Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Fett-Kloss

Meh­re­re Tage hin­ter­ein­an­der wa­ren die Über­res­te der ge­schla­ge­nen Ar­mee durch die Stadt ge­zo­gen. Eine Trup­pe konn­te man das schon nicht mehr nen­nen, son­dern höchs­tens eine zü­gel­lo­se Hor­de. Den Bart lang und schmut­zig, die Uni­form zer­fetzt, ohne Fah­nen, ohne Ord­nung zo­gen die Leu­te in läs­si­ger Hal­tung da­hin. Alle schie­nen von der Übe­r­an­stren­gung er­mat­tet, kei­nes Ge­dan­kens, kei­ner Ent­sch­lies­sung fä­hig, nur noch aus Ge­wohn­heit wei­ter zu mar­schie­ren; so­bald Halt ge­macht wur­de, san­ken sie vor Er­mü­dung um. Sie be­stan­den in der Haupt­sa­che aus Mo­bil­gar­den, fried­li­chen Leu­ten, harm­lo­sen Spiess­bür­gern, die un­ter der Last des Ge­weh­res zu­sam­men­knick­ten, klei­nen mun­tren Schwät­zern, zum Bra­mar­ba­sie­ren und je­der Art von Be­geis­te­rung gern ge­neigt, eben­so be­reit zum An­griff wie zur Flucht. Dar­un­ter be­merk­te man dann hin und wie­der ei­ni­ge Ro­tho­sen, die Trüm­mer ei­ner in der Haupt­schlacht auf­ge­rie­be­nen Di­vi­si­on, die dunklen Uni­for­men der Ar­til­le­ris­ten, in Reih und Glied mit der In­fan­te­rie; und ganz zu­wei­len den blan­ken Helm ei­nes Dra­go­ners der mit schwe­ren Tritt nur müh­sam dem Tem­po der leich­ten Trup­pen folg­te.

Meh­re­re Frank­ti­reurs-Le­gio­nen mit pomp­haf­ten Be­zeich­nun­gen, wie »Rä­cher der Schmach« – »Bür­ger des Gra­bes« – »Ge­nos­sen des To­des« folg­ten jetzt; es wa­ren die rei­nen Ban­di­ten­ge­sich­ter.

Ihre Füh­rer, ehe­ma­li­ge Tuch- oder Ge­trei­de­händ­ler, Ker­zen- und Sei­fen-Krä­mer, die der Zu­fall zu Krie­gern ge­stem­pelt hat­te und die ih­res Gel­des oder ih­rer lan­gen Schnurr­bär­te we­gen zu Of­fi­zie­ren ge­wählt wur­den, plau­der­ten, waf­fen­strot­zend mit Tres­sen und Bor­ten über­la­den, mit weit­hin­schal­len­der Stim­me, er­ör­ter­ten ihre Feld­zugsplä­ne und ta­ten, als ob sie mit ih­rem großen Mau­le ganz al­lein das un­glück­li­che Va­ter­land ret­ten könn­ten. Vor ih­ren ei­ge­nen Leu­ten, rich­ti­gem Gal­gen­ge­sin­del, eben­so auf­ge­legt zum Kampf, wie zum Rau­ben und Plün­dern, schie­nen sie je­doch einen ge­wis­sen Re­spekt zu ha­ben.

Die Preus­sen wür­den, wie es hiess, dem­nächst in Rou­en ein­zie­hen.

Die Na­tio­nal­gar­de, die seit zwei Mo­na­ten mit großer Vor­sicht die um­lie­gen­den Wäl­der durch­streif­te und da­bei zu­wei­len ihre ei­ge­nen Pos­ten nie­der­schoss, die sich so­fort ge­fechts­be­reit mach­te, wenn nur ein Ka­nin­chen durchs Ge­büsch husch­te, war heim­ge­kehrt. Ihre Waf­fen, ihre Uni­for­men, ihr gan­zer Auf­putz mit dem sie sonst auf drei Mei­len in der Run­de die Stras­sen­grä­ben ver­zier­te, wa­ren plötz­lich ver­schwun­den.

Die letz­ten fran­zö­si­schen Sol­da­ten über­schrit­ten end­lich die Sei­ne um über Saint-Se­ver und Bourg-Achard sich nach Pont-Au­de­mer zu wen­den. Ih­nen folg­te der ver­zwei­fel­te Ge­ne­ral, der mit die­sen ge­lo­cker­ten Ver­bän­den nichts mehr an­fan­gen konn­te und selbst von dem Zu­sam­men­bru­che ei­nes Vol­kes mit fort­ge­ris­sen wur­de, das, ge­wohnt zu sie­gen, trotz sei­ner sprich­wört­li­chen Tap­fer­keit schmäh­lich ge­schla­gen war. Er ging zu Fuss zwi­schen zwei Or­don­nanz-Of­fi­zie­ren.

Dann ver­brei­te­te sich tie­fe Ruhe, eine furcht­sa­me, schwei­gen­de Er­war­tung in der Stadt. Ängst­lich harr­ten die be­sorg­ten Bür­ger auf die An­kunft der Sie­ger; sie zit­ter­ten bei dem Ge­dan­ken, dass man ih­ren Brat­spiess oder ihr großes Kü­chen­mes­ser für eine Waf­fe an­se­hen könn­te.

Al­les Le­ben schi­en zu sto­cken, die Lä­den wa­ren ge­schlos­sen, stumm la­gen die Stras­sen da. Hin und wie­der schlich ein Bür­ger, be­drückt von der schwü­len Stil­le has­tig längs der Häu­ser.

