Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Dort blieb er und starr­te ins Was­ser wäh­rend er sich zu­wei­len mit ei­ner has­ti­gen Be­we­gung sei­ner ner­vö­sen Hand eine Trä­ne aus dem Auge wisch­te.

Er war näm­lich, ohne zu wis­sen warum, trotz sei­nes Zart­ge­fühls, trotz sei­nes Ver­stan­des, und trotz sei­nes bes­se­ren Wol­lens ver­liebt, wahn­sin­nig ver­liebt so­gar. Die­se Lie­be hat­te ihn mit­ge­ris­sen wie der Wir­bel im Stro­me. Von Na­tur aus weich und emp­find­sam, hat­te er von ganz idea­len Ver­hält­nis­sen ge­träumt, die auf wah­rer Zu­nei­gung be­ruh­ten; und nun hat­te die­ser Heuschreck von ei­nem Mäd­chen, roh und un­ge­bil­det wie alle Ihres­glei­chen, und zwar von ei­ner ab­schre­cken­den er­bit­tern­den Ro­heit, die­ses Mäd­chen, das nicht ein­mal hübsch, son­dern ma­ger und reiz­bar war, ihn ganz be­fan­gen. Er ge­hör­te ihr von Kopf bis zu den Füs­sen mit Leib und See­le. Er war ein Skla­ve je­ner eben­so ge­heim­niss­vol­len wie all­mäch­ti­gen Zau­ber­kraft des Wei­bes ge­wor­den, je­ner un­be­kann­ten Macht, je­ner zü­gel­lo­sen Herr­schaft, von der nie­mand weiß, wo­her sie kommt; je­nes Dä­mons des Flei­sches, der den wei­ses­ten Mann zu den Füs­sen ir­gend ei­ner Dir­ne wirft, ohne dass man sich den Grund ih­rer Zau­ber­macht und ih­rer An­zie­hungs­kraft er­klä­ren kann.

Und da drü­ben, hin­ter sei­nem Rücken – das fühl­te er in­stink­tiv – wur­de ir­gend eine Ge­mein­heit aus­ge­brü­tet. Das La­chen von dort­her schnitt ihm ins Herz. Was soll­te er tuen? Ach, er wuss­te es nur zu gut; aber es fehl­te ihm der Mut dazu.

Er be­trach­te­te un­ver­wandt einen Fi­scher, der re­gungs­los wie ein Pfahl am jen­sei­ti­gen Ufer stand.

Plötz­lich zog der­sel­be mit ei­nem Ruck einen klei­nen sil­ber­glän­zen­den Fisch aus dem Was­ser, der hef­tig an der An­gel zap­pel­te. Je­ner ver­such­te nun den Wi­der­ha­ken los­zu­ma­chen, wo­bei er ihn dreh­te und wand­te, aber ver­geb­lich; da riss ihm die Ge­duld und mit ei­ner hef­ti­gen Be­we­gung zog er den blu­ti­gen Sch­lund und einen Teil der Ein­ge­wei­de des ar­men Tie­res her­aus. Paul schau­der­te, als ob ihm selbst das Herz zer­ris­sen wür­de. Für ihn, den Fisch, war die Lie­be der Wi­der­ha­ken, und mit ihm riss man ihm eben­falls sein gan­zes In­ne­re her­aus wie an ei­ner An­gel­schnur, die Ma­de­lei­ne in der Hand hielt.

Eine Hand leg­te sich auf sei­ne Schul­ter, und schau­dernd wand­te er sich um; sei­ne Ge­lieb­te stand hin­ter ihm. Sie wech­sel­ten kein Wort und sie lehn­te sich gleich ihm über das Ge­län­der die Au­gen auf den Fluss ge­hef­tet.

Er such­te nach Wor­ten; aber er fand kei­ne; nicht ein­mal sei­ne Ge­dan­ken konn­te er aus­ein­an­der­hal­ten. Al­les, was er deut­lich emp­fand, war die Freu­de, sie wie­der bei sich zu wis­sen; es über­kam ihn eine schimpf­li­che Schwä­che, ein Be­dürf­nis, al­les zu ver­zei­hen und al­les zu er­lau­ben, wenn sie nur bei ihm blieb.

End­lich nach ei­ni­gen Mi­nu­ten frag­te er sie mit sanf­ter Stim­me:

»Wol­len wir nicht fort­ge­hen? Ich glau­be, auf dem Was­ser wird es hüb­scher sein.«

»Ja mein Herz!« ant­wor­te­te sie.

Und er half ihr beim Ein­stei­gen ins Boot, in­dem er sie stütz­te, wo­bei er ihr, noch ei­ni­ge Trä­nen im Auge, zärt­lich die Hand drück­te. Sie sah ihn lä­chelnd an und sie küss­ten sich aufs Neue.

