Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Der letzte Spaziergang

Als Va­ter Leras, Buch­hal­ter bei Herrn La­bu­ze & Co., sein Ma­ga­zin ver­liess, stand er einen Au­gen­blick wie ge­blen­det vom Glan­ze der un­ter­ge­hen­den Son­ne. Den gan­zen Tag über hat­te er bei dem fah­len Schim­mer der Gas-Lam­pe im äus­sers­ten Win­kel ei­nes Hin­ter­hau­ses ge­ar­bei­tet, des­sen Fens­ter auf den schma­len schacht­ar­ti­gen Hof gin­gen. Das klei­ne Zim­mer, in dem er nun seit vier­zig Jah­ren sei­ne Tage ver­brach­te, war so fins­ter, dass er selbst im Hoch­som­mer höchs­tens von 11 bis 3 Uhr die Gas­be­leuch­tung ent­beh­ren konn­te.

Es war stets feucht und kühl dar­in, und die Aus­düns­tun­gen des Ab­zugs­ka­nals dran­gen oft durch das Fens­ter in den dunklen Raum und ver­brei­te­ten dort einen schim­me­li­gen ekel­haf­ten Ge­ruch.

Seit vier­zig Jah­ren, wie ge­sagt, be­trat Herr Leras je­den Mor­gen um 8 Uhr die­se Art von Ge­fäng­nis und blieb bis abends 7 Uhr dort mit dem Fleis­se ei­nes Mus­ter-Be­am­ten über sei­nen Bü­chern.

Er hat­te mit fünf­zehn­hun­dert Fran­cs an­ge­fan­gen und ver­dien­te jetzt jähr­lich drei­tau­send: da die­ser schma­le Ge­halt ihm nicht ge­stat­te­te, eine Frau zu neh­men, so blieb er Jung­ge­sel­le. Durch Ge­nuss nicht ver­wöhnt, war er in sei­nen An­sprü­chen sehr be­schei­den ge­blie­ben. In­des­sen von Zeit zu Zeit, wenn ihn der Über­druss an sei­ner ein­för­mi­gen gleich­mäs­si­gen Ar­beit über­wäl­tig­te, ver­stieg er sich zu dem Wun­sche: »Herr­jeh! Wenn ich fünf­tau­send Li­vres Ren­te hät­te, da woll­t’ ich mir’s wohl sein las­sen.«

Da aber die fünf­tau­send Li­vres aus­blie­ben, so konn­te er sich’s auch wei­ter nicht be­son­ders wohl sein las­sen.

Sein Le­ben ver­lief hübsch gleich­mäs­sig, ohne ir­gend­wel­che be­son­de­re Er­eig­nis­se, ohne Auf­re­gun­gen und fast so­gar ohne Hoff­nun­gen. Da sein Ehr­geiz kein über­großer war, so be­schränk­te sich auch die Fä­hig­keit zu hof­fen, die doch ein je­der hat, bei ihm nur auf ein sehr ge­rin­ges Mass.

Mit ein­und­zwan­zig Jah­ren war er bei Herrn La­bu­ze & Co. ein­ge­tre­ten und stets in die­sem Ge­schäft ver­blie­ben.

Im Jah­re 1856 ver­lor er sei­nen Va­ter und bald dar­auf, 1859, die Mut­ter; seit­dem hat­te sich in sei­nem Le­ben nichts von Be­deu­tung mehr er­eig­net, aus­ser ei­nem Um­zug, weil sein bis­he­ri­ger Haus­herr neu­bau­en woll­te.

Alle Tage punkt 6 Uhr er­wach­te er durch das knar­ren­de Geräusch ei­nes Ket­ten-Auf­zu­ges und sprang dann so­fort aus dem Bet­te.

Zwei­mal in­des­sen, im Jah­re 1866 und 1874, hat­te die­ser Mecha­nis­mus ver­sagt, ohne dass er je­mals die Ur­sa­che er­fah­ren hät­te.

Im Üb­ri­gen pfleg­te er sich dann so­fort an­zu­zie­hen, sein Bett zu ord­nen, das Zim­mer zu keh­ren, sei­nen Ses­sel und den Kom­mo­den-Auf­satz ab­zu­stau­ben. Alle die­se Ver­rich­tun­gen nah­men an­dert­halb Stun­den in An­spruch.

Hier­auf ging er fort, kauf­te sich in der Bä­cke­rei La­hu­re, die, so­lan­ge er sie kann­te, elf In­ha­ber ge­habt hat­te, ohne ih­ren Na­men zu wech­seln, ein Bröd­chen, wel­ches er im Wei­ter­ge­hen ver­zehr­te.

Sein gan­zes Le­ben spiel­te sich also le­dig­lich in die­sem en­gen Büro ab, des­sen Wän­de mit un­ge­mus­ter­tem Pa­pier be­klebt wa­ren. Er war, wie ge­sagt, sehr jung als Ge­hil­fe ei­nes Herrn Bru­ment ins Ge­schäft ge­tre­ten und hat­te nur den einen Wunsch ge­habt, recht bald des­sen Stel­le zu er­hal­ten.

Die­ser Wunsch ging in Er­fül­lung und nun wünsch­te er sich wei­ter nichts mehr.

Alle die vie­len Erin­ne­run­gen, wel­che das Le­ben an­de­rer Men­schen aus­fül­len, die un­er­war­te­ten Er­eig­nis­se, die an­ge­neh­men oder tra­gi­schen Lieb­schaf­ten, alle die Zu­fäl­lig­kei­ten ei­nes wech­sel­vol­len Da­seins wa­ren ihm fremd ge­blie­ben.

