Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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»Soll­te nicht heu­te die ›Nor­man­die‹ ein­lau­fen?« frag­te der see­kun­di­ge Va­ter.

»Ja, Papa,« er­wi­der­te Hans.

»Gib mir mein Per­spek­tiv; ich glau­be, dass sie’s ist – da un­ten!«

Der Va­ter zog das Mes­sing­rohr aus, schraub­te das Glas für sein Auge zu­recht, such­te den Punkt und rief nach kur­z­em Hin­se­hen freu­de­strah­lend: »Sie ist’s, sie ist’s! Ich er­ken­ne die bei­den Schorn­stei­ne ganz deut­lich. Wol­len Sie nicht auch durch­se­hen, Frau Rosé­mil­ly?«

Die jun­ge Frau nahm das Glas, wel­ches sie auf den At­lan­ti­schen Ozean im All­ge­mei­nen rich­te­te und mit des­sen Hil­fe sie durch­aus nur eine blaue Flä­che sah, blau und im­mer blau und rings­her­um einen viel­far­bi­gen Kreis, wie ein runder Re­gen­bo­gen und au­ßer­dem noch eine Art von Ek­lip­sen, wun­der­li­ches Zeug, das ihr Schwin­del ver­ur­sach­te.

»Ich habe lei­der mit Fern­roh­ren nie viel an­zu­fan­gen ge­wusst,« fag­te sie, das In­stru­ment zu­rück­ge­bend. »Mein Mann, der stun­den­lang am Fens­ter ste­hen konn­te und die vor­über­fah­ren­den Schif­fe be­ob­ach­ten, ist oft ge­nug böse dar­über ge­wor­den.«

»Das muss an ei­nem Feh­ler Ih­rer Au­gen lie­gen,« be­merk­te Herr Ro­land är­ger­lich, »denn mein Glas ist ganz aus­ge­zeich­net.«

»Willst du es ha­ben?« setz­te er, zu sei­ner Frau ge­wen­det, hin­zu.

»Nein, dan­ke, ich weiß im Voraus, dass ich nichts sehe.«

Wenn sie auch auf die­sen Ge­nuss ver­zich­ten muss­te, so schi­en doch Frau Ro­land sich mehr als ir­gend­je­mand von der klei­nen Ge­sell­schaft der schö­nen Fahrt und des herr­li­chen abends zu er­freu­en. Sie war eine Frau von achtund­vier­zig Jah­ren, mach­te aber einen weit jün­ge­ren Ein­druck. Ihre kas­ta­ni­en­brau­nen Haa­re fin­gen erst seit kur­z­em an, sich mit ein we­nig Grau zu ver­mi­schen, ihr Aus­druck war ru­hig und ver­stän­dig, da­bei wohl­wol­lend und zu­frie­den, dass es eine Freu­de war, sie an­zu­se­hen. Ihr Sohn Pe­ter ver­si­cher­te, dass sie den Wert des Gel­des sehr ge­nau ken­ne, was sie aber kei­nes­wegs ver­hin­der­te, auch den Reiz des Träu­mens und be­schau­li­chen Sin­nens zu wür­di­gen; sie las gern, so­wohl Ro­ma­ne als Ge­dich­te, wo­bei sie frei­lich we­ni­ger den Kunst­wert ih­rer Lek­tü­re schätz­te, als die me­lan­cho­lisch-träu­me­ri­sche, wei­che Stim­mung, in wel­che die­sel­be sie ver­setz­te. Ein Vers, er konn­te noch so un­be­deu­tend und man­gel­haft sein, ließ, wie sie zu sa­gen pfleg­te, alle Sai­ten ih­res Her­zens er­klin­gen und er­füll­te sie mit ge­heim­nis­vol­lem Seh­nen, das fast so be­se­li­gend war, wie er­füll­tes Glück, und sie freu­te sich die­ser See­len­re­gun­gen, die ihr im Üb­ri­gen wie ein kauf­män­ni­sches Buch ge­hal­te­nes In­nen­le­ben ei­ni­ger­ma­ßen be­weg­ten. Seit ih­rer Nie­der­las­sung in Ha­vre fing sie an ziem­lich rund­lich zu wer­den, so­dass die bis da­hin äu­ßerst schlan­ke Tail­le et­was ge­fähr­det war.

Der heu­ti­ge Aus­flug zur See hat­te sie ganz glück­lich ge­macht. Ohne ei­gent­lich roh und bos­haft zu sein, schnauz­te ihr Mann sie be­harr­lich an, wie es die Ty­ran­nen des La­den­stüb­chens ohne be­son­dern An­lass, ohne Zorn oder Hass zu tun pfle­gen, weil Kom­man­die­ren ih­nen das Flu­chen er­setzt. Vor je­dem Frem­den nahm er sich zu­sam­men, in sei­ner Fa­mi­lie aber ließ er sich ge­hen und such­te Furcht und Schre­cken um sich zu ver­brei­ten, ob­wohl er ei­gent­lich vor Gott und der Welt Angst hat­te.