Lang­sam fuh­ren sie strom­auf­wärts dem wei­den­be­setz­ten Ufer ent­lang; sei­ne grü­nen­den Rän­der la­gen träu­mend und ru­hig in der Glut der Nach­mit­tags­son­ne.

Als sie wie­der beim Re­stau­rant Gril­lon an­ka­men, war es eben sechs Uhr; sie gin­gen nun, nach­dem sie das Boot ver­las­sen, auf der In­sel, durch grü­nen­de Wie­sen längs der Pap­pel­rei­he des Ufers nach Be­z­ons zu.

Die großen zum Mä­hen rei­fen Gras­flä­chen wa­ren mit Blu­men über­sä­et, auf wel­che die sin­ken­de Son­ne ihre röt­li­chen Strah­len warf; süs­ser Wohl­ge­ruch ent­stieg in der mil­den Wär­me des zur Rüs­te ge­hen­den Ta­ges den Bo­den und misch­te sich mit den feuch­ten Düns­ten des Was­sers. Es war, als la­ge­re eine un­sicht­ba­re Wol­ke von weich­li­chem woh­li­gen Glück und stil­lem Be­ha­gen über der Erde.

Die­ser ru­hi­ge Glanz der Abend­son­ne, die­ser ge­heim­nis­vol­le Schau­er erster­ben­den Le­bens mit sei­ner le­ben­di­gen me­lan­cho­li­schen Fan­ta­sie, der Pflan­zen und We­sen er­grif­fen und sich über al­les aus­ge­brei­tet zu ha­ben schi­en, muss­te un­will­kür­lich auch dem Men­schen­her­zen in die­ser Stun­de den Stem­pel sei­nes stil­len Glückes auf­drücken.

Paul emp­fand das auch leb­haft, wäh­rend sie das al­les nicht be­rühr­te. Sie gin­gen ne­ben­ein­an­der und plötz­lich be­gann sie, des Schwei­gens müde, zu sin­gen. Sie sang mit dün­ner, falscher Stim­me ir­gend einen Gas­sen­hau­er, der ihr ge­ra­de durch den Kopf ging, und der einen grel­len Miss­klang in die­se tie­fe rei­ne Har­mo­nie des Abends brach­te.

Er sah sie an, und fühl­te jetzt, dass eine un­über­wind­li­che Kluft zwi­schen ih­nen be­stand. Sie aber schlug un­be­küm­mert die Grä­ser mit ih­rem Son­nen­schirm ab, und be­trach­te­te, den Kopf ein we­nig nei­gend, ihre Schu­he; da­bei sang sie ru­hig wei­ter, hielt die Schluss­no­ten un­ver­hält­nis­mäs­sig lan­ge an und ver­such­te sich so­gar schliess­lich in Läu­fen und Tril­lern.

Ihr klei­ner zier­li­cher Kopf, den er so zärt­lich lieb­te, war also leer, leer von ir­gend­wel­chen idea­le­ren Emp­fin­dun­gen. Nichts hat­te dar­in Platz, als höchs­tens die­se Gas­sen­hau­er-Mu­sik; und die Ge­dan­ken, die sich sonst noch dar­in bil­den moch­ten, sa­hen der­sel­ben ähn­lich. Sie hat­te kein Ver­ständ­nis für ihn; sie stan­den sich frem­der ge­gen­über, als wenn sie je­mals zu­sam­men ge­lebt hät­ten. Ihre Küs­se reich­ten also nicht wei­ter wie ihre Lip­pen!

Da hob sie lä­chelnd die Au­gen zu ihm em­por und so­fort war er wie­der aufs In­ners­te be­wegt. Er öff­ne­te die Arme und schloss sie mit neu­er­wa­chen­der Lie­be zärt­lich an sein Herz.

Sie schob ihn schliess­lich zu­rück, als sie sah, dass er ihr Kleid zer­drück­te und sag­te da­bei be­gü­ti­gend: »Geh, Schatz! Du weißt ja, dass ich Dich lie­be.«

Aber er hielt sie um­schlun­gen, und ganz von Sin­nen be­gann er mit ihr da­von­zu­lau­fen, wo­bei er sie im­mer wie­der auf Wan­ge, Schlä­fen, Hals und Lip­pen küss­te. Keu­chend mach­ten sie schliess­lich vor ei­nem Ge­bü­sche Halt, wel­ches die letz­ten Strah­len der Abend­son­ne ver­gol­de­te und, noch ganz aus­ser Atem, kos­te­ten sie dar­in den Be­cher der Lie­be bis zur Nei­ge, ohne dass sie ih­rer­seits sich die­ses plötz­li­che Über­wal­len sei­ner Ge­füh­le er­klä­ren konn­te.