Die Tage, Wo­chen, Mo­na­te, Jah­res­zei­ten und Jah­re blie­ben sich stets gleich. Täg­lich zur sel­ben Stun­de stand er auf, ging fort, trat ins Büro, früh­stück­te, ging wie­der fort, di­nier­te und leg­te sich schla­fen, ohne dass ir­gen­det­was Be­deut­sa­mes dies gleich­för­mi­ge Le­ben der­sel­ben Hand­lun­gen, der­sel­ben Ar­bei­ten, ja so­gar der­sel­ben Ge­dan­ken un­ter­bro­chen hät­te.

Frü­her hat­te er sei­nen blon­den Schnurr­bart und sein lo­cki­ges Haar in dem klei­nen run­den Spie­gel ge­schaut, den sein Vor­gän­ger da­ge­las­sen hat­te. Jetzt sah er je­den Abend vor dem Fort­ge­hen sei­nen wei­ßen Bart und sei­ne kah­le Stirn in dem­sel­ben Spie­gel. Vier­zig Jah­re wa­ren da­hin­ge­gan­gen, lang­sam und doch schnell, öde wie Tage der Trau­er, und ähn­lich den Stun­den ei­ner schlaflo­sen Nacht! Vier­zig Jah­re, von de­nen ihm kaum eine Erin­ne­rung und nach dem Tode sei­ner El­tern so­gar kaum der Ge­dan­ke an ein Un­glück, in der Tat gar nichts, üb­rig ge­blie­ben war.

*

An die­sem oben­er­wähn­ten Tage blieb Herr Le­vas, ge­blen­det vom Lich­te der un­ter­ge­hen­den Son­ne, einen Au­gen­blick un­ter der Haus­tür ste­hen, und an­statt nach Hau­se zu ge­hen, be­schloss er, vor dem Di­ner einen klei­nen Spa­zier­gang zu ma­chen, was ihm höchs­tens vier oder fünf mal im Jah­re pas­sier­te.

Er ge­lang­te auf die Bou­le­vards, wo eine zahl­lo­se Men­schen­men­ge un­ter den grü­nen­den Bäu­men auf- und ab­flu­te­te. Es war ein Früh­lings­abend, ei­ner je­ner ers­ten war­men und lin­den Aben­de, in de­nen das Herz un­will­kür­lich von ei­ner grös­se­ren Le­bens­lust be­seelt wird.

Herr Le­vas ging mit dem tän­zeln­den Schritt al­ter Her­ren ver­gnüg­ten Blickes und be­glückt durch die all­ge­mei­ne Lus­tig­keit und die lin­de Luft.

Er kam zu den Champs-Ely­sees und ging wei­ter, neu­be­lebt durch den Ju­gend­hauch der Früh­lings­luft. Der gan­ze Him­mel war wol­ken­rein und der Tri­umph­bo­gen hob sich von dem lich­ten Hin­ter­grund des Ho­ri­zon­tes wie ein Rie­se von ei­ner Feu­ers­brunst ab. Als er in die Nähe die­ses mäch­ti­gen Denk­mals ge­kom­men war, ver­spür­te der alte Buch­hal­ter plötz­lich Hun­ger, und er trat bei ei­nem Mar­chand de Vins ein, um zu spei­sen.

Das Di­ner wur­de ihm vor dem Lo­ka­le auf dem Trot­toir ser­viert: Eine gar­nier­te Schöps­keu­le, Salat und Spar­gel; Herr Leras glaub­te lan­ge nicht so gut ge­speist zu ha­ben. Er be­goss sei­nen Fro­ma­ge de Brie mit ei­ner hal­b­en Fla­sche gu­ten Bor­deaux, dann trank er eine Tas­se Kaf­fee, ein sel­te­nes Er­eig­nis, und krön­te das Gan­ze mit ei­nem Gläs­chen Fine Cham­pa­gner.

Nach­dem er be­zahlt hat­te, war er sehr lus­tig und auf­ge­räumt, et­was an­ge­hei­tert so­gar.

»Das ist ein schö­ner Abend«, sag­te er sich. »Ich wer­de mei­nen Spa­zier­gang bis ans Bois de Bou­lo­gne fort­set­zen; es wird mir gut tun.«

Ge­sagt, ge­tan.

Ein al­tes Lied, wel­ches frü­her ’mal eine sei­ner Nach­ba­rin­nen ge­sun­gen hat­te, schoss ihm plötz­lich durch den Kopf:

»Wenn der Früh­ling aus den Knos­pen bricht,

Zu mir mein Herz­al­ler­liebs­ter spricht:

Komm her­aus, mein Schatz, in die fri­sche Luft,

Wir ko­sen zu­sam­men im Jas­min­duft.«

Er summ­te es im­mer wie­der vor sich hin. Die Nacht sank über Pa­ris her­ab, eine wind­stil­le laue Nacht. Herr Le­vas ging der Ave­nue du Bois de Bou­lo­gne nach und schau­te sich die vor­bei­fah­ren­den Fia­ker an, wie sie in lan­ger Rei­he, ei­ner hin­term an­de­ren, mit ih­ren Lichtau­gen da­hin­fuh­ren und für einen Au­gen­blick ein eng an­ein­an­der ge­schmieg­tes Pär­chen, die Dame in lich­tem Kleid, der Herr in schwar­zem An­zu­ge, zeig­ten.

