Étretat, Freitag.
Meine liebe Tante!
Ich komme Dir allmählich entgegen. Ich werde am 2. September in Les Fresnes sein, den Tag vor Beginn der Jagd, den ich nicht verfehlen möchte, um diese Herren zu ärgern. Du bist zu gut, liebe Tante, und wenn du mit ihnen allein bist, erlaubst du ihnen ohne Frack und unrasiert zum Essen zu kommen, weil sie angeblich ermüdet sind.
Darum sind sie auch entzückt, wenn ich nicht da bin. Aber ich werde da sein und Besichtigung abhalten, wie ein General, wenn es Essenszeit ist. Und wenn ich einen finde, der sich vernachlässigt, werde ich ihn zu den Mägden in die Küche schicken.
Die Herren von heute sind so wenig rücksichtsvoll und haben so wenig Lebensart, dass man nie streng genug sein kann. Es ist wirklich die Zeit der Kutschermanieren. Wenn sie miteinander in Streit geraten, gebrauchen sie Schimpfworte wie Fuhrknechte, und vor uns benehmen sie sich weit schlechter, als unsre Dienstboten. In den Seebädern muss man sie sehen! Da sind sie in hellen Haufen und man kann sie in Masse beurteilen, wie ungehobelt sie sind!
Stelle dir vor: in der Eisenbahn sitzt mir ein Herr gegenüber, der es seinem Schneider zu danken hatte, dass er auf den ersten Blick anständig aussah. Plötzlich zieht er in aller Ruhe seine Stiefel aus und legt Schlappen an. Ein anderer, ein älterer Mann, scheinbar ein reicher Emporkömmling – die sind immer am schlechtesten erzogen – sitzt mir gegenüber und legt gemütlich seine beiden Füße auf den Sitz neben mir. So etwas ist erlaubt.
In den Seebädern herrscht ein geradezu zügelloses Flegeltum. Freilich stammt meine Empörung, wie ich hinzufügen muss, vielleicht daher, dass ich gar nicht gewöhnt bin, mit diesen Leuten, die man hier mit dem Ellenbogen streift, zu verkehren; ihr Benehmen würde mich vielleicht weniger verletzen, wenn ich es nicht anders kennte.
Im Hotelbüro wurde ich neulich von einem jungen Menschen fast umgestoßen: er nahm über meinen Kopf weg seinen Schlüssel vom Brette. Ein anderer rempelte mich beim Verlassen des Kasinoballs mit aller Gewalt an, ohne mich um Entschuldigung zu bitten oder auch nur den Hut abzunehmen; ich habe noch heute Brustschmerzen davon. Und so sind sie alle. Sieh sie dir an, wenn sie Damen auf der Terrasse anreden: sie grüßen kaum. Sie legen höchstens die Hand an die Kopfbedeckung. Da sie indes zumeist Kahlköpfe haben, ist dies vielleicht das beste.
Aber etwas empört und verletzt mich vor allem: das ist die Art, wie sie sich ganz öffentlich und ohne die geringste Vorsicht von den empörendsten Dingen unterhalten. Wenn zwei Männer zusammen sind, erzählen sie sich in den rohsten Ausdrücken und gemeinsten Gedankengängen wahrhaft unerhörte Geschichten, ohne sich im Geringsten zu genieren, wenn ein Frauenohr in ihrer Nähe ist. Gestern am Strande musste ich meinen Platz wechseln, um nicht länger die unfreiwillige Zuhörerin einer skandalösen Geschichte zu sein, die sie sich in so brutalen Ausdrücken erzählten, dass ich nicht wusste, ob ich mich mehr schämen oder mehr empört sein sollte, dass ich so etwas hatte mitanhören müssen. Das geringste Anstandsgefühl hätte ihnen sagen können, dass man in unsrer Nähe von solchen Sachen leise zu sprechen hat.
