Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Sie ritt in das Tal hin­ab, wel­ches sich durch einen der großen Fel­sen­bo­gen, die man die Tore von Etre­tat nennt, zum Mee­re er­streckt. Lang­sam nä­her­te sie sich dem Ge­hölz. Zwi­schen dem noch ma­ge­ren Lau­be er­goss sich ein Strom von Licht. Sie such­te die Lich­tung, ohne sie fin­den zu kön­nen und irr­te plan­los auf den schma­len We­gen her­um.

Plötz­lich, als sie eine lan­ge Al­lee pas­sier­te, be­merk­te sie zwei Reit­pfer­de, die an einen Baum ge­bun­den wa­ren. Sie er­kann­te sie so­fort, es wa­ren Gil­ber­te und Ju­li­us ihre. Da die Ein­sam­keit an­ge­fan­gen hat­te, ihr drückend zu wer­den, so war sie über dies un­er­war­te­te Zu­sam­men­tref­fen sehr ver­gnügt, und setz­te ihr Pferd in Trab.

Als sie bei den bei­den Pfer­den an­ge­kom­men war, die ru­hig wie aus lan­ger Ge­wohn­heit da­stan­den, be­gann sie zu ru­fen. Aber sie er­hielt kei­ne Ant­wort.

Ein Da­men­hand­schuh und zwei Reit­peit­schen la­gen in dem bun­ten Gra­se. Sie hat­ten also dort ge­ses­sen, und wa­ren dann fort­ge­gan­gen, ihre Pfer­de zu­rück­las­send.

Sie war­te­te eine Vier­tel­stun­de, zwan­zig Mi­nu­ten, sehr er­staunt, ohne zu be­grei­fen, was sie wohl ma­chen könn­ten. Wäh­rend sie ab­ge­stie­gen war und nun so da­stand, mit dem Rücken an einen Baum ge­lehnt, fin­gen zwei Fin­ken, im Laub ver­steckt, ganz dicht über ihr zu schla­gen an. Sie hüpf­ten um ein­an­der, mit ge­spreiz­ten zit­tern­den Flü­gel­chen, dreh­ten die Köpf­chen und zwit­scher­ten. Dann paar­ten sie sich plötz­lich.

Jo­han­na war über­rascht, als wenn sie so et­was noch nie ge­se­hen hät­te. »Ach ja«; sag­te sie dann bei sich »es ist Früh­ling.« Hier­auf kam ihr ein an­de­rer Ge­dan­ke, ein Ver­dacht. Sie be­trach­te­te von Neu­em den Hand­schuh, die Reit­peit­schen, die ver­las­se­nen Pfer­de. Plötz­lich schwang sie sich in den Sat­tel, von ei­nem hef­ti­gen Ver­lan­gen ge­trie­ben zu flie­hen.

Sie ga­lop­pier­te jetzt nach Peup­les zu­rück. Ihr Ge­hirn ar­bei­te­te hef­tig, sie über­leg­te, reih­te die Tat­sa­chen an­ein­an­der, er­wog die Um­stän­de. Wie konn­te sie erst so spät al­les er­ra­ten? War sie bis da­hin blind ge­we­sen? Hat­te sie Ju­li­us’ häu­fi­ge Ab­we­sen­heit, sei­ne wie­der­keh­ren­de Ele­ganz, sei­ne neu­er­wach­te gute Lau­ne nicht be­ach­tet? Jetzt er­in­ner­te sie sich auch Gil­ber­te’s plötz­li­cher ner­vö­ser An­fäl­le, ih­rer über­trie­be­nen Zärt­lich­kei­ten ge­gen sie, und die­ser Art Se­lig­keit der letz­ten Zeit, über die der Graf so glück­lich war.

Sie pa­rier­te ihr Pferd zum Schritt, denn sie fühl­te das Be­dürf­nis, erns­ter nach­zu­den­ken und das schnel­le Tem­po ver­wirr­te ihre Sin­ne.

Nach­dem die ers­te Be­we­gung vor­über war, wur­de ihr Herz wie­der ru­hi­ger; sie emp­fand we­der Ei­fer­sucht noch Hass, son­dern nur Ver­ach­tung. Sie dach­te nicht an Ju­li­us, von dem sie nichts mehr in Er­stau­nen set­zen konn­te; aber der zwei­fa­che Ver­rat der Grä­fin an ihr als Gat­tin und Freun­din, das war es, was sie er­reg­te. Die gan­ze Welt also war hin­ter­lis­tig, falsch und lüg­ne­risch. Trä­nen ka­men ihr in die Au­gen. Man be­weint zu­wei­len sei­ne Il­lu­sio­nen mit eben­so viel Schmerz wie sei­ne To­ten.

Den­noch ent­schloss sie sich, zu tuen, als ob sie nichts wüss­te, ihr Herz vor vor­über­ge­hen­den Re­gun­gen zu be­hü­ten, und ihre Lie­be nur noch Paul und ih­ren El­tern zu­zu­wen­den. Die Ge­gen­wart der üb­ri­gen woll­te sie mit ru­hi­ger Mie­ne er­tra­gen.

So­bald sie zu Hau­se an­ge­kom­men war, warf sie sich über ih­ren Sohn, trug ihn in ihr Zim­mer her­über und küss­te ihn eine Stun­de lang un­ter stür­mi­schen Trä­nen.

Ju­li­us kam zum Di­ner nach Hau­se, fröh­lich und gu­ter Din­ge, voll lie­bens­wür­di­ger Ab­sich­ten. »Kom­men Papa und Mama denn nicht die­ses Jahr?« frag­te er.

