Dort blieb er und starrte ins Wasser während er sich zuweilen mit einer hastigen Bewegung seiner nervösen Hand eine Träne aus dem Auge wischte.
Er war nämlich, ohne zu wissen warum, trotz seines Zartgefühls, trotz seines Verstandes, und trotz seines besseren Wollens verliebt, wahnsinnig verliebt sogar. Diese Liebe hatte ihn mitgerissen wie der Wirbel im Strome. Von Natur aus weich und empfindsam, hatte er von ganz idealen Verhältnissen geträumt, die auf wahrer Zuneigung beruhten; und nun hatte dieser Heuschreck von einem Mädchen, roh und ungebildet wie alle Ihresgleichen, und zwar von einer abschreckenden erbitternden Roheit, dieses Mädchen, das nicht einmal hübsch, sondern mager und reizbar war, ihn ganz befangen. Er gehörte ihr von Kopf bis zu den Füssen mit Leib und Seele. Er war ein Sklave jener ebenso geheimnissvollen wie allmächtigen Zauberkraft des Weibes geworden, jener unbekannten Macht, jener zügellosen Herrschaft, von der niemand weiß, woher sie kommt; jenes Dämons des Fleisches, der den weisesten Mann zu den Füssen irgend einer Dirne wirft, ohne dass man sich den Grund ihrer Zaubermacht und ihrer Anziehungskraft erklären kann.
Und da drüben, hinter seinem Rücken – das fühlte er instinktiv – wurde irgend eine Gemeinheit ausgebrütet. Das Lachen von dorther schnitt ihm ins Herz. Was sollte er tuen? Ach, er wusste es nur zu gut; aber es fehlte ihm der Mut dazu.
Er betrachtete unverwandt einen Fischer, der regungslos wie ein Pfahl am jenseitigen Ufer stand.
Plötzlich zog derselbe mit einem Ruck einen kleinen silberglänzenden Fisch aus dem Wasser, der heftig an der Angel zappelte. Jener versuchte nun den Widerhaken loszumachen, wobei er ihn drehte und wandte, aber vergeblich; da riss ihm die Geduld und mit einer heftigen Bewegung zog er den blutigen Schlund und einen Teil der Eingeweide des armen Tieres heraus. Paul schauderte, als ob ihm selbst das Herz zerrissen würde. Für ihn, den Fisch, war die Liebe der Widerhaken, und mit ihm riss man ihm ebenfalls sein ganzes Innere heraus wie an einer Angelschnur, die Madeleine in der Hand hielt.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und schaudernd wandte er sich um; seine Geliebte stand hinter ihm. Sie wechselten kein Wort und sie lehnte sich gleich ihm über das Geländer die Augen auf den Fluss geheftet.
Er suchte nach Worten; aber er fand keine; nicht einmal seine Gedanken konnte er auseinanderhalten. Alles, was er deutlich empfand, war die Freude, sie wieder bei sich zu wissen; es überkam ihn eine schimpfliche Schwäche, ein Bedürfnis, alles zu verzeihen und alles zu erlauben, wenn sie nur bei ihm blieb.
Endlich nach einigen Minuten fragte er sie mit sanfter Stimme:
»Wollen wir nicht fortgehen? Ich glaube, auf dem Wasser wird es hübscher sein.«
»Ja mein Herz!« antwortete sie.
Und er half ihr beim Einsteigen ins Boot, indem er sie stützte, wobei er ihr, noch einige Tränen im Auge, zärtlich die Hand drückte. Sie sah ihn lächelnd an und sie küssten sich aufs Neue.
Langsam fuhren sie stromaufwärts dem weidenbesetzten Ufer entlang; seine grünenden Ränder lagen träumend und ruhig in der Glut der Nachmittagssonne.
Als sie wieder beim Restaurant Grillon ankamen, war es eben sechs Uhr; sie gingen nun, nachdem sie das Boot verlassen, auf der Insel, durch grünende Wiesen längs der Pappelreihe des Ufers nach Bezons zu.