Die­se Er­war­tung war so be­ängs­ti­gend, dass man die An­kunft des Fein­des fast her­bei­sehn­te.

Am Nach­mit­tage des Ta­ges, der dem Ab­marsch der Fran­zo­sen folg­te, tauch­ten plötz­lich ei­ni­ge Ula­nen auf und rit­ten im schnells­ten Tem­po durch die Stras­sen der Stadt. Dann stieg et­was spä­ter eine dunkle Mas­se vom St. Ka­tha­ri­nen­ber­ge her­un­ter, wäh­rend auf den Stras­sen von Dar­ne­tal und Bois­guil­lau­me zwei wei­te­re Ab­tei­lun­gen in die Stadt ein­dran­gen. Die Avant­gar­den drei­er Korps ver­ei­nig­ten sich gleich­zei­tig auf dem Platz vor dem Rat­hau­se. Auf al­len an­gren­zen­den Stras­sen ka­men die deut­schen Trup­pen her­an, und das Pflas­ter er­dröhn­te un­ter dem fes­ten gleich­mäs­si­gen Tritt der Ba­tail­lo­ne.

Längs der Häu­ser, die ver­las­sen und wie aus­ge­stor­ben dala­gen, er­tön­ten in tie­fen Kehl­lau­ten fremd­ar­ti­ge Kom­man­do­ru­fe. Hin­ter den ge­schlos­se­nen Lä­den be­trach­te­ten ängst­li­che Au­gen die Sie­ger, die nun durch »Kriegs­recht« Her­ren der Stadt, Her­ren von Ei­gen­tum und Le­ben ge­wor­den wa­ren. Die Ein­woh­ner hat­ten in ih­ren dunklen Zim­mern einen ähn­li­chen pein­li­chen Ein­druck, wie ihn ein Erd­be­ben, eine furcht­ba­re Er­schüt­te­rung des Hau­ses her­vor­ruft, der ge­gen­über alle Vor­sichts­mass­re­geln und alle mensch­li­chen Kräf­te wir­kungs­los sind. Das­sel­be Ge­fühl er­greift uns stets, wenn wir se­hen, dass alle Ord­nung ge­stört ist, dass jede Si­cher­heit schwin­det, und dass al­les was sonst mensch­li­che und na­tür­li­che Ge­set­ze be­schüt­zen, sich in Hän­den ei­ner un­be­kann­ten ro­hen Ge­walt be­fin­det. Ein Erd­be­ben, das eine gan­ze Ein­woh­ner­schaft un­ter den Trüm­mern der Häu­ser be­gräbt, ein Fluss, der aus sei­nen Ufern tritt und mit sei­nen Wo­gen die Leich­na­me er­trun­ke­ner Land­leu­te, die Ka­da­ver von Rind­vieh und Bal­ken-Trüm­mer da­hin­wälzt, oder eine sieg­rei­che Ar­mee end­lich, wel­che die Ver­tei­di­ger nie­der­met­zelt, die fried­fer­ti­gen Bür­ger als Ge­fan­ge­ne fort­schleppt, wel­che im Na­men des Schwer­tes raubt und Gott mit dem Don­ner der Ka­no­nen fei­ert, sind al­les schreck­li­che Prü­fun­gen, die je­den Glau­ben an die ewi­ge Ge­rech­tig­keit ver­nich­ten, jede Hoff­nung zer­stö­ren, die man uns auf den Schutz des Him­mels und die Klug­heit der Men­schen ein­zu­flös­sen sucht.

Bald klopf­ten an je­der Hau­stü­re klei­ne Ab­tei­lun­gen, die dann im In­nern ver­schwan­den. Es war die Ein­quar­tie­rung, die der Be­sitz­nah­me folg­te. Den Be­sieg­ten er­wuchs jetzt die Pf­licht, sich den Sie­gern ge­fäl­lig zu zei­gen.

Nach ei­ni­ger Zeit, als der ers­te Schre­cken ein­mal über­wun­den war, trat aufs Neue eine ge­wis­se Be­ru­hi­gung ein. In vie­len Fa­mi­li­en ass der preus­si­sche Of­fi­zier mit bei Ti­sche. Häu­fig zeig­te er sich als wohl­er­zo­ge­ner Mann, der aus Höf­lig­keit Frank­reichs Lob sang und sein Be­dau­ern aus­sprach, ge­gen das­sel­be kämp­fen zu müs­sen. Man war ihm dank­bar für sein Zart­ge­fühl; und zu­dem konn­te man nicht wis­sen, ob man nicht dem­nächst sei­ner Für­spra­che be­durf­te. Wenn man sich gut mit ihm stell­te, wür­de man viel­leicht we­ni­ger Ein­quar­tie­rung er­hal­ten. Und warum über­haupt je­man­den be­lei­di­gen, von dem man gänz­lich ab­hän­gig war? Das wäre eher ver­mes­sen als kühn ge­we­sen. – Sch­liess­lich sag­te man sich auch, – in­dem die be­kann­te fran­zö­si­sche Gast­freund­lich­keit zum Grun­de die­nen muss­te, – dass es wohl ge­stat­tet sei, im In­ne­ren des ei­ge­nen Hau­ses ge­gen den frem­den Krie­ger höf­lich zu sein, vor­aus­ge­setzt dass man sich öf­fent­lich vor je­der Ver­trau­lich­keit hü­te­te. Draus­sen frei­lich kann­te man sich nicht, wäh­rend man zu Hau­se ger­ne plau­der­te, so­dass der Deut­sche je­den Abend ein Stünd­chen län­ger blieb, um sich am Fa­mi­li­en­le­ben zu be­tei­li­gen.