Sie wuss­te ihm so viel Dank für die­se Auf­merk­sam­keit, dass sie ihm fast ihre Ent­de­ckung im Hol­ze ver­zieh. Sie wur­de plötz­lich von ei­nem so leb­haf­ten Ver­lan­gen er­grif­fen, die­je­ni­gen wie­der­zu­se­hen, wel­che sie nächst Paul am meis­ten lieb­te, dass sie den gan­zen Abend am Schreib­ti­sche zu­brach­te, um ihre Her­über­kunft zu be­schleu­ni­gen.

Die El­tern stell­ten ihre Rück­kehr für den 20. Mai in Aus­sicht. Man schrieb da­mals den 7. d. M.

Mit täg­lich wach­sen­der Un­ge­duld er­war­te­te sie de­ren An­kunft, als wenn sie aus­ser der Lie­be zu ih­rem Kin­de noch ein an­de­res Be­dürf­nis fühl­te, wie­der ein­mal ihr Herz an ei­nem red­li­chen Her­zen schla­gen zu las­sen. Sie muss­te wie­der ein­mal of­fen mit Leu­ten re­den, die, treu und bie­der, je­der In­fa­mie ab­hold wa­ren; die in ih­rem Le­ben, in all ih­ren Wor­ten und Wer­ken, in ih­ren Ge­dan­ken und Wün­schen stets ehr­lich und ge­wis­sen­haft wa­ren.

Was sie jetzt am meis­ten emp­fand, das war die Ver­ein­sa­mung ih­res Ge­wis­sens in­mit­ten all die­ser ge­wis­sen­lo­sen Men­schen. Ob­schon sie mit ei­nem Male ge­lernt hat­te zu heu­cheln, die Grä­fin mit of­fe­nen Ar­men und lä­cheln­dem Mun­de zu emp­fan­gen, so fühl­te sie doch dies Ge­fühl der Lee­re, die­se ge­wis­se Men­schen­ver­ach­tung, ste­tig wach­sen und sie sah sich ganz von ihm be­herrscht. Täg­lich er­höh­ten die klei­nen Neu­ig­kei­ten aus der Um­ge­bung den Wi­der­wil­len ih­res Her­zens, ih­ren Ab­scheu ge­gen alle an­de­ren We­sen.

Die Toch­ter der Couil­lards hat­te ein Kind be­kom­men und die Hoch­zeit soll­te jetzt erst statt­fin­den. Die Magd bei den Mar­tins, eine Wai­se, war in and­ren Um­stän­den; ein fünf­zehn­jäh­ri­ges Mäd­chen aus der Nach­bar­schaft eben­so. Eine Witt­we, eine arme knö­che­ri­ge ekel­haf­te Frau, die man ih­res schreck­li­chen Schmut­zes we­gen den »Pfer­de­ap­fel« nann­te, fühl­te sich gleich­falls Mut­ter.

Je­den Au­gen­blick hör­te man von ei­ner neu­en Schwan­ger­schaft, oder dem Fehl­tritt ir­gend ei­nes Mäd­chens, ei­ner Frau und Mut­ter meh­re­rer Kin­der, selbst so­gar ei­ner rei­chen an­ge­se­he­nen Päch­ters­frau.

Die­ser frucht­ba­re Früh­ling schi­en bei den Men­schen den Saft nicht we­ni­ger wie bei den Pflan­zen in Wal­lung zu brin­gen.

Jo­han­na de­ren er­lo­sche­ne Sin­ne nicht mehr er­regt wur­den, de­ren zer­ris­se­nes Herz und de­ren wei­ches Ge­müt al­lein von die­sem lau­en frucht­ba­ren Früh­ling­so­dem un­be­rührt blie­ben und die schwär­me­risch ohne Ver­lan­gen und lei­den­schaft­lich ohne Trie­be le­dig­lich ih­ren ein­sa­men Träu­men sich hin­gab, war er­staunt ent­setzt, ja schliess­lich has­s­er­füllt über die­se tie­ri­sche Schmut­ze­rei.

Die Ve­rei­ni­gung zwei­er We­sen stiess sie jetzt ab, wie et­was wi­der­na­tür­li­ches. Und wenn sie sich über Gil­ber­te är­ger­te, so war es nicht, weil sie ihr den Gat­ten ab­spens­tig ge­macht hat­te, son­dern le­dig­lich der Um­stand, dass sie eben­falls in die­se all­ge­mei­ne Schmutz­gru­be ge­sun­ken war.

Sie war doch von ei­ner an­de­ren Ras­se, als die Land­leu­te, bei de­nen die tie­ri­schen In­stink­te vor­wie­gen. Wie hat­te sie sich nur eben­so ver­ges­sen kön­nen, wie die­se Bes­ti­en?