Um un­nüt­zen Lärm, Sze­nen und un­er­quick­li­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen zu ver­mei­den, gab sei­ne Frau un­wei­ger­lich nach und mach­te für sich nicht den ge­rings­ten An­spruch oder Wunsch gel­tend, und so kam es, dass sie auch seit lan­ger Zeit nicht mehr ge­wagt hat­te, Ro­land um eine Spa­zier­fahrt auf der »Per­le« zu bit­ten. Umso mehr hat­te sie die Ge­le­gen­heit zu ei­ner sol­chen mit Freu­den be­grüßt und sie ge­noss das sel­te­ne Ver­gnü­gen in ho­hem Maße, in­dem sie sich ganz und gar dem won­ni­gen Ge­fühl des sanf­ten Da­hinglei­tens auf der spie­gel­glat­ten Flä­che über­ließ. Sie dach­te nicht, sie schwelg­te we­der in Erin­ne­run­gen noch Hoff­nun­gen, ihr Geist war wie ihr Kör­per ein­ge­wiegt und ein­ge­lullt von der wei­chen, schmei­cheln­den Be­we­gung der Wel­len.

Als der Va­ter den Kom­man­do­ruf: »Vor­wärts, an eure Plät­ze, die Ru­der be­reit!« er­tö­nen ließ, sah sie lä­chelnd, wie ihre Söh­ne, ihre zwei großen, kräf­ti­gen Jun­gen, die Rö­cke ab­war­fen und die Hem­d­är­mel auf­stülp­ten.

Pe­ter, der den Da­men zu­nächst saß, nahm das Ru­der auf der Steu­er­bord­sei­te, Hans das Back­bord, und bei­de war­te­ten dann auf das vä­ter­li­che »Los«, denn dass alle Ma­nö­ver re­gel­recht aus­ge­führt wur­den und die gan­ze Ge­schich­te kor­rekt see­män­nisch vor sich ging, war na­tür­lich die Haupt­sa­che.

Zu glei­cher Zeit, mit ei­nem Schla­ge, san­ken die Ru­der ins Was­ser, weit zu­rück­ge­beugt hol­ten die jun­gen Män­ner kraft­voll aus, und nun be­gann ein eif­ri­ger Wett­streit zwi­schen ih­nen. Hin­aus hat­ten sie sich des Se­gels be­dient, aber jetzt rühr­te sich kein Lüft­chen, und bei der Aus­sicht, ihre Kräf­te mit­ein­an­der zu mes­sen, wa­ren plötz­lich männ­li­che Ei­tel­keit und Ehr­geiz im Her­zen der jun­gen Leu­te er­wacht.

Wenn sie mit dem Va­ter al­lein zum Fi­schen hin­aus­fuh­ren, ru­der­ten sie, ohne dass ge­steu­ert wur­de, denn Ro­land mach­te in­des­sen die An­geln zu­recht und über­wach­te die Fahrt, de­ren Rich­tung und Tem­po er zu­wei­len mit ei­nem Wor­te oder ei­ner Hand­be­we­gung an­gab. »Hans, nach­las­sen!« »Pe­ter, an­zie­hen!« oder auch: »Macht vor­an, alle bei­de, ein biss­chen Arm­schmalz!« ge­nüg­te; der, wel­cher ins Träu­men ge­ra­ten war, zog dann mehr aus, der über­große Ei­fer wur­de ge­hemmt und das Boot hat­te wie­der die ge­hö­ri­ge Rich­tung.

Heu­te woll­ten bei­de ihre Mus­kel­kraft zur Gel­tung brin­gen. Pe­ters Arm war be­haart, et­was ma­ger, aber ner­vig; Hans da­ge­gen hat­te einen run­den, wei­ßen, röt­lich schim­mern­den Arm, die Mus­keln tra­ten un­ter der Haut deut­lich her­vor.

An­fangs war Pe­ter im Vor­teil. Die Zäh­ne auf­ein­an­der ge­presst, die Stirn in Fal­ten ge­zo­gen, die Bei­ne lang aus­ge­streckt, die Hän­de um das Ru­der ge­kämpft, das sich bei je­dem Schlag in sei­ner gan­zen Län­ge bog, brach­te er die ›Per­le‹ auf die Sei­te des Ufers. Va­ter Ro­land, der sich in den Bug ge­setzt hat­te, um den Platz hin­ten den Da­men zu über­las­sen, kam ganz au­ßer Atem vor lau­ter: »Num­mer eins, sach­te – Num­mer Zwei, drauf!« ru­fen, was nur zur Fol­ge hat­te, dass Num­mer eins sei­ne wahn­sin­ni­gen An­stren­gun­gen ver­dop­pel­te, wäh­rend Num­mer Zwei nicht im stan­de war, mit die­sem tol­len Ru­de­rer Schritt zu hal­ten.

End­lich be­fahl der Schiffs­herr: »Stop!« Die bei­den Ru­der ho­ben sich aus dem Was­ser und Hans tat auf Ge­heiß des Va­ters ein paar Ru­der­schlä­ge al­lein, um das Boot wie­der in die ge­hö­ri­ge Rich­tung zu brin­gen. Von jetzt an war er im Vor­teil: er ward leb­haf­ter und be­tei­lig­te sich wär­mer, wäh­rend Pe­ter, von sei­nem krampf­haf­ten Ar­bei­ten au­ßer Atem, an Kraft ver­lo­ren hat­te.

Vier­mal muss­te der Va­ter noch sein »Stop« wie­der­ho­len, um sei­nem Äl­tes­ten eine Ru­he­pau­se zum Au­fat­men zu ver­schaf­fen und das Boot rich­tig­zu­stel­len. Be­schämt und in­grim­mig stot­ter­te der Dok­tor mit lei­chen­blas­sem Ge­sicht und schweiß­trie­fen­der Stirn: »Ich weiß nicht, was mir ist: ich muss einen Herz­krampf ha­ben. Ich bin an­fangs zu has­tig ge­we­sen und das hat mich er­schöpft.«

»Soll ich nicht die Dop­pel­ru­der neh­men und al­lein ru­dern?« frag­te Hans.