Étretat ist übrigens das Land, wo von allem Aufhebens gemacht wird, und folglich die Heimat der Klatschbasen. Nachmittags von fünf bis sieben Uhr sieht man sie auf der Jagd nach Verläumdungen, die sie von Haus zu Haus tragen. Du sagtest mir einmal, liebe Tante, die Klatschsucht wäre ein Zeichen von kleinem Geiste und schlechter Herkunft. Sie ist auch der Trost der Frauen, denen keine Liebe mehr blüht und der Hof nicht mehr gemacht wird. Man braucht sich die nur anzusehen, die als die Klatschsüchtigsten bezeichnet werden, und man ist sicher, dass du dich nicht täuschtest.
Neulich wurde eine musikalische Soirée im Kasino von einer namhaften Künstlerin, Frau Masson, veranstaltet. Sie sang wirklich zum Entzücken. Ich hatte auch Gelegenheit, den prachtvollen Coquelin zu beklatschen, ebenso zwei reizende frühere Mitglieder vom Baudeville-Theater, M… und Meillet. Ich konnte bei dieser Gelegenheit alles, was diesen Sommer am Strande war, zusammen sehen. Viel Gutes war nicht darunter.
Am nächsten Tage ging ich zum Frühstück nach Yport. Ich sah einen bärtigen Menschen aus einem großen festungsartigen Hause kommen; es war der Maler Jean Paul Lorens. Es genügte ihm anscheinend nicht, seine Personen mit Mauern zu umgeben; er möchte sich auch noch selbst einmauern.
Am Strande saß ich neben einem noch jungen Manne von zartem und feinem Aussehen und stillem Wesen, der Verse las. Aber er las sie mit solcher Aufmerksamkeit, dass er nicht ein einziges Mal nach mir aufsah. Ich war etwas verwundert und fragte den Bademeister scheinbar unabsichtlich, wer dieser Herr wäre. Im Grunde lachte ich ein wenig über diesen Versleser; er schien mir für einen Mann etwas zurückgeblieben. Das ist ein Simpel, sagte ich mir. Nun wohl, liebe Tante, jetzt bin ich ganz entzückt von meinem Unbekannten. Denke dir, er hieß Sully Prudhomme. Ich kehrte um und setzte mich neben ihn, um ihn in aller Gemütsruhe betrachten zu können. Sein Gesicht hat vor allem einen starken Ausdruck von Ruhe und Feinheit. Da ihn jemand abholte, hörte ich auch seine Stimme; sie ist sanft und fast furchtsam. Der wird gewiss keine Roheiten ausposaunen, dachte ich, noch Frauen anrempeln, ohne sich zu entschuldigen. Er muss anders sein, als die Übrigen, aber kränklich und nervös. Diesen Winter werde ich sehen, dass er mir vorgestellt wird.
Ich weiß nichts mehr zu schreiben, liebe Tante, und schließe diesen Brief in Eile, da die Post bald abgeht. Ich küsse dir Hände und Wangen.
Deine treue Nichte
Bertha von X…
P. S. Zur Rechtfertigung der französischen Höflichkeit muss ich hinzusetzen, dass unsere Landsleute auf Reisen im Vergleich zu den schauderhaften Engländern wahre Muster von Höflichkeit sind. Denn Die scheinen in der Kutscherstube erzogen zu sein und geben sich alle Mühe, sich selbst nie und ihren Nachbarn stets zur Last zu fallen.
*
Les Fresnes, Sonnabend.
Meine liebe Kleine!
Vieles, was du mir da schriebst, hat Hand und Fuß, was freilich nicht verhindert, dass du unrecht hast. Früher war ich ganz wie du voll Ingrimm über die Unhöflichkeit der Männer gegen mich; später, als ich älter wurde, und meinen koketten Sinn verlor, und die Dinge betrachten lernte, wie sie sind, wurde mir klar, dass die Männer vielleicht nicht höflich, die Frauen dagegen immer von ausgesuchter Rücksichtslosigkeit sind.
Wir glauben, uns sei alles erlaubt, meine Liebe, und wir glauben zugleich, dass man uns alles schuldig sei, und wir begehen am hellen lichten Tage tausend Unarten, die jenes Anstandsgefühles, von dem du sprichst, völlig baar sind.
