Die Revolution der Bäume

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

2 / Erleuchtete Narren grünen grüner

Auf der Lichtung könnte man die berühmte Stecknadel fallen hören. Tiere, Pflanzen, Insekten, Reptilien, alle Bewohner des Waldes sind auf das Äußerste gespannt. Aufgeregtes Knistern, Summen und Brummen erfüllt die Luft, überall Zischeln, Raunen und Schaben, und hier und da auch ein verhaltenes Hecheln.

Würde an diesem heißen Sommertag ein Exemplar der Gattung Mensch unter dem dichten Blätterdach nach etwas Abkühlung suchen, so würde es sich über die paradiesische Ruhe freuen und die unerträgliche Anspannung vermutlich gar nicht registrieren, die wie ein Netz aus blank liegenden Nerven den Wald umspannt. Eine Ungeduld, die jedes lebendige Wesen erfüllt und schon nächtelang kaum Schlaf finden lässt.

Vor gut einer Woche ist die Träumerin zu einer Reise in die andere Welt aufgebrochen, um vom Himmel aus auf die Erde zu schauen und nach Zeichen der Vorhersehung zu suchen. Sie weiß, dass die Augen aller auf sie gerichtet sind und will die hochgesteckten Erwartungen keinesfalls enttäuschen. Schließlich ist die Gemeinschaft der Waldbewohner auf ihre Weissagungen angewiesen.

Natürlich haben alle Bewohner des Waldes eine gewisse mediale Begabung, das steckt in ihrer Natur, aber nach Ansicht der Eiche wurde ihr diese Aufgabe gewissermaßen in die Wiege gelegt. Ihrer Meinung nach geht aus Jahrtausenden akribisch dokumentierter Baumgeschichte die unwiderlegbare Tatsache hervor, dass kein anderes Lebewesen so hervorragende Antennen hat wie die Baumart, von der sie abstammt. Darüber hinaus ist sie immens stolz auf die mannigfaltigen Erfahrungswerte, die sie in über fünfhundert Lebensjahren sammeln konnte. Dadurch empfindet sie sich als geradezu prädestiniert für das Hochamt der Seherin.

Abgesehen von den guten Voraussetzungen, die sie mitbringt, hält ihr gesellschaftliches Umfeld sie tatsächlich für besonders talentiert, schließlich haben sich die meisten ihrer Prophezeiungen bisher erfüllt. Die einhellige Meinung des Waldes, in dessen Mitte sie steht, ist, dass sie jede Menge Potential hat und unbestreitbar eine gewisse Begabung für das Transzendentale besitzt, die sich ausbauen lässt. Ihre bisher relativ überschaubare Fangemeinde geht sogar so weit, zu behaupten, dass man ihr Talent, wenn es bei ihrem Aufgabenbereich um irdische Angelegenheiten ginge, durchaus als detektivischen Spürsinn bezeichnen könnte.

Gemessen an dem zutiefst bodenständigen Charakter der Waldwesen, kann man bei dieser Aussage von einem echten Kompliment sprechen, und das trotz der mangelnden Routine, die sie leider nach wie vor bei dem filigranen Prozess der Übersetzungsarbeit an den Tag legt. Während ihrer Reiseberichte sucht sie gelegentlich händeringend und extrem zeitintensiv nach den passenden Formulierungen. Auch wenn sie diese Ausfälle als angeblich dramaturgisch notwendige Redepausen tituliert, strapaziert sie mit ihnen die Nerven ihrer Zuhörer über alle Maßen.

Doch auch dafür hat die Community vollstes Verständnis, sie übt sich in Geduld. Gewisse Anfangsschwierigkeiten sind bei diesem Job ja quasi vorprogrammiert, derart komplex, wie transzendentale Zusammenhänge nun einmal gestrickt sind.

Im Großen und Ganzen ist sich die Mehrheit der Waldbewohner darin einig, dass sie, trotz ihrer temporären Anfälle jugendlichen Leichtsinns, in den letzten Jahren zu einer recht erfahrenen Weltenwandlerin heran gereift ist. Zur Entschuldigung ihrer kleinen Schwächen sollte man erwähnen, dass die Eiche ihr Erbe verfrüht antreten musste. Denn normalerweise bekommen ausschließlich Erwachsene die immense Verantwortung übertragen, die das Amt der Träumerin mit sich bringt.