Es war so­zu­sa­gen eine lan­ge Pro­zes­si­on von Lie­bes­paa­ren, die da un­ter dem glän­zen­den Ster­nen­him­mel ein­her­zo­gen. Im­mer und im­mer ka­men wie­der neue. Sie fuh­ren eins hin­ter dem an­de­ren her, auf dem Wa­gen­sitz hin­ge­gos­sen, stumm, mit ver­schlun­ge­nen Hän­den, kaum noch fä­hig, die Auf­re­gung zu be­meis­tern, wel­che die Vor­stel­lung der ih­rer war­ten­den Freu­den bei ih­nen er­weck­te. Es schi­en, als ob zahl­lo­se Küs­se durch die war­me Nacht­luft schwirr­ten, als ob ein Hauch von Zärt­lich­keit sie er­fül­le und sie er­sti­cken­der ma­che. Hin­ter all die­sen lie­bes­dürs­ti­gen und lä­cheln­den Men­schen, die alle von dem­sel­ben Ge­dan­ken, alle von der­sel­ben Er­war­tung be­seelt wa­ren, zog eine Art Fie­ber­hauch her. Alle die­se Wa­gen, de­ren In­halt die per­so­ni­fi­zier­te Zärt­lich­keit war, lies­sen eine Spur der­sel­ben wahr­nehm­bar auf ih­rem Wege zu­rück.


Herr Leras, den der Spa­zier­gang doch et­was er­mü­det hat­te, setz­te sich auf eine Bank, um das Schau­spiel die­ser Lie­bes-Wa­gen mit Mus­se be­trach­ten zu kön­nen. Fast eben­so schnell nä­her­te sich ein weib­li­ches We­sen und ließ sich ne­ben ihm nie­der.

»Gu­ten Tag, Klei­ner!« sag­te sie.

Sie ließ sich durch sein Schwei­gen nicht stö­ren und fuhr fort:

»Komm! Lass Dich lieb ha­ben, Schatz, Du sollst se­hen, ich bin sehr brav.«

»Sie sind an die falsche Adres­se ge­kom­men, Ma­da­me!« sag­te er.

»Ach, sei doch kein Tor, hör’ nur …« sag­te sie, einen Arm un­ter den sei­ni­gen schie­bend.

Er war auf­ge­stan­den und ging ent­rüs­tet fort.

Hun­dert Schrit­te wei­ter nä­her­te sich ein zwei­tes We­sen:

»Willst Du Dich nicht einen Au­gen­blick zu mir set­zen, mein süs­ser Schatz?«

»Wa­rum trei­ben Sie die­ses Ge­schäft da?« frag­te er.

Sie stell­te sich breit vor ihm hin und sag­te är­ger­lich mit ganz ver­än­der­ter rau­er Stim­me:

»Zu mei­nem Ver­gnü­gen wahr­haf­tig’ nicht.«

»Nun, was zwingt Sie denn?« frag­te er mit sanf­ter Stim­me wei­ter.

 

»Man muss doch le­ben; so eine Dumm­heit« groll­te sie. Und träl­lernd ging sie wei­ter.

Ganz ver­stimmt blieb Herr Leras sit­zen. An­de­re Mäd­chen ka­men vor­über, spra­chen ihn an und lu­den ihn ein.

Es war ihm, als ob ir­gen­det­was Schwar­zes, Schreck­li­ches sein Auge ver­dunkle.

Er setz­te sich auf eine an­de­re Bank; die Wa­gen fuh­ren im­mer noch vor­über.

»Ich wäre bes­ser nicht hier­her­ge­kom­men«, dach­te er bei sich; »da habe ich nun die Be­sche­rung; es ist zu är­ger­lich.«

Un­will­kür­lich muss­te er an all’ die käuf­li­che oder lei­den­schaft­li­che Lie­be, an all’ die frei­wil­li­gen oder be­zahl­ten Küs­se den­ken, die heu­te sein Auge ge­se­hen hat­te.

Er kann­te die Lie­be nicht. Er hat­te in sei­nem Le­ben viel­leicht zwei oder drei­mal ganz zu­fäl­lig, mehr dem ers­ten Im­pul­se fol­gend, mit Wei­bern ver­kehrt, da sei­ne Mit­tel ihm kei­ne Sei­ten­sprün­ge er­laub­ten. Er dach­te, wie das Le­ben, das er führ­te, so ganz ver­schie­den war von dem al­ler an­de­ren, so fins­ter, so trau­rig, so öde und leer.

Es gibt We­sen, de­nen nie­mals das Glück be­schie­den ist. So auch Herrn Leras. Ganz plötz­lich, als sei ein dich­ter Schlei­er vor ihm ent­hüllt, wur­de er sich über sei­ne elen­de Lage klar; er wuss­te, dass die­ses ein­för­mi­ge Elend sei­nes Da­seins nie en­den wür­de. Für ihn gab es in der Ver­gan­gen­heit, Ge­gen­wart und Zu­kunft nur Elend; die letz­ten Tage gli­chen aufs Haar den ers­ten, vor ihm lag nichts und hin­ter ihm nichts, we­der äus­ser­lich noch in sei­nem In­nern. Al­les war eine gäh­nen­de öde Lee­re.

Die Wa­gen fuh­ren noch im­mer vor­über; noch im­mer sah er für einen Au­gen­blick bei dem schnel­len Vor­über­hu­schen der of­fe­nen Fia­ker die schweig­sa­men zärt­li­chen Paa­re. Es war ihm, als ob die gan­ze Mensch­heit glück- und freu­de­strah­lend hier an ihm vor­über­zö­ge. Und er war al­lein, um das hier an­zu­se­hen, nie­mand war bei ihm; er war ganz al­lein. Und mor­gen, über­mor­gen, alle Tage wür­de er al­lein sein, wie nur ein Mensch al­lein sein kann.

