Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Drittes Kapitel

Am an­de­ren Mor­gen er­wach­te Dok­tor Pe­ter Ro­land mit dem fes­ten Ent­schluss, Geld zu ver­die­nen und sich eine Stel­lung zu schaf­fen.

Schon mehr­mals hat­te er die­sen Plan ent­wor­fen, ohne je ernst­lich an der Aus­füh­rung des­sel­ben zu ar­bei­ten. Je­des Mal, wenn er sich ein Stu­di­um, einen Be­rufs­weg er­ko­ren, hat­te der Ge­dan­ke, da­bei rasch reich zu wer­den, ihn ge­lockt und sei­nen Ei­fer und sei­ne Zu­ver­sicht ge­stärkt, bis zum ers­ten Hin­der­nis, auf das er stieß, bis zur ers­ten Schlap­pe, die er er­litt und nach wel­cher er dann so­fort in neue Bah­nen ein­lenk­te.

Be­hag­lich in sei­nem Bett aus­ge­streckt, dach­te er nach. Wie vie­le Ärz­te wa­ren nicht in kür­zes­ter Zeit Mil­lio­näre ge­wor­den! Was ge­hör­te denn ei­gent­lich dazu, als ein biss­chen Ge­schick­lich­keit und das Ta­lent, et­was aus sich zu ma­chen. Mehr si­cher nicht – er hat­te ja wäh­rend sei­ner Stu­di­en­zeit den be­rühm­tes­ten Lich­tern der Wis­sen­schaft in die Kar­ten ge­blickt und hat­te im Stil­len die An­sicht ge­won­nen, dass sie Dumm­köp­fe sei­en; je­den­falls wuss­te er eben­so viel wie sie, wenn nicht mehr. Wenn es ihm auf ir­gend eine Wei­se ge­lang, die rei­che und vor­neh­me Pra­xis in Ha­vre zu be­kom­men, so war es ein Kin­der­spiel, hun­dert­tau­send Fran­ken im Jah­re zu ver­die­nen.

Er fing an, sei­ne Ein­nah­men ge­nau zu be­rech­nen. Vor­mit­tags wür­de er Kran­ken­be­su­che in den Häu­sern ma­chen, nahm er für die Zahl der Gän­ge den schon be­schei­de­nen Durch­schnitt von zehn Pa­ti­en­ten an, so mach­te die Ein­nah­me von zwan­zig Fran­ken für den Be­such min­des­tens zwei­und­sieb­zig­tau­send Fran­ken aufs Jahr, ei­gent­lich konn­te er keck­lich sa­gen fünf­und­sieb­zig­tau­send Fran­ken, da ja der Durch­schnitt von zehn äu­ßerst nied­rig ge­grif­fen war. Nach­mit­tags wür­de er dann in sei­ner Sprech­stun­de durch­schnitt­lich zehn Pa­ti­en­ten zum Preis von zehn Fran­ken be­ra­ten, macht jähr­lich sechs­und­drei­ßig­tau­send Fran­ken – Ge­samtein­kom­men also rund hun­dert­tau­send. Die Be­hand­lung von äl­te­ren Pa­ti­en­ten und Be­kann­ten, die er zum Freund­schafts­preis von zehn Fran­ken be­su­chen und um fünf Fran­ken bei sich be­ra­ten müss­te, wür­de al­ler­dings die­se Sum­me et­was be­ein­träch­ti­gen, was sich aber durch Kon­sul­ta­tio­nen mit an­de­ren Ärz­ten und die klei­nen Vor­tei­le und Ge­schäft­chen, die zum Be­ruf ge­hör­ten, voll­stän­dig aus­glei­chen wür­de.

Mit ein biss­chen Re­kla­me, ei­ner kur­z­en No­tiz im »Fi­ga­ro«, dass die me­di­zi­ni­sche Fa­kul­tät von Pa­ris den be­schei­de­nen jun­gen Ge­lehr­ten in Ha­vre nicht aus den Au­gen las­se, und dass man sei­ne über­ra­schen­den, in­ter­essan­ten Ku­ren dort ge­nau ver­fol­ge, war die Sa­che ge­macht, und er stand dann vor den Au­gen der Welt rei­cher, be­rühm­ter als sein Bru­der und war je­den­falls in­ner­lich be­frie­dig­ter, denn er ver­dank­te das al­les sei­ner eig­nen Kraft. Dass er sich sei­nen al­ten El­tern, die mit Fug und Recht stolz auf sei­nen Ruhm sein wür­den, als dank­ba­rer, groß­mü­ti­ger Sohn zei­gen wer­de, ver­stand sich von selbst. Zu hei­ra­ten hat­te er nicht im Sinn – wozu sich das Le­ben mit ei­ner Frau be­las­ten, die ihm nur Zwang auf­er­le­gen konn­te, wäh­rend der be­rühm­te Arzt un­ter sei­nen Pa­ti­en­tin­nen nur die hüb­sche­s­ten aus­zu­wäh­len brauch­te, um sich der Lie­be zu freu­en.

Eine der­ar­ti­ge Sie­ges­ge­wiss­heit er­füll­te ihn, dass er mit ei­nem Satz aus dem Bett sprang, sich rasch an­klei­de­te und des Mor­gens auf Woh­nungs­su­che in die Stadt ging, um sich den Er­folg ja nicht ent­schlüp­fen zu las­sen.