»Nein, dan­ke, es wird schon vor­über­ge­hen.«

Et­was är­ger­lich be­merk­te die Mut­ter: »Ein rech­ter Un­sinn, sich in solch einen Zu­stand zu brin­gen: du bist doch kein Kind.«

Er zuck­te die Ach­seln und fuhr fort in sei­ner Ar­beit.

Frau Rosé­mil­ly schi­en von al­le­dem nichts zu se­hen, nichts zu hö­ren und nichts zu be­grei­fen. Ihr zier­li­ches Köpf­chen mach­te die Be­we­gung des Schif­fes mit und fuhr rasch und an­mu­tig bei je­dem Ru­der­schla­ge ein we­nig zu­rück, dass die zar­ten blon­den Stirn­här­chen lus­tig auf­flo­gen.

Plötz­lich rief Herr Ro­land: »Seht, seht, der ›Prinz Al­ber­t‹ holt uns ein!« Al­ler Au­gen wand­ten sich nach der Sei­te, wo der Southamp­to­ner Damp­fer, lang, nie­der, bei­de Schorn­stei­ne zu­rück­ge­legt, mit den run­den, gel­ben Lu­ken­klap­pen, un­ter vol­lem Dampf da­her­rausch­te, das Deck von Pas­sa­gie­ren und ge­öff­ne­ten Son­nen­schir­men wim­melnd. Flink und ge­räusch­voll peitsch­ten die Rä­der das Was­ser, das hoch auf­schäu­mend zu­rück­fiel. Das Boot sah aus, als ob es nicht rasch ge­nug sein Ziel er­rei­chen kön­ne, dem es wie ein feu­ri­ger Ren­ner zu­eil­te, mit dem Vor­der­tei­le das Was­ser ker­zen­ge­ra­de durch­schnei­dend, dass zwei dün­ne, durch­sich­ti­ge Schaum­li­ni­en an sei­nem Rumpf ent­lang glit­ten.

Als der Damp­fer in un­mit­tel­ba­re Nähe der »Per­le« kam, zog Herr Ro­land sei­nen Hut, schwenk­te ihn grü­ßend, die Da­men weh­ten mit ih­ren Ta­schen­tü­chern und ein hal­b­es Dut­zend Son­nen­schir­me er­wi­der­ten die­se Höf­lich­keit vom Deck des Post­damp­fers aus, der sich rasch ent­fern­te und nur ein leich­tes Wel­len­ge­kräu­sel auf der glat­ten, leuch­ten­den Flä­che zu­rück­ließ.

Von al­len Sei­ten sah man nun Fahr­zeu­ge mit oder ohne die klei­ne Rauch­müt­ze dem wei­ßen Ha­fen­damm zu­ei­len, der sie wie ein gie­ri­ger Rie­se zu ver­schlin­gen schi­en. Fi­scher­bar­ken und große Se­gel­schif­fe mit leich­ten Mas­ten, zum Teil von nicht wahr­nehm­ba­ren Bug­sier­schif­fen ge­zo­gen, glit­ten am hel­len Ho­ri­zont hin und nä­her­ten sich lang­sam oder schnell dem ge­frä­ßi­gen Rie­sen, der von Zeit zu Zeit, wie über­sät­tigt, eine gan­ze Flot­te von Post­schif­fen, Zwei­mas­tern, Briggs, Go­elet­ten, Drei­mas­tern mit ih­rem viel­spit­zi­gen Ta­kel­werk in die of­fe­ne See hin­aus­schleu­der­te. Ei­lig ent­flo­hen die Damp­fer nach rechts und links auf der wei­ten Flä­che des Ozeans, wah­rend die Se­gel­schif­fe, so­bald die klei­nen Schlep­per, die sie in Be­we­gung ge­setzt, sie im Stich lie­ßen, un­be­weg­lich da la­gen und sich nun vom Top­mast bis zur Brams­ten­ge mit wei­ßen oder brau­nen Se­geln be­klei­de­ten, die im Licht der un­ter­ge­hen­den Son­ne blu­tig­rot leuch­te­ten.

 

Mit halb­ge­schlos­se­nen Au­gen­li­dern sag­te Frau Ro­land lei­se: »Gott, wie schön ist die­ses Meer!« wor­auf Frau Rosé­mil­ly, mit ei­nem Seuf­zer, der zwar sehr lang war, aber den Hö­rer nicht be­son­ders trau­rig stimm­te, die Be­mer­kung mach­te: »Ja ge­wiss, und doch kann es uns so viel Her­ze­leid an­tun.«

»Da ist sie ja, die ›Nor­man­die‹, dort am Ha­fen­ein­gang. Ein stol­zes Schiff, nicht?« rief Va­ter Ro­land, und fing dann an, sei­nen Fahr­gäs­ten die ein­zel­nen Punk­te der Küs­te da un­ten, jen­seits der Sei­ne­mün­dung – »die Mün­dung ist zwan­zig Ki­lo­me­ter breit,« sag­te er – zu be­zeich­nen und zu er­klä­ren. Er zeig­te ih­nen Vil­ler­ville, Trou­ville, Houl­ga­te, Luc, Ar­ro­man­ches, die Mün­dung des Flüss­chens von Caëns, und mach­te sie auf die Cal­va­dos­fel­sen auf­merk­sam, wel­che die Schiff­fahrt bis Cher­bourg ge­fähr­den.

