­ten ei­ner mit glän­zen­der Bron­ze be­schla­ge­nen Kom­mo­de im Sti­le Lud­wigs XIV. stan­den zwei Ses­sel aus der Zeit Lud­wigs XV., noch in ih­ren blu­men­ge­stick­ten sei­de­nen Über­zü­gen. Ein Schreib­tisch aus Ro­sen­holz stand ge­gen­über dem Ka­min, auf wel­chem sich un­ter ei­nem Glas­sturz eine Uhr aus der Em­pi­re-Zeit be­fand.

 

Es war dies ein bron­ze­ner Bie­nen­korb von vier Mar­mor­säu­len ge­tra­gen, die sich über ei­nem Gar­ten von ver­gol­de­ten Blu­men er­ho­ben. Ein zier­li­cher Per­pen­di­kel, der aus ei­nem schma­len Schlitz des Bie­nen­kor­bes her­aus­hing, trug an sei­nem Ende eine klei­ne Bie­ne mit email­lier­ten Flü­geln, die auf die­se Wei­se sich über den ver­gol­de­ten Blu­men hin und her be­weg­te. Das Zif­fer­blatt zeig­te sehr fei­ne Por­zel­lan­ma­le­rei.

Jetzt schlug es 11 Uhr. Der Baron küss­te sei­ne Toch­ter und zog sich auf sein Zim­mer zu­rück. Jo­han­na be­dau­er­te, dass es schon Zeit war, schla­fen zu ge­hen; aber schliess­lich leg­te sie sich auch zu Bett.

Mit ei­nem letz­ten Blick durch­flog sie das Zim­mer, dann lösch­te sie ihr Licht aus. Aber zur Lin­ken des Bet­tes, das nur mit dem Kop­fen­de an der Wand stand, be­fand sich ein Fens­ter, durch wel­ches das Mond­licht fiel und einen hel­len Strei­fen auf den Bo­den des Zim­mers bil­de­te.

Klei­ne Re­fle­xe spie­gel­ten sich auf den Wän­den und um­schmei­chel­ten lei­se die Lie­bes­sze­ne zwi­schen Py­ra­mus und Thys­be.

Durch das an­de­re Fens­ter ge­gen­über dem Fus­sen­de ge­wahr­te Jo­han­na einen großen Baum, des­sen Zwei­ge ganz von mil­dem Lich­te um­flos­sen wa­ren. Sie leg­te sich auf die Sei­te und schloss die Au­gen; aber nach ei­ni­gen Mi­nu­ten öff­ne­te sie die­sel­ben wie­der.

Sie glaub­te noch das Rüt­teln des Wa­gens zu ver­spü­ren, des­sen Rol­len noch in ih­rem Kop­fe wi­der­hall­te. An­fangs rühr­te sie sich nicht, in der Hoff­nung, dann umso eher ein­zu­schla­fen; aber bald über­trug sich die Un­ru­he ih­res Geis­tes auch auf ih­ren Kör­per.

Es zuck­te ihr in al­len Glie­dern; ihre Un­ru­he wuchs mit je­der Mi­nu­te. End­lich sprang sie auf und ging mit ih­ren blos­sen Füss­chen, nur mit dem lan­gen Nacht­hemd be­klei­det, wel­ches ihr das Aus­se­hen ei­ner Er­schei­nung gab, über den Licht­strei­fen hin­weg auf das Fens­ter zu. Sie öff­ne­te es und sah hin­aus.

Die Nacht war so hell, dass man wie am lich­ten Tage se­hen konn­te. Das jun­ge Mäd­chen er­kann­te die gan­ze Ge­gend wie­der, die es schon als Kind so sehr ge­liebt hat­te.

Da war zu­nächst ihr ge­gen­über ein weit­läu­fi­ger Ra­sen­platz, der bei dem Mond­lich­te wie gel­be But­ter aus­sah. An bei­den Ecken des­sel­ben vor dem Schlos­se streck­ten zwei rie­si­ge Bäu­me ihre Äste aus, rechts eine Pla­ta­ne und links eine Lin­de.