Un­ter­wegs stell­te er ei­ni­ge Be­trach­tun­gen dar­über an, wel­che Klei­nig­kei­ten oft die Ver­an­las­sung uns­rer fol­gen­schwers­ten Ent­schlie­ßun­gen wer­den. Seit drei Wo­chen hät­te er die­sen Ent­schluss fas­sen kön­nen, fas­sen sol­len, zu dem ihn nun die Erb­schaft sei­nes Bru­ders so plötz­lich an­ge­trie­ben.

Vor al­len Häu­sern, wo die aus­ge­häng­te Ta­fel: Zu ver­mie­ten eine »schö­ne« oder eine »ele­gan­te« Woh­nung ver­hieß, blieb er ste­hen, nicht als sol­che be­zeich­ne­te Be­hau­sun­gen wür­dig­te er über­haupt sei­ner Be­ach­tung nicht. Sah er sich dann die Sa­che an, so ge­sch­ah es mit äu­ßerst vor­neh­mer Mie­ne: er nahm we­sent­lich von der Stock­hö­he No­tiz, skiz­zier­te den Grund­riss des Hau­ses samt Ver­bin­dungs­tü­ren, Aus­gän­gen u. s. w. mit we­nig Stri­chen in sein Ta­schen­buch, und ließ ein­flie­ßen, dass er Arzt sei, eine be­deu­ten­de Pra­xis habe, und da­her auf ein schö­nes, gut ge­hal­te­nes Trep­pen­haus Wert le­gen müs­se, auch kön­ne er selbst­ver­ständ­lich nur einen ers­ten Stock brau­chen.

Nach­dem er sich sie­ben bis acht Adres­sen auf­ge­schrie­ben und ein paar hun­dert Be­mer­kun­gen dazu ge­krit­zelt hat­te, ging er nach Hau­se, wo er mit ei­ner Vier­tel­stun­de Ver­spä­tung beim Früh­stück an­lang­te.

Schon im Vor­zim­mer hör­te er Teller­ge­klap­per; man hat­te also ohne ihn an­ge­fan­gen. Wes­halb denn? Man pfleg­te doch sonst nicht so über­trie­ben pünkt­lich zu sein. Es be­rühr­te ihn un­an­ge­nehm, ver­stimm­te ihn, denn er war nun ein­mal et­was emp­find­li­cher Na­tur. Als er ein­trat, rief der Va­ter: »Vor­wärts, Pe­ter, vor­wärts, mach, dass du zu Tisch kommst! Du weißt doch, dass wir um zwei Uhr beim No­tar sein müs­sen; heu­te ist wahr­haf­tig nicht der Tag, die Zeit zu ver­trö­deln.«

Nach­dem er die Mut­ter ge­küsst und Va­ter und Bru­der die Hand ge­reicht hat­te, setz­te sich der Dok­tor, ohne ein Wort zu spre­chen. Er griff nach der tie­fen Plat­te, die in der Mit­te stand und nahm die für ihn üb­rig ge­las­se­ne Ko­te­let­te; sie war kalt und tro­cken; je­den­falls hat­te man ihm die schlech­tes­te üb­rig ge­las­sen. We­nigs­tens hat­te man sie bis zu sei­nem Er­schei­nen auf dem Feu­er las­sen kön­nen, dach­te er im Stil­len; so wich­tig war die Sa­che beim No­tar denn doch nicht, dass man den Kopf ganz zu ver­lie­ren und den an­de­ren, den äl­tern Sohn dar­über zu ver­ges­sen brauch­te. Das Ge­spräch, wel­ches sein Ein­tritt un­ter­bro­chen, wur­de in­des von den an­de­ren wie­der auf­ge­nom­men.

»Ich weiß, was ich an dei­ner Stel­le, und zwar so­gleich tun wür­de,« sag­te Frau Ro­land zu Hans. »Ich wür­de mich glän­zend ein­rich­ten, so­dass es den Leu­ten ein biss­chen in die Au­gen sticht, wür­de in Ge­sell­schaft ge­hen, rei­ten und mir dann ein paar in­ter­essan­te Fäl­le aus­su­chen, um gleich mit dem ers­ten Plai­doy­er im Jus­tiz­pa­last fes­ten Fuß zu fas­sen und Auf­se­hen zu ma­chen. Es müss­te hei­ßen: Scha­de, dass er sei­nen Be­ruf nur so als Lieb­ha­be­rei be­treibt – da­durch wärst du nur umso ge­such­ter. Gott sei Dank hast du es jetzt nicht mehr nö­tig, und wenn du über­haupt als Ad­vo­kat auf­trittst, ge­schieht es ja doch nur, da­mit du dei­nen Stu­di­en­fleiß nicht un­nütz auf­ge­wendet und weil ein Mann nicht ohne Be­schäf­ti­gung sein soll.«

Va­ter Ro­land, der sich eben eine Bir­ne schäl­te, teil­te nun sei­ne Auf­fas­sung in Be­zug auf des Soh­nes Zu­kunft mit.