Hand in Hand ka­men sie zu­rück, als sie plötz­lich durch das Laub der Bäu­me hin­durch auf dem Flus­se das Boot der vier Les­bie­rin­nen be­merk­ten. Auch sie wur­den von der di­cken Pau­li­ne be­merkt, die sich um­wand­te und Ma­de­lei­ne Kuss­hän­de her­über­schick­te, wor­auf sie noch rief: »Heu­te Abend also.«

»Ja­wohl, heu­te Abend« ant­wor­te­te die­se.

Paul fühl­te plötz­lich sein Herz zu Eis er­star­ren.

Sie gin­gen zum Es­sen zu­rück. Un­ter ei­ner der Lau­ben am Was­ser lies­sen sie sich nie­der und ver­zehr­ten still­schwei­gend ihr Mahl. Als es zu dun­keln be­gann, brach­te man ein Licht, das zum Schutz ge­gen den Luft­zug in ei­nem grü­nen Gla­se brann­te und ihre Ge­sich­ter mit ei­nem fah­len Schim­mer über­goss. Alle Au­gen­bli­cke hör­te man das schal­len­de Ge­läch­ter der Kahn­fah­rer aus dem Saal des ers­ten Stockes her­über­schal­len.

Beim Des­sert er­griff Paul zärt­lich Ma­de­lei­nes Hand und sag­te: »Ich füh­le mich sehr müde; wenn es Dir recht ist, wol­len wir bei Zei­ten schla­fen ge­hen.

Aber sie hat­te sei­ne List ver­stan­den und warf ihm einen je­ner schar­fen durch­drin­gen­den Bli­cke zu, die so oft plötz­lich im Auge der Frau auf­zut­au­chen pfle­gen.

»Du kannst Dich schla­fen le­gen,« sag­te sie nach kur­z­em Be­sin­nen, »wann es Dir be­liebt; ich habe noch ver­spro­chen nach dem Frosch­teich zum Tanz zu kom­men.«

Ein kläg­li­ches Lä­cheln um­spiel­te sei­ne Lip­pen, ein Lä­cheln mit dem man die tiefs­ten Lei­den zu ver­schlei­ern sucht, als er jetzt im trü­ben aber zärt­li­chen Tone sag­te: »Wenn Du lieb wä­rest, könn­ten wir bei­de hier blei­ben.« Ohne den Mund zu öff­nen, mach­te sie mit dem Kop­fe eine ab­wei­sen­de Be­we­gung. Er wur­de drin­gen­der.

»Ich bit­te Dich drum, Lieb­chen!«

»Du weißt,« sag­te sie brüsk, »was ich ge­sagt habe. Wenn Du nicht Ruhe gibst, so ist der Weg frei. Es hält Dich nie­mand. Was mich be­trifft, so habe ich es ver­spro­chen und ich wer­de ge­hen.«

Er stütz­te bei­de El­len­bo­gen auf den Tisch, senk­te das Haupt auf die Hän­de und starr­te sie eine Wei­le trau­rig an.

Die Kahn­fah­rer ka­men in­des­sen un­ter mun­trem La­chen her­un­ter, und be­stie­gen ihre Fahr­zeu­ge, um den Ball im »Frosch­teich« nicht zu ver­säu­men.

»Ent­schei­de Dich, ob Du mit­kommst«, sag­te Ma­de­lei­ne zu ih­rem Beglei­ter, »sonst bit­te ich einen der Her­ren, mich mit­zu­neh­men.«

»Lass uns ge­hen« mur­mel­te Paul sich er­he­bend. Und sie gin­gen.

Die Nacht war ster­nen­hell, die Luft wür­zig und von mil­dem, süs­sen Hauch be­wegt, der lind die Stirn um­schmei­chel­te.

Die Boo­te setz­ten sich, eine bun­te La­ter­ne am Stern füh­rend, in Be­we­gung«. Man konn­te die ein­zel­nen Fahr­zeu­ge nicht un­ter­schei­den, son­dern sah nur die zahl­lo­sen bun­ten Lich­ter auf dem Was­ser auf- und ab­tan­zend, lang­sam da­hinglei­ten, so­dass man hät­te glau­ben kön­nen, ein Ge­wim­mel von Irr­lich­tern vor sich zu ha­ben, wenn nicht das rohe Ge­läch­ter der Kahn­fah­rer die An­we­sen­heit von Men­schen ver­kün­det hät­te.

Pauls Boot glitt lang­sam da­hin. Zu­wei­len, wenn ein frem­des Boot dem ih­ri­gen zu nahe kam, be­merk­ten sie plötz­lich im Schim­mer der La­ter­ne den wei­ßen Rücken sei­nes Füh­rers.