Jetzt finde ich im Gegenteil, dass die Männer gegen uns – im Vergleich zu unserem Benehmen gegen sie – noch sehr rücksichtsvoll sind. Zuletzt, mein Täubchen, sind die Männer immer das, und müssen es sein, was wir aus ihnen machen. In einer Gesellschaft, in der die Frauen alle vornehme Damen wären, müssten die Männer alle zu Edelleuten werden. Mach nur die Augen auf und denke nach.
Sieh dir zwei Damen an, die sich auf der Straße begegnen. Welches Benehmen! Welche abschätzigen Blicke, welche Verachtung in den Augen! Welches Sich-Abmessen von Oben bis Unten, um zu verurteilen. Und wenn der Bürgersteig zu schmal ist, glaubst du, eine von ihnen wiche aus und bäte um Entschuldigung? Niemals! Wenn aber zwei Männer sich in einem zu engen Gässchen anrempeln, lüften beide den Hut und machen sich Platz. Wir aber drängen uns Leib an Leib, Nase an Nase an einander vorüber und blicken uns unverschämt an.
Sieh dir zwei Damen an, die sich kennen und sich auf der Treppe vor der Tür einer Freundin begegnen, die die eine besuchen will und die andere verlässt. Sie fangen an zu schwatzen und versperren die ganze Breite der Treppe. Wenn nun jemand, Mann oder Frau, hinter ihnen herkommt, glaubst du, sie machten nur einen halben Fuß breit Platz? Niemals, niemals!
Letzten Winter wartete ich zweiundzwanzig Minuten, die Uhr in der Hand, an der Tür eines Salons. Und hinter mir warteten zwei Herren, und keiner von beiden machte Miene, wütend zu werden, wie ich. Sie waren eben seit lange an unsre unbewussten Rücksichtslosigkeiten gewöhnt.
Neulich, ehe ich Paris verließ, ging ich – gerade mit deinem Gatten – in ein Restaurant der Champs Élysées, um mich zu erfrischen. Alle Tische waren voll. Der Kellner bat uns zu warten.
Ich sah eine ältere Dame von vornehmem Aussehen, die ihre Rechnung bereits beglichen hatte und zum Aufbruch bereit schien. Als sie mich sah, blickte sie mich von Oben bis Unten an und rührte sich nicht vom Fleck. Sie blieb länger als eine Viertelstunde unbeweglich sitzen, zog ihre Handschuhe an, musterte alle Tische und sah sich die Leute, die wie ich warteten, mit Gemütsruhe an. Zwei junge Herren, die ihre Mahlzeit eben beendeten, erblickten mich und riefen schleunigst den Kellner, um ihre Rechnung zu begleichen. Sie boten mir sofort ihren Platz an und wollten nicht einmal so lange sitzen bleiben, bis die Rechnung bezahlt war. Und dabei, meine Liebe, bin ich nicht mehr jung und hübsch, wie du, sondern alt und grau.
Uns, siehst du, sollte die Höflichkeit beigebracht werden, und diese Arbeit wäre so schwer, dass Herkules sie nicht vollbrächte. –
Du sprichst von Étretat und den Leuten, die an diesem schönen Strande klatschen. Für mich ist die Gegend längst tot, aber früher habe ich mich dort prächtig amüsiert. Wir waren damals nur wenige, Leute aus der Gesellschaft, aus der wirklichen Gesellschaft, und Künstler in brüderlicher Einigkeit. Damals wurde nicht geklatscht.
Wir hatten zu unserer Zeit freilich noch nicht das abgeschmackte Kasino, wo man sich aufspielt, tuschelt, stumpfsinnig tanzt und sich übermäßig langweilt. Wir hatten eine andere Weise, unsre Abende fröhlich zu verbringen. Rate mal, was unsre Herren sich ausdachten: wir tanzten jeden Abend in einem Bauernhofe der Gegend.