Hier­auf er­ör­ter­te er die Sand­bän­ke in der Sei­ne, wel­che sich von ei­ner Flut­zeit zur an­de­ren völ­lig um­ge­stal­ten und selbst den Schif­fers­leu­ten von Quil­le­boe­uf zu schaf­fen ma­chen, so­bald sie auch nur einen ein­zi­gen Tag den Kanal nicht be­fah­ren. Da­rauf folg­te eine klei­ne Ab­hand­lung über die Nor­man­die im All­ge­mei­nen: er hob her­vor, dass Ha­vre ge­nau die Gren­ze bil­de zwi­schen der un­te­ren Nor­man­die, de­ren fla­che Ufer als fet­tes Wei­de­land, Acker­feld und Wie­se bis ans Meer aus­lau­fen, wäh­rend der nörd­li­che Teil der Pro­vinz, die obe­re Nor­man­die, im Ge­gen­teil in senk­rech­ten Fel­sen, als schrof­fes, stol­zes, wild zer­klüf­te­tes Ge­sta­de ge­gen die See ab­fal­le – eine ge­wal­ti­ge Mau­er, in de­ren Rit­zen sich über­all ein Dorf oder ein See­ha­fen ber­ge und ein­nis­te, so: Etre­tat, Fé­camp, Saint-Va­le­ry, Le Tré­port, Diep­pe etc.

Ein­ge­lullt von der wei­chen, woh­li­gen Be­we­gung des Boo­tes, in­ner­lich be­wegt vom An­blick des un­end­li­chen Mee­res mit dem bun­ten Al­ler­lei von Fahr­zeu­gen, die da­hin­schos­sen, wie das Tier in sei­ne Höh­le, hör­ten die bei­den Frau­en nicht auf sei­ne Er­klä­run­gen und Ab­hand­lun­gen; in Schwei­gen ver­sun­ken vor dem herr­li­chen, far­ben­schim­mern­den Schau­spiel des Son­nen­un­ter­gan­ges, in der Unend­lich­keit von Was­ser und Luft, vom Ge­fühl mensch­li­cher Klein­heit er­grif­fen, sprach kei­ne ein Wort, was aber den wür­di­gen See­mann nicht ab­hielt, un­auf­hör­lich wei­ter­zu­schwat­zen. Er ge­hör­te zu den Leu­ten, die nichts aus ih­rem Fahr­was­ser bringt, und hat­te kei­ne Ah­nung von je­ner den Frau­en eig­nen ner­vö­sen Stim­mung, in der man, ohne sich Re­chen­schaft über das Wa­rum zu ge­ben, je­des un­nüt­ze Ge­re­de als ver­let­zend und roh emp­fin­det.

Pe­ter und Hans hat­ten ihr Gleich­ge­wicht wie­der ge­fun­den und ru­der­ten ge­mäch­lich mit lei­sen, lan­gen Zü­gen, und win­zig klein ne­ben den ho­hen, mäch­ti­gen Schif­fen, lief die »Per­le« in den Ha­fen ein. So­bald sie am Quai an­fuhr, war Pa­pa­gris, ihr al­ter Hü­ter, der sie er­war­tet hat­te, den Da­men beim Aus­s­tei­gen be­hilf­lich, und man ging der Stadt zu. Eine zahl­rei­che, ver­gnüg­li­che Men­schen­men­ge, wie sie all­abend­lich zur Flut­zeit sich am Dam­me zu­sam­men­fin­det und drängt, war eben­falls im Heim­weg be­grif­fen.

Frau Ro­land und die jun­ge Wit­we gin­gen vor­aus, die drei Her­ren folg­ten. In der Rue de Pa­ris blie­ben die Da­men manch­mal vor ei­nem Ju­we­lier­la­den oder dem Schau­fens­ter ei­nes Putz­ge­schäf­tes ste­hen, tausch­ten ihre An­sich­ten über einen Hut oder ein Arm­band aus und setz­ten dann ih­ren Weg fort.

Auf dem Bör­sen­plat­ze hielt Ro­land inne, um sich, wie er das täg­lich zu tun pfleg­te, das Vas­sin du Com­mer­ce zu be­trach­ten, in wel­chem, Rumpf an Rumpf ge­drängt, in vier bis fünf Rei­hen die Schif­fe ne­ben­ein­an­der lie­gen.

Längs des meh­re­re Ki­lo­me­ter lan­gen Quais er­hebt sich Mast an Mast, Rahe an Rahe, als ob hier, mit­ten im Her­zen der Stadt, ein leb­lo­ser, to­ter Wald gen Him­mel starr­te, und über die­sen laub- und ast­lo­sen Bäu­men kreist die Seemö­we und lau­ert auf je­des Stück Kü­chen­ab­fall, das ins Was­ser ge­wor­fen wird, um blitz­schnell, wie ein her­ab­ge­schleu­der­ter Stein, dar­auf nie­der­zu­sto­ßen, und ein Schiffs­jun­ge, der am äu­ßers­ten Ende ei­ner Ober­brams­ten­ge einen Block fest­bin­det, sieht wahr­haf­tig aus, als woll­te er Vo­gel­nes­ter aus­neh­men.

»Wol­len Sie nicht mit uns nach Hau­se kom­men und mit uns­rem ein­fa­chen Mahl vor­lieb neh­men – es wäre doch hübsch, wenn wir den Tag ge­mein­sam be­schlie­ßen könn­ten?« frag­te Frau Ro­land ihre jun­ge Freun­din.

