Marivan unter den Kastanienbäumen

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Nach der Schule ging ich gewohnter Weise nach Hause und berichtete meinen Eltern von den Neuigkeiten. Mein Vater schüttelte seinen Kopf, jedoch eher zu meiner Mutter hin, damit ich nichts merkte. Er sagte: „Ja, Junge, mach da mit wie all deine Schulkameraden. Tut, was die Lehrer euch sagen.“ Mein Vater tuschelte mit meiner Mutter, aber er war nicht leise genug, sodass ich jedes Wort verstand. „Mele“, flüsterte er, „ich hoffe, sie verlangen nicht öffentlich, dass wir unser Geschäft auf unsere Kosten schmücken.“

Ich verzog mich in meine Lernecke, um Hausaufgaben zu machen und trotzdem meinen Eltern weiter zu lauschen. Aber es gab offenbar in dieser Sache nichts mehr zu sagen. Sie sprachen über alltägliche Dinge, beispielsweise was meine Mutter für heute gekocht hatte und wie es ihr ging.

Mir war klar, dass mein Vater nun eine Sorge mehr hatte, nämlich Geld für diese Feierlichkeiten ausgeben zu müssen, ohne dass es ihm etwas einbrachte. Meine Mutter sagte immer: „Euer Vater ist in Sachen Geld ein geisteskranker Mensch!“ Er war der Meinung, dass sie das Geld nur für unnötige Dinge ausgab und nicht damit umgehen konnte. Meine Tante, die Schwester meines Vaters, verteidigte ihn in dieser Sache, da er der Alleinverdiener war und unsere ständig wachsende Familie ernährte. Jeden Tag gab es auf dem Basar neue Produkte, die man nicht brauchte. Meine arme Mutter tat mir immer sehr leid, wenn ich die Kommentare meiner Tante hörte, denn ich wusste es besser. Oft zauberte sie aus nichts etwas besonders Leckeres, wenn am Monatsende das Geld nicht reichte. Und so wurden wir satt, obwohl meine Mutter kaum noch etwas einkaufen konnte.

Mir kam wieder unser Schuldirektor mit seiner Rede in den Sinn. Ich meinte mich zu erinnern, dass er von zweitausendfünfhundert Jahren gesprochen hatte, die wir feierten. Wie konnte ein König so lange leben? Ich lachte über mich selbst bei diesem Gedanken. Er hatte ja alle Könige vom Anbeginn des Königreiches gemeint. Diese Könige – wie Dariosch, Korsch, Mozafer und wie sie alle hießen – hatten stets Kriege mit anderen Ländern geführt und die Menschen hatten viel Leid erfahren. Ich wusste nicht, wofür man Könige brauchte, schließlich hatten sie nie arbeiten müssen. Eher beutelten sie das Volk und zogen den Menschen die Steuern aus der Nase. Ich nahm mir vor, Jewad danach zu fragen. Vielleicht würde er mir ein Buch über das Königreich ausleihen, damit ich lesen konnte, was in der Geschichte unseres Landes passiert war. Ich wollte am nächsten Tag nach der Schule in unser Kaffeehaus gehen, um meine Freunde zu fragen, was sie darüber dachten.

Am nächsten Tag ging ich nach der Schule mit den Gedanken an die Zweitausendfünfhundert-Jahr-Feier des Königshauses zu unserem Kaffeehaus. Unterwegs ging ich in Gedanken durch, was ich sagen und fragen würde. Sorgfältig legte ich mir die Worte zurecht, damit mich alle anhörten und akzeptierten. In meiner Mimik wollte ich mich so geben wie Kak Shwane: den Kopf hoch und ein Lächeln im Gesicht. Wer würde mir auf meine Fragen antworten?

Auf dem Weg ins Kaffeehaus prüfte ich meine Kleidung. Alles musste sauber und korrekt sein. Ich fühlte mich, als müsste ich eine große Rede halten. Ich war stolz darauf, mit den besten jungen Männern befreundet zu sein und so zu sein wie Kak Kawe. Ich hatte diese Menschen auf der Straße beobachtet, wie sie ihren Kopf hoch trugen und den anderen ins Gesicht lächelten. So musste man durch die Welt gehen!

Als ich an dem Lebensmittelladen vorbeikam, sprach mich eine ältere Dame an: „Junge, was ist mit dir passiert? Hast du einen Stock in deinen Rücken gesteckt?“

Oh, mein Gott! Ich wurde so rot wie eine Tomate aus unserem Garten.