Am an­de­ren Ende die­ses Tum­mel­plat­zes der Küs­ten­win­de be­fand sich ein Ge­büsch, wel­ches von fünf Rei­hen al­ter Ul­men ein­ge­fasst war. Die Stür­me vie­ler Jahr­zehn­te hat­ten ihre Wip­fel ge­schüt­telt, ihre Äste ge­knickt und ihre Stäm­me ge­krümmt, so­dass sie ihr Laub­werk wie ein Vor­dach zur Sei­te hän­gen lies­sen.

Die­se Art Park war rechts und links von zwei aus mäch­ti­gen Pap­peln be­ste­hen­den Al­leen ein­ge­säumt; man nann­te sie im Dia­lekt der Nor­man­die »les peup­les«, wo­her auch der Name des Schlos­ses stamm­te. Sie trenn­ten die Woh­nun­gen der dort hau­sen­den bei­den Päch­ter­fa­mi­li­en Couil­lard und Mar­tin von­ein­an­der.

Jen­seits die­ses Parks lag eine ge­räu­mi­ge un­be­bau­te Flä­che, in de­ren Ried­gras Tag und Nacht der See­wind spiel­te. Dann stieg plötz­lich die Küs­te auf, eine Hü­gel­ket­te von etwa hun­dert Me­ter Höhe, steil und kahl, de­ren Fuss von den Wo­gen des Mee­res um­spült wur­de.

Jo­han­na be­merk­te ganz in der Fer­ne den lan­gen, glän­zen­den Strei­fen des Was­sers, wel­ches bei dem sanf­ten Mond­licht zu schlum­mern schi­en. In die­ser er­qui­cken­den Fri­sche der Nacht spür­te man dop­pelt den wür­zi­gen Hauch der Blü­ten und Kräu­ter. Der durch­drin­gen­de Duft des Jas­mins, wel­cher an den Fens­tern des Erd­ge­schos­ses rank­te, misch­te sich mit dem leich­ten Ge­ru­che des durch den gest­ri­gen Re­gen neu­er­quick­ten Lau­bes. Ein leich­ter Luft­zug trug von fern her die sal­zi­ge Aus­düns­tung des Mee­res und des See­gra­ses her­über.

Das jun­ge Mäd­chen sog mit Won­ne die er­qui­cken­de Luft ein; die Ruhe der Na­tur wirk­te auf sie wie ein er­fri­schen­des Bad.

Alle Tie­re, die mit dem Ein­bruch der Nacht zum Le­ben er­wa­chen und ihr Da­sein un­ter ih­rem Schut­ze fris­ten, er­füll­ten das stil­le Halb­dun­kel mit ih­rer ge­räusch­lo­sen Tä­tig­keit. Gro­ße Vö­gel, de­ren Schat­ten weit­hin auf die Erde fie­len, flo­gen ohne einen Schrei wie dunkle Fle­cken durch die Luft. Das Sum­men un­sicht­ba­rer In­sek­ten klang an Jo­han­nas Ohr; leich­tes Ra­scheln er­tön­te in dem dich­ten Gra­se oder auf dem San­de der ein­sam da­lie­gen­den Park­we­ge.

Nur hin und wie­der ließ eine Krö­te ih­ren me­lan­cho­li­schen ein­för­mi­gen kur­z­en Ruf ver­neh­men.

Jo­han­na fühl­te, wie ihr das Herz auf­ging, wie das stil­le ge­räusch­lo­se Le­ben die­ser Nacht in dem­sel­ben tau­send Be­gier­den er­weck­te. Der ei­gen­tüm­li­che Reiz die­ser schlum­mern­den und doch so be­leb­ten Na­tur um­fass­te alle ihre Sin­ne. Sie glaub­te über­mensch­li­che Lau­te zu ver­neh­men, sie hör­te ein Stam­meln von un­er­reich­ba­ren Wün­schen, das Rau­schen ei­nes un­be­kann­ten Glückes. Sie be­gann von Lie­be zu träu­men.