»Von Her­zen gern – ich neh­me Ihre Ein­la­dung ohne wei­ters an. Es wäre gar so trau­rig, jetzt in mei­ne lee­ren vier Wän­de zu­rück­zu­keh­ren.«

Pe­ter, wel­cher Fra­ge und Ant­wort mit an­ge­hört hat­te und der et­was ge­reizt war über die Gleich­gül­tig­keit, mit wel­cher die hüb­sche Frau ihn be­han­del­te, sag­te halb­laut vor sich hin: »Aha, die Wit­we nis­tet sich ge­hö­rig ein.«

Er hat­te seit ei­ni­gen Ta­gen an­ge­fan­gen, nicht an­ders von ihr zu spre­chen, als von »der Wit­we«, und wenn dies Wort auch an und für sich kei­ne schlim­me Be­deu­tung hat­te, so brach­te es doch Hans im­mer in Har­nisch, weil er den Ton, in dem es ge­spro­chen wur­de, bos­haft und ver­let­zend fand.

Ohne ein Wort zu wech­seln, wa­ren die drei Her­ren an der häus­li­chen Schwel­le in der Rue Bel­le-Nor­man­de an­ge­langt; das Haus war schmal und ent­hielt ein Erd­ge­schoss und zwei klei­ne Stock­wer­ke. Das Dienst­mäd­chen, eine neun­zehn­jäh­ri­ge länd­li­che Die­ne­rin für ge­rin­gen Lohn mit ent­spre­chen­den Leis­tun­gen, öff­ne­te die Tür, mach­te sie wie­der zu, stieg hin­ter ih­rer Herr­schaft in den eine Trep­pe hoch ge­le­ge­nen Sa­lon hin­auf und mel­de­te erst dort, in­dem sie von ih­rem Ta­len­te, ver­blüfft und dumm drein­zu­schau­en, den aus­gie­bigs­ten Ge­brauch mach­te: »Es ist ein Herr schon drei­mal da­ge­we­sen.«

Der Haus­herr, wel­cher über­haupt nur brül­lend und flu­chend mit ihr ver­kehr­te, don­ner­te: »Wer ist da­ge­we­sen, in Kuckucks Na­men?«

Die stimm­li­chen Kraft­an­stren­gun­gen ih­res Dienstherrn ver­fehl­ten stets jeg­li­che Wir­kung auf Jo­se­phi­nens Ge­müt, und sie er­wi­der­te mit Ruhe: »Ein Herr vom Herrn No­tar!«

»Von was für ei­nem No­tar?«

»Vom Herrn No­tar Canu.«

»Und was hat die­ser Herr ge­sagt?«

»Dass der Herr Canu heu­te Abend selbst kom­men wer­de, hat er ge­sagt.«

Herr Le­ca­nu war der No­tar und auch ei­ni­ger­ma­ßen der Freund Herrn Ro­lands, des­sen Ge­schäf­te er be­sorg­te. Dass er sei­nen Be­such für heu­te Abend noch in Aus­sicht ge­stellt hat­te, deu­te­te un­be­dingt dar­auf hin, dass es sich um eine drin­gen­de An­ge­le­gen­heit von nicht ge­rin­ger Wich­tig­keit han­del­te, und die vier Glie­der der Fa­mi­lie Ro­land blick­ten ein­an­der mit je­nem Un­be­ha­gen an, das den be­schei­de­nen Ren­tier ge­wöhn­lich er­greift, so­bald es sich um die Ein­mi­schung ei­nes No­tars han­delt, des­sen Ti­tel ihm Ver­trä­ge, Erb­schaf­ten, Pro­zes­se und der­lei mehr oder we­ni­ger wün­schens­wer­te Din­ge vor die See­le ruft. Nach ei­ni­gem Nach­sin­nen be­merk­te das Fam­li­en­haupt: »Was kann denn das zu be­deu­ten ha­ben?«

»Eine Erb­schaft, ver­las­sen Sie sich dar­auf,« lach­te Frau Rosé­mil­ly. »Ich brin­ge Glück!«

Da durch­aus kei­ne fol­gen­rei­chen To­des­fäl­le in der Fa­mi­lie zu hof­fen wa­ren, fand der Ge­dan­ke we­nig An­klang, doch mach­te sich Frau Ro­land, die ein vor­züg­li­ches Ge­dächt­nis für noch so weit­ver­zweig­te Ver­wandt­schaft be­saß, so­fort dar­an, im Kop­fe alle Li­ni­en ih­rer und ih­res Man­nes Fa­mi­lie bis ins zehn­te und zwölf­te Glied durch­zu­ge­hen.

»Sag doch, Va­ter« (sie nann­te ih­ren Mann zu Hau­se im­mer »Va­ter«, vor Frem­den meist Herr Ro­land), »sag doch, wen hat Jo­seph Le­bru in zwei­ter Ehe ge­hei­ra­tet?«

»Eine klei­ne Dumé­nil, die Toch­ter ei­nes Pa­pier­fa­bri­kan­ten.«

»Sind Kin­der aus die­ser Ehe da?«

»Das will ich mei­nen, we­nigs­tens vier oder fünf.«

»Nein; dann ist von der Sei­te nichts zu er­war­ten,« be­merk­te sie, und nun fuhr sie fort, den Stamm­baum der Ro­lan­de nach­zu­for­schen, was sie so aus­schließ­lich in An­spruch nahm, dass sie nicht ein­mal dar­an dach­te, ih­ren Hut ab­zu­le­gen. Da­bei ward sie im­mer eif­ri­ger und er­wärm­te sich mehr und mehr bei dem Ge­dan­ken, wie er­freu­lich es wäre, wenn ih­nen ein biss­chen Wohl­stand so schlecht­weg aus den Wol­ken fal­len woll­te, so­dass Pe­ter, der ih­ren Hang zum Träu­men kann­te und der die schmerz­li­che Ent­täu­schung vor­aus­sah, die not­wen­dig ein­tre­ten muss­te, wenn die­se hoch­ge­spann­ten Er­war­tun­gen sich nicht ver­wirk­lich­ten, die Nach­richt des No­tars sich viel­leicht als eine un­er­freu­li­che her­aus­stell­te, es für pas­send hielt, einen Dämp­fer auf­zu­set­zen.