Die Frau sprach weiter: „Schaut nur, wie er läuft. Und er trägt auch noch ein rosafarbenes Hemd. Wie ein Mädchen! Sie drehte sich um und setzte sich vor dem Schaufenster eines Ladens auf einen Stuhl. Ich hatte Angst, dass der Besitzer herauskam. Möglicherweise machte der noch viel schlimmere Bemerkungen! Es war Said Mohamed, der ständig alle Leute, die an seinem Laden vorbeigingen, ohne etwas zu kaufen, kritisierte und sich über sie lustig machte. Ja, was sollten die auch anderes reden als über die Macken der Menschen in unserer Stadt. Das war wohl so in einer kleinen Stadt, dass jeder alles besser wusste und die neuesten Nachrichten sich in Windeseile verbreiteten und am Ende fast gar nichts stimmte.

Mit schnellen Schritten ließ ich diese dummen Leute hinter mir und erreichte endlich das Kaffeehaus.

Jewad sah mich an und fragte: „Was ist passiert? Warum bist du so verschwitzt?“

Ich hatte Schweißperlen auf der Stirn. „Ach, ich bin nur schnell gelaufen, um pünktlich hier zu sein, das ist alles.“

Jewad brachte mich zum Tisch, an dem schon alle versammelt waren und Tee tranken. Kurz darauf wurde mir auch eine Tasse gebracht. Jewad machte mich Kak Kawe bekannt. Dieser fragte mich nach meinem Vater und bat mich, Grüße auszurichten. Dann fragte er mich nach meiner Schule und ob ich mit meinen Lehrern zufrieden sei. Auch Kak Shwane stellte belanglose Fragen und es gelang mir nicht, meine eigenen, wichtigen Fragen loszuwerden. Es fehlte die richtige Stimmung. Intuitiv hatte ich das Gefühl, ich würde stören.

Plötzlich gab mir Jewad ein Zeichen. „Ich muss jetzt gehen!“

Aus lauter Verlegenheit stimmte ich ein: „Ja, ich bin auch schon spät dran.“

Wir verließen das Kaffeehaus und vor der Tür sagte ich zu Jewad: „Bin ich heute nur auf einen Tee hierhergekommen?“

„Nein, Hussein, so ist es nicht. Du hast offenbar nicht bemerkt, dass am Nebentisch zwei Beamte der Savak saßen, um uns zu belauschen.“

„Ja, aber Jewad, da waren doch nur Kurden im Kaffeehaus, keine Perser.“

Jewad schüttelte den Kopf. „Auch unter uns Kurden gibt es Savak-Beamte, die sich unter das Volk mischen und für kleines Geld ihre eigenen Leute bespitzeln. Deswegen müssen wir immer sehr wachsam sein. Im Grunde kann man niemandem trauen. Diese Menschen sind Denunzianten. Und sie sind dumm. Sie sehen keine andere Chance, als anders Denkende für wenig Geld zu verraten. Das ist alles vom Staat gelenkt, glaube mir.“

Oh, ich war empört! Wir lebten in einem Überwachungsstaat, in dem es keine Meinungsfreiheit gab, und schon gar nicht für unser Volk. „Jewad“, sagte ich, „ich bin heute hierhergekommen, um Fragen zu dieser Zweitausendfünfhundert-Jahr-Feier zu ergründen. Was werden unsere Aufgaben sein, von denen der Schuldirektor sprach? Welches sind die Hintergründe und was denken Kak Kawe und Kak Shwane darüber?“

Jewad antwortete: „Heute können wir, wie du ja nun weißt, im Kaffeehaus keine Diskussion führen. Ich habe mit Kak Kawe gesprochen. Er war der Meinung, dass wir uns im Moment lieber gar nicht treffen sollten, denn wir müssen annehmen, dass man uns für verdächtig hält.“

„Aha, das bedeutet, dass ich unser Kaffeehaus nicht mehr dreimal die Woche besuche!“

„Ja, wir halten uns besser zurück und sind jetzt einfach still. Aber mach dir keine Sorgen. Ich besuche dich zuhause. Und, Hussein, ich möchte dir einen Rat geben: Geh in die Bibliothek, besorge dir einige gute Bücher und lerne daraus. Wir bleiben in Kontakt. Mehr können wir im Moment nicht tun. Die Macht des Schweigens ist auch eine Macht.“ Jewad verabschiedete sich von mir.

Und so ging ich einfach nach Hause, enttäuscht natürlich, ein wenig traurig, weil es mir nicht möglich gewesen war, auf alle Fragen in meinem Kopf eine Antwort zu bekommen. Diese Zweitausendfünfhundert-Jahr-Feier schien mir von höchster Brisanz zu sein, aber ich wusste doch nicht, was das alles bedeutete. Unser Staat im Glitzerschein der Welt. Ich würde es erleben, denn ich war noch ein junger Mensch.