Die großen zum Mähen reifen Grasflächen waren mit Blumen übersäet, auf welche die sinkende Sonne ihre rötlichen Strahlen warf; süsser Wohlgeruch entstieg in der milden Wärme des zur Rüste gehenden Tages den Boden und mischte sich mit den feuchten Dünsten des Wassers. Es war, als lagere eine unsichtbare Wolke von weichlichem wohligen Glück und stillem Behagen über der Erde.
Dieser ruhige Glanz der Abendsonne, dieser geheimnisvolle Schauer ersterbenden Lebens mit seiner lebendigen melancholischen Fantasie, der Pflanzen und Wesen ergriffen und sich über alles ausgebreitet zu haben schien, musste unwillkürlich auch dem Menschenherzen in dieser Stunde den Stempel seines stillen Glückes aufdrücken.
Paul empfand das auch lebhaft, während sie das alles nicht berührte. Sie gingen nebeneinander und plötzlich begann sie, des Schweigens müde, zu singen. Sie sang mit dünner, falscher Stimme irgend einen Gassenhauer, der ihr gerade durch den Kopf ging, und der einen grellen Missklang in diese tiefe reine Harmonie des Abends brachte.
Er sah sie an, und fühlte jetzt, dass eine unüberwindliche Kluft zwischen ihnen bestand. Sie aber schlug unbekümmert die Gräser mit ihrem Sonnenschirm ab, und betrachtete, den Kopf ein wenig neigend, ihre Schuhe; dabei sang sie ruhig weiter, hielt die Schlussnoten unverhältnismässig lange an und versuchte sich sogar schliesslich in Läufen und Trillern.
Ihr kleiner zierlicher Kopf, den er so zärtlich liebte, war also leer, leer von irgendwelchen idealeren Empfindungen. Nichts hatte darin Platz, als höchstens diese Gassenhauer-Musik; und die Gedanken, die sich sonst noch darin bilden mochten, sahen derselben ähnlich. Sie hatte kein Verständnis für ihn; sie standen sich fremder gegenüber, als wenn sie jemals zusammen gelebt hätten. Ihre Küsse reichten also nicht weiter wie ihre Lippen!
Da hob sie lächelnd die Augen zu ihm empor und sofort war er wieder aufs Innerste bewegt. Er öffnete die Arme und schloss sie mit neuerwachender Liebe zärtlich an sein Herz.
Sie schob ihn schliesslich zurück, als sie sah, dass er ihr Kleid zerdrückte und sagte dabei begütigend: »Geh, Schatz! Du weißt ja, dass ich Dich liebe.«
Aber er hielt sie umschlungen, und ganz von Sinnen begann er mit ihr davonzulaufen, wobei er sie immer wieder auf Wange, Schläfen, Hals und Lippen küsste. Keuchend machten sie schliesslich vor einem Gebüsche Halt, welches die letzten Strahlen der Abendsonne vergoldete und, noch ganz ausser Atem, kosteten sie darin den Becher der Liebe bis zur Neige, ohne dass sie ihrerseits sich dieses plötzliche Überwallen seiner Gefühle erklären konnte.
Hand in Hand kamen sie zurück, als sie plötzlich durch das Laub der Bäume hindurch auf dem Flusse das Boot der vier Lesbierinnen bemerkten. Auch sie wurden von der dicken Pauline bemerkt, die sich umwandte und Madeleine Kusshände herüberschickte, worauf sie noch rief: »Heute Abend also.«
»Jawohl, heute Abend« antwortete diese.
Paul fühlte plötzlich sein Herz zu Eis erstarren.
Sie gingen zum Essen zurück. Unter einer der Lauben am Wasser liessen sie sich nieder und verzehrten stillschweigend ihr Mahl. Als es zu dunkeln begann, brachte man ein Licht, das zum Schutz gegen den Luftzug in einem grünen Glase brannte und ihre Gesichter mit einem fahlen Schimmer übergoss. Alle Augenblicke hörte man das schallende Gelächter der Kahnfahrer aus dem Saal des ersten Stockes herüberschallen.