»Stei­ge­re dich nur nicht in sol­che Ide­en hin­ein, Mama, die Zei­ten der On­kel aus Ame­ri­ka sind vor­über. Mir ist viel wahr­schein­li­cher, dass es sich um eine Hei­rat für Hans han­deln wird.«

Alle wa­ren über­rascht von die­sem Ge­dan­ken, der viel Ein­leuch­ten­des hat­te; Hans fühl­te sich pein­lich be­rührt, dass sein Bru­der den­sel­ben in Frau Rosé­mil­lys Ge­gen­wart hat­te ver­lau­ten las­sen.

»Wes­halb soll sich denn ein sol­cher Plan ge­ra­de auf mich be­zie­hen? Die Ver­mu­tung ist zum min­des­ten höchst an­fecht­bar. Du bist der Äl­te­re, also ver­steht sich’s von selbst, dass man zu­erst an dich den­ken wird. Üe­ber­dies hei­ra­te ich nicht.«

»Du bist also ver­liebt?« frag­te Pe­ter mit spöt­ti­schem La­chen.

»Muss man not­wen­di­ger­wei­se ver­liebt sein, wenn man sagt, dass man noch kei­ne Lust zum Hei­ra­ten hat?« gab der Bru­der ver­stimmt zu­rück.

»Ach! Nun lass ich mir’s ge­fal­len. Du hat­test vor­hin das ›noch‹ aus­ge­las­sen – das ›noch‹ macht al­les gut, du war­test also vor­der­hand.«

»Nim­m’s, wie du willst.«

Das Fa­mi­li­en­haupt, wel­ches bis jetzt schwei­gend zu­ge­hört hat­te, war mit ein­mal auf eine höchst wahr­schein­li­che Lö­sung des Rät­sels ge­sto­ßen.

»Du lie­ber Him­mel, sind wir dumm, uns so die Köp­fe zu zer­bre­chen,« rief er. »Der No­tar weiß ja doch, dass Pe­ter und Hans ge­eig­ne­te Woh­nun­gen su­chen, um ihre Pra­xis als Rechts­an­walt und Arzt zu be­gin­nen – je­den­falls hat er für den einen oder den an­de­ren et­was Zweck­ent­spre­chen­des ge­fun­den.«

Das lag so nahe und hat­te so viel für sich, dass alle so­fort die An­nah­me fest­hiel­ten.

»Es ist an­ge­rich­tet,« mel­de­te Jo­se­phi­ne, und man kam erst jetzt dazu, sich in die ver­schie­de­nen Schlaf­zim­mer zu­rück­zu­zie­hen und sich ein we­nig zu­rechtzu­ma­chen.

Zehn Mi­nu­ten spä­ter saß man in dem klei­nen Spei­se­zim­mer im Erd­ge­schoss. An­fangs schwie­gen alle, nach kur­z­er Zeit aber fing Herr Ro­land an sei­ne eig­ne, mit so viel Bei­fall auf­ge­nom­me­ne Mut­ma­ßung wie­der in Zwei­fel zu zie­hen.

»Schließ­lich, wes­halb hat er nicht ge­schrie­ben?« be­merk­te er. »Wes­halb hat er drei­mal sei­nen Ge­hil­fen ge­schickt? Wes­halb kommt er denn jetzt noch selbst?«

Pe­ter konn­te dar­an nichts Auf­fal­len­des fin­den.

»Höchst wahr­schein­lich muss er so­fort Ant­wort ha­ben, viel­leicht han­delt es sich auch um ei­ni­ge Be­din­gun­gen, die ver­trau­li­cher Art sind, und die Herr Le­ca­nu nicht gern schrift­lich er­ör­tern woll­te!«

Die gan­ze Fa­mi­lie war nicht im stan­de, sich von die­sem Ide­en­kreis los­zu­rei­ßen, und zu­gleich emp­fan­den alle die Ge­gen­wart ei­ner Frem­den bei ei­ner der­ar­ti­gen Un­ter­re­dung stö­rend und be­reu­ten, Frau Rosé­mil­ly zum Blei­ben auf­ge­for­dert zu ha­ben.

Kaum hat­te man sich wie­der in den Sa­lon hin­auf­be­ge­ben, als der No­tar ge­mel­det wur­de. Herr Ro­land eil­te ihm ent­ge­gen: »Will­kom­men, ver­ehr­ter Freund, will­kom­men!«

Frau Rosé­mil­ly er­hob sich und ver­si­cher­te, dass sie sich sehr er­mü­det füh­le und nach Hau­se ge­hen wol­le. Die äu­ßerst schwa­chen Ver­su­che, sie an der Aus­füh­rung die­ses Ent­schlus­ses zu hin­dern, wies sie be­stimmt zu­rück und sie ging, ohne dass ei­ner der drei Her­ren ihr sei­ne Beglei­tung an­ge­bo­ten hät­te, was sonst im­mer ge­sch­ah.