Gut einhundert Jahre ist es her, dass sie ein ausgewachsener Herbststurm quasi über Nacht die spirituelle Karriereleiter aufwärts katapultierte, indem er die damalige Baumälteste, eine tausendjährige Platane, entwurzelte und so der Gemeinschaft entriss. Da die Vorstellung, ohne spirituelle Führerin zu leben, den Waldwesen ganz unerträglich erschien, wurde die gerade mal vierhundert Jahre junge Eiche, als eigentlich viel zu unreifer, aber zweitältester Baum zur Nachfolgerin bestimmt.

Sie fühlte sich natürlich geehrt und nahm das Amt auch begeistert an, kann ihrer Vorgängerin aber noch nicht das Wasser reichen. Eine Meinung, die selbstverständlich ausschließlich hinter vorgehaltener Hand ausgetauscht wird, da jedes Waldwesen weiß, wie empfindlich speziell Eichen auf Kritik reagieren. Und letztendlich muss man ihr zugestehen, dass sie, obwohl sie immer noch leicht überheblich, gelegentlich sogar ein bisschen manipulativ wirkt, ihre Aufgabe im Grunde genommen schon recht gut erfüllt.

Inzwischen ist ihr Stamm, bis in die innersten Jahresringe hinein, erfüllt von einem breit gefächerten Wissen über etliche Epochen irdischen Lebens. Selbst über die sehr komplizierte Gattung Mensch hat sie einiges an wertvollem Knowhow sammeln können. Ein Erfahrungsschatz, der unter den Bäumen von Generation zu Generation weitergegeben wird.

„Ich kann euer heimliches Getuschel hören, sogar in euren Gedanken lesen. Eure Köpfe sind für mich wie offene Bücher.“, würde sie manchmal gerne in den Wald hinein rufen. Aber auch, wenn sie damit leben könnte, dass der Wald sie daraufhin für noch abgehobener halten und ein dementsprechend geringschätziger Kommentar aus ihm retour erschallen würde, behält sie diese Art von Wissen für sich. In ihrer Funktion als Lehrerin ist sie sich im Klaren darüber das weniger mehr ist. Ein nahezu allwissendes Vorbild wie sie, muss seinen Mitteilungsdrang unbedingt in den Griff kriegen und darf nicht immer alles heraus lassen, das würde die anderen nur sinnlos überfordern.

Schließlich wird sie als Familienoberhaupt ständig mit komplexen Fragestellungen konfrontiert. Es ist ihr schon in Harz und Rinde übergegangen, sich mit existenziellen Rätseln herumzuschlagen und den Großteil ihrer Erkenntnisse für sich zu behalten. Ihrer persönlichen Einschätzung nach wird sie, gerade aufgrund ihrer vornehmen Zurückhaltung, als kompetente Vermittlerin zwischen den Bewusstseinsebenen weithin geschätzt.

Ebenfalls nicht hinausposaunen wird sie, dass, ihrer bescheidenen Ansicht nach, gerade die Tiere in Sachen Transzendenz ein bisschen Nachhilfe dringend nötig hätten. Diese laufen sonst schnell Gefahr, dass ihnen ihr triebgesteuertes Wesen den differenzierten Blick auf den Lauf der Welt verbaut. Aber trotz der Engelsgeduld und der versierten Unterstützung der Eiche, bezieht deren animalischer Horizont leider nur das vordergründig Existenzielle mit ein. Ihre reduzierte Wahrnehmung ist im Normalfall auf den Themenkomplex fressen und gefressen werden ausgerichtet und ihre Auffassungsgabe dementsprechend eindimensional.

Die filigranen Sinne der Pflanzenwelt hingegen, besonders die der alten Bäume, interagieren vielschichtiger, haben diese ganz spezielle und fein justierte, emotionale Intelligenz, die in der Welt ihresgleichen sucht.

Ohne überheblich wirken oder einer der beiden Spezies zu nahe treten zu wollen, muss die Eiche konstatieren, dass Tiere und Homo sapiens einiges gemeinsam haben. Sie sind gesteuert von ihrer ewigen Gier, und drehen sich, bis auf wenige lobenswerte Ausnahmen, ausschließlich um sich selbst und ihre primären Bedürfnisse. Deshalb mangelt es ihnen logischerweise am notwendigen Weitblick und am tieferen Verständnis für das große Ganze.