Beim Dessert ergriff Paul zärtlich Madeleines Hand und sagte: »Ich fühle mich sehr müde; wenn es Dir recht ist, wollen wir bei Zeiten schlafen gehen.
Aber sie hatte seine List verstanden und warf ihm einen jener scharfen durchdringenden Blicke zu, die so oft plötzlich im Auge der Frau aufzutauchen pflegen.
»Du kannst Dich schlafen legen,« sagte sie nach kurzem Besinnen, »wann es Dir beliebt; ich habe noch versprochen nach dem Froschteich zum Tanz zu kommen.«
Ein klägliches Lächeln umspielte seine Lippen, ein Lächeln mit dem man die tiefsten Leiden zu verschleiern sucht, als er jetzt im trüben aber zärtlichen Tone sagte: »Wenn Du lieb wärest, könnten wir beide hier bleiben.« Ohne den Mund zu öffnen, machte sie mit dem Kopfe eine abweisende Bewegung. Er wurde dringender.
»Ich bitte Dich drum, Liebchen!«
»Du weißt,« sagte sie brüsk, »was ich gesagt habe. Wenn Du nicht Ruhe gibst, so ist der Weg frei. Es hält Dich niemand. Was mich betrifft, so habe ich es versprochen und ich werde gehen.«
Er stützte beide Ellenbogen auf den Tisch, senkte das Haupt auf die Hände und starrte sie eine Weile traurig an.
Die Kahnfahrer kamen indessen unter muntrem Lachen herunter, und bestiegen ihre Fahrzeuge, um den Ball im »Froschteich« nicht zu versäumen.
»Entscheide Dich, ob Du mitkommst«, sagte Madeleine zu ihrem Begleiter, »sonst bitte ich einen der Herren, mich mitzunehmen.«
»Lass uns gehen« murmelte Paul sich erhebend. Und sie gingen.
Die Nacht war sternenhell, die Luft würzig und von mildem, süssen Hauch bewegt, der lind die Stirn umschmeichelte.
Die Boote setzten sich, eine bunte Laterne am Stern führend, in Bewegung«. Man konnte die einzelnen Fahrzeuge nicht unterscheiden, sondern sah nur die zahllosen bunten Lichter auf dem Wasser auf- und abtanzend, langsam dahingleiten, sodass man hätte glauben können, ein Gewimmel von Irrlichtern vor sich zu haben, wenn nicht das rohe Gelächter der Kahnfahrer die Anwesenheit von Menschen verkündet hätte.
Pauls Boot glitt langsam dahin. Zuweilen, wenn ein fremdes Boot dem ihrigen zu nahe kam, bemerkten sie plötzlich im Schimmer der Laterne den weißen Rücken seines Führers.
Als sie die Biegung des Flusses erreicht hatten, sahen sie von weitem den »Froschteich« vor sich liegen. Das Etablissement war mit Guirlanden von bunten Lampen und Lichtglocken festlich geschmückt. Auf der Seine schwammen einige große Fähren, welche Kuppeln, Pyramiden und andere wunderbare Aufbaue in allerlei Farben trugen. Flammende Gewinde zogen sich bis zum Ufer herab; und einige rote oder blaue Fackeln, von einer mächtigen unsichtbaren Pechpfanne genährt, sahen von weitem wie freischwebende Sterne aus.
Diese imposante Beleuchtung verbreitete ein helles Licht rings um das ganze Café, bestrahlte die hohen Uferbäume von unten bis oben, sodass nur ihre Wurzeln in einem bleichen Grau verschwanden, während die Blätter mit ihrem fahlen Grün sich wunderbar von dem tiefen Schwarz des Himmels abhoben.
Das Orchester bestand aus fünf Vorstadt-Musikern, und schon von weitem hörte man seine dünne quiekende und gellende Musik, bei deren Tönen Madeleine aufs Neue zu singen begann.
Sie wollte sofort hereingehen; Paul hätte zwar vorher einen Gang auf der Insel gemacht, musste aber wie immer, nachgeben.