Die Stadt selbst nahm all­mäh­lich ihr ge­wöhn­li­ches Aus­se­hen wie­der an. Die Fran­zo­sen gin­gen zwar selbst noch nicht aus, aber die preus­si­schen Sol­da­ten schwärm­ten durch die Gas­sen. Im Üb­ri­gen schie­nen auch die Of­fi­zie­re der blau­en Husa­ren, wel­che mit ei­ner ge­wis­sen An­mas­sung ihre Sä­bel auf dem Trot­toir schlep­pen lies­sen, nicht mein Ver­ach­tung ge­gen die ein­fa­chen Bür­ger zu he­gen, als die Of­fi­zie­re der Chas­seurs die das Jahr vor­her in dem­sel­ben Café ge­zecht hat­ten.

Im­mer­hin lag et­was in der Luft, et­was ei­gen­tüm­lich Frem­des; et­was selt­sam un­er­träg­li­ches, wie ein Dunst, der sich ver­brei­tet; der Dunst der In­va­si­on. Er er­füll­te die Woh­nun­gen und öf­fent­li­che Plät­ze, gab den Spei­sen sei­nen Bei­ge­schmack und mach­te ei­nem den Ein­druck, als sei man auf Rei­sen fern bei ei­nem ge­fähr­li­chen Wil­den-Stamm.

Die Sie­ger ver­lang­ten Geld, sehr viel Geld. Die Ein­woh­ner zahl­ten stets; sie wa­ren ja wohl­ha­bend. Aber je rei­cher ein nor­man­ni­scher Kauf­mann ist, umso schwe­rer wird ihm je­des Op­fer, das er brin­gen soll, de­sto schmerz­li­cher trennt er sich von je­dem Geld­stück­chen, das er in an­de­re Hän­de wan­dern sieht.

Un­ter­des­sen fisch­ten zwei oder drei Mei­len un­ter­halb der Stadt bei Crois­set, Diep­pe­da­le oder Biess­art die Fi­scher und Boots­leu­te hin und wie­der den Leich­nam ei­nes Deut­schen auf, der durch einen Dolch­stich, durch einen Stein­hieb den Hin­ter­kopf, durch einen Sturz von der Brücke sein Le­ben ein­ge­büsst hat­te. Der Schlamm des Flus­ses be­deck­te die­se Op­fer ei­ner furcht­ba­ren aber ge­rech­ten Ra­che, ei­nes stum­men Hel­den­muts, ei­nes stil­len Über­falls, ge­fähr­li­cher als die of­fe­ne Schlacht und ohne den ver­dien­ten Lohn des Ruh­mes.

Der Hass ge­gen den frem­den Ein­dring­ling drückt eben man­chem Furcht­lo­sen, der be­reit ist für eine Idee zu ster­ben, die Waf­fe in die Hand.

Da üb­ri­gens die Ein­dring­lin­ge schliess­lich, wenn­gleich sie un­be­ding­ten Ge­hor­sam ge­gen alle ihre Be­feh­le ver­lang­ten, in kei­ner Wei­se die schreck­li­chen Gerüch­te be­stä­tig­ten, wel­che ih­rem Sie­ges­mar­sche vor­aus­ge­lau­fen wa­ren, so fass­te man wie­der Mut, und der Ge­schäfts­sinn be­gann sich all­mäh­lich wie­der im Her­zen der ein­hei­mi­schen Kauf­leu­te zu re­gen. Ei­ni­ge von ih­nen hat­ten wich­ti­ge An­ge­le­gen­hei­ten in Ha­vre ab­zu­wi­ckeln, wel­ches die fran­zö­si­sche Ar­mee noch be­setzt hielt. Sie hoff­ten die­sen Ha­fen zu er­rei­chen, in­dem sie sich auf dem Land­we­ge nach Diep­pe be­ga­ben, um sich dort ein­zu­schif­fen.

 

Durch Ver­mitt­lung der deut­schen Of­fi­zie­re, de­ren Be­kannt­schaft sie ge­macht hat­ten, er­lang­ten sie vom kom­man­die­ren­den Ge­ne­ral die Er­laub­nis zur Abrei­se.

So wur­de denn ein großer vier­spän­ni­ger Om­ni­bus für die­se Rei­se ge­nom­men, an der sich zehn Per­so­nen be­tei­lig­ten. Die Ab­fahrt soll­te an ei­nem Diens­tag Mor­gen noch vor Ta­ge­s­an­bruch statt­fin­den, um je­des Auf­se­hen zu ver­mei­den.

Um halb fünf tra­fen sich die Rei­sen­den im Hofe des Hôtel de Nor­man­die, wo der Wa­gen be­reit­stand. Sie wa­ren noch schlaf­trun­ken und zit­ter­ten un­ter ih­rer Um­hül­lung vor Käl­te. An­fangs war ein Er­ken­nen in der Dun­kel­heit schwer mög­lich; die zu­sam­men­ge­raff­ten dich­ten Win­ter­klei­der lies­sen alle die Leu­te wie be­hä­bi­ge Pfar­rer in lan­gen Su­ta­nen aus­se­hen. Zwei Her­ren er­kann­ten sich in­des­sen und ein drit­ter trat auf sie zu. »Ich brin­ge mei­ne Frau fort« sag­te der eine. »Ich eben­falls.« »Und ich auch.« »Wir wer­den nicht nach Rou­en zu­rück­keh­ren; und wenn die Preus­sen sich Ha­vre nä­hern soll­ten, ge­hen wir nach Eng­land,« füg­te der ers­te hin­zu. Alle hat­ten die­sel­be Ab­sicht, die ih­rer gleich­ar­ti­gen Ge­müts­be­schaf­fen­heit ent­sprach.