Wobei die menschliche Gattung definitiv das größere Übel darstellt. Ihr ignorantes Wunschdenken, die Pflanzenwesen hätten keinerlei Bewusstsein, ermöglicht es ihnen, sie ohne schlechtes Gewissen auszubeuten und als leblosen Rohstoff zu behandeln. Auf der fadenscheinigen Basis vorgeblich wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse, reden sie sich ihr grausames Verhalten schön. Gefangen in ihrem Gewohnheitstran schablonenhafter Denkweisen, verfügen sie wie selbstverständlich über die Pflanzen, als ob diese kein Grundrecht auf Würde und Respekt hätten.

Die Eiche wiegt sinnend ihre Krone, worauf die Blätter ihr leise raschelnd zustimmen.

Wenn die wüssten, wie sehr sie auf dem Holzweg sind und was sie sich mit ihrem Fehlverhalten selbst an Schaden zufügen. Rein karmisch gesehen ist so eine Denkweise die reinste Katastrophe. Denn trotz der weit verbreiteten Meinung, dass Pflanzen im Gegensatz zu Tieren und Menschen nichts empfinden können, steht das Gefühlsleben der Bäume dem anderer Lebewesen um nichts nach. Sie spüren sehr wohl den Schmerz, wenn die Axt sie trifft, ihre Rindenhaut durchtrennt und tief in ihr Innerstes eindringt.

Sie haben nur keinen Mund, um zu schreien, und auch sonst keine Möglichkeit, ihrer Qual Ausdruck zu verleihen, als durch den Ausfluss von Harz und gespeichertem Wasser. Während sie am lebendigen Leib zersägt, zerhackt, zerstückelt und zermahlen werden, leiden sie für menschliche Ohren unhörbar vor sich hin und speisen ihre entsetzlichen Sinneswahrnehmungen in das wohl größte Netzwerk dieser Hemisphäre ein, in das der Bäume.

Ob schmerzlich oder angenehm, sie teilen permanent jeden ihrer Erfahrungswerte mit Abermillionen anderen Vertretern ihrer Gattung. Ständig kreist eine wahre Informationsflut durch ihre filigranen Kommunikationssysteme. Einzelne Nachrichten werden verdoppelt und verstärkt, andere durch abweichende Sichtweisen anderer Bäume differenzierter wahrgenommen oder gänzlich verworfen.

So durchlaufen die Mitteilungen permanent die Filter des vegetativen Nervensystems der Erde, bis sie am Ende bei Altvorderen wie der Eiche landen. Ihr obliegt die ehrenvolle Aufgabe, die einzelnen Sinneseindrücke zu sammeln und sinnvoll zusammenzufassen. Sie versucht, Strukturen und Tendenzen zu erkennen, die versteckte Bedeutung aus dem uferlosen Chaos heraus zu lesen.

 

Leid und Freude liegen manchmal nah beieinander. Das eine geht nicht ohne das andere. Auch wenn die Eiche auf so manche betrübliche Information nur allzu gerne verzichten würde, hat sie keine Wahl. Entweder man hat die Tür zur anderen Dimension oder nicht. Wenn sie sich dem Schmerz ihrer Artgenossen verschließen würde, dann würde sie auch deren frohe Botschaften nicht empfangen. Entweder ganz oder gar nicht, es gibt leider keine halboffene Tür, keinen Filter, der ausschließlich das Glück der Erde passieren lässt.

Obwohl sie sich im Grunde ihres Herzens nach positiveren Inhalten sehnt, sind es überwiegend Gedanken von existentialistischer Natur, die die Eiche an diesem schönen Sommertag beschäftigen. Sie sieht es als ihre Aufgabe an, über den Lauf der Welt, besonders das Schicksal ihrer Artgenossen, nachzudenken. Auch wenn sie sich nicht immer aussuchen kann, was ihr gerade durch den Sinn schießt, die Philosophie ist und bleibt ihr Steckenpferd.

Als hätte sich die Zusammensetzung der Luft minimal zugunsten des Sauerstoffgehalts verschoben, geht eine kaum wahrnehmbare Veränderung der Atmosphäre vor sich. Es ist wie immer der Fuchs, der diesen Umstand zuerst bemerkt. Das leichte Kribbeln in seiner Herzgegend ist ein untrüglicher Hinweis. Auch er hat einen sechsten Sinn und ein enormes Feingefühl für die Dinge, die sich zwischen dem Diesseits und dem Jenseits abspielen. Witternd hebt er seine spitze Schnauze.