Er stand auf, ging ei­ni­ge Schrit­te wei­ter und, plötz­lich von ei­ner Mat­tig­keit, wie nach ei­ner lan­gen Rei­se, über­fal­len, ließ er sich auf der nächs­ten Bank nie­der.

Was hat­te er noch zu er­war­ten? Worauf zu hof­fen? Auf nichts!

Er dach­te, wie hübsch es sein müs­se, wenn man, äl­ter wer­dend, bei der Rück­kehr ins Haus eine mun­te­re Kin­der­schar fin­det. Alt wer­den ist schön, wenn einen We­sen um­ge­ben, die uns das Le­ben ver­dan­ken, die uns lie­bend um­schmei­cheln, die uns zärt­li­che und herz­li­che Wor­te sa­gen, die uns auf­mun­tern und trös­ten.

Und wenn er dann an sein ei­ge­nes ödes und trau­ri­ges Zim­mer dach­te, wo aus­ser ihm nie je­mand her­ein­kam, dann be­schlich ihn ein Ge­fühl des Ekels; es er­schi­en ihm fast noch trau­ri­ger, als sein klei­nes Büro. Nie sah er je­mand, nie fast sprach er mit je­mand. Sein Zim­mer war stumm wie ein Grab, ohne das Echo ei­ner mensch­li­chen Stim­me. Man möch­te den­ken, dass die Wän­de et­was von den Zim­mer­be­woh­nern an­neh­men, dass man an ers­te­ren er­ken­nen kann, wie sie sich be­neh­men, wie sie aus­se­hen, was sie spre­chen. Die von glück­li­chen Leu­ten be­wohn­ten Häu­ser ha­ben et­was viel Freund­li­che­res als die Woh­nun­gen der Un­glück­li­chen. Sein Zim­mer war wie sein Le­ben, leer an Erin­ne­run­gen. Und der Ge­dan­ke, ganz al­lein in die­ses Zim­mer zu­rück­keh­ren, sich ganz al­lein zu Bett le­gen, ganz al­lein sei­ne täg­li­chen Be­sor­gun­gen ma­chen zu müs­sen, mach­te ihn ganz ver­zwei­felt. Und als wol­le er den An­blick die­ses fins­te­ren Rau­mes und sei­nen Ein­tritt in den­sel­ben mög­lichst her­aus­schie­ben, er­hob er sich, bog in die ers­te Al­lee des Bois ein und schlüpf­te plötz­lich in ein Ge­büsch, um sich dort ins Gras zu set­zen.

Um sich, über sich, über­all hör­te er ein wir­res, lau­tes, fort­wäh­ren­des Geräusch, das aus un­zäh­li­gen ver­schie­de­nen klei­nen Geräuschen zu be­ste­hen schi­en, bald nä­her, bald fer­ner klin­gend, eine un­be­stimm­te rie­sen­haf­te Le­bens­zu­ckung: Es war das At­men der Stadt Pa­ris, die wie ein Rie­se schnauf­te.

*

Die Son­ne stand schon hoch am Him­mel und sand­te ihre Strah­len auf das Bois de Bou­lo­gne. Schon be­gan­nen die Wa­gen um­her­zu­fah­ren und die Rei­ter ihre Pfer­de zu tum­meln.

Ein Pär­chen bog zu Fuss in eine ein­sa­me Al­lee ein. Plötz­lich be­merk­te das weib­li­che We­sen, als es die Au­gen auf­schlug, et­was Brau­nes im Ge­büsch. Un­ru­hig und er­staunt deu­te­te es mit der Hand da­hin und sag­te:

»Sieh ’mal … was ist das?«

Dann sank es mit ei­nem lau­ten Schrei ih­rem Beglei­ter in die Arme, der sie vor­sich­tig auf die Erde setz­te.

Die her­bei­ge­ru­fe­nen Wäch­ter hat­ten bald einen al­ten Mann los­ge­schnit­ten, der sich an sei­nen Ho­sen­trä­gern auf­ge­hängt hat­te.

Man stell­te fest, dass der Tod schon in der Nacht vor­her er­folgt sein müs­se. Aus den vor­ge­fun­de­nen Pa­pie­ren er­gab sich, dass es der Buch­hal­ter bei La­bu­ze & Co., Na­mens Leras, war.

Man schob den Selbst­mord auf eine un­be­kann­te Ur­sa­che. Vi­el­leicht war es ein plötz­li­cher Wahn­sinns-An­fall?


Zwei Brüder

Erstes Kapitel.

»Zum Kuckuck!« rief plötz­lich Va­ter Ro­land, der seit ei­ner Vier­tel­stun­de re­gungs­los, die Au­gen un­ver­wandt auf den Mee­res­s­pie­gel ge­hef­tet, da­ge­s­es­sen und nur von Zeit zu Zeit mit lei­sem Ruck die An­gel ein we­nig ge­ho­ben hat­te.

Frau Ro­land, wel­che mit ei­ner zu die­ser Fisch- und Se­ge­lex­kur­si­on ein­ge­la­de­nen Dame, Frau Rosé­mil­ly, im Stern des Boo­tes saß und ein we­nig ein­ge­nickt war, fuhr auf und wand­te sich nach ih­rem Man­ne um.