Voller Neugierde wartete ich die nächsten Tage ab, was alles in der Schule passierte und ob Jewad sein Versprechen einlöste, mich zu Hause zu besuchen. Mir war, als befinde ich mich in einem luftleeren Raum, ohne dass es vorwärts ging.

In den laufenden Monaten waren alle öffentlichen Behörden – der Magistrat, die Banken, Versicherungen, die Polizeipräsidien – damit beschäftigt, die Feier zu Ehren des Königreiches vorzubereiten. Deren Gebäude wurden mit Blumen, Lichtern und der dreifarbigen iranischen Fahne geschmückt. Auch kleine Läden, wie zum Beispiel unser Gemischtwarenhändler, die Bäckerei, der Fahrradladen, der Elektroladen und die Autowerkstatt, schmückten ihr Haus mit iranischen Fahnen. Alle Geschäftsinhaber waren Anhänger des Regimes. Auch unsere Schule wurde mit Fahnen, bunten Papierblumen und all diesen vielen Lichtern geschmückt. Wir Schüler mussten täglich Propaganda-Lieder einstudieren, Tänze üben, und in Reihen laufen wie Soldaten. So bunt wie alles andere waren auch die Uniformen und die Musikorchester, die die Parade vorbereiteten.

Ich fragte mich, wie viele Millionen allein die vielen Lichter kosteten. Für das Geld könnte man sicher eine Menge Stromleitungen in abgelegene Dörfer legen oder für die Ärmsten der Armen gute Dinge tun. Mein Gott, alle Brücken in diesem Land wurden mit Lichtern und Glamour ausgestattet. In den Städten wurden Treppen gebaut und Lautsprecher angebracht, damit Minister oder Bürgermeister zum Volk sprechen konnten.

Am ersten Tag der Feier gingen viele Menschen auf die Straßen, um dabei zu sein. Ich durfte auch hinausgehen und mit meinen eigenen Augen zusehen, was geschah. Gott sei Dank war ich im Camp bei den Pishahang rausgeflogen und musste nun nicht diese Uniform tragen. Im Nachhinein fand ich die Uniform unmöglich, diese Gleichmachung per Propaganda und den Zwang. Wir waren dadurch keine freien Menschen. Dies war nicht meine Vorstellung von einem Leben in Freiheit.

In Marivan hielt der Bürgermeister eine Eröffnungsrede auf der hell erleuchteten Bühne. Er sprach über die Geschichte des Iran und sein Imperium. Dabei betonte er ständig, wie modern sich unser Land entwickelt habe. Die Weiße Revolution, die das alles ermöglicht hatte, stand im Vordergrund seiner Rede. Freitags kamen die Menschen zur Moschee, ebenso wie ich. Der Imam betete für alle und lobte den Schah in den höchsten Tönen. Er sei der beste Schah der Welt, weil er für uns die westliche Ideologie einbrachte. Gemeint war der Konsum der westlichen Welt. Ich dachte an meinen Vater, der der Meinung war, dass kein Mensch all das Neue brauchte. Die Lobreden gingen weiter: „Ohne den Schah hätten wir keine moderne Welt in unserem Land erschaffen können. Ohne unseren Schah und seine Verdienste wären wir in der Welt nicht so weit gekommen. Hoch lebe unser Schah!“

 

Alle Savaks und Beamten klatschen Beifall. Ich konnte diesen Lärm kaum aushalten, weil ich an all die Ungerechtigkeiten denken musste.

In den Städten fand der Marsch des Militärs mit Panzern, Waffen und beleuchteten Fahrzeugen statt. Musik begleitete die Umzüge auf den Straßen unseres Landes, auch in unserem kleinen Marivan. Schülergruppen liefen wie Soldaten in Uniform die Straße entlang, vorneweg ein Plakat mit der Aufschrift: „Unser Schah lebe hoch!“ Die Fahnen, die die Anführer der Gruppen in der Hand hielten, wehten im Wind. Noch gestern Abend war unsere Stadt im Dunkeln gewesen und man hatte sich nicht aus dem Haus getraut. Heute war plötzlich alles anders mit all den vielen Lichtern, die selbst in der Dunkelheit glitzerten.