Wir brachen im Trupp auf und nahmen einen Leierkasten mit; gewöhnlich drehte ihn der Maler Le Poittevin, eine Baumwollmütze auf dem Kopfe. Zwei Herren gingen mit Laternen voraus. Wir folgten hinterdrein und lachten und schwatzten wie toll.
Der Pächter wurde geweckt, Knechte und Mägde herausgetrommelt. Oft wurde sogar – o Schauder! – Zwiebelsuppe gekocht, und nachher tanzten wir unter dem Birnbaum nach den Klängen der Drehorgel. Die Hähne krähten aufgestört in der Tiefe der Gebäude und die Pferde wieherten unruhig auf der Streu. Der frische Nachtwind streichelte uns die Wangen und wehte uns feuchten Laubgeruch und Heuduft entgegen.
O wie weit, wie weit liegt das jetzt hinter mir! Dreißig Jahre sind es jetzt! –
Ich möchte nicht, meine Liebste, dass du zur Eröffnung der Jagd herkommst. Warum unsern Freunden den Spaß verderben und ihnen den Zwang auferlegen, sich an diesen Tagen des derben, ländlichen Vergnügens elegant anzuziehen? So verdirbt man die Männer, Kleine!
Herzlichen Gruß und Kuss. Deine alte Tante
Geneviève von Z…
*
– Ja, die Weiber!
– Nun, was ist denn mit den Weibern?
– Je nun, es gibt keine geschickteren Tausendkünstler, als sie. Sie legen uns bei allem und jedem herein, mit und ohne Grund, oft aus bloßer Freude am Ränkespinnen. Sie überlisten uns mit unglaublicher Naivetät, mit erstaunlicher Keckheit und unnachahmlicher Feinheit. Sie betrügen uns vom Morgen bis in die Nacht, alle ohne Ausnahme; die anständigsten, die rechtschaffensten, die sinnbegabtesten – alle sind Ränkeschmiede.
Freilich, das muss man sich sagen, nicht selten werden sie dazu gezwungen. Der Mann hat ohne Zweifel oft eigensinnige Launen, Launen wie ein Blöder, und tyrannische Gelüste. Ein Mann trifft in seinem Hause jeden Augenblick die lächerlichsten Anordnungen. Er ist voller Narrheiten, denen seine Frau schmeichelt, um sie zu hintertreiben. Sie macht ihm weis, dass etwas so und so viel kostete, denn wenn es mehr kostete, gäbe es Spektakel. Und sie weiß sich immer geschickt aus der Klemme zu ziehen, und dies durch so einfache und niederträchtige Mittel, dass wir die Arme sinken lassen, wenn wir zufällig dahinter kommen. Dann sagen wir verblüfft: »Wie habe ich das nur nicht merken können!?«
*
Der Mann, der so sprach, war ein alter Minister des Kaiserreiches, Graf von L…, ein sehr verschlagener Mann, wie es hieß, und von überlegenem Geiste.
Eine Gruppe von jungen Leuten umstand ihn und hörte aufmerksam zu.
Mich, begann er von Neuem, hat einmal eine kleine Bürgersfrau in ebenso drolliger wie meisterhafter Weise angeführt. Ihnen zur Lehre will ich die Geschichte erzählen.
Ich war damals Minister des Auswärtigen und hatte die Gewohnheit, jeden Morgen einen langen Spaziergang nach den Champs Élysées zu machen. Es war im Monat Mai; ich ging und sog in vollen Zügen den angenehmen Duft des ersten Grüns ein.