„Da, sie wacht auf!“

Tatsächlich, gleich darauf geht ein verhaltenes Zittern durch die knorrige Eiche. Wie es bei im höchsten Maß vergeistigten Wesen im allgemeinen der Brauch ist, lässt sie sich sehr viel Zeit bei der Rückkehr in die irdische Sphäre. Mancher Guru könnte sich bei ihr in Bezug auf Contenance eine dicke Scheibe abschneiden.

„Wer sich beim Aufwachen angemessen viel Zeit lässt, kann sich nachher besser an seine Träume erinnern.“, predigt sie immer. Und weil es ihr ausgesprochen wichtig ist, ihr Umfeld stets an ihren allerneuesten Erkenntnissen teilhaben zu lassen, gibt sie spontan eine Lektion zur Verbesserung des sogenannten langen Atems.

Sehr maßvoll raschelnd und betont gemächlich richtet sich die altehrwürdige Eiche zu voller Größe auf und blinzelt schläfrig, aber auch etwas verschmitzt, in die erwartungsvollen Gesichter der Versammelten. Nachdem sie auf eine unendlich zeitintensive, speziell alten Bäumen eigene Wesensart, tief Atem geschöpft hat, kommt die kaum noch zu bändigende Zuhörerschaft endlich in den Genuss ihrer basslastigen, aber angenehm melodisch klingenden Stimme.

„Mir wurde eine Vision zuteil.“

Manchen Tieren mangelt es von Natur aus an Beherrschung. Das rund um die Uhr besorgte Reh atmet hörbar erleichtert aus, der viel zu empathische Mäuserich seufzt mit schrillem Piepsen und der nervlich angespannten Igelin entfährt ein langgezogener und laut knatternder Furz. Wie die Anwesenden wissen, ist die ihr furchtbar peinliche geruchsintensive Lärmbelästigung nicht so sehr Ausdruck einer schlechten Kinderstube, sondern ihrem nervösen Darmleiden geschuldet. Trotzdem trägt ihr kleines Malheur sehr zur allgemeinen Belustigung bei, verhaltenes Giggeln und Kichern erfüllt die warme Sommerluft.

Es ist selbstverständlich der greisenhafte Waschbär, der total übertrieben reagiert und lauthals losprustet. Man sagt ja, dass die Alten wie die Kinder sind, auf ihn trifft diese These jedenfalls hundertprozentig zu. Und so bleibt ihm sein schamloses Gelächter auch dann nicht im Hals stecken, als er dafür einen strengen Blick des Fuchses erntet, der mal wieder glaubt, sich als Oberaufseher und Sittenwächter aufspielen zu müssen.

Insgeheim sind der Igelin alle dankbar für die unverhoffte Gelegenheit, endlich mal ein bisschen Luft ablassen und Spannung abbauen zu können. Nur der muffelige, in die Jahre gekommene Adler, hat wie immer etwas zu meckern. Was aber nicht allzu viel zu bedeuten hat, denn als unverbesserlicher Einzelgänger hasst er Vollversammlungen wie die Pest. Unwirsch schlägt er mit den Flügeln und hüllt die Umstehenden in eine graue Staubwolke.

„Pscht! Nun haltet doch endlich mal die Klappe! Wir sind ja schließlich nicht im Kindergarten.“

Als auf der Lichtung wieder Ruhe eingekehrt ist, räuspert sich die Eiche umständlich. Gleich platzen sie vor Neugier, denkt sie. Und ihr Grinsen ist ebenso breit wie unsichtbar. Sie mag es, im Rampenlicht zu stehen. Auf der Bühne wird ihr immer ganz warm ums Herz. Durch all die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird, fühlt sie sich wie jemand ganz Besonderes.

In ihrer gesellschaftlichen Position als Geschichtenerzählerin kann ein gewisses Maß an Showtalent nicht schaden. Ihrer Meinung nach, sind es nicht allein die Worte und ihr Inhalt, die die Qualität eines Vortrags ausmachen, erst die richtige Art und Weise der Darbietung generiert das gewisse Etwas. Durch sie gelangt das Salz in die Suppe.

Um den Anschein zu erwecken, dass sie nun endlich loslegen will, atmet sie ganz tief ein. Erneut lässt sie die Borke beben und die Blätter rascheln. Mit ihrem dritten Auge nimmt sie selbstzufrieden wahr, dass die Luft über ihrer Zuhörerschaft anfängt zu flirren. Als deren gespannte Aufmerksamkeit kurz darauf anfängt, sich in Form winziger Blitze über den Häuptern der ungeduldig Wartenden zu entladen, hüllt sie sich mit einem majestätisch anmutenden Neigen ihrer Baumkrone abermals in tiefes Schweigen.