Und plötzlich war es wieder dunkel! Alle waren nervös, der Bürgermeister auf der Bühne, die Anhänger des Regimes und all die Beamten. Der Bürgermeister versuchte die Menschen zu beruhigen. „Keine Panik, das Problem ist gleich behoben.“ Doch es geschah nichts. Die Lichter waren aus, der Strom war weg. Manche Menschen hatten eine Taschenlampe dabei. Sie lachten heimlich und sagten: „Kein Wunder, dass das Stromnetz bei so vielen Lichtern versagt. Bei den unmodernen Stromleitungen!“

Auch das Mikrofon versagte. Der Bürgermeister erhob seine Stimme und rief in die Menge: „Liebe Bürger, wir haben hier einen japanischen Ingenieur, der das Problem in wenigen Minuten behoben haben wird.“

Als am Abend die Feierlichkeit beendet war, gab es endlich wieder Strom. Zuhause lachte mein Vater und sagte: „Ja, ja, das hast du gut gemacht, Junge.“ Er meinte Foad.

Meine Mutter tadelte meinen Vater: „Hör auf, sei leise, du kennst doch die Savak! Bring uns nicht in Gefahr.“

„Foad ist jetzt schon in Gefahr.“

Kak Foad war unser neuer Nachbar. Er war Ingenieur und Direktor des Stromwerkes in unserer Stadt. Ein sehr freundlicher und begabter Mensch. Die Stadtbewohner mochten ihn. Ich hatte meine Mutter einmal sagen hören: „So einen Sohn hätte ich auch gern in unserer Familie.“

Unser Bürgermeister war sehr verärgert über den Stromausfall, der für ihn eine Blamage gewesen war. Er beschimpfte Foad in seinem Büro und dieser verteidigte sich. Uns Bürgern gegenüber hatte Foad den Bürgermeister zuvor schon kritisiert, was sich sonst niemand in unserer Stadt traute. Nie durfte man auch nur ein Wort gegen den Bürgermeister aussprechen, sonst landete man sehr schnell im Gefängnis und wurde von der Savak gefoltert. Aber alle sagten, Foad sei ein sehr mutiger Mann, der neuen Wind in unsere Stadt bringen würde.

Am nächsten Tag nach der Schule besuchte mich Jewad zu Hause. „Hast du von gestern Abend gehört?“, fragte er. „In der ganzen Stadt ist der Strom ausgefallen.“ Ich nickte und erzählte ihm, was mein Vater darüber dachte.“

„Ja, Hussein, viele in der Stadt denken, dass Kak Foad für den Stromausfall verantwortlich ist, ob mit oder ohne Absicht. Wenn Absicht im Spiel war, finden die Bürger es trotzdem gut. Als Protest nämlich. Ich habe gehört, dass sich Kak Foad seit seinem ersten Tag als Direktor des Stromwerkes ständig mit dem Bürgermeister streitet. Er wollte in die ärmeren Viertel unserer Stadt und die anliegenden Dörfer Stromleitungen legen lassen. Der Bürgermeister war da ganz anderer Meinung und plädierte, dass zuallererst die Kabelnetze in den Beamtenvierteln erneuert werden sollten.“ Jewad fuhr fort: „Aber wir dürfen nicht öffentlich darüber sprechen, was passiert ist, sonst landen auch wir im Gefängnis. Kak Foad hat zahlreiche Kontakte zu den aktiven Bauern in Marivan. Ich glaube, er plant, wegen der Ausbeutung der Bauern gegen die AGHWAT (die Feldgrundbesitzer) zu kämpfen. Ich habe Foad schon einige Male getroffen und weiß von Kak Kawe, dass er ein guter Mensch ist. Aber Kak Kawe hat mir keine richtige Antwort gegeben. Bitte schweige darüber. Du solltest dir im Laufe der Zeit dein eigenes Bild von der Situation machen. Beobachte einfach, was hier alles geschieht.“

In den folgenden Monaten passierte relativ wenig. Ich fand mich häufiger im Kaffeehaus ein, um herauszufinden, was in unserer Stadt vor sich ging. Ich war sehr neugierig und hätte gerne gewusst, was die Hintergrundorganisationen planten. Ich sah immer wieder junge Männer, besonders Lehrer, die sich heimlich und leise in den Ecken des Kaffeehauses und im Basar unterhielten. Wenn man näher kam, lachten sie einfach. Das passte nicht zu dem, worüber sie vermutlich sprachen. Ich nahm mir vor herauszufinden, über was sie redeten, und ich wollte auch gern mit ihnen gegen die Ungerechtigkeit kämpfen.