Der Wa­gen war noch nicht an­ge­spannt. Zu­wei­len tauch­te eine klei­ne La­ter­ne, die ein Stall­knecht trug, aus ei­ner fins­te­ren Türe auf, um gleich dar­auf in ei­ner an­de­ren wie­der zu ver­schwin­den. Man hör­te Pfer­de­ge­tram­pel und lau­tes Flu­chen aus dem In­nern des Stall­ge­bäu­des. Leich­tes Schel­len­ge­klin­gel be­wies, dass man das Ge­schirr auf­leg­te. Bald wur­de die­ses Ge­klin­gel zu ei­nem deut­li­chen fort­ge­setz­ten Läu­ten, wel­ches je nach der Be­we­gung des Tie­res zu­wei­len ganz auf­hör­te, um dann plötz­lich umso lau­ter wie­der zu be­gin­nen, wäh­rend der Bo­den un­ter dem Huf­ei­sen wie­der­hall­te.

Plötz­lich wur­de die Türe zu­ge­macht; je­des Geräusch ver­schwand. Auch die frös­teln­den Bür­ger schwie­gen; starr und un­be­weg­lich stan­den sie um­her.

Der Schnee fiel in dich­ten Flo­cken un­abläs­sig nie­der; er hüll­te alle Ge­stal­ten, alle Ge­gen­stän­de mit sei­ner ei­si­gen Mas­se ein. Bei der tie­fen Gra­bes­s­til­le, in der die Stadt noch ruh­te, hör­te man nur die­ses un­be­stimm­te ein­för­mi­ge Ge­rie­sel des Schnees. Es war mehr eine Emp­fin­dung wie ein Geräusch, die­ses Er­zit­tern leich­ter Ato­me, die den gan­zen Luf­traum er­füll­ten und lang­sam die Erde be­deck­ten.

Der Mann mit der La­ter­ne er­schi­en aber­mals und zog am Zü­gel ein ver­dros­sen da­hin­schrei­ten­des Pferd hin­ter sich her. Er stell­te es an die Deich­sel und leg­te die Strän­ge an, wo­bei er sich mehr­fach ver­si­cher­te, dass am Ge­schirr al­les in Ord­nung sei. Da er in der einen Hand die La­ter­ne hal­ten muss­te, so brauch­te er ziem­lich viel Zeit zu die­ser Be­schäf­ti­gung. Als er sich end­lich um­wand­te, um das zwei­te Pferd zu ho­len, be­merk­te er die re­gungs­los da­ste­hen­den schon ganz in Schnee gehüll­ten Rei­sen­den.

»Wa­rum stei­gen Sie nicht ein? Sie sind doch im Wa­gen we­nigs­tens ge­schützt,« frag­te er er­staunt.

In der Tat, dar­an hat­te noch kei­ner ge­dacht; und nun stürz­te al­les auf den Wa­gen zu. Die drei Her­ren von vor­hin lies­sen zu­erst ihre Frau­en Platz neh­men und folg­ten dann. Dann nah­men die üb­ri­gen bis zur Un­kennt­lich­keit ein­ge­mumm­ten Ge­stal­ten schwei­gend ihre Sit­ze ein.

Der Bo­den war zum Schutz der Füs­se mit Stroh be­deckt. Die Da­men im Hin­ter­grun­de hat­ten sich klei­ne kup­fer­ne Wärm­ap­pa­ra­te mit­ge­bracht und zün­de­ten jetzt die prä­pa­rier­te Koh­le der­sel­ben an, wo­bei sie sich mit lei­ser Stim­me von den längst be­kann­ten Vor­tei­len der­sel­ben un­ter­hiel­ten.

End­lich war der Om­ni­bus be­spannt; des schlech­ten We­ges hal­ber hat­te man sechs Pfer­de statt der ur­sprüng­lich be­stimm­ten vier ge­nom­men. »Ist al­les ein­ge­stie­gen?« frag­te eine Stim­me draus­sen. »Ja­wohl« er­tön­te es von in­nen, und der Wa­gen setz­te sich in Be­we­gung.

Es ging lang­sam, sehr lang­sam, in ge­mäch­li­chem Schritt vor­wärts. Die Rä­der ver­san­ken im Schnee; der gan­ze Kas­ten ächz­te und krach­te. Die Pfer­de rutsch­ten, schnaub­ten und dampf­ten. Die lan­ge Peit­sche des Kut­schers knall­te ohne Un­ter­lass. Sie flog bald hier bald dort­hin, ihre Schnur roll­te sich zu­sam­men wie eine Schlan­ge, um dann plötz­lich auf der Krup­pe ei­nes Pfer­des wie­der nie­der­zu­sau­sen, das nun mit ei­nem merk­ba­ren Ruck aufs neue an­zog.

Un­merk­lich brach der lich­te Tag an. Die leich­ten Flo­cken, wel­che ein Rei­sen­der, ein ech­tes Roue­ner Kind, mit ei­nem Wat­te­re­gen ver­gli­chen hat­te, fie­len nicht mehr. Zwi­schen dunklen trü­ben Wol­ken zeig­te sich eine mat­te Hel­le, wel­che die Schnee­flä­che nur umso deut­li­cher her­vor­tre­ten ließ, von der sich bald eine Rei­he reif­be­deck­ter Bäu­me, bald ein ein­zel­nes schnee­be­la­de­nes Stroh­dach ab­hob.