»Nun, nun, Hie­rony­mus, was gibt es denn?«

In sehr ge­reiz­tem Ton er­wi­der­te das Fa­mi­li­en­haupt: »Nichts beißt mehr an. Seit zwölf Uhr kein ein­zi­ger. Man soll­te sich nicht dar­auf ein­las­sen, Frau­en­zim­mer zum Fi­schen mit­zu­neh­men, da kommt man re­gel­mä­ßig zu spät fort.«

Die bei­den Söh­ne, Pe­ter und Hans, die, der eine rechts, der an­de­re links sit­zend, gleich­falls An­gel­schnü­re um die Fin­ger ge­wi­ckelt hiel­ten, bra­chen in ein fröh­li­ches La­chen aus, und Hans be­merk­te: »Äu­ßerst ga­lant ge­gen un­sern Gast, Papa!«

Va­ter Ro­land ge­riet in ei­ni­ge Ver­le­gen­heit.

»Bit­te um Ent­schul­di­gung, Frau Rosé­mil­ly,« sag­te er eif­rig, »so bin ich nun ein­mal. Ich lade mir Da­men ein, weil es mir eine Freu­de ist, sie um mich zu ha­ben, so­bald ich aber auf dem Was­ser bin, exis­tiert nichts mehr für mich, au­ßer mei­nen Fi­schen.«

Frau Ro­land, die einst­wei­len ihre Schläf­rig­keit vollends ab­ge­schüt­telt hat­te und den Blick zu­frie­den und glück­lich über die wei­te Mee­res­flä­che und das fel­si­ge Ge­sta­de schwei­fen ließ, sag­te be­schwich­ti­gend: »Ihr habt doch einen ganz schö­nen Fang ge­macht.«

Der Gat­te be­haup­te­te durch eine ver­nei­nen­de Kopf­be­we­gung das Ge­gen­teil, blin­zel­te aber nichts­de­sto­we­ni­ger ganz ver­gnüg­lich nach dem Korb hin­über, in wel­chem die Ge­fan­ge­nen, die den drei An­geln zum Op­fer ge­fal­len, zap­pel­ten und aus dem das lei­se Geräusch auf­ein­an­der klat­schen­der Schup­pen und Flos­sen, ängst­li­chen Schnap­pens in der tot­brin­gen­den At­mo­sphä­re und kraft­lo­ser, ver­geb­li­cher Flucht­ver­su­che an sein Ohr drang.

Herr Ro­land nahm den tie­fen Korb zwi­schen die Knie, neig­te ihn zur Sei­te, dass sich’s sil­ber­schim­mernd er­goss und auch die zu un­terst lie­gen­den, im To­des­kamp­fe be­grif­fe­nen sicht­bar wur­den, at­me­te den star­ken Ge­ruch von Meer­was­ser und Fi­schen mit eben­so großem Ge­nus­se ein, als man ihn für ge­wöhn­lich an Ro­sen­duft zu fin­den pflegt, und er­klär­te: »Sap­per­lot! Frisch sind sie, das will ich mei­nen!«

»Wie vie­le hast du ge­fan­gen, Dok­tor?« frag­te er nach ei­ner klei­nen Pau­se.

»Nicht der Rede wert, drei oder vier,« ver­setz­te Pe­ter, der äl­te­re Sohn, ein Mann von etwa drei­ßig Jah­ren, der einen schwar­zen Ba­cken­bart, Ober­lip­pe und Kinn aber aus­ra­siert trug, wie das sonst bei Ma­gis­trats­per­so­nen der Brauch.

»Und du, Hans?« wand­te sich der Va­ter an den Jün­ge­ren.

Hans, der ein hoch­ge­wach­se­ner, blon­der jun­ger Mann war, be­deu­tend jün­ger als der Bru­der, er­wi­der­te lä­chelnd: »Un­ge­fähr eben­so vie­le, wie Pe­ter, vier oder höchs­tens fünf.«

Die­se from­me Lüge wur­de tag­täg­lich von den Brü­dern vor­ge­bracht und tag­täg­lich ent­zück­te sie Va­ter Ro­lands Herz.

Er hat­te die An­gel­schnur um einen Ru­der­ha­ken ge­wi­ckelt, die Arme über­ein­an­der ge­legt, und einen be­frie­dig­ten Herr­scher­blick auf das Meer im All­ge­mei­nen und sei­ne Be­woh­ner im be­son­dern wer­fend, ver­kün­de­te er den Sei­nen, dass er nie mehr des Nach­mit­tags auf den Fisch­fang aus­zu­ge­hen ge­den­ke.

»So­bald es ein­mal zehn Uhr vor­über, ist nichts mehr zu ma­chen. Das Lum­pen­volk beißt ein­fach nicht an, es hält Sies­ta im Son­nen­schein.«

Herr Ro­land war sei­nes Zei­chens ein Pa­ri­ser Ju­we­lier, den sei­ne Lei­den­schaft für See­fahrt und Fisch­fang dem Ge­schäf­te ent­ris­sen hat­te, so­bald er ge­nü­gend er­wor­ben ge­habt, um von den Zin­sen ein höchst be­schei­de­nes, aber be­hag­li­ches Da­sein füh­ren zu kön­nen.

Er sie­del­te sich also in Ha­vre an, kauf­te ein Boot und wur­de pas­sio­nier­ter See­mann, die bei­den Söh­ne, Pe­ter und Hans, blie­ben in Pa­ris, um ihre Stu­di­en fort­zu­set­zen, und be­tei­lig­ten sich nur bei ih­ren je­wei­li­gen Fe­ri­en­be­su­chen an dem vä­ter­li­chen Lieb­lings­sport.