Die Gesellschaft hatte sich etwas geklärt; es waren fast nur die Kahnfahrer, einige wenige Bürger und eine Anzahl junger Leute mit ihren Mädchen zurückgeblieben. Der Direktor und Leiter dieses Kankans, der sehr würdig in schwarzem Frack, mit seinem verwitterten Gesicht und dem ganzen Habitus eines Vergnügungs-Kommissars der alten Zeit, einherging, hatte es nicht schwer, sich hier Ansehen zu verschaffen.
Paul atmete erleichtert auf, als er die dicke Pauline und ihre Gefährtin nicht hier fand.
Der Tanz bestand darin, dass sich die Paare gegenüber bewegten, die tollsten Sprünge machten und mit ihren Fussspitzen womöglich unter der Nase ihres Gegenübers herumfuhren. Die »Damen,« deren Glieder aus den Gelenken gelöst zu sein schienen, hatten ihre Kleider hochgehoben und zeigten ihre Unterröcke. Ihre Beine wirbelten sie mit überraschender Leichtigkeit um den Kopf; sie wiegten ihren Leib, wackelten mit den Hüften, und schüttelten die Brust, wobei sie sich so lebhaft um sich selbst drehten, dass sie schliesslich in Schweiß gebadet waren.
Die »Herren« hockten sich wie die Kröten mit zweifelhaften Gebärden nieder, verdrehten unter scheusslichen Grimassen ihren Körper, schlugen ein Rad über der Hand oder suchten die Komik in übertrieben steifer Haltung und einer lächerlichen Grandezza.
Eine dicke Kellnerin und zwei Kellner sorgten für die Wünsche der Gäste.
Merkwürdig in der Tat hob sich von der friedlichen Stille der Nacht unter dem ruhigen Sternenhimmel dieses Schiffskaffee ab, das, nur mit einem Dache versehen, durch keine Schranke von der Aussenwelt getrennt, diesem zügellosen Tanze als Stätte diente.
Plötzlich schien sich der alte Mont-Valerien da unten zu erhellen, als ob in seinem Rücken eine Feuersbrunst entstanden wäre. Diese Helligkeit wurde immer grösser und schärfer, drang höher zum Himmel hinauf und beschrieb mit ihrem fahlen weißlichen Schimmer einen großen Lichtkreis. Dann zeigte sich etwas Rotes, wurde grösser und brennend wie geschmolzenes Metall, bis es die Gestalt einer Kugel annahm, die von der Erde emporstieg. Es war der Mond, der sich alsbald vom Horizont ablöste, um langsam seine Himmelsbahn zu wandeln. Je weiter er aufstieg, umso mehr schwand sein purpurner Schimmer, und sein Licht wurde gelber; es war ein lichtes auffallendes Gelb. Auf der zurückgelegten Bahn waren die Sterne verloschen.
Paul sah ihm lange zu und hatte, in seiner Betrachtung verloren, seine Gefährtin ganz vergessen. Als er sich umsah, war sie verschwunden.
Vergeblich suchte er nach ihr, indem er sein unstätes Auge ängstlich über alle Tische schweifen ließ, und auch wohl diesen oder jenen nach ihr fragte. Niemand hatte sie indessen gesehen.
So irrte er voll quälender Unruhe umher, als ihm einer der Kellner sagte:
»Sie suchen Madame Madeleine, nicht wahr? Soeben ist sie mit Madame Pauline fortgegangen.« Und in demselben Augenblick sah er auch am anderen Ende des Café den Matrosen und die beiden hübschen Mädchen, welche sich alle drei umfasst hielten und ihn flüsternd betrachteten.
Er verstand und stürzte wie ein Rasender auf die Insel hinaus.
Zuerst lief er auf Chatou zu; aber vor der Wiese mässigte er seine Schritte. Dann begann er wie traumverloren durch das dichte Gebüsch zu streifen, indem er hin und wieder stehen blieb, um zu horchen.
Überall liessen ringsum die Unken ihren kurzen klagenden Ruf erschallen.