 

Als sie die Bie­gung des Flus­ses er­reicht hat­ten, sa­hen sie von wei­tem den »Frosch­teich« vor sich lie­gen. Das Eta­blis­se­ment war mit Guir­lan­den von bun­ten Lam­pen und Licht­glo­cken fest­lich ge­schmückt. Auf der Sei­ne schwam­men ei­ni­ge große Fäh­ren, wel­che Kup­peln, Py­ra­mi­den und an­de­re wun­der­ba­re Auf­baue in al­ler­lei Far­ben tru­gen. Flam­men­de Ge­win­de zo­gen sich bis zum Ufer her­ab; und ei­ni­ge rote oder blaue Fa­ckeln, von ei­ner mäch­ti­gen un­sicht­ba­ren Pech­pfan­ne ge­nährt, sa­hen von wei­tem wie frei­schwe­ben­de Ster­ne aus.

Die­se im­po­san­te Be­leuch­tung ver­brei­te­te ein hel­les Licht rings um das gan­ze Café, be­strahl­te die ho­hen Ufer­bäu­me von un­ten bis oben, so­dass nur ihre Wur­zeln in ei­nem blei­chen Grau ver­schwan­den, wäh­rend die Blät­ter mit ih­rem fah­len Grün sich wun­der­bar von dem tie­fen Schwarz des Him­mels ab­ho­ben.

Das Or­che­s­ter be­stand aus fünf Vor­stadt-Mu­si­kern, und schon von wei­tem hör­te man sei­ne dün­ne quie­ken­de und gel­len­de Mu­sik, bei de­ren Tö­nen Ma­de­lei­ne aufs Neue zu sin­gen be­gann.

Sie woll­te so­fort her­ein­ge­hen; Paul hät­te zwar vor­her einen Gang auf der In­sel ge­macht, muss­te aber wie im­mer, nach­ge­ben.

Die Ge­sell­schaft hat­te sich et­was ge­klärt; es wa­ren fast nur die Kahn­fah­rer, ei­ni­ge we­ni­ge Bür­ger und eine An­zahl jun­ger Leu­te mit ih­ren Mäd­chen zu­rück­ge­blie­ben. Der Di­rek­tor und Lei­ter die­ses Kan­k­ans, der sehr wür­dig in schwar­zem Frack, mit sei­nem ver­wit­ter­ten Ge­sicht und dem gan­zen Ha­bi­tus ei­nes Ver­gnü­gungs-Kom­missars der al­ten Zeit, ein­her­ging, hat­te es nicht schwer, sich hier An­se­hen zu ver­schaf­fen.

Paul at­me­te er­leich­tert auf, als er die di­cke Pau­li­ne und ihre Ge­fähr­tin nicht hier fand.

Der Tanz be­stand dar­in, dass sich die Paa­re ge­gen­über be­weg­ten, die tolls­ten Sprün­ge mach­ten und mit ih­ren Fuss­s­pit­zen wo­mög­lich un­ter der Nase ih­res Ge­gen­übers her­um­fuh­ren. Die »Da­men,« de­ren Glie­der aus den Ge­len­ken ge­löst zu sein schie­nen, hat­ten ihre Klei­der hoch­ge­ho­ben und zeig­ten ihre Un­ter­rö­cke. Ihre Bei­ne wir­bel­ten sie mit über­ra­schen­der Leich­tig­keit um den Kopf; sie wieg­ten ih­ren Leib, wa­ckel­ten mit den Hüf­ten, und schüt­tel­ten die Brust, wo­bei sie sich so leb­haft um sich selbst dreh­ten, dass sie schliess­lich in Schweiß ge­ba­det wa­ren.

Die »Her­ren« hock­ten sich wie die Krö­ten mit zwei­fel­haf­ten Ge­bär­den nie­der, ver­dreh­ten un­ter scheuss­li­chen Gri­mas­sen ih­ren Kör­per, schlu­gen ein Rad über der Hand oder such­ten die Ko­mik in über­trie­ben stei­fer Hal­tung und ei­ner lä­cher­li­chen Gran­dez­za.

Eine di­cke Kell­ne­rin und zwei Kell­ner sorg­ten für die Wün­sche der Gäs­te.

Merk­wür­dig in der Tat hob sich von der fried­li­chen Stil­le der Nacht un­ter dem ru­hi­gen Ster­nen­him­mel die­ses Schiffs­kaf­fee ab, das, nur mit ei­nem Da­che ver­se­hen, durch kei­ne Schran­ke von der Aus­sen­welt ge­trennt, die­sem zü­gel­lo­sen Tan­ze als Stät­te diente.