»Mei­ner Seel’,« sag­te er, »wenn ich an dei­ner Stel­le wäre, kauf­t’ ich mir ein hüb­sches Boot, etwa einen Kut­ter, nach dem Mus­ter uns­rer Lot­sen­schif­fe. Mit dem wür­de ich bis nach dem Se­ne­gal fah­ren – so wür­de ich’s ma­chen.«

Nun gab auch Pe­ter sei­ne An­sicht preis. Im gan­zen be­stimm­te ja nicht der Be­sitz den geis­ti­gen und sitt­li­chen Wert des Man­nes; der­sel­be war für mit­tel­mä­ßi­ge Na­tu­ren so­gar eher eine Ur­sa­che der Er­nied­ri­gung, in der Hand des Star­ken frei­lich ein mäch­ti­ger He­bel, nur wa­ren die­se Stär­ken nicht all­zu häu­fig. Wenn Hans wirk­lich ein Mensch war, der über den Durch­schnitt hin­aus­rag­te, so konn­te er es jetzt zei­gen, jetzt, wo das Be­dürf­nis des Er­wer­bes für ihn weg­fiel und ihn nicht mehr zur Ar­beit trieb. Aber ar­bei­ten muss­te er, hun­dert­fach mehr ar­bei­ten, als er es un­ter an­de­ren Ver­hält­nis­sen ge­tan ha­ben wür­de. Es han­del­te sich ja jetzt nicht mehr dar­um, für oder ge­gen Wit­wen und Wai­sen Pro­zes­se zu füh­ren und ein Stück Geld in die Ta­sche zu ste­cken, son­dern es galt, ein be­deu­ten­der, be­rühm­ter Ju­rist, eine Au­to­ri­tät in sei­nem Fach zu wer­den.

»Wenn ich Geld hät­te, wie woll­te ich in­ter­essan­te Sek­tio­nen ma­chen!« setz­te er als Schluss hin­zu.

Va­ter Ro­land zuck­te die Ach­seln und mein­te: »La­ri­fa­ri! Das Ver­nünf­tigs­te im Le­ben ist, sich’s wohl sein las­sen! Wir sind kei­ne Last­tie­re, son­dern Men­schen. Ist ei­ner arm ge­bo­ren, so muss er ar­bei­ten, da ist nichts zu ma­chen, man beißt die Zäh­ne zu­sam­men und ar­bei­tet; hat man aber sei­ne Ren­ten, na sap­per­lot! da müss­te ei­ner doch ein Schafs­kopf sein, wenn er sich ab­pla­gen woll­te und sich die Lau­ne ver­der­ben.«

Sehr von oben her­ab be­merk­te Pe­ter: »Uns­re Le­bens­an­schau­un­gen sind frei­lich grund­ver­schie­den. Ich schät­ze Wis­sen und Kön­nen; al­les an­de­re ist mir ver­ächt­lich!«

Frau Ro­land, de­ren Le­bens­auf­ga­be es war, täg­lich die hef­ti­gen Zu­sam­men­stö­ße zwi­schen Va­ter und Sohn zu mil­dern und den­sel­ben vor­zu­beu­gen, such­te so­fort das Ge­spräch auf ein andres Ge­biet zu len­ken und er­wähn­te ei­nes Mor­des, der in der ver­flos­se­nen Wo­che in Bol­bec-Roin­tot ver­übt wor­den war. Als­bald ent­spann sich ein eif­ri­ges Hin und Wi­der über die Ein­zel­hei­ten des Fal­les und der Ge­gen­stand fes­sel­te alle durch den ge­heim­nis­vol­len Reiz, den das Ver­bre­chen, selbst wenn es nied­rigs­ter, scham­lo­ser und wi­der­li­cher Art ist, auf den Men­schen aus­übt, in­dem es Neu­gier­de er­weckt und die Ein­bil­dungs­kraft be­schäf­tigt.

Von Zeit zu Zeit zog Herr Ro­land sei­ne Uhr her­aus.

»Nicht zu lang schwat­zen,« sag­te er, »wir müs­sen uns auf den Weg ma­chen.« »Es ist noch nicht ein­mal ein Uhr,« be­merk­te Pe­ter mit spöt­ti­schem Auf­la­chen, »Wahr­haf­tig, man hät­te mir’s er­spa­ren kön­nen, mei­ne Ko­te­let­te kalt zu es­sen.«

 

»Kommst du mit zum No­tar?« frag­te die Mut­ter.

»Ich? Nein, wozu denn?« er­wi­der­te er tro­cken. »Mei­ne Ge­gen­wart wäre höchst über­flüs­sig.«

Hans ver­hielt sich schwei­gend, als ob ihn al­les dies nicht be­rüh­re. Er hat­te, als von dem Mord in Bol­bec die Rede ge­we­sen, sei­ne An­sicht als Ju­rist kund­ge­ge­ben und ei­ni­ge Be­mer­kun­gen über Ver­bre­chen und Ver­bre­cher dar­an ge­knüpft, dann war er wie­der in Schwei­gen ver­sun­ken, aber sein leuch­ten­des Auge, das er­höh­te Rot sei­ner Wan­gen, ja so­gar der glän­zen­de Bart ver­rie­ten, wie fröh­lich ihm ums Herz war.

Nach­dem die Fa­mi­lie ih­ren Gang an­ge­tre­ten, nahm Pe­ter, der nun aber­mals al­lein war, die Wan­de­rung nach den zu ver­mie­ten­den Woh­nun­gen von Neu­em auf. Nach­dem er zwei bis drei Stun­den trepp­auf und trepp­ab ge­stie­gen war, ent­deck­te er end­lich auf dem Bou­le­vard Franz I. et­was Hüb­sches, ein großes Zwi­schen­ge­schoss mit Aus­gän­gen nach zwei ver­schie­de­nen Stra­ßen, zwei Sa­lons, ei­ner mit Glas­fens­tern ver­se­he­nen Ga­le­rie, in wel­cher die Kran­ken zwi­schen blü­hen­den Pflan­zen auf und ab ge­hen konn­ten, bis die Rei­he an sie kam, und ei­nem ganz ent­zücken­den run­den Spei­se­zim­mer mit Aus­sicht nach dem Meer.