Welch ein hochgradig amüsantes Gesellschaftsspiel, insbesondere wenn man am längeren Hebel sitzt, schmunzelt sie in sich hinein.

Da sie als Eiche auf die Welt kam, ist sie sich der Tatsache bewusst, dass sie in der Gemeinschaft der lebendigen Wesen ein gewisse Vorbildfunktion inne hat. Als Baumgeborene ist sie automatisch zur Lehrerin in Sachen Entschleunigung auserkoren und repräsentiert den Weg der kleinen Schritte. Letztendlich ist das alles eine Frage eines ausgereiften Blickwinkels. Denn so ein über fünfhundert Jahre gewachsenes Wissen verleiht eine gehörige Portion Gelassenheit und Selbstvertrauen und das Bewusstsein, dass es eine große Gabe ist, zurückhaltend zuhören zu können.

Nachdem sie in der Vergangenheit etliche Male über ihre eigene Ungeduld gestolpert ist, weiß sie, dass es vollkommen sinnlos ist, das Licht der Wahrheit zu erwarten. Einerlei, für wie weise man sich auch halten mag, erleuchtet zu werden ist keine himmlische Zuwendung, die durch Fleiß und Disziplin verdient wird und auch keine Frage von kontemplativer Haltung oder asketischer Konzentration. Die Quelle, die das heilige, weiße Licht aussendet, folgt weder einem vorhersehbaren Plan, noch hält sie sich an nachvollziehbare Regeln. Das Maß göttlicher Aufmerksamkeit ist unkalkulierbar, zumindest aus irdischer Sicht.

Alles, was man dazu beitragen kann, ist, seine Bereitschaft zu signalisieren und auf ein etwaiges Echo zu lauschen. Man kann dem heiligen Universum gegenüber eine Bitte äußern. Aber dann sollte der Wunsch möglichst umgehend losgelassen werden, damit man als Absender mit seinem Anliegen nicht so aufdringlich erscheint. Und ab diesem Augenblick bleibt einem nichts anderes übrig, als geduldig abzuwarten. Warten und nochmal warten, bis sich die Gelegenheit ergibt, einen klitzekleinen Schritt weiter zu gehen.

Mit dem Stadium erwartungsfrohen Hoffens kennt die Eiche sich aus. Nach der lehrreichen Schule des Scheiterns, hat sie, trotz ihrer Jugend, den Status des Anfängers erfolgreich hinter sich gelassen und nimmt nun ausnahmslos alle überirdischen Zuwendungen zutiefst dankbar entgegen. Und sollten sie ihr auf den ersten Blick auch noch so banal und läppisch vorkommen, jede einzelne ist ein kostbares Geschenk des großen, heiligen Geistes, das sie zu schätzen weiß.

„Vorfreude ist doch die schönste Freude, nicht wahr?“, würde sie jetzt am liebsten laut ausrufen. Aber das könnten die anderen eventuell als Provokation missverstehen. Und dann wäre die Luft raus und die herrlich kribbelige Spannung unwiderruflich futsch. Mit der Zeit werden selbst die Tiere begreifen, dass jede bewusst erlebte Geduldsprobe gleichzeitig auch eine gute Lektion in Demut ist. Sollen sie also ruhig noch ein Weilchen in ihrem Saft schmoren.

Abgesehen davon lassen sich die Erkenntnisse, die sie auf ihrer Reise gesammelt hat, nur schwer in Worte fassen, denn der kurze Blick hinter die Kulissen, stellt sie vor ein komplexes Rätsel.

Wie soll sie es deuten, dieses geheimnisvolle Antlitz einer Vision, die gleichzeitig auch eine Prophezeiung ist?

Größere Zusammenhänge lösten sich von dem dunklen Hintergrund universellen Wissens und nahmen für einen flüchtigen Moment konkrete Gestalt an. Für den Bruchteil einer Sekunde offenbarte sich der Eiche eine neue Perspektive auf die Erde und das Mysterium irdischen Lebens. Als ob ein kosmisches Blitzlicht dem uferlosen Schatten des großen Unbekannten ein Beweisfoto entrissen hätte, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich vereinte und sich sofort unauslöschlich in ihr vielschichtiges Gedächtnis eingebrannt hat.

Prüfend lässt sie ihren Blick ein letztes Mal über das vor Neugier schier vibrierende Rund der Versammlung schweifen. Die optimale Betriebstemperatur ist erreicht, die Crowd ist soweit. Die Eiche schließt ihre Augen und bündelt ihr Bewusstsein in einer winzigen, quecksilbrig glänzenden Kugel.