Plötz­lich schi­en sich der alte Mont-Va­le­ri­en da un­ten zu er­hel­len, als ob in sei­nem Rücken eine Feu­ers­brunst ent­stan­den wäre. Die­se Hel­lig­keit wur­de im­mer grös­ser und schär­fer, drang hö­her zum Him­mel hin­auf und be­schrieb mit ih­rem fah­len weiß­li­chen Schim­mer einen großen Licht­kreis. Dann zeig­te sich et­was Ro­tes, wur­de grös­ser und bren­nend wie ge­schmol­ze­nes Me­tall, bis es die Ge­stalt ei­ner Ku­gel an­nahm, die von der Erde em­por­stieg. Es war der Mond, der sich als­bald vom Ho­ri­zont ab­lös­te, um lang­sam sei­ne Him­mels­bahn zu wan­deln. Je wei­ter er auf­stieg, umso mehr schwand sein pur­pur­ner Schim­mer, und sein Licht wur­de gel­ber; es war ein lich­tes auf­fal­len­des Gelb. Auf der zu­rück­ge­leg­ten Bahn wa­ren die Ster­ne ver­lo­schen.

Paul sah ihm lan­ge zu und hat­te, in sei­ner Be­trach­tung ver­lo­ren, sei­ne Ge­fähr­tin ganz ver­ges­sen. Als er sich um­sah, war sie ver­schwun­den.

Ver­geb­lich such­te er nach ihr, in­dem er sein un­stä­tes Auge ängst­lich über alle Ti­sche schwei­fen ließ, und auch wohl die­sen oder je­nen nach ihr frag­te. Nie­mand hat­te sie in­des­sen ge­se­hen.

So irr­te er voll quä­len­der Un­ru­he um­her, als ihm ei­ner der Kell­ner sag­te:

»Sie su­chen Ma­da­me Ma­de­lei­ne, nicht wahr? So­eben ist sie mit Ma­da­me Pau­li­ne fort­ge­gan­gen.« Und in dem­sel­ben Au­gen­blick sah er auch am an­de­ren Ende des Café den Ma­tro­sen und die bei­den hüb­schen Mäd­chen, wel­che sich alle drei um­fasst hiel­ten und ihn flüs­ternd be­trach­te­ten.

Er ver­stand und stürz­te wie ein Ra­sen­der auf die In­sel hin­aus.

Zu­erst lief er auf Cha­tou zu; aber vor der Wie­se mäs­sig­te er sei­ne Schrit­te. Dann be­gann er wie traum­ver­lo­ren durch das dich­te Ge­büsch zu strei­fen, in­dem er hin und wie­der ste­hen blieb, um zu hor­chen.

Über­all lies­sen rings­um die Un­ken ih­ren kur­z­en kla­gen­den Ruf er­schal­len.

Von Bou­gi­val her er­tön­te der ein­för­mi­ge Ge­sang ir­gend ei­nes frem­den Vo­gels nur schwach bei der Ent­fer­nung ver­nehm­bar. Auf dem wei­ten Ra­sen ver­brei­te­te der Mond sein mil­des Licht, so­dass er wie mit Wat­te be­deckt schi­en. Die­ses Licht drang durch das Blät­ter­werk, ver­sil­ber­te das Laub der Pap­peln, und ver­gol­de­te die flüs­tern­den Wip­fel der großen Bäu­me. Die be­rau­schen­de Poe­sie die­ses Som­mer­abends pack­te Paul trotz sei­nes Sträu­bens, sie mil­der­te sei­ne tö­rich­te Furcht und trieb ihr Spiel mit sei­nem Her­zen, in­dem sie in sei­nem sanf­ten und sin­nen­den Ge­mü­te das idea­le Ver­lan­gen nach Lie­be und lei­den­schaft­li­cher Er­wi­de­rung im Bu­sen ei­ner an­ge­be­te­ten und treu­en Ge­lieb­ten bis zur Ra­se­rei stei­ger­te.


Sei­ne wild und stür­misch her­vor­bre­chen­den Trä­nen zwan­gen ihn, ste­hen zu blei­ben.

Als der An­fall vor­über war, ging er wei­ter. Plötz­lich durch­drang es ihn wie ein Mes­ser­stich: Man küss­te sich da hin­ten im Ge­büsch. Er lief hin, und sah ein Lie­bespär­chen, wel­ches durch sei­ne An­nä­he­rung aus ei­ner lan­gen in­ni­gen Umar­mung auf­ge­scheucht, sich schleu­nigst ent­fern­te.

Er wag­te nicht, nach Ma­de­lei­ne zu ru­fen, denn er wuss­te nur zu gut, dass sie ihm nicht ant­wor­ten wür­de; und zu­gleich hat­te er eine schreck­li­che Angst da­vor, sie plötz­lich zu ent­de­cken.