Schon stand er im Be­griff, den Miet­ver­trag ab­zu­schlie­ßen, als der Preis von drei­tau­send Fran­ken ihm Be­den­ken er­reg­te; das ers­te Quar­tal muss­te vor­aus­be­zahlt wer­den, und er hat­te kei­nen Hel­ler.

Das klei­ne Ver­mö­gen, wel­ches der Va­ter zu­rück­ge­legt, gab einen jähr­li­chen Zin­ser­trag von kaum acht­tau­send Fran­ken, und Pe­ter muss­te sich den Vor­wurf ma­chen, die El­tern durch sein lan­ges Schwan­ken in der Wahl ei­nes Be­ru­fes, sei­ne ver­schie­de­nen, schnell wie­der auf­ge­ge­be­nen Ver­su­che und den da­durch be­ding­ten Neu­be­ginn an­de­rer Stu­di­en in große Ver­le­gen­heit ge­bracht zu ha­ben. Er sag­te dem Haus­wirt, dass er in zwei Ta­gen Ant­wort sen­den wer­de, und ging; un­ter­wegs kam ihm der Ge­dan­ke, sei­nen Bru­der, so­bald der­sel­be im Be­sitz der Erb­schaft sein wür­de, um die Mie­te für das ers­te Vier­tel-, oder bes­ser Halb­jahr, also fünf­zehn­hun­dert Fran­ken an­zu­ge­hen.

»Es han­delt sich ja nur um ein Dar­le­hen für ein paar Mo­na­te,« dach­te er. »Vi­el­leicht, dass ich ihm schon vor Ablauf die­ses Jah­res die gan­ze Sum­me voll­stän­dig heim­zah­len kann. Ei­gent­lich ver­steht sich das von selbst, und er wird sich freu­en, mir das zu­lie­be tun zu kön­nen.«

Da es noch nicht fünf Uhr war, und er nichts, gar nichts zu tun hat­te, setz­te er sich auf eine Bank in den öf­fent­li­chen An­la­gen und blieb dort, ohne zu den­ken, die Au­gen auf den Bo­den ge­hef­tet, von ei­ner Mat­tig­keit be­fal­len, die or­dent­lich schmerz­haft war, lan­ge Zeit auf dem­sel­ben Fleck sit­zen.

Seit sei­ner Rück­kehr in das El­tern­haus hat­te er Tag um Tag auf die näm­li­che Wei­se ver­bracht, ohne dass ihm die Lee­re die­ses Da­seins, der gänz­li­che Man­gel an Tä­tig­keit je so pein­lich zum Be­wusst­sein ge­kom­men wä­ren. Was hat­te er denn nur an­ge­fan­gen vom frü­hen Mor­gen bis zum spä­ten Abend?

Zur Flut­zeit war er den Damm ent­lang ge­bum­melt, dann in den Stra­ßen um­her­ge­bum­melt, in ein Café hin­ein­ge­schlen­dert, zu Marow­sko hin­auf­ge­schlen­dert, das war sein Ta­ge­werk ge­we­sen. Und nun, mit ei­nem Schlag, war ihm dies Le­ben, das er so lang ge­führt, ver­hasst und un­er­träg­lich. Wenn er Geld ge­habt hät­te, so wür­de er einen Wa­gen ge­nom­men und eine lan­ge Spa­zier­fahrt aufs Land hin­aus ge­macht ha­ben, an den mit Bu­chen und Ul­men be­pflanz­ten Um­fas­sungs­grä­ben der Bau­ern­gü­ter ent­lang; al­lein er muss­te ja die Aus­ga­be für ein Glas Bier oder eine Brief­mar­ke ängst­lich er­wä­gen, er durf­te sich kei­ne der­ar­ti­gen Ein­fäl­le ge­stat­ten. Plötz­lich emp­fand er, wie hart es ist, mit drei­ßig Jah­ren noch auf das Zwan­zig-Fran­ken­stück an­ge­wie­sen zu sein, das man sich be­schämt und er­rö­tend ge­le­gent­lich von der Mut­ter er­bit­tet, und hef­tig mit sei­nem Stock im Sand um­her­krat­zend, sag­te er vor sich hin: »Teu­fel! Wenn ich Geld hät­te!« Wie­der trat der Ge­dan­ke an die Erb­schaft sei­nes Bru­ders vor sei­ne See­le, pein­lich, schmerz­haft, wie ein We­s­pen­stich. Un­ge­dul­dig such­te er da­von los­zu­kom­men: er woll­te auf der schie­fen Ebe­ne des Nei­des kei­nen Schritt wei­ter­tun.

Um ihn her spiel­ten Kin­der; blon­de Mäd­chen mit lan­gen, di­cken Haa­ren; mit großem Ernst und ge­spann­ter Auf­merk­sam­keit form­ten sie klei­ne Sand­häuf­chen, um die­sel­ben, so­bald sie fer­tig wa­ren, mit dem Fuß wie­der zu zer­stamp­fen.

Pe­ter hat­te einen je­ner düs­te­ren Tage, an de­nen man in al­len Win­keln der eig­nen See­le her­um­stö­bert, alle Fal­ten sei­nes Her­zens durch­forscht.