Und während sie mit ihr in das Haus der allumfassenden Erinnerung fliegt, spinnt sie den magischen Faden, der die Welten miteinander verbindet. An beiden Enden und Orten sicher verankert, befindet sich ihr Bewusstsein nun gleichzeitig hüben wie drüben, fifty fifty. Sie ist selbst immer ganz baff, wie scheinbar mühelos sie das Kunststück dieses transzendentalen Spagats zuwege bringt.

Und schließlich beginnt sie mit ruhiger Stimme zu sprechen.

„Die Menschen wirkten müde, zutiefst erschöpft. Manchen war deutlich anzusehen, dass sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten. Um sie herum ein trostloses Nichts, über dem sich ein fahler, wolkenloser Himmel wölbte. Er glich einer Kuppel aus Milchglas und war von einem trüben Schein erhellt, ohne das weit und breit eine Lichtquelle zu entdecken war. Ein Himmel ohne Sonne erstreckte sich über einem Meer aus Sand, der grau und unansehnlich wie erkaltete Asche aussah. Die Grenzen dieser Einöde mussten wohl weit hinter dem Horizont liegen, jedenfalls waren sie mit bloßem Auge nicht auszumachen.

Ich befand mich in einer befremdlich wirkenden Parallelwelt, an der mich vor allem der lethargische Zustand der Menschen in Erstaunen versetzte. Trotz ihrer offensichtlichen Verzweiflung schien keiner von ihnen den Versuch unternehmen zu wollen, dieses trostlose Land zu verlassen. Nicht an Wasser oder Nahrung schien es ihnen zu mangeln, sondern vor allem an dem Mut, eine Entscheidung zu treffen und sich auf den Weg zu machen, egal in welche Richtung.

So verharrten sie nahezu unbewegt auf der Stelle und mir schien, dass sie dort bereits für eine sehr lange Zeit gestanden hatten. Schwankende Salzsäulen, die lebendigen Toten glichen. Jeder wirkte absolut isoliert und abgeschnitten, als ob er ganz und gar losgelöst von den anderen, nur für sich allein existierte. Frauen, Männer und Kinder, obwohl sie dicht aneinander gedrängt standen, wirkten sie, als entbehrte ihre Gemeinschaft jeglichem Gefühl der Verbundenheit. Ich konnte ihren Mienen deutlich ablesen, dass sie jede Hoffnung auf eine Veränderung ihrer Situation längst aufgeben hatten. Mich überkam der Eindruck, als sei an diesem traurigen Ort die Zeit stehengeblieben und die Menschen in einer Art Niemandsland zwischen den Welten gefangen.

Als ich mich bereits zu fragen begann, wie ich diese erbarmungswürdigen Wesen dabei unterstützen könnte, sich aus ihrer misslichen Lage zu befreien, erhob sich am Rand der Wüste ein leiser, schwebender, aber deutlich vernehmbarer Ton. Zunächst klang er unscharf, wie ein aus weiter Ferne vernommenes Gesumme eines Bienenvolkes, das seine Nisthöhle emsig umschwärmte. Dann schien die Quelle des undefinierbares Geräusches sich langsam zu nähern. Es gewann zunehmend an Kraft und entpuppte sich schließlich als eine filigrane, äußerst vielschichtige Melodie.

Erst jetzt erkannte ich den Ursprung der eigentümlichen Musik. Es war die Gemeinschaft der Tiere, sie hatten ihre Rückzugsräume in den letzten dicht bewaldeten Winkeln der Erde verlassen und sich zu einem gigantischen, alle Gattungsgrenzen sprengenden Chor zusammengefunden.

Während die Magie des Gesangs zarte Klangbilder erzeugte und die Menschen in einen tröstlichen Hoffnungsschimmer hüllte, ging hinter dem Horizont die Sonne auf und tauchte die Einöde in ein herzerwärmendes Licht. Ich traute meinen Augen kaum, aber mit dem güldenen Schein musste wohl ein machtvoller Zauber verbunden sein, denn nun geriet die, von gezackten Rissen anhaltender Dürre durchzogene, Sandfläche in Bewegung.