Beim trü­ben Däm­mer­licht des an­bre­chen­den mor­gens be­gann man sich im Wa­gen ge­gen­sei­tig neu­gie­rig zu be­trach­ten.

Ganz im Hin­ter­grun­de auf den letz­ten Plät­zen schlum­mer­ten ein­an­der ge­gen­über Herr und Frau Loi­seau, Wein­groß­händ­ler aus der Stras­se Grand-Pont. Als sein Prin­zi­pal sei­ner Zeit Ban­ke­rott mach­te, hat­te Loi­seau das Ge­schäft über­nom­men und sein Glück da­bei ge­fun­den. Er ver­kauf­te sei­nen sehr schlech­ten Wein sehr bil­lig an die klei­nen Kneip­wir­te auf dem Lan­de und galt bei sei­nen Freun­den und Be­kann­ten für einen schlau­en Fuchs; er war ein ech­ter Nor­man­ne, aus List und Gut­mü­tig­keit zu­sam­men­ge­setzt.

Ne­ben­bei war Loi­seau be­rühmt durch sei­ne viel­sei­ti­gen gu­ten und schlech­ten Wit­ze. Man hör­te in der Tat nie von ihm re­den, ohne dass nicht dazu ge­sagt wur­de: »Er ist wirk­lich un­be­zahl­bar die­ser Loi­seau.«

Sein Äus­se­res mach­te den Ein­druck ei­nes Bal­lons, auf dem oben auf ein röt­li­ches, von zwei ins Graue spie­len­den Ko­te­let­ten um­rahm­tes, Ge­sicht sass. Sei­ne Frau, groß und stark von Wuchs, sehr ener­gisch, mit ho­her Stim­me und schnel­ler Ent­schei­dungs­ga­be, war das le­ben­di­ge La­ger und Kas­sen­buch des Ge­schäfts, wel­ches sie durch ihre un­er­müd­li­che Tä­tig­keit be­leb­te.

Ne­ben ih­nen sass in wür­di­ger Hal­tung ein Mann, der schon um eine Klas­se hö­her galt, Herr Carré-La­ma­don; ein an­ge­se­he­ner Woll­händ­ler, der drei Spin­ne­rei­en be­sass. Er war Of­fi­zier der Ehren­le­gi­on und Mit­glied des Ge­ne­ral­rats. Er war wäh­rend der gan­zen Zeit des Kai­ser­reichs Füh­rer ei­ner wohl­wol­len­den Op­po­si­ti­on ge­we­sen, le­dig­lich um sich we­gen sei­ner an­stän­di­gen Kamp­fes­wei­se sei­ne Nach­gie­big­keit, wie er selbst sag­te, umso teu­rer be­zah­len zu las­sen. Ma­da­me Carré-La­ma­don, be­deu­tend jün­ger als ihr Gat­te, war der Lieb­ling der Of­fi­zie­re aus gu­ter Fa­mi­lie, die zu Rou­en in Gar­ni­son stan­den. Sie sass ih­rem Man­ne ge­gen­über ganz in ihr Pelz­werk gehüllt, sehr nied­lich, sehr hübsch, sehr zart, und schau­te be­trübt in dem un­ge­müt­li­chen Kas­ten um­her.

Ihre Nach­barn, der Graf und die Grä­fin Hu­bert de Bréville ge­hör­ten ei­nem der vor­nehms­ten und äl­tes­ten Ge­schlech­ter der Nor­man­die an. Der Graf, ein al­ter Edel­mann von statt­li­chem Äus­sern, such­te durch al­ler­hand Toi­let­te­küns­te sei­ne na­tür­li­che Ähn­lich­keit mit Hein­rich den IV. noch mehr her­vor­zu­he­ben. Ei­ner Sage nach, auf wel­che die Fa­mi­lie sich sehr viel ein­bil­de­te, hat­te die­ser Kö­nig mit ei­ner Bréville ein Kind ge­habt, de­ren Mann dann Graf und Gou­ver­neur der Pro­vinz ge­wor­den war.

Graf Hu­bert ver­trat im Ge­ne­ral­rat, wo er mit Herrn Carré-La­ma­don zu­sam­men­sass, die or­lea­nis­ti­sche Par­tei sei­nes De­par­te­ments. Die Ge­schich­te sei­ner Ver­mäh­lung mit der Toch­ter ei­nes klei­nen Rhe­ders zu Nan­tes war stets et­was dun­kel ge­blie­ben. Aber da die Grä­fin sehr gute Ma­nie­ren be­sass, ein bril­lan­tes Haus mach­te und man so­gar be­haup­te­te, ei­ner der Söh­ne Louis Phil­ip­pes habe ihr län­ge­re Zeit zu Füs­sen ge­le­gen, so stand sie beim gan­zen Adel in ho­hem An­se­hen und ihr Sa­lon galt als der vor­nehms­te des Lan­des: als der ein­zi­ge, wo man noch die alte Galan­te­rie be­wahr­te und zu dem man sehr schwer Zu­tritt er­hielt.

Die Brévil­les hat­ten, wie man sich er­zähl­te, fünf­mal­hun­dert­tau­send Li­vres Ren­te.


Die­se sechs Per­so­nen nah­men, wie ge­sagt, den Fonds des Wa­gens ein; sie re­prä­sen­tier­ten die wohl­ha­ben­de bes­se­re Ge­sell­schaft, in der Re­li­gi­on und Grund­sät­ze herr­schen.