An dem Tage so­gar, wo ihre El­tern ein­tref­fen muss­ten, rief Ju­li­us aber­mals die­sen Ab­scheu in ihr wach. Er er­zähl­te ihr sehr ver­gnügt als neues­te und scherz­haf­tes­te Ge­schich­te, dass der Bä­cker tags vor­her, als ge­ra­de nicht ge­ba­cken wur­de, ein ei­gen­tüm­li­ches Geräusch in der Back­kam­mer ver­nom­men hät­te. In der Mei­nung, ir­gend eine her­um­strei­chen­de Kat­ze dort zu er­wi­schen sei er her­ein­ge­stürzt, und habe sei­ne Frau be­trof­fen, wie sie al­ler­dings »ge­ra­de nicht beim Brot­ba­cken war.«

»Der Bä­cker« füg­te er hin­zu, »hat­te die Tür ver­schlos­sen, so­dass sie bei­na­he er­sti­cken muss­ten. Der klei­ne Bäcker­jun­ge hat es den Nach­barn er­zählt; er hat­te sei­ne Mut­ter mit dem Schmied her­ein­ge­hen se­hen.«

»Sie ge­ben uns Lie­bes­brot zu es­sen, die­se Spaß­vö­gel«; schloss Ju­li­us la­chend. »Es ist wirk­lich wie eine Ge­schich­te von La Fon­taine.«

Jo­han­na ver­moch­te kei­nen Bis­sen Brot mehr an­zu­rüh­ren.

Als der Post­wa­gen vor der Tür hielt und sich hin­ter den Fens­ter­schei­ben das ver­gnüg­te Ge­sicht des Barons zeig­te, fühl­te die jun­ge Frau in ih­rem Her­zen eine tie­fe Be­we­gung, eine so stür­mi­sche Zärt­lich­keit, wie sie nie vor­her emp­fun­den zu ha­ben glaub­te.

Aber sie blieb über­rascht, bei­na­he ei­ner Ohn­macht nahe, ste­hen, als sie ihre Mut­ter aus­stei­gen sah. Die Baro­nin war in die­sen sechs Win­ter­mo­na­ten um we­nigs­tens zehn Jah­re ge­al­tert. Ihre großen schlaf­fen Hän­ge­ba­cken wa­ren pur­pur­far­ben ge­wor­den und strotz­ten von Blu­tandrang. Ihr Auge schi­en er­lo­schen, und sie konn­te sich nur noch be­we­gen, wenn man sie un­ter bei­den Ar­men stütz­te. Ihr an sich schwe­rer Atem war keu­chend ge­wor­den und wog­te so hef­tig, dass man in ih­rer Nähe un­will­kür­lich ein Ge­fühl schmerz­haf­ter Ver­le­gen­heit emp­fand.

Der Baron, ge­wohnt sie täg­lich zu se­hen, hat­te von die­sen Ver­än­de­run­gen we­nig be­merkt. Wenn sie sich bei ihm über ihre ste­te Atem­not, über ihre wach­sen­den Be­klem­mun­gen be­klag­te, so ant­wor­te­te er: »Aber im Ge­gen­teil, lie­bes Kind; ich habe Dich nie an­ders ge­kannt.«

»Dei­ne Mut­ter ist in schlech­ten Hef­ten,« sag­te Ju­li­us am Aben­de zu sei­ner Frau: »Ich fürch­te es steht nicht gut mit ihr.«

Jo­han­na brach in Schluch­zen aus. »Nur ru­hig! sag­te Ju­li­us. »Ich be­haup­te ja nicht, dass sie ver­lo­ren ist. Du musst im­mer gleich al­les über­trei­ben. Sie hat sich sehr ver­än­dert, das ist al­les. Es kommt von ih­rem Al­ter.«

Nach acht Ta­gen hat­te sie sich schon so an das neue Aus­se­hen ih­rer Mut­ter ge­wöhnt, dass sie nicht mehr dar­an dach­te. Auch moch­te sie wohl ab­sicht­lich ihre Be­fürch­tun­gen zu­rück­drän­gen, wie man ge­wöhn­lich aus Ego­is­mus, aus ei­ner Art un­be­wuss­ten Dran­ges nach Ruhe düs­te­re Vorah­nun­gen und dro­hen­de Sor­gen von sich ab­zu­schüt­teln sucht.

 

Die Baro­nin, der das Ge­hen die gröss­te Schwie­rig­keit ver­ur­sach­te, be­gab sich je­den Tag höchs­tens noch eine hal­be Stun­de ins Freie. Wenn sie ein ein­zi­ges Mal den Weg in »ih­rer« Al­lee zu­rück­ge­legt hat­te, konn­te sie sich nicht mehr wei­ter be­we­gen und ver­lang­te, sich auf »ihre« Bank zu set­zen. Wenn sie sich un­fä­hig fühl­te, ih­ren Spa­zier­gang zu Ende zu füh­ren, sag­te sie: »Wir wol­len auf­hö­ren; mei­ne Hy­per­tro­phie steckt mir heu­te in al­len Glie­dern.«

Sie lach­te jetzt gar nicht mehr; sie lä­chel­te höchs­tens noch über Din­ge, bei de­nen sie sich das Jahr vor­her noch vor La­chen ge­schüt­telt hät­te. Aber da ihre Au­gen noch sehr gut wa­ren, so ver­brach­te sie ihre Tage mit der Le­sung von »Co­rin­ne« oder La­mar­ti­ne’s »Me­di­ta­ti­on«. Dann ver­lang­te sie, dass man ihr die Schieb­la­de mit ih­ren »Re­li­qui­en« brin­ge. Sie brei­te­te die al­ten, ih­rem Her­zen so teu­ren Brie­fe auf ih­rem Schoss aus, stell­te die Schieb­la­de auf einen Stuhl ne­ben sich und leg­te ihre »Re­li­qui­en« eine nach der an­de­ren wie­der hin­ein, nach­dem sie die­sel­ben lang­sam durch­ge­le­sen hat­te. Und wenn sie ganz für sich al­lein war, dann pfleg­te sie wohl den einen oder and­ren Brief zu küs­sen, wie man die Haa­re ge­lieb­ter To­ten küsst.