 

Und urplötzlich begann die Wüste zu blühen, als hätte sie ein üppiger Sturzregen aus ihrem Todesschlaf erweckt. Langstielige Gräser, üppige Farne und zierliche Büsche, eine Vielzahl exotisch anmutender Pflanzen erhob sich aus der grauen Asche. Ein Meer von prachtvollen Blumen streckte seine Blütenhäupter dem gleißenden Schein entgegen und brachte Farben und Frohsinn in die Parallelwelt.

Mit dem Wiedererwachen der Natur schien auch der Lebensfunke in die Menschen zurückzukehren. Wie auf ein unhörbares Kommando hin, formierten sie sich zu einer endlos langen Karawane und begannen, dem gleißenden Licht am Horizont entgegen zu gehen. Frauen, Männer und Kinder, dicht hintereinander aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, trotz ihrer Erschöpfung wirkten ihre Bewegungsabläufe harmonisch aufeinander abgestimmt, als ob ein gemeinsamer Geist ihren Willen vereinte und ihre Schritte durch das wogende, kniehohe Gras lenkte.

Die bunt zusammengewürfelte Armee von Heimatlosen marschierte einem unbekannten Ziel entgegen. Durchscheinend und blass, nahezu konturlos waren ihre Körper, wie die von Gespenstern.

Vielstimmig, mit berauschender, sich steigernder Intensität sang der Chor der Tiere für die geisterhafte Völkerwanderung. Die Lautmalerei überwand die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits spielend und ließ beide Welten für die Dauer eines Liebesliedes zu einer einzigen verschmelzen. Bildhaft und kraftvoll drang die Musik bis an die äußersten Grenzen dieses Ortes und segnete ihn mit einem hoffnungsvollen Zauber.

Die Tiere brauchten keine Worte, um den Reisenden Mut zu zusprechen. Jede einzelne ihrer Stimmen war erfüllt vom Keim ihres niemals gänzlich erloschenen Glaubens an das Gute, an den unsterblichen, heilen Kern in jedem Lebewesen. Auf den letzten Metern ihrer letzten irdischen Reise verlieh ihr Gesang den Menschen Flügel.

Als hätten sie eine unsichtbare Schwelle übertreten, begann der helle Schein plötzlich unmerklich, fast zärtlich an den Menschen zu ziehen, sie vorwärts, in seine Richtung zu locken. Je näher sie der Lichtquelle kamen, desto leichter wurden ihnen wohl die Füße, denn irgendwann schienen sie schwerelos wie Federn dahin zu schweben, offenbar beseelt von einem starken Gefühl der Sehnsucht, dessen Ursprung ihnen allerdings noch unbekannt zu sein schien.

Schritt für Schritt richteten sie sich auf, als ob ihnen eine tonnenschwere Last von den Schultern genommen wurde. Ihre Körper streckten sich dem Himmel entgegen, bis sie schließlich aufrecht und würdevoll dahinglitten. Ohne zu zögern gaben sie sich dem Sog hin, flogen an unsichtbaren Fäden hängend und wie von Geisterhand gezogen direkt in das alles überstrahlende Licht hinein, wurden von ihm eingeatmet und verdunsteten in seinem Strahlenkranz wie Regentropfen in der Sonne. Still und friedlich verließen sie diese Welt.“

Es wird Zeit, eine kleine kontemplative Pause einzulegen, denkt die Eiche bei sich, und holt so tief Luft, dass ihre abertausend Blätter erneut begeistert anfangen, zu rascheln.

Dieses zähe Suchen nach passenden Erklärungen und allgemein verständlichen Redewendungen empfindet sie zunehmend als recht enervierend. Viel lieber möchte sie auf rein mentaler Ebene kommunizieren, aber Telepathie ist für den Großteil ihrer Zuhörerschaft leider ein absolutes Fremdwort.

Manchmal spielt sie mit dem Gedanken, das doppelbödige Hochamt der Zeitreisenden einfach hinzuschmeißen und ihr eigenes Ding zu machen. Ihre persönliche Entwicklung demonstrativ abzukoppeln von der schwerwiegenden Verantwortung für die geistige Gesundheit der Community und in Eigenregie auf eine unbefristete Weltreise zu gehen.

Auch wenn es ihrer Waldfamilie nicht bewusst ist, mit den Jahren hat sie ihr gegenüber eine ausgesprochen stressige Erwartungshaltung entwickelt. Man verlangt förmlich von ihr, der Träumerin Eiche, dass sie regelmäßig Götterfunken wie Bonbons unter das Volk wirft.