Die Töne der Qua­dril­le mit den schril­len Pi­ston-So­los, das falsche Ge­quie­ke der Kla­ri­net­te, die krei­schen­de Stim­me der Vio­li­ne zer­ris­sen sein Herz und stei­ger­ten sein Elend. Die wil­de lär­men­de Mu­sik klang bald stär­ker bald schwä­cher durch die Räu­me, je nach­dem ein Wind­sto­ss sie her­über­trug oder nicht.

Plötz­lich frag­te er sich, ob »sie« viel­leicht zu­rück­ge­kehrt wäre? Ja, sie war je­den­falls zu­rück­ge­kom­men! Wa­rum soll­te sie auch nicht? Er hat­te ohne Grund den Kopf ver­lo­ren, hat­te sich ganz sinn­los von sei­nem Schre­cken fort­reis­sen las­sen, und ohne Über­le­gung ei­nem halt­lo­sen Ver­dach­te Raum ge­ge­ben.

Und von je­ner selt­sa­men Ruhe er­grif­fen, die zu­wei­len der gröss­ten Verzweif­lung folgt, kehr­te er zum Bal­le zu­rück.

Mit ei­nem Blick durch­flog er den Saal; sie war nicht dort. Er mach­te einen Gang um die Ti­sche und sah sich plötz­lich aufs Neue den drei Wei­bern ge­gen­über. Er moch­te je­den­falls eine sehr ver­zwei­fel­te ko­mi­sche Mie­ne ha­ben, denn alle drei bra­chen gleich­zei­tig in lau­tes La­chen aus.

Er stürz­te da­von und be­gann wie­der­um atem­los die Ge­bü­sche der In­sel zu durch­for­schen. Dann horch­te er aufs Neue – er lausch­te lan­ge, denn sei­ne Ohren saus­ten; und schliess­lich glaub­te er et­was wei­ter ein leich­tes durch­drin­gen­des La­chen zu hö­ren, wel­ches er nur zu gut kann­te. Ganz lei­se schob er sich vor­wärts, vor­sich­tig die Zwei­ge aus­ein­an­der­bie­gend; sein Herz schlug so hef­tig, dass er kaum noch at­men konn­te.

Zwei Stim­men mur­mel­ten Wor­te, die er noch nicht ver­ste­hen konn­te. Dann schwie­gen sie.

Da er­griff ihn ein mäch­ti­ger Drang zu flie­hen, nichts zu se­hen und nichts zu er­fah­ren, sich für im­mer von die­ser tö­rich­ten ver­zeh­ren­den Lei­den­schaft los­zu­reis­sen. Er woll­te nach Cha­tou ge­hen, den Zug nach Pa­ris be­stei­gen und nie­mals zu ihr zu­rück­keh­ren, sie nie­mals wie­der­se­hen. Aber nun er­griff ihn wie­der die Ein­bil­dungs­kraft und er stell­te sich im Geis­te vor, wie sie am Mor­gen in ih­rem wei­chen war­men Bet­te er­wa­chend sich zärt­lich an ihn schmie­gen und ihn um­ar­men wür­de, er sah sie mit ih­ren auf­ge­lös­ten Haa­ren, ih­ren halb­ge­schlos­se­nen Au­gen und den zum ers­ten Mor­gen­kuss be­rei­ten Lip­pen. Und bei der Erin­ne­rung an die­se so oft er­leb­te Sze­ne er­griff ihn hef­ti­ger Schmerz und neu­es Ver­lan­gen.

Er hör­te aufs Neue spre­chen und tief ge­bückt schlich er wei­ter vor. Da tön­te ein leich­ter Auf­schrei ganz dicht vor ihm un­ter den Zwei­gen her­vor. Ein Auf­schrei! Ei­ner je­ner Lie­bes­schreie, wie er sie so oft in frü­he­ren Ko­se­stun­den ver­nom­men. Im­mer wei­ter, im­mer lei­ser schlich er vor; un­wi­der­steh­lich trieb es ihn ins Ge­büsch, ohne dass er sich selbst noch Re­chen­schaft von sei­nem Han­deln gab, und … da sah er sie vor sich.

Oh, wenn es ein Mann ge­we­sen wäre, der an­de­re da! Aber so! so! Er war wie ge­bannt von die­ser Schänd­lich­keit. Un­be­weg­lich, be­sin­nungs­los stand er da, als wenn er plötz­lich einen teu­ren Leich­nam ge­schän­det vor sich ge­se­hen hät­te, als wenn er ein un­na­tür­li­ches Ver­bre­chen, eine ent­setz­li­che him­mel­schrei­en­de Ent­wei­chung ent­deck­te.