Ei­ni­ge Male fand Jo­han­na, wenn sie plötz­lich ein­trat, die Baro­nin bit­ter­lich wei­nend. »Was hast du, Müt­ter­chen?« rief sie. »Das kommt von mei­nen Re­li­qui­en,« ant­wor­te­te jene nach ei­nem lan­gen Seuf­zer. »Man denkt wie­der an Sa­chen, die so herr­lich wa­ren, und die nun zu Ende sind! Und dann fal­len ei­nem da plötz­lich Per­so­nen ein, an die man schon ewig nicht mehr ge­dacht hat. Man glaubt sie zu se­hen und zu hö­ren; das macht einen furcht­ba­ren Ein­druck. Du wirst das spä­ter auch noch ken­nen ler­nen.«

Als der Baron ein­mal bei ei­ner sol­chen me­lan­cho­li­schen Sze­ne hin­zu­kam, mur­mel­te er: »Jo­han­na, mein Kind; wenn Du mir fol­gen willst, so ver­bren­ne Dei­ne Brie­fe, alle Brie­fe, von Dei­ner Mut­ter, von mir, alle. Es gibt nichts Schreck­li­che­res, als die Nase wie­der in die Ju­gend­zeit zu ste­cken, wenn man alt ge­wor­den ist.« Aber Jo­han­na be­wahr­te eben­falls ihre Kor­re­spon­denz, rich­te­te sich ih­ren »Re­li­qui­en­schrein« ein, in­dem sie trotz al­ler sons­ti­gen Ver­schie­den­heit von ih­rer Mut­ter, ei­nem ge­wis­sen erb­li­chen Trie­be träu­me­ri­scher Sen­ti­men­ta­li­tät ge­horch­te.

Ei­ni­ge Tage spä­ter muss­te der Baron in Ge­schäf­ten nach aus­wärts und reis­te ab.

Die Jah­res­zeit war herr­lich. Lin­de ster­nen­kla­re Näch­te folg­ten den ru­hi­gen Aben­den, hei­te­re Aben­de den strah­len­den Ta­gen und die­se wie­der bra­chen mit ei­ner schim­mern­den Mor­gen­rö­te an. Müt­ter­chen be­fand sich bald bes­ser und Jo­han­na, der Lie­be­lei­en ih­res Gat­ten und Gil­ber­te’s Un­treue ver­ges­send, fühl­te sich bei­na­he von Her­zen glück­lich. Die gan­ze Flur prang­te im Blu­men­schmuck und ström­te süs­sen Duft aus. Das wei­te Meer er­glänz­te fried­lich von Mor­gen bis zum Abend un­ter der la­chen­den Son­ne.

Ei­nes Nach­mit­tags nahm Jo­han­na Paul auf den Arm und ging ins Feld. Sie be­trach­te­te bald ih­ren Sohn, bald das blu­men­be­sä­e­te Gras längs des We­ges, und fühl­te sich selt­sam glück­lich be­wegt. Alle Au­gen­bli­cke küss­te sie das Kind und drück­te es lei­den­schaft­lich an sich. Der star­ke Blu­men­duft stieg ihr zu Kop­fe; eine an­ge­neh­me wohl­tu­en­de Mat­tig­keit schwäch­te ihre Sin­ne. Sie dach­te über die Zu­kunft ih­res Kin­des nach. Was wür­de aus ihm wer­den? Bald wünsch­te sie es als großen be­rühm­ten mäch­ti­gen Mann vor sich zu se­hen. Bald wie­der­um hät­te sie ge­wünscht, es möch­te in be­schei­de­nen Ver­hält­nis­sen bei ihr blei­ben, nur voll Zärt­lich­keit und Lie­be stets sie um­fan­gen. Mit der ei­gen­nüt­zi­gen Lie­be ei­nes Mut­ter­her­zens wünsch­te sie nur, dass es ihr Sohn blie­be, nur ihr Sohn und wei­ter nichts. Aber ihre Ver­nunft sag­te ihr wie­der, dass er ir­gend einen großen Platz in der Welt aus­fül­len müs­se.

Sie setz­te sich an ei­nem Gra­ben­rand nie­der und be­trach­te­te ihn lan­ge. Es schi­en ihr als hät­te sie ihn noch nie rich­tig an­ge­se­hen. Und plötz­lich ver­wun­der­te sie sich bei dem Ge­dan­ken, dass die­ses klei­ne We­sen ein­mal groß sein, dass es mit fes­tem Schrit­te ein­her­ge­hen, einen Bart ha­ben und mit männ­li­cher Stim­me re­den wür­de.

Von wei­tem rief sie je­mand an; sie blick­te auf. Ma­ri­us kam an­ge­lau­fen. Sie dach­te, dass ir­gend ein Be­such ih­rer war­te­te und er­hob sich, miss­ver­gnügt über die­se Stö­rung. Der Bur­sche lief aus Lei­bes­kräf­ten, und als er nahe ge­nug war schrie er: »Frau Baro­nin ist sehr schlecht ge­wor­den, Ma­da­me!«

Es war ihr, als wenn ein Trop­fen kal­tes Was­ser den Rücken her­a­b­lie­fe; und mit ge­senk­tem Haup­te rann­te sie ei­ligst nach Hau­se.