»So un­ge­fähr ist all’ un­ser Tun,« dach­te er, dem Trei­ben der Klei­nen zu­se­hend. Er warf die Fra­ge auf, ob nicht die größ­te Le­bens­weis­heit dar­in be­ste­he, zwei oder drei die­ser un­nüt­zen klei­nen Ge­schöp­fe in die Welt zu set­zen und sie mit Be­ha­gen und Neu­gier­de her­an­wach­sen zu se­hen. Eine Sehn­sucht nach der Ehe stieg in ihm auf; we­nigs­tens ist man nicht so gott­ver­las­sen, wenn man zu zwei­en ist, we­nigs­tens hat man in den Stun­den des Zwei­fels und der An­fech­tung et­was Le­ben­des, Füh­len­des ne­ben sich; schließ­lich ist es schon ein Trost, eine Frau »Du« zu nen­nen, wenn ei­nem elend zu Mut.

Die Frau­en fin­gen an ihn zu be­schäf­ti­gen.

Ei­gent­lich wuss­te er herz­lich we­nig von ih­nen, nichts als was ein paar Stu­den­ten-Lieb­schaf­ten, wel­che im­mer nur so lang ge­dau­ert hat­ten wie sein Mo­nats­geld, also höchs­tens vier­zehn Tage, und die dann im fol­gen­den Mo­na­te wie­der an­ge­knüpft oder durch neue er­setzt wor­den wa­ren, ihn ge­lehrt. Und doch muss­te es We­sen ge­ben, gut, sanft, hin­ge­bend und trost­be­reit – war denn nicht sei­ne Mut­ter Reiz und See­le des Va­ter­hau­ses? Ach, wie sehn­te er sich da­nach, eine ech­te, rei­ne Frau zu ken­nen!

Er stand rasch auf; er hat­te im Sin­ne, Frau Rosé­mil­ly einen klei­nen Be­such zu ma­chen.

Eben­so plötz­lich setz­te er sich wie­der. Die ge­fiel ihm doch wahr­haf­tig nicht! Und wes­halb nicht? Sie hat­te viel zu viel so­ge­nann­ten ge­sun­den Men­schen­ver­stand, sie war nüch­tern und all­täg­lich, und dann, schi­en sie nicht Hans ihm vor­zu­zie­hen? Ohne dass er sich’s klar ein­ge­stan­den hät­te, trug die­ser Um­stand we­sent­lich zu sei­ner Missach­tung der geis­ti­gen Be­ga­bung der Wit­we bei, denn wenn er sei­nen Bru­der auch herz­lich lieb hat­te, so konn­te er doch nicht um­hin, ihn für einen mit­tel­mä­ßi­gen Kopf und sich selbst für weit be­deu­ten­der zu hal­ten.

Bis in die Nacht hin­ein konn­te er nun doch nicht wohl in den öf­fent­li­chen An­la­gen blei­ben, und wie am Abend vor­her frag­te er sich: »Was soll ich an­fan­gen?«

Ein Be­dürf­nis nach Rüh­rung, ein Ver­lan­gen, ge­hät­schelt und ge­trös­tet zu wer­den, er­füll­te sei­ne See­le. Wor­über woll­te er sich ei­gent­lich trös­ten las­sen? Er hät­te es nicht in Wor­ten sa­gen kön­nen, aber es war eine je­ner Stun­den über ihn ge­kom­men, wo man sich matt und schwach fühlt und wo die Nähe ei­ner Frau, die Berüh­rung ih­rer Hand, eine Lieb­ko­sung, ein Rau­schen ih­res Klei­des, ein zärt­li­cher Blick aus blau­en oder brau­nen Au­gen dem Her­zen un­ent­behr­lich, un­auf­schieb­bar nö­tig er­schei­nen.

Eine klei­ne Kell­ne­rin kam ihm in den Sinn, die er ei­nes Abends nach Hau­se ge­führt und seit­her ab und zu wie­der­ge­se­hen hat­te.

Er stand aber­mals auf, dies­mal um ein Glas Bier mit die­sem Mäd­chen zu trin­ken. Was sie ihm sa­gen wür­de? Was er ihr sa­gen wür­de? Nichts, ohne Zwei­fel. Was scha­det’s? Er wür­de doch ihre Hand eine Wei­le in der sei­nen hal­ten! Sie schi­en da­mals Ge­fal­len an ihm ge­fun­den zu ha­ben. Wes­halb ging er ei­gent­lich nicht häu­fi­ger zu ihr?

Als er in den fast lee­ren Saal der klei­nen Bier­wirt­schaft trat, fand er sie auf ei­nem Stuhl ein­ge­nickt. Drei Gäs­te sa­ßen, die Ell­bo­gen auf die ei­che­nen Ti­sche ge­legt, in ei­ner Ecke und rauch­ten ihre Pfei­fen; die Kas­sie­re­rin las in ei­nem Ro­man, der Wirt lag in Hem­d­är­meln auf ei­ner Bank hin­ter dem Schänk­tisch und schlief.

So­bald sie sei­ner an­sich­tig wur­de, stand das Mäd­chen auf und ging ihm rasch ent­ge­gen.

»Gu­ten Tag, wie geht es Ih­nen?« sag­te sie.