Bald wurde ich gewahr, dass mir Tag für Tag eine allerliebste kleine Person begegnete, eines jener reizenden, graziösen Geschöpfe, die den Stempel von Paris tragen. Ob sie hübsch war? Ja und nein. Schön gewachsen? Nein, besser als das. Die Taille war zu schlank, die Schultern zu grade, die Brust zu gewölbt. Aber wenn auch, ich ziehe diese köstlichen lebenden Puppen mit ihrer rundlichen Form dem großen Knochengerüst der Venus von Milo vor…
Und dann trippelte sie auf eine unnachahmliche Weise, und das bloße Rauschen ihrer Röcke lässt es uns heiß und kalt durch die Glieder rieseln… Es sah aus, als blickte sie mich im Vorübergehen an. Aber diese Kreaturen sehen immer nach allem Möglichen aus, und man weiß doch nie…
Eines Morgens erblickte ich sie auf einer Bank sitzend; sie hatte ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Schnell setzte ich mich neben sie und in fünf Minuten waren wir die besten Freunde. Dann begrüßten wir uns jeden Morgen lächelnd: »Guten Tag, meine Dame!« – »Guten Tag, mein Herr!« und darauf wurde geplaudert. Sie verriet mir, dass sie die Frau eines Beamten sei, dass das Leben traurig, die Vergnügungen selten und die Sorgen häufig wären, und tausend andere Dinge mehr.
Ich sagte ihr zufällig und vielleicht auch aus Eitelkeit, wer ich wäre, und sie spielte die Erstaunte sehr gut.
Tags darauf besuchte sie mich im Ministerium und kam danach so oft wieder, dass die Diener im Ministerium sie bald kannten und sich, wenn sie erschien, ihren Namen, den sie ihr gegeben, gegenseitig zutuschelten. Sie hatten sie »Frau Léon« getauft; Léon ist nämlich mein Vorname.
So sah ich sie drei Monate lang jeden Morgen, ohne ihrer je überdrüssig zu werden: so schön verstand sie ihre Zärtlichkeiten zu variieren und zu tönen. Aber eines Tages merkte ich, dass ihre Augen rot waren und von zurückgehaltenen Tränen schimmerten; sie sprach auch nur widerwillig und schien in geheime Gedanken versunken.
Ich bat und beschwor sie, mir den Kummer ihres Herzens anzuvertrauen, und sie stammelte schließlich zusammenschaudernd: »Ich… ich bin guter Hoffnung.« Dann fing sie an zu schluchzen. Ich schnitt ein grimmes Gesicht und wurde blass, wie man es bei dergleichen Anlässen tun soll. Sie machen sich gar keinen Begriff davon, welchen unangenehmen Schreckschuss einem die Ankündigung einer solchen unerwarteten Vaterschaft einjagt. Aber früher oder später werden Sie’s ja auch zu erfahren haben… Ich stotterte also verlegen: »Aber… aber du bist doch verheiratet.«
»Ja«, antwortete sie, »aber mein Mann ist seit zwei Monaten in Italien und wird noch lange nicht zurückkommen.«
Ich wollte die Verantwortlichkeit um jeden Preis von mir abwälzen und sagte: »Du musst sogleich zu ihm hin.« Sie errötete bis in die Schläfen und senkte die Lider. »Ja… aber…« Sie wagte nicht weiter zu sprechen oder wollte auch nicht.
Ich verstand jedoch und übergab ihr in schonendster Form ein Couvert mit dem nötigen Reisegeld.
*
Acht Tage später erhielt ich einen Brief aus Genua, die Woche darauf einen aus Florenz, dann aus Livorno, Rom und Neapel. Sie schrieb mir: »Es geht mir gut, Geliebter, nur sehe ich schauderhaft aus. Ich möchte nicht, dass du mich siehst, eh’ alles vorüber ist; du würdest mich sonst nicht mehr mögen. Mein Mann ahnt nichts. Da sein Auftrag ihn noch lange hier im Lande hält, werde ich erst nach dem Ereignis nach Frankreich zurück können.«
Und nach acht Monaten etwa erhielt ich aus Venedig nur diese Worte: »Es ist ein Junge.«
Einige Zeit darauf erschien sie plötzlich des Morgens in meinem Arbeitszimmer. Sie war frischer und hübscher denn je und warf sich mir an die Brust. Und unsre alte Zärtlichkeit wurde fortgesetzt.