Da fiel ihm ganz un­will­kür­lich der klei­ne Fisch ein, des­sen Ein­ge­wei­de er hat­te her­aus­reis­sen se­hen … Aber Ma­de­lei­ne mur­mel­te ge­ra­de »Pau­li­ne!« mit dem­sel­ben lei­den­schaft­li­chen Tone wie sie sonst »Paul« zu ihm sag­te, und er wur­de von so tie­fem Schmerz er­grif­fen, dass er aus Lei­bes­kräf­ten da­von­lief.

Er rann­te an ver­schie­de­ne Bäu­me, stürz­te über eine Wur­zel, raff­te sich wie­der auf und stand plötz­lich am Flus­se, vor dem le­ben­den Arm. Der brau­sen­de Strom bil­de­te hier große Wir­bel, in de­nen sich das tan­zen­de Licht des Mon­des spie­gel­te. Das hohe Ufer über­rag­te an die­ser Stel­le das Was­ser wie eine Mau­er; ein dunk­ler Strei­fen un­ter­halb des­sel­ben be­zeich­ne­te die Stel­le, wo sich im tie­fen Schat­ten das Stau­was­ser des Flus­ses bil­de­te.

Am and­ren Ufer er­ho­ben sich in vol­ler Klar­heit die Land­häu­ser von Crois­sy.

Paul sah dies al­les wie im Trau­me, wie eine Erin­ne­rung die hin­ter ihm lag. Er dach­te an nichts, hat­te für nichts mehr Ver­ständ­nis, und alle Din­ge, so­gar sein ei­ge­nes Da­sein wa­ren für ihn wie im Ne­bel gehüllt; fern­lie­gend, ver­ges­sen, ver­nich­tet.

Da lag der Fluss! Be­griff er, was er tat? Woll­te er ster­ben? Er war när­risch ge­wor­den. Noch ein­mal in­des­sen wand­te er sich nach dem In­nern der In­sel zu­rück, und in die ru­hi­ge Nacht­luft hin­ein, in der nur hin und wie­der die Töne der ent­fern­ten Mu­sik er­klan­gen, ließ er mit ver­zweif­lungs­vol­ler, gel­len­der, über­mensch­li­cher Stim­me einen furcht­ba­ren Schrei er­schal­len: »Ma­de­lei­ne!«

Sein herz­zer­reis­sen­der Ruf drang durch die schwei­gen­de Nacht weit hin­aus.

Dann sprang er mit ei­nem mäch­ti­gen Satz, wie sinn­los, in den Fluss. Das Was­ser sprüh­te hoch auf, dann schloss es sich wie­der und an der Stel­le, wo er ver­schwun­den war, bil­de­te sich eine An­zahl klei­ner Krei­se, die ihre schim­mern­den Um­ris­se all­mäh­lich bis zum an­de­ren Ufer aus­dehn­ten.

Die bei­den Mäd­chen hat­ten den Schrei ver­nom­men. »Das ist Paul«, sag­te Ma­de­lei­ne auf­sprin­gend, Ein Ver­dacht stieg in ihr auf. »Er hat sich er­tränkt«, fuhr sie fort. Sie sprang nach dem Flus­se, wo­hin ihr die di­cke Pau­li­ne folg­te.

Ein großer von zwei Män­nern be­setz­ter Kahn fuhr auf dem Was­ser hin und her. Der eine von ih­nen führ­te die Ru­der, wäh­rend der an­de­re eine lan­ge Stan­ge ins Was­ser senk­te, als su­che er dort et­was.

»Was ma­chen Sie da?« schrie Pau­li­ne. »Was gib­t’s?«

»Ein Mann ist ins Was­ser ge­sprun­gen«, rief eine frem­de Stim­me zu­rück.

Ängst­lich folg­ten die bei­den Mäd­chen dicht an­ein­an­der ge­drückt, den Be­we­gun­gen des Kah­nes. Von wei­tem hör­te man im­mer noch die Mu­sik aus dem »Frosch­teich« die im Tak­te die Be­we­gun­gen der düstren Fi­scher zu be­glei­ten schi­en; lau­ter mur­mel­te der Fluss, als wol­le er die Freu­de ver­kün­den, ein neu­es Op­fer zu ber­gen.

 

Das Su­chen dau­er­te eine Ewig­keit; Ma­de­lei­ne zit­ter­te in ban­ger Er­war­tung. End­lich nach Ver­lauf von min­des­tens ei­ner hal­b­en Stun­de rief ei­ner der Män­ner: »Ich hab’ ihn.« Und lang­sam, ganz lang­sam zog er sei­ne lan­ge Ha­ken­stan­ge in die Höhe. Eine dunkle schwe­re Mas­se er­schi­en an der Ober­flä­che; der zwei­te Schif­fer ließ die Ru­der sin­ken und alle bei­de zo­gen keu­chend un­ter dem leb­lo­sen Ge­wicht, die­sel­be mit ver­ein­ten Kräf­ten in ihr Boot.