Schon von wei­tem sah sie eine Men­ge Leu­te un­ter der Pla­ta­ne ste­hen. Sie stürz­te vor und be­merk­te, als die Grup­pe sich öff­ne­te, ihre Mut­ter auf der Erde lie­gend, den Kopf von zwei Kis­sen un­ter­stützt. Ihr Ge­sicht war ganz schwarz, ihre Au­gen ge­schlos­sen; und ihre sonst so wo­gen­de Brust rühr­te sich nicht. Die Amme nahm das Kind auf den Arm und brach­te es fort.

»Was ist ge­sche­hen?« frag­te Jo­han­na hef­tig. Wie kam sie zu Fal­le? Man muss gleich zum Arzt schi­cken!« Sich um­wen­dend be­merk­te sie den Pfar­rer, der durch ir­gend einen Zu­fall schon be­nach­rich­tigt war, und nun kam, sei­ne Diens­te an­zu­bie­ten. Er schob auch so­fort die Är­mel sei­ner Sou­ta­ne zu­rück, aber alle sei­ne Ein­rei­bun­gen mit Es­sig und Köl­nisch-Was­ser blie­ben wir­kungs­los. »Man soll­te sie aus­klei­den und so­fort zu Bett brin­gen,« mein­te der Pries­ter.

Der Päch­ter Jo­seph Couil­lard war zur Stel­le, eben­so Papa Si­mon und Lu­di­vi­ne. Un­ter­stützt vom Abbé Pi­cot woll­ten sie die Baro­nin fort­tra­gen; aber als sie sie auf­ho­ben, sank der Kopf hin­ten­über, und das Kleid zer­riss ih­nen un­ter den Hän­den. So schwer und un­be­hol­fen war der mäch­ti­ge Kör­per. Jo­han­na schrie vor Schreck’ laut auf.

Man hol­te einen Ses­sel aus dem Sa­lon, und konn­te sie so end­lich, nach­dem man sie dar­auf ge­setzt, fort­tra­gen. Schritt für Schritt ging es die Ram­pe her­auf, dann über die Trep­pe ins Schlaf­zim­mer, wo man sie aufs Bett leg­te.

Als die Kö­chin mit dem Aus­klei­den nicht fer­tig wer­den konn­te, fand sich ge­ra­de zur rech­ten Zeit die Wit­we Den­tu ein. Sie war eben­so un­er­war­tet ge­kom­men wie der Pries­ter. »Als ob sie den Tod ge­ro­chen hät­ten,« sag­ten die Dienst­bo­ten.

Jo­seph Couil­lard eil­te schleu­nigst zum Arz­te. Als der Pfar­rer sich an­schick­te, das hei­li­ge Öl her­vor­zu­ho­len, flüs­ter­te die Kran­ken­wär­te­rin ihm zu: Be­mü­hen Sie sich nicht, Herr Abbé, es ist schon vor­bei: ich ken­ne mich aus.«

Jo­han­na wein­te bit­ter­lich; sie wuss­te nicht, was sie ma­chen soll­te. Ver­geb­lich sann sie auf ein Mit­tel, das man hät­te an­wen­den kön­nen; der Pries­ter er­teil­te auf alle Fäl­le die Ge­ne­ral-Ab­so­lu­ti­on.

So harr­te man zwei Stun­den bei dem blau­an­ge­lau­fe­nen leb­lo­sen Kör­per. Jo­han­na war jetzt in die Knie ge­sun­ken und schluchz­te von Angst und Schmerz zer­ris­sen.

Als die Tür sich öff­ne­te und der Arzt er­schi­en, glaub­te sie wie­der Hei­lung, Trost und Hoff­nung mit ihm ein­tre­ten zu se­hen. Sie stürz­te auf ihn zu und be­rich­te­te ihm in ab­ge­ris­se­nen Sät­zen al­les, was sie von der Sa­che wuss­te: »Sie ging spa­zie­ren, wie alle Tage … es ging ihr gut … sehr gut so­gar … sie hat zum Früh­stück eine Bouil­lon mit zwei Ei­ern ge­nom­men … sie ist plötz­lich um­ge­sun­ken … sie ist ganz schwarz ge­wor­den, wie Sie se­hen … und hat sich nicht mehr ge­rührt … Wir ha­ben al­les ver­sucht, um sie wie­der zu sich zu brin­gen … al­les.« Sie schwieg, über­rascht durch eine heim­li­che Hand­be­we­gung der Wär­te­rin, die dem Arzt be­deu­ten woll­te, dass al­les aus sei, völ­lig aus. Jo­han­na sträub­te sich, die Wahr­heit zu be­grei­fen; ängst­lich wie­der­hol­te sie die Fra­ge: »Ist es schlimm, Herr Dok­tor? Glau­ben Sie, dass es schlimm ist?«

»Ich glau­be al­ler­dings« … sag­te er end­lich »ich fürch­te bei­na­he … dass … es zu Ende ist. Sei­en Sie stark, Ma­da­me, fas­sen Sie Mut.«

Jo­han­na warf sich mit aus­ge­brei­te­ten Ar­men auf ihre Mut­ter.