Fast sämt­li­che weib­li­che Rei­sen­de hat­ten zu­fäl­lig die eine Bank inne. Die Grä­fin hat­te ne­ben sich noch zwei Or­dens­schwes­tern, die an lan­gen Ro­sen­krän­zen ihr »Pa­ter no­s­ter« und ihr »Aves« her­un­ter­be­te­ten. Die äl­te­re von bei­den hat­te ein blat­ter­nar­bi­ges Ge­sicht, als wenn sie aus nächs­ter Nähe eine vol­le Kar­tät­schen­la­dung be­kom­men hät­te. Die jün­ge­re, hüb­sche­re, mach­te einen schwäch­li­chen kränk­li­chen Ein­druck. Ihre Brust war ein­ge­fal­len und auf ih­ren hek­ti­schen Wan­gen schim­mer­te ein ver­rä­te­risches Rot.

Ein Mann und eine Frau, die den bei­den Schwes­tern ge­gen­über sas­sen, zo­gen bald die Bli­cke al­ler Rei­sen­den auf sich.

Der Mann war der wohl­be­kann­te De­mo­krat Cor­nu­det, der Schre­cken al­ler an­stän­di­gen Leu­te. Seit zwan­zig Jah­ren trieb er sich mit sei­nem großen ro­ten Bart in al­len de­mo­kra­ti­schen Knei­pen und Zir­keln her­um. Mit sei­nen Freun­den und Brü­dern hat­te er ein hüb­sches Ver­mö­gen durch­ge­bracht, das ihm sein Va­ter, ein ehe­ma­li­ger Zucker­bä­cker, hin­ter­liess. Jetzt war­te­te er sehn­süch­tig auf die Re­pu­blik, die ihm end­lich den ver­dien­ten Lohn für sei­ne re­vo­lu­tio­näre Agi­ta­ti­on brin­gen soll­te. Am 4. Sep­tem­ber hat­te er, durch einen schlech­ten Witz ge­täuscht, sich be­reits zum Prä­fekt er­nannt ge­glaubt. Als er aber sei­ne Stel­lung an­tre­ten woll­te, ver­wei­ger­ten ihm die Co­pis­ten auf dem Büro, die al­lein noch am Plat­ze ge­blie­ben wa­ren, ihre Aner­ken­nung, und so sah er sich zum Rück­zug ge­zwun­gen. Von Her­zen gut­mü­tig und ge­fäl­lig hat­te er sich mit an­er­ken­nens­wer­tem Ei­fer um die Ver­tei­di­gung der Stadt be­müht. Er hat­te rings­um auf al­len Wie­sen tie­fe Lö­cher ein­gra­ben und mit­tels der jun­gen Bäu­me aus den be­nach­bar­ten Wäl­dern über­all Ver­haue her­stel­len las­sen. Auf al­len Stras­sen leg­te er Wolfs­gra­ben an, und als dann der Feind sich nä­her­te, zog er, be­frie­digt von sei­ner Tä­tig­keit sich so schnell wie mög­lich in die Stadt zu­rück. Er ge­dach­te, sich jetzt in Ha­vre, wo es an aus­rei­chen­den Ver­schan­zun­gen feh­len soll­te, noch wei­ter nütz­lich zu ma­chen.

Die Frau war eine so­ge­nann­te Al­ler­welts­da­me und ih­rer her­vor­ra­gen­den Lei­bes­fül­le we­gen be­rühmt, die ihr den Bein­amen Fett-Kloss ein­ge­tra­gen hat­te. Sie war klein, durch­aus rund, spe­ckig, und ihre auf­ge­dun­se­nen, an den Glie­dern ein­ge­kerb­ten Fin­ger mach­ten den Ein­druck von an­ein­an­der hän­gen­den Würst­chen. Mit ih­rer glän­zen­den straff ge­spann­ten Haut und ei­ner mäch­ti­gen wo­gen­den Brust blieb sie doch im­mer noch be­geh­rens­wert und ap­pe­tit­lich, weil der An­blick ih­rer Fri­sche einen sym­pa­thisch be­rühr­te. Ihr Ge­sicht glich ei­nem ro­ten Ap­fel, ei­ner knos­pen­den Pfingst­ro­se, die im Be­griff ist, auf­zu­blü­hen. Aber da drin­nen un­ter der Stirn leuch­te­ten zwei präch­ti­ge Au­gen, von dich­ten schwar­zen Wim­pern um­schat­tet, die das Dun­kel noch ver­mehr­ten. Und wei­ter un­ten zeig­te sich ein rei­zen­der klei­ner Mund, zum Küs­sen wie ge­schaf­fen und mit zier­li­chen Per­l­zähn­chen aus­ge­rüs­tet.


Im Üb­ri­gen be­sass sie, wie man sag­te, meh­re­re ganz un­schätz­ba­re Ei­gen­schaf­ten.

So­bald man sie er­kannt hat­te, ent­stand un­ter den ehr­ba­ren Da­men ein Ge­flüs­ter und Wor­te wie »Pro­sti­tu­ier­te,« »öf­fent­li­cher Skan­dal« wur­de so ver­nehm­lich ge­wis­pert, dass sie auf­schau­te. Sie warf ih­rer Um­ge­bung einen so trot­zi­gen her­aus­for­dern­den Blick zu, dass so­fort tie­fe Stil­le ein­trat, und je­der vor sich hin­schau­te. Nur Loi­seau be­trach­te­te sie mit leb­haf­ter Mie­ne.