Von Bougival her ertönte der einförmige Gesang irgend eines fremden Vogels nur schwach bei der Entfernung vernehmbar. Auf dem weiten Rasen verbreitete der Mond sein mildes Licht, sodass er wie mit Watte bedeckt schien. Dieses Licht drang durch das Blätterwerk, versilberte das Laub der Pappeln, und vergoldete die flüsternden Wipfel der großen Bäume. Die berauschende Poesie dieses Sommerabends packte Paul trotz seines Sträubens, sie milderte seine törichte Furcht und trieb ihr Spiel mit seinem Herzen, indem sie in seinem sanften und sinnenden Gemüte das ideale Verlangen nach Liebe und leidenschaftlicher Erwiderung im Busen einer angebeteten und treuen Geliebten bis zur Raserei steigerte.
Seine wild und stürmisch hervorbrechenden Tränen zwangen ihn, stehen zu bleiben.
Als der Anfall vorüber war, ging er weiter. Plötzlich durchdrang es ihn wie ein Messerstich: Man küsste sich da hinten im Gebüsch. Er lief hin, und sah ein Liebespärchen, welches durch seine Annäherung aus einer langen innigen Umarmung aufgescheucht, sich schleunigst entfernte.
Er wagte nicht, nach Madeleine zu rufen, denn er wusste nur zu gut, dass sie ihm nicht antworten würde; und zugleich hatte er eine schreckliche Angst davor, sie plötzlich zu entdecken.
Die Töne der Quadrille mit den schrillen Piston-Solos, das falsche Gequieke der Klarinette, die kreischende Stimme der Violine zerrissen sein Herz und steigerten sein Elend. Die wilde lärmende Musik klang bald stärker bald schwächer durch die Räume, je nachdem ein Windstoss sie herübertrug oder nicht.
Plötzlich fragte er sich, ob »sie« vielleicht zurückgekehrt wäre? Ja, sie war jedenfalls zurückgekommen! Warum sollte sie auch nicht? Er hatte ohne Grund den Kopf verloren, hatte sich ganz sinnlos von seinem Schrecken fortreissen lassen, und ohne Überlegung einem haltlosen Verdachte Raum gegeben.
Und von jener seltsamen Ruhe ergriffen, die zuweilen der grössten Verzweiflung folgt, kehrte er zum Balle zurück.
Mit einem Blick durchflog er den Saal; sie war nicht dort. Er machte einen Gang um die Tische und sah sich plötzlich aufs Neue den drei Weibern gegenüber. Er mochte jedenfalls eine sehr verzweifelte komische Miene haben, denn alle drei brachen gleichzeitig in lautes Lachen aus.
Er stürzte davon und begann wiederum atemlos die Gebüsche der Insel zu durchforschen. Dann horchte er aufs Neue – er lauschte lange, denn seine Ohren sausten; und schliesslich glaubte er etwas weiter ein leichtes durchdringendes Lachen zu hören, welches er nur zu gut kannte. Ganz leise schob er sich vorwärts, vorsichtig die Zweige auseinanderbiegend; sein Herz schlug so heftig, dass er kaum noch atmen konnte.
Zwei Stimmen murmelten Worte, die er noch nicht verstehen konnte. Dann schwiegen sie.
Da ergriff ihn ein mächtiger Drang zu fliehen, nichts zu sehen und nichts zu erfahren, sich für immer von dieser törichten verzehrenden Leidenschaft loszureissen. Er wollte nach Chatou gehen, den Zug nach Paris besteigen und niemals zu ihr zurückkehren, sie niemals wiedersehen. Aber nun ergriff ihn wieder die Einbildungskraft und er stellte sich im Geiste vor, wie sie am Morgen in ihrem weichen warmen Bette erwachend sich zärtlich an ihn schmiegen und ihn umarmen würde, er sah sie mit ihren aufgelösten Haaren, ihren halbgeschlossenen Augen und den zum ersten Morgenkuss bereiten Lippen. Und bei der Erinnerung an diese so oft erlebte Szene ergriff ihn heftiger Schmerz und neues Verlangen.