Als Ju­li­us zu­rück­kam, blieb er fas­sungs­los, sicht­lich be­stürzt ste­hen. Kein Ruf des Schmer­zes oder der Verzweif­lung drang von sei­nen Lip­pen; die Über­ra­schung war zu groß, als dass sie sich äus­ser­lich in sei­nen Mie­nen kund­ge­ge­ben hät­te. »Ich sah es kom­men; ich wuss­te dass es zu Ende ging«, mur­mel­te er vor sich hin. Dann zog er sein Ta­schen­tuch, wisch­te sich die Au­gen, knie­te nie­der, be­kreu­zig­te sich und sprach ein stil­les Ge­bet. Als er dann wie­der auf­stand, woll­te er auch sei­ne Frau mit em­por­rich­ten. Aber sie hielt den Leich­nam mit bei­den Ar­men un­ter ste­ten Küs­sen um­fan­gen; sie lag fast auf ihm. Man muss­te sie mit Ge­walt fort­brin­gen; sie schi­en den Ver­stand ver­lo­ren zu ha­ben.

Nach ei­ner Stun­de ge­stat­te­te man ihr zu­rück­zu­keh­ren. Jede Hoff­nung war da­hin. Das Schlaf­ge­mach war jetzt als Lei­chen­zim­mer ein­ge­rich­tet. Ju­li­us und der Geist­li­che spra­chen lei­se in ei­ner Fens­te­r­e­cke. Die Wit­we Den­tu sass auf einen Ses­sel in ziem­lich be­que­mer Hal­tung, wie eine Frau die an Nacht­wa­chen ge­wöhnt ist und sich in ei­nem Hau­se hei­misch fühlt, so­bald der Tod dort sei­nen Ein­zug ge­hal­ten hat; sie schi­en be­reits ein­ge­nickt zu sein.

Die Nacht brach her­ein. Der Pfar­rer trat auf Jo­han­na zu, fass­te sie bei der Hand, sprach ihr Mut ein und such­te durch geis­ti­ge Trös­tung einen heil­sa­men Bal­sam auf die Wun­den ih­res zer­ris­se­nen Her­zens zu träu­feln. Er sprach von der Da­hin­ge­schie­de­nen, er fei­er­te sie in be­red­ten Wor­ten, und in­dem er einen Schmerz zur Schau trug, der sei­ner pries­ter­li­chen Auf­fas­sung vom Le­ben nach dem Tode nicht ganz ent­sprach, bot er sich an, die Nacht be­tend bei der Lei­che zu­zu­brin­gen.

Aber Jo­han­na lehn­te zwi­schen ih­ren strö­men­den Trä­nen die­ses Aner­bie­ten ab. Sie woll­te al­lein sein, ganz al­lein in die­ser schmerz­li­chen Ab­schieds­nacht. »Aber das geht doch nicht; wir wol­len alle bei­de blei­ben«, misch­te sich Ju­li­us ein. Sie ver­nein­te durch ein Kopf­schüt­teln, un­fä­hig ein Wort zu spre­chen. »Es ist mei­ne Mut­ter, mei­ne ein­zi­ge Mut­ter. Ich will al­lein mit ihr sein« sag­te sie end­lich. »Las­sen Sie ihr den Wil­len;« mahn­te der Dok­tor »die Wär­te­rin kann im Ne­ben­zim­mer blei­ben.«

Der Pfar­rer und Ju­li­us füg­ten sich; bei­de wa­ren müde. Nun knie­te sich der Abbé Pi­cot sei­ner­seits nie­der, be­te­te, er­hob sich und ver­ab­schie­de­te sich mit den Wor­ten: »Es war eine Hei­li­ge« un­ge­fähr als wenn er sein »Do­mi­nus vo­bis­cum« sprach.

»Willst Du nicht et­was neh­men?« frag­te Ju­li­us, der sei­ne ge­wöhn­li­che Stim­me wie­der­er­langt hat­te. Jo­han­na ant­wor­te­te nicht; sie hat­te gar nicht be­merkt, dass er sich zu ihr ge­wandt hat­te. »Du wür­dest gut tun, et­was zu Dei­ner Stär­kung zu neh­men« be­gann er wie­der. »Schick nur schnell nach Papa« ant­wor­te­te sie halb un­wil­lig. Und er ging hin­aus, um einen be­rit­te­nen Bo­ten nach Rou­en zu schi­cken.

Sie blieb in ei­ner Art re­gungs­lo­sen Schmerz ver­sun­ken zu­rück, als hät­te sie dar­auf ge­war­tet, sich ganz der wo­gen­den Verzweif­lung in die­ser Stun­de des letz­ten Zu­sam­men­seins über­las­sen zu kön­nen.

Die Schat­ten der Nacht hat­ten sich auf das Ge­mach her­ab­ge­senkt und hüll­ten die Tote in Fins­ter­nis. Die Wit­we Den­tu trip­pel­te auf den Fuss­s­pit­zen um­her und such­te nach al­len mög­li­chen Din­gen, die sie mit der ge­räusch­lo­sen Art ei­ner Kran­ken­wär­te­rin hier und dort zu­recht­leg­te. Dann zün­de­te sie zwei Ker­zen an und stell­te sie lei­se auf den Nacht­tisch am Kop­fen­de des Bet­tes, den sie mit ei­nem wei­ßen Tu­che be­deckt hat­te.

Jo­han­na schi­en nichts zu se­hen und nichts zu hö­ren. Sie war­te­te dar­auf, al­lein zu sein. Ju­li­us kam zu­rück, nach­dem er ge­ges­sen hat­te. »Willst Du wirk­lich nichts zu Dir neh­men?« frag­te er noch­mals. Sie ver­nein­te aber­mals durch ein Kopf­schüt­teln.

Er setz­te sich mehr re­si­gniert wie trau­rig nie­der, und war­te­te, ohne wei­ter zu spre­chen.

 

So blie­ben sie alle drei, je­des für sich, auf ih­ren Plät­zen.