»So, so … und dir?«

»Mir, sehr gut. Sie ma­chen sich sel­ten?«

»Frei­lich, ich habe nicht viel Zeit. Du weißt ja, ich bin Arzt.«

»Ach? Das ha­ben Sie mir noch nie ge­sagt. Hät­t’ ich’s nur ge­wusst, letz­te Wo­che bin ich krank ge­we­sen, da wär’ ich zu Ih­nen ge­kom­men. Was trin­ken Sie?«

»Ein Glas Bier, und du?«

»Ich? Auch ein Glas Bier, wenn du’s be­zahlst.«

Wie wenn die Ein­la­dung zu dem Gla­se Bier eine still­schwei­gen­de Er­laub­nis dazu ent­hal­ten hät­te, fuhr sie nun fort, ihn »du« zu nen­nen. Sie setz­te sich ihm ge­gen­über und sie plau­der­ten: von Zeit zu Zeit nahm sie mit je­ner Ver­trau­lich­keit der Mäd­chen, de­ren Zärt­lich­keit käuf­lich ist, sei­ne Hand, und in­dem sie ihm her­aus­for­dernd in die Au­gen sah, sag­te sie: »Wes­halb kommst du denn nicht öf­ter? Du ge­fällst mir, will ich dir sa­gen!«

Schon stieg ein Wi­der­wil­le ge­gen sie in ihm auf; er fand sie dumm, ge­mein, den Ge­ruch des nied­ri­gen Vol­kes an sich tra­gend. Die Frau­en, sag­te er sich, soll­ten uns nur wie Traum­ge­bil­de oder vom Strah­len­kran­ze des Lu­xus um­ge­ben er­schei­nen, ihre Nied­rig­keit muss poe­tisch ver­hüllt und ver­klärt wer­den.

»Du bist neu­lich mit ei­nem hüb­schen, bär­ti­gen Blon­den hier vor­bei­ge­gan­gen, ist das dein Bru­der?« frag­te sie ihn.

»Ja, das ist mein Bru­der.«

»Ein ver­teu­felt hüb­scher Jun­ge!«

»Fin­dest du?«

»Ja­wohl, und er sieht aus wie ein flot­ter Kerl, der zu le­ben weiß.«

Was wan­del­te ihn plötz­lich an, die­sem Schenk­mäd­chen die Ge­schich­te von sei­nes Bru­ders Erb­schaft zu er­zäh­len? Wes­halb dräng­te sich der Ge­dan­ke dar­an, den er von sich wies, wenn er al­lein war, des­sen er sich er­wehr­te, weil er wuss­te, dass er ihm in­ne­re Pein schuf, wes­halb dräng­te er sich ihm jetzt auf die Lip­pen, und wes­halb gab er dem Be­dürf­nis­se, ihn aus­zu­spre­chen, nach, wie wenn eine in­ne­re Not­wen­dig­keit ihn ge­trie­ben hät­te, sein von Bit­ter­keit er­füll­tes Herz aber­mals vor ir­gend­je­mand aus­zu­schüt­ten?

Die Bei­ne über­ein­an­der le­gend, fing er an: »Er hat Glück, die­ser Bru­der; eben hat er zwan­zig­tau­send Fran­ken Jah­res­ren­te ge­erbt.«

Sie sperr­te die großen, blau­en, gie­ri­gen Au­gen weit auf. »Ach, und von wem erbt er das al­les, von sei­ner Groß­mut­ter oder sei­ner Tan­te?«

»Nein, von ei­nem al­ten Freund mei­ner El­tern.«

»Ein Freund – nichts sonst? Nicht zu glau­ben! Und dir, dir hat er nichts hin­ter­las­sen?«

»Nein, Ich habe ihn kaum ge­kannt.«

Ein paar Au­gen­bli­cke dach­te sie nach, dann be­merk­te sie mit ei­gen­tüm­li­chem Lä­cheln: »Das muss man sa­gen, der hat frei­lich Glück, der Bru­der, die Sor­te Freun­de ist nicht übel! Na­tür­lich, da ist’s kein Wun­der, dass er dir so gar nicht ähn­lich sieht!«

Es zuck­te ihm in den Fin­gern, sie zu ohr­fei­gen, er wuss­te selbst nicht recht, wes­halb, und den Mund kraus zie­hend, frag­te er: »Was willst du da­mit sa­gen?«

»Ich? Nichts,« er­wi­der­te sie, äu­ßerst dumm und harm­los drein­schau­end. »Ich mei­ne nur, er hat mehr Glück als du.«

Er warf zwan­zig Sous auf den Tisch und ging.

»Da ist’s kein Wun­der, dass er dir so gar nicht ähn­lich sieht,« wie­der­hol­te er sich. Was hat­te sie da­bei ge­dacht? Was für ein Sinn steck­te hin­ter die­sen Wor­ten? Un­be­dingt eine Bos­heit, eine Ge­mein­heit. Ja, das war’s: die Per­son muss­te ge­dacht ha­ben, Hans sei des al­ten Mar­schall Sohn.

Bei dem Ge­dan­ken, wel­cher Ver­dacht da­mit auf sei­ne Mut­ter ge­wor­fen sei, emp­fand er eine so hef­ti­ge kör­per­li­che Er­schüt­te­rung, dass er still stand und sich um­sah, ob er sich nicht ir­gend­wo set­zen kön­ne.

Ein andres Café war ge­ra­de vor ihm, er ging hin­ein, nahm einen Stuhl, und als der Kell­ner her­bei­kam, sag­te er: »Ein Glas Bier!«

Er hat­te Herz­klop­fen; kal­te Schau­er über­lie­fen ihn. Und plötz­lich hör­te er wie­der, wie der alte Marow­sko ges­tern Abend ge­sagt: »Das wird kei­nen gu­ten Ein­druck ma­chen.« Hat­te der Pole den näm­li­chen Ge­dan­ken, den näm­li­chen Ver­dacht ge­habt wie die Dir­ne?