Nach­dem er das Gym­na­si­um durch­lau­fen, hat­te Pe­ter, der um fünf Jah­re äl­ter war als sein Bru­der, für die ver­schie­dens­ten Fach­stu­di­en Be­ruf in sich ge­fühlt, sich nach­ein­an­der an ein hal­b­es Dut­zend Wis­sen­schaf­ten ge­macht, und je­des Stu­di­um nach kur­z­em über­eif­ri­gem An­lauf ver­drieß­lich wie­der bei­sei­te ge­wor­fen. Erst zu­letzt hat­te ihn die Me­di­zin ge­lockt, und er war nun mit so nach­hal­ti­gem Fleiß ans Werk ge­gan­gen, dass er nach un­ge­wöhn­lich kur­z­er Stu­di­en­zeit auf be­sond­re Er­laub­nis von sei­ten des Mi­nis­te­ri­ums sei­ne Ex­amen ge­macht und den Dok­tor­ti­tel er­wor­ben hat­te. Er war eine er­reg­ba­re Na­tur, sehr be­gabt, wan­kel­mü­tig und starr­köp­fig, voll un­aus­führ­ba­rer Ide­en und phi­lo­so­phi­scher Grü­belei­en.

Hans war eben­so blond wie sein Bru­der schwarz, eben­so ru­hig wie je­ner hef­tig, eben­so ver­träg­lich wie je­ner zank­süch­tig war. Ohne Kämp­fe und Zwei­fel ging er sei­nen Weg und hat­te sein Stu­di­um der Rech­te ge­ra­de zu der Zeit be­en­digt, als der Bru­der sei­nen »Dok­tor« da­von­trug.

Bei­de er­hol­ten sich nun von der an­stren­gen­den Ex­amen­zeit im El­tern­hau­se, und bei­de hat­ten im Sin­ne, sich in Ha­vre nie­der­zu­las­sen, vor­aus­ge­setzt, dass die Ver­hält­nis­se in der Stadt sich ih­rem Pla­ne güns­tig er­wei­sen wür­den.

Eine un­be­wuss­te Ei­fer­sucht, wie sie jah­re­lang un­sicht­bar und un­merk­lich zwi­schen Ge­schwis­tern herr­schen kann, mit ih­nen groß wird und dann so häu­fig, wenn sie er­wach­sen sind, bei Ge­le­gen­heit ei­ner Ver­hei­ra­tung oder ir­gend ei­nes Glücks­fal­les, der eins von ih­nen trifft, zum Aus­bruch kommt, ließ auch die­se bei­den sich an­schei­nend brü­der­lich, in Wahr­heit aber kampf­be­reit ge­gen­über­ste­hen – sie hat­ten sich lieb, dar­über war kein Zwei­fel, aber je­der be­ob­ach­te­te und be­arg­wöhn­te den an­de­ren. Mit der Feind­se­lig­keit ei­nes ver­zo­ge­nen klei­nen Schoß­hun­des, der plötz­lich ein neu­es Lieb­lings­tier­chen im Hau­se auf­tau­chen sieht, hat­te der fünf­jäh­ri­ge klei­ne Pe­ter einst das blon­de ro­si­ge Kind­chen er­schei­nen und von Va­ter und Mut­ter mit Zärt­lich­keit über­häu­fen se­hen.

Von Kind­heit an war die­ser Hans ein wah­rer Aus­bund von Sanft­mut, Lenk­sam­keit, Güte und Lie­bens­wür­dig­keit ge­we­sen, und Pe­ter war es sehr bald über­drüs­sig ge­wor­den, den di­cken, blon­den Jun­gen, des­sen viel­ge­prie­se­ne Tu­gend­haf­tig­keit er im Stil­len mit Weich­lich­keit, Al­bern­heit und Un­selbst­stän­dig­keit über­setz­te, von al­ler Welt in den Him­mel er­he­ben zu hö­ren. Die El­tern, de­ren ru­hi­ger Bür­ger­sinn für die Söh­ne kein hö­he­res Ide­al als eine an­stän­di­ge, eh­ren­wer­te, be­hag­li­che Le­bens­stel­lung kann­te, mach­ten ih­rem Äl­tes­ten sei­ne Un­ent­schlos­sen­heit, sei­ne schwär­me­ri­schen An­läu­fe, sei­ne frucht­lo­sen Ver­su­che, sei­ne Be­geis­te­rung für große Ide­en und brot­lo­se Küns­te na­tür­lich zum Vor­wurf.

 

Seit er er­wach­sen war, be­kam er zwar nicht mehr zu hö­ren: »Sieh, wie ar­tig der Hans ist, nimm ihn dir zum Vor­bild«, al­lein so oft man ihm fag­te: »Hans tut dies und Hans tut das«, las er un­ge­fähr den näm­li­chen Sinn in den an­schei­nend harm­los ge­spro­che­nen Wor­ten.