 

Aber bald be­gann die Un­ter­hal­tung zwi­schen den drei Da­men, wel­che sich durch die Ge­gen­wart die­ser Per­son un­will­kür­lich nä­her zu ein­an­der hin­ge­zo­gen fühl­ten, wie­der leb­haf­ter zu wer­den. Es schi­en ih­nen, als müss­ten sie ihre Wür­de als Gat­tin­nen mit­ein­an­der ver­ei­ni­gen ge­gen­über die­ser Dir­ne, die sich ohne Wahl an je­den ver­kauf­te. Die le­ga­le Lie­be sieht nun ein­mal stets mit Ver­ach­tung auf ihre freie Schwes­ter her­ab.

Auch die drei Herrn, die dem De­mo­kra­ten Cor­nu­det ge­gen­über sich in ei­nem ge­wis­sen kon­ser­va­ti­ven In­stinkt en­ger an­ein­an­der schlos­sen, spra­chen über Geld­sa­chen mit ei­ner Art von Ver­ach­tung für die Ar­men. Graf Hu­bert er­zähl­te von den Ver­wüs­tun­gen, wel­che die Preus­sen bei ihm an­ge­rich­tet, von den Ver­lus­ten, die sie ihm an sei­nem Vieh­be­stand zu­ge­fügt hät­ten und von der ver­lo­re­nen Ern­te mit dem Selbst­be­wusst­sein ei­nes zehn­fa­chen Mil­lio­närs, der nach ei­nem Jahr schon nicht mehr an der­glei­chen den­ken wird. Herr Carré-La­ma­don, der große Woll-In­dus­tri­el­le, hat­te die Vor­sicht ge­habt, sechs­mal hun­dert­tau­send Fran­cs nach Eng­land zu schi­cken, ein Trop­fen für den Durst, den er sich für alle Fäl­le si­chern woll­te. Was Herrn Loi­seau an­be­traf, so hat­te er es fer­tig ge­bracht, der fran­zö­si­schen In­ten­dan­tur den gan­zen Rest sei­ner ge­wöhn­li­chen Wei­ne, den er noch in sei­nen Kel­le­rei­en hat­te, zu ver­kau­fen, so­dass die Re­gie­rung ihm ein hüb­sches Sümm­chen schul­de­te, das er jetzt in Ha­vre zu er­he­ben hoff­te.

Alle drei war­fen sich bei die­sem Ge­spräch öf­ters ver­trau­li­che Bli­cke zu. Wenn auch ver­schie­den an Le­bens­stel­lung fühl­ten sie sich doch durch den Geld­punkt ver­bun­den, der so­zu­sa­gen die Frei­mau­rer-Loge al­ler Be­sit­zen­den, al­ler de­rer ist, de­nen das Gold in der Ta­sche klingt, so­bald sie dar­auf klop­fen.

Der Wa­gen fuhr so lang­sam, dass man ge­gen zehn Uhr mor­gens noch kaum vier Mei­len zu­rück­ge­legt hat­te. Die Her­ren stie­gen drei­mal aus, um bergan zu Fuss zu ge­hen. Man be­gann un­ru­hig zu wer­den, denn man woll­te in Tôtes früh­stücken und es war jetzt sehr zwei­fel­haft, ob man vor Abend noch da­hin ge­lan­gen wür­de. Man sah sich ge­ra­de ver­geb­lich nach ei­nem Wirts­haus an der Stras­se um. als der Om­ni­bus in ei­nem Schnee­h­au­fen ste­cken blieb. Es brauch­te vol­le zwei Stun­den, um ihn wie­der flott zu ma­chen.

Der Ap­pe­tit wuchs und mach­te sich un­an­ge­nehm be­merk­bar. Und kein Wirts­haus zeig­te sich, kei­ne Wein­schän­ke stand of­fen, da in­fol­ge des An­mar­sches der Preus­sen und des Durch­zu­ges der aus­ge­hun­ger­ten fran­zö­si­schen Trup­pen alle der­ar­ti­ge Ge­schäf­te ge­schlos­sen wa­ren.

Die Her­ren lie­fen um ir­gend­wel­che Nah­rungs­mit­tel in die Ge­höf­te an der Stras­se, aber es war nicht ein­mal Brot dort zu er­lan­gen. Denn die miss­traui­schen Land­leu­te hat­ten ihre Vor­rä­te aus Furcht vor den plün­dern­den Sol­da­ten ver­bor­gen, die in ih­rem Hun­ger al­les, was sie ent­de­cken konn­ten, ge­walt­sam an sich nah­men.

Ge­gen ein Uhr Mit­tags er­klär­te Loi­seau, dass er ent­schie­den einen ganz ab­scheu­li­chen Ma­gen­schmerz ver­spü­re. Al­len üb­ri­gen ging es nicht bes­ser, und der hef­ti­ge Es­sens­drang hat­te schliess­lich jede Un­ter­hal­tung zum Schwei­gen ge­bracht.

Von Zeit zu Zeit fing ei­ner an zu gäh­nen, und ein an­de­rer folg­te ihm dar­in so­fort. Und der Rei­he nach öff­ne­te je­der, je nach Cha­rak­ter, Le­bens­art und so­zia­ler Stel­lung ent­we­der ge­räusch­voll oder lei­se den Mund, um dann schnell mit der Hand die Öff­nung zu be­de­cken, aus der ein war­mer Hauch ent­ström­te.