Er hörte aufs Neue sprechen und tief gebückt schlich er weiter vor. Da tönte ein leichter Aufschrei ganz dicht vor ihm unter den Zweigen hervor. Ein Aufschrei! Einer jener Liebesschreie, wie er sie so oft in früheren Kosestunden vernommen. Immer weiter, immer leiser schlich er vor; unwiderstehlich trieb es ihn ins Gebüsch, ohne dass er sich selbst noch Rechenschaft von seinem Handeln gab, und … da sah er sie vor sich.
Oh, wenn es ein Mann gewesen wäre, der andere da! Aber so! so! Er war wie gebannt von dieser Schändlichkeit. Unbeweglich, besinnungslos stand er da, als wenn er plötzlich einen teuren Leichnam geschändet vor sich gesehen hätte, als wenn er ein unnatürliches Verbrechen, eine entsetzliche himmelschreiende Entweichung entdeckte.
Da fiel ihm ganz unwillkürlich der kleine Fisch ein, dessen Eingeweide er hatte herausreissen sehen … Aber Madeleine murmelte gerade »Pauline!« mit demselben leidenschaftlichen Tone wie sie sonst »Paul« zu ihm sagte, und er wurde von so tiefem Schmerz ergriffen, dass er aus Leibeskräften davonlief.
Er rannte an verschiedene Bäume, stürzte über eine Wurzel, raffte sich wieder auf und stand plötzlich am Flusse, vor dem lebenden Arm. Der brausende Strom bildete hier große Wirbel, in denen sich das tanzende Licht des Mondes spiegelte. Das hohe Ufer überragte an dieser Stelle das Wasser wie eine Mauer; ein dunkler Streifen unterhalb desselben bezeichnete die Stelle, wo sich im tiefen Schatten das Stauwasser des Flusses bildete.
Am andren Ufer erhoben sich in voller Klarheit die Landhäuser von Croissy.
Paul sah dies alles wie im Traume, wie eine Erinnerung die hinter ihm lag. Er dachte an nichts, hatte für nichts mehr Verständnis, und alle Dinge, sogar sein eigenes Dasein waren für ihn wie im Nebel gehüllt; fernliegend, vergessen, vernichtet.
Da lag der Fluss! Begriff er, was er tat? Wollte er sterben? Er war närrisch geworden. Noch einmal indessen wandte er sich nach dem Innern der Insel zurück, und in die ruhige Nachtluft hinein, in der nur hin und wieder die Töne der entfernten Musik erklangen, ließ er mit verzweiflungsvoller, gellender, übermenschlicher Stimme einen furchtbaren Schrei erschallen: »Madeleine!«
Sein herzzerreissender Ruf drang durch die schweigende Nacht weit hinaus.
Dann sprang er mit einem mächtigen Satz, wie sinnlos, in den Fluss. Das Wasser sprühte hoch auf, dann schloss es sich wieder und an der Stelle, wo er verschwunden war, bildete sich eine Anzahl kleiner Kreise, die ihre schimmernden Umrisse allmählich bis zum anderen Ufer ausdehnten.
Die beiden Mädchen hatten den Schrei vernommen. »Das ist Paul«, sagte Madeleine aufspringend, Ein Verdacht stieg in ihr auf. »Er hat sich ertränkt«, fuhr sie fort. Sie sprang nach dem Flusse, wohin ihr die dicke Pauline folgte.
Ein großer von zwei Männern besetzter Kahn fuhr auf dem Wasser hin und her. Der eine von ihnen führte die Ruder, während der andere eine lange Stange ins Wasser senkte, als suche er dort etwas.
»Was machen Sie da?« schrie Pauline. »Was gibt’s?«
»Ein Mann ist ins Wasser gesprungen«, rief eine fremde Stimme zurück.
Ängstlich folgten die beiden Mädchen dicht aneinander gedrückt, den Bewegungen des Kahnes. Von weitem hörte man immer noch die Musik aus dem »Froschteich« die im Takte die Bewegungen der düstren Fischer zu begleiten schien; lauter murmelte der Fluss, als wolle er die Freude verkünden, ein neues Opfer zu bergen.