 

Den Kopf tief her­ab­ge­beugt, starr­te er auf den wei­ßen Schaum in sei­nem Bier­glas, sah die Bläs­chen auf­stei­gen und zer­plat­zen und frag­te sich: »Ist’s denn mög­lich, dass man so et­was glau­ben kann?«

Und nun tra­ten die Grün­de, wel­che die­sen ab­scheu­li­chen Zwei­fel in je­dem Men­schen her­vor­ru­fen muss­ten, ei­ner nach dem an­de­ren, klar, greif­bar, ver­zweif­lungs­voll deut­lich vor sei­ne See­le. Dass ein al­ter Jung­ge­sel­le, der kei­ne Ver­wand­ten hat, sein Ver­mö­gen den Kin­dern ei­nes Freun­des hin­ter­lässt, ist ja das Na­tür­lichs­te, Ein­fachs­te von der Welt, dass er aber dies gan­ze Ver­mö­gen nur ei­nem die­ser Kin­der be­stimmt, wird die Leu­te in Er­stau­nen set­zen, sie wer­den die Köp­fe zu­sam­men­ste­cken, flüs­tern und schließ­lich – lä­cheln. Wie war’s nur mög­lich, dass er das nicht vor­aus­ge­se­hen, dass sein Va­ter es nicht ge­fühlt, sei­ne Mut­ter nicht ge­ahnt hat­te? Nein, sie wa­ren ja zu glück­lich ge­we­sen über dies un­ver­hoff­te Geld, als dass solch eine Vor­stel­lung nur in ih­nen auf­ge­stie­gen wäre, und dann, wie soll­ten an­stän­di­ge Men­schen über­haupt eine der­ar­ti­ge Nie­der­träch­tig­keit ver­mu­ten kön­nen?

Aber das Pub­li­kum, der Nach­bar, der Krä­mer, der Bä­cker und Flei­scher, alle, die sie kann­ten, wer­den sie nicht ins­ge­samt die­ses gräu­li­che Wort aus­spre­chen, wei­ter sa­gen, sich dar­über un­ter­hal­ten und freu­en, sei­nen Va­ter ver­la­chen und sei­ne Mut­ter ver­ach­ten?

Je­dem muss­te es nun in die Au­gen sprin­gen, was das Mäd­chen in dem Bier­schank be­merkt, dass Hans blond war, und er braun, dass sie ein­an­der we­der an Ge­sicht noch Ge­stalt, an Gang noch Hal­tung gli­chen, dass sie grund­ver­schie­den wa­ren, äu­ßer­lich, in­ner­lich, kör­per­lich und geis­tig, und wenn in Zu­kunft von ei­nem Soh­ne Ro­lands die Rede war, wür­den die Leu­te fra­gen: »Wel­cher, der ech­te oder der falsche?«

Er stand auf, ent­schlos­sen, sei­nem Bru­der al­les zu sa­gen, ihn zur Wehr zu ru­fen ge­gen die ent­setz­li­che Ge­fahr, wel­che der Ehre ih­rer Mut­ter droh­te. Und was wür­de Hans tun? Das Ein­fachs­te wäre es si­cher­lich, die Erb­schaft nicht an­zu­tre­ten, die dann den Ar­men zu­fie­le, und den Be­kann­ten und Freun­den, die schon von der Sa­che un­ter­rich­tet wa­ren, zu sa­gen, das Te­sta­ment habe Klau­seln und Be­din­gun­gen ent­hal­ten, die ihm nicht an­nehm­bar er­schie­nen sei­en, weil er in­fol­ge der­sel­ben nicht Erbe, son­dern ein­fach Ver­wal­ter des Ver­mö­gens ge­wor­den wäre.

Auf dem gan­zen Weg nach Hau­se über­leg­te er, wie er den Bru­der al­lein spre­chen könn­te, ohne in Ge­gen­wart der El­tern die An­ge­le­gen­heit be­rüh­ren zu müs­sen.

Schon an der Haus­tür ver­nahm er leb­haf­tes Spre­chen und La­chen aus dem Sa­lon, und als er ein­trat, un­ter­schied er die Stim­men Frau Rosé­mil­lys und des Ka­pi­täns Be­au­si­re, wel­che sein Va­ter mit nach Hau­se ge­bracht und zur Fei­er des großen Er­eig­nis­ses zu Tisch fest­ge­hal­ten hat­te.

Um den Ap­pe­tit zu rei­zen, wur­de Wer­mut mit Ab­synth ge­trun­ken, die gute Lau­ne be­durf­te schon jetzt kei­ner be­son­de­ren Reiz­mit­tel mehr. Der Ka­pi­tän, ein klei­ner Mann, der ver­mut­lich vom lan­gen auf dem Meer Um­her­ge­rollt­wer­den ganz ku­gel­rund war und des­sen Ide­en gleich­falls rund wa­ren, wie die Kie­sel am Stran­de, hielt das Le­ben für eine ganz vor­züg­li­che Er­fin­dung, die man sich zu­nut­ze ma­chen müss­te, lach­te aus vol­lem Hals und schnarr­te da­bei sein »R«.

Er stieß eben mit Va­ter Ro­land an, wäh­rend Hans den bei­den Da­men frisch­ge­füll­te Gla­ser an­bot.