Als ich das Ministerium verließ, kam sie in mein Hotel in der Rue Grenelle. Sie sprach mir oft von ihrem Kinde, aber ich hörte garnicht hin; denn das ging mich nichts an. Ich übergab ihr hin und wieder nur ein recht hübsches Sümmchen und sagte einfach: »Lege das für ihn an.«
So vergingen zwei Jahre, während sie mir immer eindringlicher von dem kleinen Léon erzählte. Zuweilen weinte sie auch und sagte: »Du liebst ihn nicht, du willst ihn nicht einmal sehen. Wenn du wüsstest, welchen Kummer du mir damit bereitest!«
Schließlich setzte sie mir so stark zu, dass ich ihr eines Tages zusagte, am nächsten Morgen nach den Champs Élysées zu kommen, wenn sie mit dem Kinde dort spazieren ginge.
Aber in dem Augenblick, wo ich gehen wollte, befiel mich eine seltsame Unschlüssigkeit. Der Mann ist schwach und dumm; was wusste ich, was in meinem Herzen vorgehen würde, wenn ich dieses kleine Wesen – meinen Sohn! erblickte. Vielleicht würde mein Herz sich regen.
Ich hatte bereits den Hut auf dem Kopfe und die Handschuhe angestreift; ich warf die Halbschuhe wieder auf mein Schreibpult und meinen Hut auf einen Stuhl. »Nein«, sagte ich zu mir, »ich gehe ganz bestimmt nicht. Das ist verständiger!«
Plötzlich öffnete sich die Tür und mein Bruder trat ein. Er übergab mir einen anonymen Brief, den er diesen Morgen erhalten hatte und der folgendermaßen lautete: »Setzen Sie Ihren Bruder, den Grafen L…, davon in Kenntnis, dass die kleine Frau aus der Rue Cassette sich in unverschämtester Weise über ihn lustig macht. Erkundigungen über sie einzuziehen, wäre angezeigt.«
Ich hatte nie und mit keinem Menschen von dieser Geschichte gesprochen. Ich war höchst verblüfft und erzählte meinem Bruder den Hergang der Sache von Anfang bis zu Ende. »Was mich betrifft«, setzte ich hinzu, »so will ich nichts mehr damit zu tun haben. Du würdest mich aber sehr verbinden, wenn du Nachforschungen darüber anstellen wolltest.« Als mein Bruder gegangen war, sagte ich mir: »Worin kann sie mich betrügen? Sie hat vielleicht noch andere Liebhaber. Aber was geht das mich an? Sie ist jung, frisch und hübsch, mehr verlange ich nicht von ihr. Sie scheint mich zu lieben und kostet im Ganzen nicht viel. Ich verstehe es wirklich nicht.«
Mein Bruder kam bald zurück. Auf der Polizei hatte man ihm über ihren Gatten die besten Auskünfte gegeben. »Beamter im Ministerium des Innern, korrekt, wohl ackreditiert, wohlgesinnt, hat aber eine Frau, die weit über ihre bescheidenen Verhältnisse zu leben scheint.« Das war alles.
Hierauf war mein Bruder in ihre Wohnung gegangen, und da er hörte, dass sie aus wäre, hatte er sich an den Portier gewandt und diesen durch Gold zum Reden gebracht. »Frau D… eine sehr brave Frau und Herr D… ein sehr braver Mann, nicht stolz, nicht reich, aber freigebig.«
Um doch etwas zu sagen, fragte mein Bruder:
– Wie alt ist ihr Kleiner jetzt?
– Aber sie hat ja gar keine Kinder, Herr.
– Wie? Sie hat doch den kleinen Léon?
– Nein, mein Herr, Sie täuschen sich.
– Aber der, den sie auf ihrer italienischen Reise bekam, es ist jetzt zwei Jahre her.
– Sie ist nie in Italien gewesen, mein Herr. Seit fünf Jahren, wo sie hier wohnt, hat sie das Haus nicht verlassen.
Mein Bruder war betroffen, fragte von Neuem und sondierte so tief wie möglich. Aber es blieb dabei: Kein Kind, keine Reise.
Ich war höchst erstaunt, ohne doch den Sinn dieser Komödie recht zu verstehen.