Die Mut­ter, eine wa­cke­re, spar­sa­me Haus­frau, die sich ne­ben treu­er Ver­wal­tung ih­rer Kas­sen noch die Zeit nahm, ein we­nig sen­ti­men­tal zu sein, ver­stand es, al­le­zeit und im­mer wie­der die klei­nen Schwie­rig­kei­ten und Ver­stim­mun­gen, die aus den un­be­deu­tends­ten An­läs­sen des täg­li­chen Le­bens zwi­schen ih­ren Söh­nen ent­stan­den, fried­lich bei­zu­le­gen. Au­gen­blick­lich war sie in die­ser Hin­sicht nicht ohne Be­sorg­nis und fürch­te­te, dass eine an und für sich harm­lo­se Sa­che erns­te Ver­wi­cke­lun­gen her­bei­füh­ren könn­te. Sie hat­te näm­lich im letz­ten Win­ter, wäh­rend die Brü­der ih­ren Stu­di­en ob­la­gen, die Be­kannt­schaft ei­ner Nach­ba­rin ge­macht, ei­ner Frau Rosé­mil­ly, Wit­we ei­nes Ka­pi­täns, der zwei Jah­re vor­her auf ho­her See ge­stor­ben war. Die noch sehr ju­gend­li­che, erst drei­und­zwan­zig­jäh­ri­ge Wit­we, eine je­ner prak­ti­schen, ver­stän­di­gen Na­tu­ren, die mit ei­nem In­stink­te, wie er in sol­cher Deut­lich­keit sonst nur dem Tier der Wild­nis ei­gen, das Le­ben in all sei­nen Be­zie­hun­gen ken­nen und durch­schau­en, wie wenn sie alle die Ver­hält­nis­se, die sie nüch­tern, wohl­wol­lend, ver­nünf­tig, aber et­was eng­her­zig zu be­ur­tei­len wis­sen, selbst mit­an­ge­se­hen, an sich er­fah­ren und durch­lebt hät­ten, kam gern des Abends mit ei­ner Hand­ar­beit auf ein Plau­der­stünd­chen zu den freund­li­chen Nach­barn her­über und hat­te sich ganz dar­an ge­wöhnt, eine Tas­se Tee mit ih­nen ein­zu­neh­men.

Va­ter Ro­land, dem sei­ne Marot­te, sich auf den großen See­mann zu spie­len, un­auf­hör­lich plag­te, zog bei der neu­en Haus­freun­din alle mög­li­chen Er­kun­di­gun­gen über den ver­stor­be­nen Ka­pi­tän ein, und als ver­nünf­ti­ge Frau, die das Le­ben lieb hat und den Tod ach­tet, er­zähl­te sie ohne Zie­re­rei oder ge­mach­te Rüh­rung von sei­nen Rei­sen und den Aben­teu­ern, die er be­stan­den.

Als die bei­den Söh­ne bei ih­rem Nach­hau­se­kom­men die hüb­sche Wit­we so be­hag­lich ein­ge­nis­tet fan­den, fin­gen bei­de so­fort an ihr den Hof zu ma­chen, we­ni­ger, um ihre Gunst zu er­rin­gen, als um sich ge­gen­sei­tig bei ihr aus­zu­ste­chen. Die prak­ti­sche, wohl­be­rech­nen­de Mut­ter wünsch­te, da Frau Rosé­mil­ly sehr ver­mö­gend war, ei­nem von ih­nen den Sieg, und hät­te da­bei nur gar zu gern dem an­de­ren den Schmerz ei­ner Nie­der­la­ge er­spart.

Frau Rosé­mil­ly hat­te blaue Au­gen, blon­des Haar, das na­tür­lich kraus, in von dem lei­ses­ten Luft­zug be­weg­ten Löck­chen ein Ge­sicht um­kränz­te, des­sen ke­cker, über­mü­ti­ger, necki­scher Aus­druck zu ih­rer nüch­ter­nen, be­däch­ti­gen Denk­wei­se in ei­gen­tüm­li­chem Wi­der­spruch stand.

Sie schi­en von An­fang an Hans zu be­vor­zu­gen, an dem eine ent­schie­de­ne Über­ein­stim­mung und Ähn­lich­keit ih­rer Na­tu­ren sie an­spre­chen moch­te. Frei­lich äu­ßer­te sich die­se Be­vor­zu­gung ein­zig und al­lein im Tone der Stim­me und im Blick, so­wie dar­in, dass sie ihn zu­wei­len um Rat frag­te, of­fen­bar im be­stimm­ten Vor­ge­fühl, dass sei­ne An­sich­ten stets mit den ih­ri­gen über­ein­stim­men und sie in ih­rem vor­ge­fass­ten Ent­schluss be­stär­ken muss­ten, wäh­rend Pe­ters Auf­fas­sung un­glück­li­cher­wei­se stets eine ab­wei­chen­de war. Wenn von des Dok­tors geis­ti­gen In­ter­es­sen, sei­nen Ide­en über Po­li­tik, Kunst, Phi­lo­so­phie und Moral die Rede war, so konn­te es mit­un­ter vor­kom­men, dass Frau Rosé­mil­ly die­se gan­ze Ge­dan­ken­welt mit der Be­zeich­nung »Hirn­ge­spins­te« zu­sam­men­fass­te, was ihr dann einen kal­ten, rich­ter­li­chen Blick ein­trug, der ihr und ih­rem gan­zen arm­se­li­gen Ge­schlech­te den Pro­zess mach­te.

Vor dem Be­su­che der Söh­ne hat­te Herr Ro­land die lie­bens­wür­di­ge Wit­we nie zu ei­ner Fi­sche­rei­ex­kur­si­on ein­ge­la­den, wie er denn auch sei­ne Frau nie­mals mit­nahm, son­dern am liebs­ten mor­gens vor Ta­ge­s­an­bruch in Ge­sell­schaft des Ka­pi­täns Be­au­si­re, ei­nes eins­ti­gen Wel­t­um­seg­lers, den er bei sei­nen Wan­de­run­gen an Strand und Ha­fen ken­nen ge­lernt und zu sei­nem Bu­sen­freun­de er­ko­ren hat­te, und des al­ten Ma­tro­sen Pa­pa­gris, dem die Hut des Boo­tes über­tra­gen war, hin­aus­se­gel­te.