 

Frau Ro­land war in lie­bens­wür­digs­ter Wei­se um den neu­en Gast be­müht.

»Darf ich Ih­nen eine Tas­se Kaf­fee an­bie­ten, Herr No­tar?«

»Nein, dan­ke, ich kom­me eben von Tisch.«

»Aber viel­leicht eine Tas­se Tee?«

»Das will ich nicht ver­schwö­ren, aber bit­te erst et­was spä­ter: wir wol­len zu­erst uns­re Ge­schäf­te be­spre­chen.«

Die­sen Wor­ten folg­te ein so tie­fes Schwei­gen, dass das Ti­cken der Wand­uhr und das Ge­klap­per, wel­ches Jo­se­phi­ne, die viel zu dumm war, um an den Tü­ren zu hor­chen, in den un­te­ren Re­gio­nen beim Ge­schir­r­auf­wa­schen ver­ur­sach­te, mit un­heim­li­cher Deut­lich­keit ver­nehm­bar wa­ren.

Der No­tar be­gann: »Ha­ben Sie in Pa­ris einen ge­wis­sen Herrn Mar­schall, Léon Mar­schall, ge­kannt?«

Aus ei­nem Mund rie­fen Herr und Frau Ro­land: »Ge­wiss, ge­wiss!«

»Er war mit Ih­nen be­freun­det?«

»Der bes­te Freund, den ich über­haupt be­sit­ze, Herr No­tar,« ver­si­cher­te Va­ter Ro­land; »nur ist er lei­der ei­ner je­ner ein­sei­ti­gen, ei­gen­sin­ni­gen Pa­ri­ser, die nicht von ih­ren Bou­le­vards weg­zu­krie­gen sind, wes­halb wir ihn seit un­serm Weg­zug von der Haupt­stadt nicht mehr ge­se­hen ha­ben. Mit der Kor­re­spon­denz war’s auch nicht weit her, wie das so zu ge­hen pflegt, wenn man sich nicht mehr sieht. …«

Mit erns­ter Stim­me fuhr der No­tar fort: »Herr Mar­schall ist nicht mehr!«

Mann und Frau zeig­ten gleich­zei­tig je­nes weh­mü­ti­ge Er­schre­cken, das man mit mehr oder we­ni­ger Wär­me und Wahr­heit, im­mer aber un­ver­züg­lich an den Tag zu le­gen pflegt, wenn man eine sol­che Nach­richt er­hält.

»Ein Pa­ri­ser Kol­le­ge,« fuhr Herr Le­ca­nu fort, »hat mir so­eben den we­sent­li­chen In­halt sei­nes Te­sta­ments mit­ge­teilt, wo­nach er Ihren Sohn Hans, Herrn Hans Ro­land, zu sei­nem Haupter­ben ge­macht hat.«

Das Er­stau­nen war so groß, dass keins der An­we­sen­den Wor­te fand.

Frau Ro­land, die zu­erst ihre Er­re­gung be­meis­tern konn­te, stam­mel­te: »Mein Gott, der arme Léon … un­ser ar­mer Freund … mein Gott … mein Gott … tot!«

Trä­nen tra­ten ihr in die Au­gen, jene laut­lo­sen Trä­nen der Frau­en, die kla­ren Schmer­zen­s­trop­fen, die aus der Tie­fe des Her­zens quel­len und von wah­rem Leid zeu­gen. Ihr Gat­te be­schäf­tig­te sich we­ni­ger mit der trau­ri­gen Sei­te die­ses Ver­lus­tes, als mit den an­ge­neh­men Aus­sich­ten, die sich an den­sel­ben knüpf­ten, doch emp­fand er eine ge­wis­se Scheu, so­fort nach den ein­zel­nen Be­stim­mun­gen des Te­sta­ments oder nach der ge­nau­en Sum­me des Ver­mö­gens zu fra­gen, und um sich all­mäh­lich dem ei­gent­lich in­ter­essan­ten The­ma zu nä­hern, be­gann er: »Woran ist denn der arme Mar­schall ge­stor­ben?«

Lei­der konn­te Herr Le­ca­nu über die­sen Punkt durch­aus kei­ne Aus­kunft ge­ben.

»Ich weiß nur,« sag­te er, »dass der Te­sta­tor, der kei­ne Lei­be­ser­ben hin­ter­lässt, sein gan­zes Ver­mö­gen, das in drei­pro­zen­ti­gen Ob­li­ga­tio­nen an­ge­legt, einen jähr­li­chen Zins von etwa zwan­zig­tau­send Fran­ken ab­wirft, Ihrem zwei­ten Sohn, den er von Kin­des­bei­nen an ge­kannt und den er die­ses Ver­mächt­nis­ses wür­dig glaubt, be­stimmt hat. Soll­te Herr Hans sich wei­gern, die Erb­schaft an­zu­tre­ten, so wür­de das Ver­mö­gen den Wai­sen- und Fin­del­häu­sern zu­fal­len.«

Län­ger konn­te Herr Ro­land sei­ne Her­zens­freu­de nicht mehr ver­ber­gen.