Das Suchen dauerte eine Ewigkeit; Madeleine zitterte in banger Erwartung. Endlich nach Verlauf von mindestens einer halben Stunde rief einer der Männer: »Ich hab’ ihn.« Und langsam, ganz langsam zog er seine lange Hakenstange in die Höhe. Eine dunkle schwere Masse erschien an der Oberfläche; der zweite Schiffer ließ die Ruder sinken und alle beide zogen keuchend unter dem leblosen Gewicht, dieselbe mit vereinten Kräften in ihr Boot.
Dann fuhren sie an Land und suchten einen hellen tiefer liegenden Landungsplatz. In dem Augenblick als sie ausstiegen, kamen auch die beiden Mädchen herbei.
Als Madeleine ihn erblickte, wich sie schaudernd zurück. In dem fahlen Mondlicht schien er bereits grün, denn seine Augen, Nase, Mund und Kleider trieften schon von Schlamm. Seine krampfhaft verkrallten Hände waren schrecklich anzusehen. Alles an ihm war mit einer Art grünlichschwarzer Feuchtigkeit getränkt. Das Gesicht war aufgequollen und von seinen straff herabhängenden Haaren lief unaufhörlich ein Rinnsal schmutzigen Wassers herunter.
Die beiden Männer beschauten ihn aufmerksam. »Kennst Du ihn?« fragte der eine.
»Ja, ich dächte, dass ich dieses Gesicht schon gesehen hätte«; sagte bedächtig der andere, der Fährmann von Croissy. »Aber Du weißt schon, wie das ist; man erkennt sie so schwer.«
»Aber es ist ja Herr Paul!« rief er dann plötzlich.
»Wer ist das, Herr Paul?« fragte sein Gefährte.
»Aber Herr Paul Baron, der Sohn des Senators, der Kleine, der immer so verliebt war.«
»Na, der hat nun aufgehört, zu girren«, äusserte der andere philosophisch. »Schade trotzdem, zumal wenn man reich ist.«
Madeleine war niedergesunken und schluchzte laut. Pauline näherte sich dem leblosen Körper und fragte:
»Ist er sicher tot? Ganz sicher?«
»Oh, ganz gewiss, nach so langer Zeit,« sagten beide Männer achselzuckend.
»Er wohnte bei Grillons, nicht wahr?« fragte der eine von ihnen.
»Ja,« antwortete der andere, »dort müssen wir ihn hinschaffen, das wird eine schöne Überraschung geben!«
Sie bestiegen ihr Schiff und fuhren infolge der heftigen Strömung nur langsam vorwärts; lange Zeit, als man von dem Platze, wo die beiden Mädchen stehen geblieben waren, sie schon nicht mehr sehen konnte, hörte man immer noch ihre taktmässigen Ruderschläge im Wasser.
Dann nahm Pauline die arme Madeleine, die ganz aufgelöst war, in ihre Arme, streichelte ihre Wangen und küsste sie innig.
»Was willst Du noch weiter?« tröstete sie dieselbe. »Es war doch nicht Deine Schuld, nicht wahr? Man kann doch die Menschen nicht mit Gewalt an ihren Torheiten hindern. Er hat es nicht anders gewollt; umso schlimmer also für ihn!«
Dann hob sie die Weinende auf und redete ihr zu: »Komm mit nach Hause, Schatz, und schlaf bei uns; Du kannst zu Grillons heute Abend unmöglich zurückkehren.«
»Wir werden Dich schon zu trösten wissen,« schloss Pauline mit einem langen zärtlichen Kusse.
Madeleine erhob sich, und ihr lautes Schluchzen erstarb allmählich in stillen sanften Tränen. Sie legte den Kopf auf Paulinens Schulter, als habe sie hier eine viel innigere, sichere, vertrautere und vertrauendere Liebe gefunden und entfernte sich langsam mit dieser von der grausigen Stätte.
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