Dann fuh­ren sie an Land und such­ten einen hel­len tiefer lie­gen­den Lan­dungs­platz. In dem Au­gen­blick als sie aus­stie­gen, ka­men auch die bei­den Mäd­chen her­bei.

Als Ma­de­lei­ne ihn er­blick­te, wich sie schau­dernd zu­rück. In dem fah­len Mond­licht schi­en er be­reits grün, denn sei­ne Au­gen, Nase, Mund und Klei­der trief­ten schon von Schlamm. Sei­ne krampf­haft ver­krall­ten Hän­de wa­ren schreck­lich an­zu­se­hen. Al­les an ihm war mit ei­ner Art grün­lich­schwar­zer Feuch­tig­keit ge­tränkt. Das Ge­sicht war auf­ge­quol­len und von sei­nen straff her­ab­hän­gen­den Haa­ren lief un­auf­hör­lich ein Rinn­sal schmut­zi­gen Was­sers her­un­ter.


Die bei­den Män­ner be­schau­ten ihn auf­merk­sam. »Kennst Du ihn?« frag­te der eine.

»Ja, ich däch­te, dass ich die­ses Ge­sicht schon ge­se­hen hät­te«; sag­te be­däch­tig der an­de­re, der Fähr­mann von Crois­sy. »Aber Du weißt schon, wie das ist; man er­kennt sie so schwer.«

»Aber es ist ja Herr Paul!« rief er dann plötz­lich.

»Wer ist das, Herr Paul?« frag­te sein Ge­fähr­te.

»Aber Herr Paul Baron, der Sohn des Se­na­tors, der Klei­ne, der im­mer so ver­liebt war.«

»Na, der hat nun auf­ge­hört, zu gir­ren«, äus­ser­te der an­de­re phi­lo­so­phisch. »Scha­de trotz­dem, zu­mal wenn man reich ist.«

Ma­de­lei­ne war nie­der­ge­sun­ken und schluchz­te laut. Pau­li­ne nä­her­te sich dem leb­lo­sen Kör­per und frag­te:

»Ist er si­cher tot? Ganz si­cher?«

»Oh, ganz ge­wiss, nach so lan­ger Zeit,« sag­ten bei­de Män­ner ach­sel­zu­ckend.

»Er wohn­te bei Gril­lons, nicht wahr?« frag­te der eine von ih­nen.

»Ja,« ant­wor­te­te der an­de­re, »dort müs­sen wir ihn hin­schaf­fen, das wird eine schö­ne Über­ra­schung ge­ben!«

Sie be­stie­gen ihr Schiff und fuh­ren in­fol­ge der hef­ti­gen Strö­mung nur lang­sam vor­wärts; lan­ge Zeit, als man von dem Plat­ze, wo die bei­den Mäd­chen ste­hen ge­blie­ben wa­ren, sie schon nicht mehr se­hen konn­te, hör­te man im­mer noch ihre takt­mäs­si­gen Ru­der­schlä­ge im Was­ser.

Dann nahm Pau­li­ne die arme Ma­de­lei­ne, die ganz auf­ge­löst war, in ihre Arme, strei­chel­te ihre Wan­gen und küss­te sie in­nig.

»Was willst Du noch wei­ter?« trös­te­te sie die­sel­be. »Es war doch nicht Dei­ne Schuld, nicht wahr? Man kann doch die Men­schen nicht mit Ge­walt an ih­ren Tor­hei­ten hin­dern. Er hat es nicht an­ders ge­wollt; umso schlim­mer also für ihn!«

Dann hob sie die Wei­nen­de auf und re­de­te ihr zu: »Komm mit nach Hau­se, Schatz, und schlaf bei uns; Du kannst zu Gril­lons heu­te Abend un­mög­lich zu­rück­keh­ren.«

»Wir wer­den Dich schon zu trös­ten wis­sen,« schloss Pau­li­ne mit ei­nem lan­gen zärt­li­chen Kus­se.

Ma­de­lei­ne er­hob sich, und ihr lau­tes Schluch­zen erstarb all­mäh­lich in stil­len sanf­ten Trä­nen. Sie leg­te den Kopf auf Pau­li­nens Schul­ter, als habe sie hier eine viel in­ni­ge­re, si­che­re, ver­trau­te­re und ver­trau­en­de­re Lie­be ge­fun­den und ent­fern­te sich lang­sam mit die­ser von der grau­si­gen Stät­te.

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