»Sap­per­lot! Das war ein fa­mo­ser Ein­fall von dem gu­ten Mann! Ich mei­ner­seits, wenn ich kin­der­los wäre, wür­de den wa­cke­ren Freund si­cher­lich auch nicht ver­ges­sen ha­ben.«

»Es hat mir wirk­lich Freu­de ge­macht,« be­merk­te der No­tar lä­chelnd, »Ih­nen per­sön­lich Mit­tei­lung von der Sa­che zu ma­chen. Es gibt doch nichts Schön­res, als der Über­brin­ger ei­ner fro­hen Bot­schaft zu sein.«

Dass die­se fro­he Bot­schaft, bei Licht be­trach­tet, die Nach­richt vom Tode ei­nes Freun­des, Herrn Ro­lands nächs­tem Freund war, hat­te der vor­treff­li­che Mann da­bei über­se­hen, wie auch Herr Ro­land selbst die kurz vor­her so stark be­ton­te In­nig­keit die­ser Be­zie­hun­gen ver­ges­sen zu ha­ben schi­en.

Die Mut­ter und die Söh­ne hiel­ten da­ge­gen eine erns­te, trau­ri­ge Stim­mung fest. Frau Ro­land wein­te fort und fort, trock­ne­te sich die Au­gen und drück­te ihr Tuch ge­gen die Lip­pen, wie um ein Schluch­zen zu er­sti­cken.

Der Dok­tor ging im Zim­mer auf und ab und sag­te halb­laut: »Er war ein bra­ver Mann, gut und lie­be­voll. Wie oft hat er uns nicht zu Tisch ein­ge­la­den, mei­nen Bru­der und mich.«

Hans, der mit weit­ge­öff­ne­ten, leuch­ten­den Au­gen da­saß, strich sei­ner Ge­wohn­heit nach mit ei­ner Hand den großen blon­den Voll­bart, als woll­te er ihn in die Län­ge zie­hen und mög­lichst schmal zu­sam­men­pres­sen. Zwei­mal schon hat­te er die Lip­pen be­wegt, um et­was zu sa­gen, schi­en aber nur mit ziem­li­cher Schwie­rig­keit die ge­such­ten schick­li­chen Wor­te fin­den zu kön­nen, und brach­te schließ­lich nichts als die Be­mer­kung zu stän­de: »Er hat mich sehr lieb ge­habt. So oft ich ihn be­such­te, hat er mich ge­küsst.«

Die Ge­dan­ken des Va­ters be­weg­ten sich in ra­sche­rem Tem­po und ga­lop­pier­ten längst die­ser Erb­schaft ent­ge­gen, die­sem Ver­mö­gen, das sei­nem Soh­ne schon ge­hör­te, das nur hin­ter der Tür ver­steckt stand und je­den Au­gen­blick auf sein Ge­heiß her­ein­strö­men konn­te.

»Es wird doch kei­ne Schwie­rig­kei­ten ge­ben?« frag­te er plötz­lich. »Kei­nen Pro­zess? Kei­ne Te­sta­ment­san­fech­tung?«

Herr Le­ca­nu er­klär­te, ohne ir­gend eine Be­sorg­nis zu zei­gen: »Dem Be­rich­te mei­nes Pa­ri­ser Kol­le­gen zu­fol­ge ist al­les in schöns­ter Ord­nung. Herr Hans braucht die Erb­schaft ein­fach an­zu­tre­ten.«

»Vor­treff­lich, vor­treff­lich. … Das Ver­mö­gen ist si­cher an­ge­legt?«

»Ganz si­cher.«

»Die nö­ti­gen For­ma­li­tä­ten sind alle er­füllt?«

»Ge­wiss, alle.«

Un­will­kür­lich, halb un­be­wusst über­kam den al­ten Ju­we­lier ein Ge­fühl der Scham, dass er die­se Er­kun­di­gun­gen gar so has­tig ein­ge­zo­gen, und er sag­te ent­schul­di­gend: »Sie kön­nen sich ja­wohl den­ken, dass ich nach die­sen Din­gen nur fra­ge, um mei­nem Sohn spä­ter­hin Unan­nehm­lich­kei­ten zu er­spa­ren, von de­nen er kei­ne Ah­nung hat. In sol­chen Fäl­len kön­nen Schul­den da sein, al­ler­hand ver­wi­ckel­te Ge­schich­ten, was weiß ich? Schließ­lich rennt man sich in lau­ter Schwie­rig­kei­ten hin­ein und bleibt drin hän­gen wie im Dorn­ge­strüpp. Mich per­sön­lich be­rührt die Sa­che ja we­nig, aber ich den­ke na­tür­lich an mei­nen Klei­nen.«

Die gan­ze Fa­mi­lie nann­te Hans »den Klei­nen«, und die Tat­sa­che, dass er sei­nem Bru­der be­deu­tend über den Kopf ge­wach­sen war, hat­te die­ser Ge­wohn­heit nichts an­ha­ben kön­nen.

Nun war es, als ob Frau Ro­land, die aus ei­nem Traum zu er­wa­chen schi­en, et­was ganz Fern­lie­gen­des, schon fast Ver­ges­se­nes ein­fie­le, wo­von sie vor lan­ger Zeit ein­mal ge­hört, ohne sich noch mit Si­cher­heit dar­an zu er­in­nern, und sie frag­te stot­ternd: »Ha­ben Sie nicht ge­sagt, dass un­ser ar­mer Freund, Herr Mar­schall, mei­nem klei­nen Hans sein Ver­mö­gen hin­ter­las­sen habe?«

»Al­ler­dings, Frau Ro­land!«

»Das macht mir große Freu­de,« sag­te sie ein­fach, »denn es be­weist, dass er uns sehr lieb ge­habt hat.«