Wie viel umfassender könnte sich ihre eigene spirituelle Bandbreite schon entwickelt haben, zu was für himmlischen, geistigen Höhenflügen wäre sie inzwischen imstande, ohne dieses Blei gesellschaftlicher Verpflichtungen an den Wurzeln, das sie so machtvoll zwingt, in irdischen Gefilden zu verharren. Dieser gewaltige Anker namens Alltag, wie entsetzlich schwer ist es doch, ihn längerfristig zu lichten?

In einsamen Momenten wie diesen träumt sie davon, grenzenlos durch die höchsten Himmelssphären zu wandeln und nach dem Ursprung allen Seins zu forschen. Manchmal nennt sie es Gott, öfter Göttin, das hängt von ihrer Laune ab und spielt ihrer Ansicht nach auch eigentlich keine allzu große Rolle. Denn was für einen Sinn macht eine geschlechtsspezifische Ausrichtung in einem Kontext, in dem Fortpflanzung keine Rolle spielt?

Frei von irdischen Anbindungen aller Art, käme sie so gut wie gar nicht mehr zurück auf die Erde. Allerhöchstens sporadisch und aus dem lästigen Gefühl der Verpflichtung heraus, würde sie hin und wieder nach dem Rechten sehen und nachprüfen, ob gerade Sommer oder Winter ist, ob ihr Stamm die notwendige Menge an Nährstoffen gespeichert hat und ihre Äste ausreichend Wasser und Licht zur Verfügung haben, um genügend Blätter sprießen zu lassen. Diese Maßnahmen der Selbstfürsorge lassen sich nun einmal nicht vermeiden. Bei ihnen handelt es sich um Sachzwänge, die einem der Alltagstrott aufbürdet und die dem reinen Selbsterhaltungstrieb dienen.

Das ist natürlich nichts weiter als eine wunderschöne Wunschvorstellung. Ihr ist vollkommen klar, dass sie aus der Affäre namens Gemeinschaft nicht mehr so einfach herauskommt, genauer gesagt, dass ihre Rolle als Träumerin Zeit ihres Lebens an ihr kleben wird wie eine zweite Rinde. Trotzdem verzichtete sie nur allzu gerne auf die ganzen ellenlangen Ansprachen und Erläuterungen, denn nach all den Dienstjahren als Träumerin empfindet sie jede Art von Erklärung inzwischen als überaus lästig und anstrengend, geradezu ermüdend.

Früher, als sie noch vor Kraft strotzte, hat sie den Anspruch gehabt, die Gemeinschaft an jeder Nuance ihrer Zeitreisen teilhaben zu lassen. Sie wollte unbedingt, bis ins minutiöse Detail hinein, verstanden werden, nichts durfte unklar oder gar im Dunkeln bleiben. Damals war sie noch erfüllt von jenem fanatischen Sendungsbewusstsein, unter dessen Einfluss sie sich des öfteren zu episch langen, leidenschaftlichen Monologen hinreißen ließ. Zu der Zeit meinte sie jeden x-beliebigen Pups besonders ausdrücklich erläutern zu müssen. Ein Zustand, der einem hohen Fieber glich und auf dem Irrglauben basierte, äußerst dringende Botschaften from outer space überbringen und ihre Zuhörerschaft partout von ihren jährlich wechselnden Meinungen und dementsprechend austauschbaren Argumenten überzeugen zu müssen.

Jugendsünden, eine Lebensphase, die aus Schwarz und Weiß bestand, Abstufungen gab es keine. Ohne den Sinn des Lebens auch nur annähernd verstanden zu haben, wollte sie die Welt retten, und zwar möglichst auf die Schnelle. Der große Preis, den sie am Ende ihres irrational übertriebenen Engagements mit müden Zweigen entgegen nahm, war ein Zustand abgrundtiefer Erschöpfung. Damals befand sie sich, von den verkümmerten Wurzeln bis zur beinahe vollständig entlaubten Krone, nahe einem irreparablen Burnout.

Tief in Gedanken an längst vergangene Zeiten versunken, schmunzelt die Eiche versonnen in sich hinein. Herrlich, dieses erhabene Gefühl, von einem geläuterten Standpunkt aus auf das eigene infantile Ringen um Bedeutung zurückblicken zu können. Ein wohliger Schauer selbstironischen Gekichers lässt ihren mächtigen Stamm erzittern. Und wieder antwortet das grüne Blätterdach mit zustimmendem Rascheln und feine Vibrationen wandern wellenförmig von den Wurzelspitzen hinauf bis zum höchsten Zweiglein.