Hin und wie­der schnarch­te die ein­ge­schla­fe­ne Wär­te­rin; dann er­wach­te sie plötz­lich.

Ju­li­us er­hob sich end­lich und nä­her­te sich Jo­han­na. »Willst Du jetzt al­lein blei­ben?« Sie er­griff mit ei­ner un­will­kür­li­chen Hast sei­ne Hand und sag­te: »Ach ja! lass mich al­lein.«

»Ich wer­de von Zeit zu Zeit nach Dir se­hen«, mur­mel­te er, sie auf die Stirn küs­send. Und er ging mit der Wit­we Den­tu her­aus, die ih­ren Ses­sel ins Ne­ben­zim­mer roll­te.

Jo­han­na schloss die Tür; dann öff­ne­te sie weit die bei­den Fens­ter. Mit vol­len Zü­gen sog sie den Duft der draus­sen la­gern­den Heu­ern­te ein. Es war ge­ra­de zur­zeit, wo man den rei­chen Be­stand der Wie­sen ab­ge­mäht hat­te, der nun un­ter dem vol­len Mond­licht sei­nen wür­zi­gen Duft aus­ström­te.

Die­ses süs­se Emp­fin­den mach­te ihr übel; es ver­letz­te sie wie eine bit­te­re Iro­nie.

Sie nä­her­te sich wie­der dem Bet­te, er­griff die eine leb­lo­se kal­te Hand und be­trach­te­te ihre Mut­ter.

Sie war nicht mehr so an­ge­schwol­len, wie im Au­gen­blick des Un­falls und schi­en zu schla­fen; viel fried­li­cher so­gar, als es sonst bei ihr der Fall war. Die vom Luft­zu­ge hin und her­be­weg­ten Ker­zen­flam­men ver­än­der­ten je­den Au­gen­blick die Schat­ten auf ih­rem Ge­sicht, so­dass man hät­te den­ken sol­len, sie lebe und habe sich be­wegt.

Jo­han­na starr­te sie un­abläs­sig an, wäh­rend aus ih­rer frü­he­s­ten Ju­gend­zeit eine Fül­le von Erin­ne­run­gen auf sie ein­stürm­te.

Sie rief sich Müt­ter­chens Be­su­che im Sprech­zim­mer des Klos­ters vor Au­gen, die Art und Wei­se wie sie ihr die Düte voll Ku­chen gab; eine Men­ge Ein­zel­hei­ten, klei­ner Er­eig­nis­se, Zärt­lich­keits­be­wei­se, Wor­te, Re­dens­ar­ten, stän­di­ger Ge­bär­den, die Fal­ten um ihre Au­gen beim La­chen, der tie­fe er­stick­te Seuf­zer, mit dem sie sich nie­der­setz­te, das al­les kam ihr in Erin­ne­rung.

Und so stand sie da im An­schau­en ver­sun­ken im­mer wie­der die Wor­te »Sie ist tot« wie halb von Sin­nen vor sich her­mur­melnd. Erst all­mähl­lich ver­stand sie den gan­zen Um­fang der­sel­ben.

Die­ser Kör­per, der da ruh­te – Mama – ihr Müt­ter­chen – Ma­da­me Ade­lai­de, war also tot. Sie wür­de sich nie mehr re­gen, nie mehr spre­chen, nie mehr la­chen, nie­mals mehr Papa ge­gen­über bei Ti­sche sit­zen. Sie wür­de nie mehr »Gu­ten Mor­gen Jean­net­te« sa­gen. Sie war eben tot!

Man wür­de sie in einen Sarg le­gen und sie be­gra­ben, und dann war al­les zu Ende. Man wür­de sie nicht mehr se­hen. War das mög­lich? Hat­te sie denn wirk­lich kein Müt­ter­chen mehr? Die­ses teu­re, trau­te Ant­litz, in das sie ge­schaut von dem Au­gen­blick an, wo sie die Au­gen ge­öff­net hat­te, das sie ge­liebt von der Mi­nu­te an, wo sie die Ärm­chen aus­brei­ten konn­te; die­ser Ge­gen­stand ih­rer gan­zen Zärt­lich­keit, die­ses ein­zi­ge We­sen, die Mut­ter, dem Her­zen teu­rer als alle and­ren We­sen, exis­tier­te nicht mehr. Sie konn­te es nur noch ei­ni­ge Stun­den be­trach­ten die­ses re­gungs­lo­se star­re Ant­litz. Und dann nichts, nichts mehr! nur noch eine Erin­ne­rung.

Sie warf in ei­nem furcht­ba­ren An­fall von Verzweif­lung sich auf die Knie und krall­te die Hän­de krampf­haft in die Fal­ten des Lei­nen­tu­ches. »Ach Mut­ter, mei­ne arme Mut­ter, mei­ne Mut­ter!« rief sie mit herz­zer­reis­sen­der Stim­me, hal­b­er­stickt in den De­cken und Kis­sen, wäh­rend sie den Mund auf das Bett­zeug press­te.

Als sie sich dann wie­der ganz von Sin­nen fühl­te, so von Sin­nen wie da­mals in je­ner Nacht ih­rer Flucht durch den Schnee, sprang sie auf und rann­te ans Fens­ter, um sich zu er­fri­schen und die Luft ein­zuat­men, von der die Tote da auf ih­rem letz­ten Ru­he­la­ger nichts mehr spür­te.