– Ich will Klarheit in der Sache haben, sagte ich, und dies sogleich. Ich werde sie bitten, morgen hierher zu kommen und du wirst sie an meiner Statt empfangen. Wenn sie mich angeführt hat, wirst du ihr diese zehntausend Franks übergeben und ich will sie nicht mehr sehen. Ich fange wahrhaftig an, ein Haar darin zu finden.
*
Was glauben Sie wohl? Vorher hatte es mich verstimmt, dass ich von dieser Frau ein Kind hatte, und jetzt war ich ärgerlich, beschämt und gekränkt, dass ich keins hatte. Ich war jeder Verpflichtung und Sorge ledig und doch wütend.
Mein Bruder empfing sie am nächsten Tage in meinem Arbeitszimmer. Sie trat lebhaft ein, wie gewöhnlich, lief ihm mit offenen Armen entgegen und stutzte erst, als sie ihn erkannte.
Er grüßte und entschuldigte sich.
– Ich bitte um Entschuldigung, sagte er, wenn ich Ihnen an Stelle meines Bruders entgegentrete. Aber er hat mich beauftragt, Sie um eine Auskunft zu bitten, die er nicht gerne selbst erhalten möchte.
Dann blickte er ihr scharf ins Auge und sagte plötzlich:
– Wir wissen, dass Sie kein Kind von ihm haben.
Sie war einen Augenblick stutzig, gewann aber sogleich die Fassung wieder, setzte sich und blickte diesen Richter lächelnd an.
– Nein, ich habe kein Kind, antwortete sie einfach.
– Wir wissen auch, dass Sie nie in Italien gewesen sind.
Diesmal begann sie laut aufzulachen.
– Nein, ich bin nicht in Italien gewesen.
Mein Bruder war betroffen und sagte:
– Der Graf hat mich beauftragt, Ihnen dieses Geld zu geben und Ihnen zu erklären, dass er seine Beziehungen zu Ihnen abbräche.
Sie wurde wieder ernst, steckte das Geld ruhig in die Tasche und sagte naiv:
– Also… soll ich den Grafen nicht wiedersehen?
– Nein, meine Dame.
Sie schien das nicht zu erwarten und setzte ruhigen Tons hinzu:
– Schade. Ich liebte ihn sehr.
Als mein Bruder sah, dass sie so entschlossen war, fragte er sie, gleichfalls lächelnd: »Sagen Sie mir bitte nur, warum Sie diese lange und komplizierte Geschichte von der Reise und dem Kinde erfunden haben?«
Sie blickte meinen Bruder ganz erstaunt an, als ob er etwas sehr Dummes gefragt hatte, und antwortete:
– Das ist doch aber arg! Glauben Sie denn, eine arme kleine Bürgersfrau wie ich, an der garnichts dran ist, hätte einen Mann wie den Grafen von L…, einen Minister, einen Grandseigneur, einen reichen und verführerischen Gentleman, drei Jahre lang festhalten können, wenn ich nicht etwas hatte, womit ich ihn hielt? Nun, es ist jetzt zu Ende; schade drum! Aber es konnte ja nicht ewig so bleiben. Drei Jahre lang ist mir’s wenigstens gelungen. Bitte sagen Sie dem Grafen viele Grüße von mir.
Sie stand auf.
– Aber… das Kind, fing mein Bruder wieder an. Sie hatten doch ein Kind, das Sie ihm zeigen wollten.
– Gewiss, es ist das Kind meiner Schwester. Sie hat es mir geliehen. Wahrscheinlich stammt der Brief von ihr.
– Schön, aber alle diese Briefe aus Italien?
Sie setzte sich wieder und schüttelte sich vor Lachen.
– Oh, diese Briefe! sagte sie. Ein ganzes Gedicht. Der Graf war nicht umsonst Minister des Auswärtigen.
– Aber… wie denn…
– Das ist mein Geheimnis. Ich will niemand blosstellen.
Sie grüßte mit leicht spöttischem Lächeln und ging ohne jede Gemütsbewegung, wie eine Schauspielerin, deren Rolle zu Ende ist. –
»Und die Moral«, setzte Graf L… hinzu: »Traue keiner diesen lockren Vögeln!«
*