Fett-Kloss hat­te sich mehr­mals vor­ge­beugt, als sehe sie nach ir­gen­det­was un­ter ih­ren Rö­cken. Sie zau­der­te einen Au­gen­blick, blick­te ihre Nach­ba­rin an, und rich­te­te sich dann ru­hig wie­der auf. Die Ge­sich­ter der Rei­sen­den wa­ren bleich und ver­zerrt Loi­seau schwor, dass er tau­send Fran­cs für ein Schin­ken­bröt­chen ge­ben wür­de. Sei­ne Frau mach­te eine Ge­bär­de, als woll­te sie et­was ein­wen­den; aber sie be­ru­hig­te sich wie­der. Sie litt im­mer dar­un­ter, wenn sie von Geld­ver­schleu­de­rung re­den hör­te; selbst ein Scherz über die­sen Ge­gen­stand war ihr ver­hasst. »Ich füh­le mich tat­säch­lich un­wohl; wie konn­te ich nur ver­ges­sen mir was zum Früh­stücken mit­zu­neh­men?« die­sen Vor­wurf mach­te sich je­der ein­zel­ne im Wa­gen.

Cor­nu­det hat­te al­ler­dings eine Feld­fla­sche voll Rum bei sich. Er bot die­sel­be her­um, aber man dank­te ihm küh­ler Zu­rück­hal­tung. Nur Loi­seau nahm einen Schluck. »Das tut auf alle Fäl­le gut«; sag­te er die Fla­sche mit Dank zu­rück­ge­bend »es wärmt und ver­treibt den Hun­ger.« Der Al­ko­hol mach­te ihn gu­ter Lau­ne und er schlug vor, es zu ma­chen wie die Schiff­brü­chi­gen und den wohl­ge­nähr­tes­ten Pas­sa­gier auf­zues­sen. Die­se deut­li­che An­spie­lung auf Fett-Kloss miss­fiel den wohl­er­zo­ge­nen Leu­ten, und es ant­wor­te­te ihm nie­mand; nur Cor­nu­det lä­chel­te. Die bei­den Or­dens­schwes­tern hat­ten mit dem Ro­sen­kranz-Ge­bet auf­ge­hört. Sie sas­sen re­gungs­los, die Hän­de in ih­ren wei­ten Är­meln ver­gra­ben und der Blick hart­nä­ckig zur Erde ge­senkt. Ohne Zwei­fel op­fer­ten sie dem Him­mel ihr Leid auf.

End­lich ge­gen drei Uhr, als der Wa­gen durch eine end­lo­se Ebe­ne fuhr, auf der weit und breit kein Haus zu ent­de­cken war, bück­te sich Fett-Kloss has­tig und zog un­ter der Bank einen um­fang­rei­chen Korb her­vor, der mit ei­ner Ser­vi­et­te be­deckt war.

Sie ent­nahm dem­sel­ben zu­nächst einen Por­zel­lan­tel­ler, einen zier­li­chen sil­ber­nen Be­cher, dann eine große Ter­ri­ne, in wel­cher zwei gan­ze in Ge­lee ein­ge­mach­te Hüh­ner wa­ren. Aus­ser­dem be­merk­te man in der Tie­fe des Kor­bes noch al­ler­lei le­cke­re Sa­chen ver­packt, Pas­te­ten, Früch­te und Ein­ge­mach­tes; kurz es war ein Rei­se­vor­rat für reich­lich drei Tage, ohne eine Wirts­haus­kü­che in An­spruch neh­men zu müs­sen. Sie hol­te sich ein Hüh­ner­flü­gel­chen her­aus und be­gann das­sel­be zu ei­nem je­ner Bröd­chen, die man in der Nor­man­die »Re­gence’s« nennt, zier­lich zu ver­spei­sen.

Al­ler Bli­cke wa­ren auf sie ge­rich­tet. Der le­cke­re Duft ver­brei­te­te sich mehr und mehr und kit­zel­te den Ge­ruchs­sinn der Mit­rei­sen­den, de­ren Mund un­will­kür­lich wäs­se­rig wur­de, wäh­rend die Kinn­la­den sich schmerz­haft zu­sam­men­zo­gen. Der Ab­scheu der Da­men ge­gen die­se Dir­ne stei­ger­te sich zur völ­li­gen Wut; man hät­te sie am liebs­ten um­ge­bracht oder sie samt ih­rem Be­cher, ih­rem Korb und ih­ren Ess­wa­ren zum Wa­gen hin­aus in den Schnee ge­wor­fen.

Loi­seau ver­zehr­te in­des­sen die Hüh­ner-Ter­ri­ne mit sei­nen Bli­cken. »Ma­da­me sind vor­sich­ti­ger ge­we­sen, als wir üb­ri­gen,« sag­te er. »Es gibt eben Da­men, die an al­les den­ken.« Sie sah zu ihm auf. »Wenn Sie Lust ha­ben, mein Herr«; sag­te sie »es ist fa­tal, wenn man von früh mor­gens an nichts zu es­sen hat.« Er ver­beug­te sich. »Mei­ner Treu, wenn ich of­fen sein soll, so neh­me ich dan­kend an; ich kann mir nicht mehr hel­fen. Im Krie­ge muss man wie im Krie­ge le­ben, nicht wahr, Ma­da­me?« Dann blick­te er um sich. »In sol­chen Au­gen­bli­cken ist man froh, so zum Dan­ke ver­pflich­tet zu sein.« Er brei­te­te eine Zei­tung auf dem Schos­se aus, um sei­ne Bein­klei­der nicht zu be­fle­cken und ent­nahm mit der Spit­ze sei­nes Ta­schen­mes­sers ein ganz in Ge­lee gehüll­tes Stück, zer­riss es mit den Zäh­nen und kau­te es mit sol­chem Wohl­ge­fal­len, dass sei­ne Rei­se­ge­fähr­ten ihn mit Ab­scheu be­trach­te­ten.