Lie­be! Seit zwei Jah­ren hat­te sie mit stei­gen­der Furcht de­ren Na­hen ge­scheut. Jetzt hat­te sie das Recht zu lie­ben; sie brauch­te ihr nur zu be­geg­nen, die Lie­be.

Wie wür­de »er« be­schaf­fen sein? Noch wuss­te sie es nicht recht und woll­te es auch ei­gent­lich nicht wis­sen. Er wür­de eben »er« sein. Das ge­nüg­te zu­nächst.

Sie wuss­te nur, dass sie den­sel­ben von gan­zem Her­zen ver­eh­ren, dass sie ihm mit gan­zer See­le an­ge­hö­ren wür­de. Sie wür­den in Näch­ten wie die­se, beim Glanz der Ster­ne, zu­sam­men lust­wan­deln. Sie wür­den Hand in Hand, fest an­ein­an­der ge­schmiegt, da­hin­ge­hen, wür­den das Klop­fen ih­res Her­zens hö­ren, die Wär­me ih­res Kör­pers spü­ren, ihre zärt­li­chen Ge­füh­le mit den lieb­li­chen Düf­ten die­ser Nacht ver­schmel­zen und sich ganz dem won­ni­gen Ge­füh­le hin­ge­ben, eins zu sein in ih­rem Den­ken und Füh­len.

Und das wür­de so fort und fort ge­hen in dem Rau­sche ei­ner un­zer­stör­ba­ren Lie­be.

Plötz­lich schi­en es ihr, als ob sie »ihn« drü­ben be­merk­te; ein un­er­klär­li­cher wol­lüs­ti­ger Schau­er durch­rie­sel­te sie vom Kopf bis zu den Füs­sen. Sie press­te un­will­kür­lich die Hän­de ge­gen die Brust, wie um das Traum­bild zu um­fan­gen. Es war ihr, als be­rühr­te ihre Lip­pen, die sie dem Un­be­kann­ten ent­ge­gen streck­te, et­was, was sie fast in Ohn­macht sin­ken mach­te; als habe der Früh­lings­hauch ihr einen Lie­bes­kuss ge­ge­ben.

Wirk­lich ver­nahm sie jetzt Schrit­te da un­ten hin­ter dem Schlos­se auf der Stras­se. Bei der ei­gen­tüm­li­chen see­li­schen Ver­fas­sung, in der sie sich be­fand und die sie an et­was Un­mög­li­ches, an einen über­na­tür­li­chen Zu­fall, an eine hö­he­re Fü­gung, kurz an ir­gen­det­was recht ro­man­ti­sches glau­ben ließ, dach­te sie bei sich: »Wenn er das wäre?« Ängst­lich lausch­te sie auf die Schrit­te des nächt­li­chen Wan­de­rers, fast über­zeugt, dass er im nächs­ten Au­gen­blick am Tore läu­ten und um Gast­freund­schaft bit­ten wer­de.

Als die Schrit­te ver­hall­ten, wur­de sie trau­rig wie nach ei­ner her­ben Ent­täu­schung. Dann aber sah sie das Tö­rich­te ih­rer Hoff­nun­gen ein und lach­te über ihre wahn­wit­zi­ge Fan­ta­sie.

Nun ließ sie, et­was be­ru­hig­ter, ih­ren Geist in na­tür­li­che­re Fer­nen schwei­fen; sie such­te ihre Zu­kunft zu er­for­schen und sich ihr fer­ne­res Le­ben aus­zu­ma­len.

Hier wür­de sie also mit »ihm« le­ben, hier in die­sem stil­len Schloss am Mee­re. Je­den­falls wür­den sie zwei Kin­der ha­ben, einen Jun­gen für ihn, ein Mäd­chen für sie. Sie sah die­sel­ben im Gra­se spie­len zwi­schen der Pla­ta­ne und der Lin­de, wäh­rend Va­ter und Mut­ter ih­nen mit sorg­li­chen Au­gen folg­ten, was sie nicht hin­der­te, da­bei sich selbst zu­wei­len mit zärt­li­chen Bli­cken an­zu­schau­en.