Der ab­ge­mäh­te Ra­sen, die Bäu­me, die Hei­de, das Meer da drü­ben la­gen in fried­li­chem Schwei­gen, ent­schlum­mert un­ter dem mil­den Lich­te des Mon­des. Auch in Jo­han­nas Herz drang et­was von die­ser be­ru­hi­gen­den Mil­de und sie be­gann lang­sam zu wei­nen.

Dann kehr­te sie wie­der an das Bett zu­rück und setz­te sich nie­der, die eine Hand in die ih­ri­ge neh­mend, als wach­te sie bei ei­ner Kran­ken.

Ein großer Nacht­schmet­ter­ling, war an­ge­zo­gen von dem Licht­schim­mer, her­ein­ge­flo­gen. Er schlug an die Wän­de wie ein Ball, und flog von ei­nem Ende des Zim­mers zum an­de­ren. Jo­han­na, von sei­nem schnur­ren­den Flu­ge auf­merk­sam ge­wor­den, hob die Au­gen um nach ihm aus­zu­schau­en. Aber sie be­merk­te nichts, als sei­nen Schat­ten, der an der wei­ßen Zim­mer­de­cke um­her­irr­te.

Dann hör­te sie nichts mehr. Doch nun ver­nahm sie das »Tik-Tak« der Stutz­uhr und ein an­de­res leich­tes Geräusch, oder viel­mehr ein fast kaum be­merk­ba­res Sau­sen. Es war Müt­ter­chens Ta­schen­uhr die, ver­ges­sen in ih­rem Klei­de auf ei­nem Stuh­le, noch im­mer wei­ter ging. Und plötz­lich brach der et­was ver­hal­te­ne bitt­re Schmerz in ih­rem Her­zen aufs neue her­vor, wie sie das klei­ne wei­ter­ge­hen­de Uhr­werk an die leb­lo­se Tote da auf dem Bet­te er­in­ner­te.

Sie sah nach der Zeit. Es war halb elf. Eine furcht­ba­re Angst, die­se gan­ze Nacht da zu­zu­brin­gen, er­griff sie.

An­de­re Erin­ne­run­gen tauch­ten vor ih­ren Au­gen auf: Aus ih­rem ei­ge­nen Le­ben – Ro­sa­lie, Gil­ber­te – die bit­te­ren Ent­täu­schun­gen ih­res Her­zens. Al­les war doch nur Elend, Trüb­sal, Un­glück und Tod. Al­les täusch­te, al­les log, brach­te Leid und Trä­nen. Wo fand sich denn noch ein freund­li­ches Ru­he­plätz­chen? Im an­de­ren Le­ben je­den­falls. Wenn die See­le vom Er­den­staub be­freit war. Die See­le! Sie be­gann über die­ses un­er­forsch­li­che Ge­heim­niss nach­zu­grü­beln in dem sie sich plötz­lich je­nen poe­sie­vol­len Träu­me­rei­en hin­gab, wo eine Vor­stel­lung der an­de­ren folgt, ohne ein Bild zu schaf­fen. Wo weil­te wohl jetzt die See­le ih­rer Mut­ter? Die See­le, die zu die­sem re­gungs­lo­sen eis­kal­ten Kör­per ge­hört hat­te? Wohl weit von hier. Ir­gend­wo im un­er­mess­li­chen Him­mels­rau­me. Aber wo? Ver­flüch­tet wie der Duft ei­ner ab­ge­stor­be­nen Blu­me? Oder plan­los um­her­schwei­fend wie ein un­sicht­ba­rer Vo­gel, der dem Kä­fig ent­schlüpft ist?

War sie zu Gott zu­rück­ge­kehrt? Oder be­lie­big un­ter neu­en Schöp­fun­gen ver­streut, mit Kei­men ver­mischt, die zur Frucht her­an­reif­ten?

Ganz in ih­rer Nähe viel­leicht? Weil­te sie etwa noch in die­sem Zim­mer, um­kreis­te sie den star­ren Kör­per, den sie ver­las­sen? Jo­han­na glaub­te einen Hauch zu ver­spü­ren, wie die Berüh­rung ei­nes Geis­tes. Sie hat­te Furcht, ge­wal­ti­ge Furcht, so hef­tig, dass sie sich kaum zu re­gen wag­te; ihr Atem stock­te, sie ver­moch­te nicht sich um­zu­wen­den, um hin­ter sich zu schau­en. Ihr Herz poch­te laut vor Ent­set­zen.

Plötz­lich nahm der Schmet­ter­ling sei­nen un­sicht­ba­ren Flug wie­der auf und be­gann rings an die Wän­de zu klat­schen. Ein Schau­er durch­rie­sel­te sie von oben bis un­ten; aber dann er­kann­te sie das Brum­men des ge­flü­gel­ten We­sens wie­der und be­ru­hig­te sich. Sie er­hob sich und wand­te sich um. Ihr Blick fiel auf den Schreib­tisch mit den Sphinx-Köp­fen, den Auf­be­wah­rungs­ort der »Re­li­qui­en.«

Eine son­der­ba­re zart­füh­len­de Idee durch­zuck­te ihr Hirn. Sie woll­te le­sen, le­sen in die­sen der To­ten so teu­ren Brie­fen, heu­te in der Stun­de der letz­ten Nacht­wa­che, wie sie ein from­mes Buch ge­le­sen ha­ben wür­de. Es kam ihr vor, als er­fül­le sie eine süs­se hei­li­ge Pf­licht, einen Akt kind­li­cher Pie­tät, der der To­ten drü­ben in der and­ren Welt Freu­de be­rei­ten wür­de.