Nun aber hat­te Frau Rosé­mil­ly in der vo­ri­gen Wo­che bei Ro­lands ge­speist und nach Tisch die Be­mer­kung hin­ge­wor­fen: »Das Fi­schen ist wohl recht amüsant, nicht?« Der ehe­ma­li­ge Ju­we­lier hat­te sich durch die­ses In­ter­es­se für sei­ne Lieb­ha­be­rei un­end­lich ge­schmei­chelt ge­fühlt, und plötz­lich vom Dran­ge be­seelt, neue An­hän­ger für sei­ne al­lein­se­lig­ma­chen­de Pas­si­on zu ge­win­nen, hat­te er has­tig ge­fragt: »Wol­len Sie ein­mal mit hin­aus­fah­ren?«

»Von Her­zen gern.«

»Nächs­ten Diens­tag?«

»Ja­wohl – also nächs­ten Diens­tag.«

»Kön­nen Sie mor­gens um fünf Uhr rei­se­fer­tig sein?«

Ein klei­ner Schrei des Ent­set­zens folg­te.

»Was fällt Ih­nen ein! Das ist ja rein un­mög­lich!«

Ent­täuscht und ab­ge­kühlt, zwei­fel­te der große See­mann plötz­lich an sei­nes Zög­lings nau­ti­schem Be­ruf, frag­te aber doch: »Um wie viel Uhr wäre es Ih­nen denn mög­lich?«

»Ja … so um neun Uhr etwa.«

»Frü­her nicht?«

»Nein, frü­her nicht, das ist ja schon un­mensch­lich früh.«

Der wa­cke­re Mann zö­ger­te – na­tür­lich war um die­se Zeit kei­ne Rede von ei­nem loh­nen­den Fang, so­bald die Son­ne scheint, bei­ßen die Fi­sche nicht mehr an, al­lein die Söh­ne hat­ten sich des Ge­dan­kens be­mäch­tigt, über­nah­men es, die Par­tie zu ar­ran­gie­ren, und mach­ten die Verab­re­dung auf der Stel­le niet- und na­gel­fest.

So hat­te denn an die­sem Diens­tag die »Per­le« un­ter den wei­ßen Fel­sen des Kap de la Hève An­ker aus­ge­wor­fen, und man hat­te bis zur Mit­tags­stun­de ge­fischt, Sies­ta ge­hal­ten, wie­der ge­fischt, na­tür­lich ohne Er­folg, und schließ­lich hat­te Papa Ro­land, nach­dem er et­was spät zur Er­kennt­nis ge­langt war, dass der hüb­schen Frau Rosé­mil­ly die Boot­fahrt als sol­che weit mehr am Her­zen lag, als sei­ne Fi­sche­rei, und nach­dem er auch kei­nen noch so lei­sen Ruck an sei­ner An­gel mehr wahr­neh­men konn­te, ein herz­haf­tes »Zum Kuckuck!« aus­ge­sto­ßen, in wel­chem er eine her­be An­kla­ge ge­gen die teil­nahms­lo­se Wit­we und die ap­pe­tit­lo­sen Meer­be­woh­ner zu­sam­men­fass­te.

Jetzt aber be­trach­te­te er sei­ne Fi­sche mit der zit­tern­den Freu­de, mit der ein Geiz­hals sei­ne Schät­ze zählt, warf dann einen Blick nach der Son­ne, die sich schon zum Un­ter­gan­ge neig­te, und be­merk­te: »Wie wär’s, Kin­der, wenn wir uns auf den Heim­weg mach­ten?«

Bei­de Söh­ne zo­gen die An­gel­schnü­re aus dem Was­ser, roll­ten sie auf, rei­nig­ten die An­gel­ha­ken, be­fes­tig­ten sie wie­der an den Kork­pfrop­fen und harr­ten dann wei­te­rer Be­feh­le. Herr Ro­land war auf­ge­stan­den und sah sich mit äu­ßerst sach­ver­stän­di­ger Mie­ne nach al­len Him­mels­rich­tun­gen um.

»Kein Wind mehr! An die Ru­der, Jun­gens!«

Plötz­lich deu­te­te er nach Nor­den und setz­te er­regt hin­zu: »Seht, seht, der Damp­fer von Southamp­ton!«

Über der Mee­res­flä­che, die wie ein aus­ge­brei­te­tes blau­es, leuch­ten­des, gold- und feu­er­schim­mern­des Ge­we­be dalag, er­hob sich in der an­ge­ge­be­nen Rich­tung ein schwärz­li­ches Wölk­chen, das sich von dem ro­sig ge­färb­ten Abend­him­mel ab­hob, und un­ter dem dunklen Fleck konn­te man einen ein­zi­gen Punkt wahr­neh­men, der das Fahr­zeug be­deu­ten moch­te. Ge­gen Sü­den lie­ßen sich zahl­rei­che klei­ne Rauch­säu­len un­ter­schei­den, die sich alle auf den Molo von Ha­vre zu be­weg­ten, von dem nur ein wei­ßer Strich und der ker­zen­ge­ra­de, am äu­ßers­ten Ende auf­stei­gen­de Leucht­turm sicht­bar wa­ren.