Frau Rosé­mil­ly lehn­te ab, was den Ka­pi­tän Be­au­si­re, der ih­ren ver­stor­be­nen Mann ge­kannt, zu dem Aus­ruf ver­an­lass­te: »Na, na, gnä­di­ge Frau, nur nicht zim­per­lich, bis re­pe­ti­ta pla­cent, wie wir sa­gen, und was hei­ßen soll: ›Zwei Wer­mut ma­chen je­der­mann Frohmut!‹ Wis­sen Sie, seit ich nicht mehr auf See fah­re, ver­schaf­fe ich mir auf die­se Wei­se je­den Tag vor dem Es­sen ein we­nig künst­li­ches Sch­lin­gern: nach dem Kaf­fee füge ich dann noch et­was Stamp­fen hin­zu, und ich habe hohe See bis zum Abend! Bis zum Sturm las­se ich’s nie kom­men, bei­lei­be nicht, nie­mals, hab’ al­len Re­spekt vor Ha­va­rie!«

Ro­land, des­sen Lei­den­schaft für das See­we­sen der Ka­pi­tän schmei­chel­te, schüt­tel­te sich vor La­chen. Sein Ge­sicht war dun­kel­rot und sei­ne Au­gen glit­zer­ten be­reits vom Wer­mut. Sei­ne gan­ze Ge­stalt be­stand ei­gent­lich aus ei­nem un­ge­heu­ren, schlaff her­un­ter­hän­gen­den Bauch, in den sich der üb­ri­ge Rumpf hin­ein­ge­flüch­tet zu ha­ben schi­en, ein Bauch, wie er bei Leu­ten von sit­zen­der Le­bens­wei­se nur zu häu­fig ent­steht, und wo Brust, Hals, Arm und Schen­kel zu ei­ner un­förm­li­chen Mas­se zu­sam­men­wach­sen.

Der Ka­pi­tän ge­hör­te gleich­falls nicht zu den Schlan­ken, aber an dem kur­z­en, un­ter­setz­ten Mann war al­les stramm und fest und die Mus­keln kräf­tig ent­wi­ckelt.

Frau Ro­land hat­te nicht ein­mal ihr ers­tes Gläs­chen ge­trun­ken; was ihre Wan­gen hö­her färb­te, war das Glück: mit strah­len­dem Blick sah sie ih­ren Hans an.

Erst jetzt war die Freu­de so recht ei­gent­lich über sie ge­kom­men, jetzt, da al­les ab­ge­schlos­sen, un­ter­schrie­ben, fest­ge­stellt war. In der Art, wie ihr Jun­ge lach­te, wie er mit klang­vol­ler­er Stim­me als zu­vor sprach, wie er den Leu­ten ins Ge­sicht sah, sich frei­er, sich­rer be­weg­te, in al­lem sprach sich das Be­wusst­sein des Be­sit­zes aus: er hat­te zwan­zig­tau­send Fran­ken jähr­li­che Zin­sen.

Als die Mel­dung kam, dass auf­ge­tra­gen sei, woll­te Herr Ro­land der jun­gen Wit­we den Arm bie­ten, aber sei­ne Frau rief! »Nichts da, Va­ter, heu­te muss Hans al­lein alle Ehren ha­ben.«

Auf dem Ess­tisch war ein un­er­hör­ter Lu­xus ent­fal­tet. Vor dem Tel­ler des Er­ben, der heu­te den Platz des Haus­herrn ein­nahm, er­hob sich ein un­ge­heu­rer Strauß sel­te­ner Blu­men, ein rich­ti­ges, fei­er­li­ches Ta­fel­bou­quet wie eine fest­lich ge­schmück­te Kup­pel, von vier Ta­fe­lauf­sät­zen flan­kiert, de­ren eine zur Stüt­ze ei­ner Py­ra­mi­de von wun­der­vol­len Pfir­si­chen diente, wäh­rend der zwei­te eine mo­nu­men­ta­le Tor­te trug, die, mit Schlag­sah­ne ge­füllt und mit klei­nen Glöck­chen von ge­brann­tem Zu­cker ver­ziert, wie eine Bis­kuit­ka­the­dra­le aus­sah; auf dem drit­ten be­fan­den sich Ana­nas­schnit­ten in Zu­cker und auf dem vier­ten frü­he, süd­li­che, schwar­ze Trau­ben.

»Der Tau­send!« sag­te Pe­ter, als er sich setz­te. »Da fei­ern wir, wie mir scheint, die Thron­be­stei­gung Jo­hanns des Rei­chen.«

Nach der Sup­pe wur­de Ma­dei­ra her­um­ge­reicht, schon spra­chen alle gleich­zei­tig. Be­au­si­re er­zähl­te von ei­nem Di­ner bei ei­nem Ne­ger­fürs­ten, das er in San Do­min­go mit­ge­macht, Va­ter Ro­land hör­te ihm zu, mach­te aber fort­wäh­rend den Ver­such, die Be­schrei­bung ei­nes an­de­ren Di­ners ein­zu­schal­ten, ei­nes Mah­les, das ein Freund von ihm in Meu­don ge­ge­ben hat­te, und nach wel­chem je­der Gast vier­zehn Tage krank ge­we­sen war. Frau Rosé­mil­ly, Hans und die Mut­ter be­spra­chen den Plan ei­nes Pick­nicks in Saint-Jouin, von dem sie sich großes Ver­gnü­gen ver­spra­chen, und Pe­ter be­reu­te, nicht in der nächs­ten bes­ten Gar­kü­che am Meer ge­ges­sen zu ha­ben, um all die­sem Ge­schwätz und Ge­läch­ter, das ihm auf die Ner­ven ging, aus­zu­wei­chen.