Dies alles geisterte seit einiger Zeit in meinem Kopf herum. Jewad meldete sich nicht mehr bei mir und ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Ich überlegte, was ich tun sollte. Außer im Kaffeehaus hatte ich junge Lehrer und Studenten auch in der Stadtbücherei gesehen. Ich beschloss, zu Kak Jamschid, dem Leiter der Stadtbücherei, zu gehen. Er war zu Schülern besonders freundlich und gab Ratschläge, welche Bücher leicht zu lesen seien. Er sah anders aus als unsere Stadtbewohner. Seine Haare waren sehr lang und er trug einen Schnurrbart. Man sagte, er habe gar keine richtigen Haare auf dem Kopf, das seien Kunsthaare. Mit den meisten jungen Lehrern war er befreundet. Außer seines guten Rufes als Intellektueller war er auch für seine Kunstwerke berühmt, die er hin und wieder malte. Wenn er im Basar seine neuen Werke ausstellte, erntete er Zuspruch von den Studenten, aber auch von alten Menschen, die über mehr Lebenserfahrung verfügten. Von ihnen konnten wir lernen. Oft waren junge Menschen zwar schlau, was nicht schlecht war, aber ihnen fehlte die nötige Erfahrung. In jungen Jahren lebten sie in der Theorie und hatten Pläne für ihr zukünftiges Leben – meist waren es Träume –, doch das wahre Leben mussten sie erst noch kennenlernen.

Die Motive, die Kak Jamschid malte, handelten meist von dem normalen Leben in unserer Stadt. Einmal betrachtete ich auf dem Basar ein Bild von ihm. Das Gemälde zeigte einen alten Mann mit einem Bart und Schweißperlen im Gesicht. Er trug eine schwere Last auf seinem Rücken. Nebenan hing ein Bild von Hussein, dem „Schiet“. „Schiet“ hieß „verrückt“. Vielleicht war er tatsächlich etwas verrückt gewesen, aber in unserer Stadt hatte er sich großer Beliebtheit erfreut, weil er keiner Menschenseele etwas zuleide tat. In unserer Stadt erzählte man sich, dass er einst im Winter auf den zugefrorenen Zarivar-See gegangen sei, um über das Wasser zu laufen. Das Eis brach ein und mit ihm Schiet. Er war ein kräftiger Mann, obwohl er arm war. In dem eiskalten Wasser unseres Sees erfroren ihm seine Hände und Füße, die dann später bei dem Arzt amputiert werden mussten. Der beliebte Verrückte konnte nur wenige Worte sprechen. Worte wie „Hunger“ und „Durst“ beispielsweise. Und die Menschen gaben ihm jeden Tag ein Almosen, weil er zwar ärmlich gekleidet war, aber niemanden belästigte. Manchmal schlief er einfach am Straßenrand und irgendjemand brachte ihn am Abend zu seinem verfallenen Häuschen, das weder mit Strom noch mit Wasser ausgestattet war. Es gab dort auch keine Toilette. Das Bild zeigte den armen Schiet schlafend auf dem Basar. Anstelle eines Kissens lag eine harte Blechdose unter seinem Kopf. Ein sehr trauriges Bild, dachte ich, als ein alter Mann neben mir zu mir sagte: „Ja, ja, jedes seiner Bilder erzählt uns eine traurige Geschichte über Menschen in unserer Stadt.“ Der alte Mann lobte den Maler und berichtete, dass dieser wegen seiner Bilder oft im Gefängnis landete. Die Motive seien gegen die Gesinnung des Regimes. Wie viele andere stand er unter ständiger Beobachtung der Savak-Leute.

Ich war vor der Stadtbücherei eingetroffen und wollte irgendwie zu der Organisation Kontakt aufnehmen. Als ich die Bücherei betrat, sah ich Herrn Kak Jamschid. Er sprach gerade in einer Ecke der Bücherei mit Jewad. Ich ging zu ihnen und sprach Jewad an: „Wo warst du die ganze Zeit? Ich habe lange nichts von dir gehört.“

Er wollte mir antworten, aber Kak Jamschid sagte: „Seid leise, die anderen wollen in Ruhe lesen.“

Jewad flüsterte: „Hier können wir nicht reden, aber ich habe dir viel zu erzählen.“

Wir verabschiedeten uns von Kak Jamschid und gingen in Richtung Zarivar-See.

Jewad erklärte: „Ich hatte in den letzten Wochen sehr viel zu tun und war ständig unterwegs, mal in Bilow, mal in Sanandaj, mal in Kermanschah.“

Ich war neugierig und fragte ihn: „Was hast du im dem Dorf Bilow gemacht?“

„Ich erkläre es dir, wenn du Geduld hast.“

„Ja, dann sag es mir doch. Im Übrigen bin ich nicht ungeduldig.“

„Du weißt doch noch von der Weißen Revolution. Das Wichtigste war die Reform der Grundbesitzer in der Landwirtschaft.“ Endlich kam Jewad auf den Punkt. „Man entzog der Aghwat Land und gab es in kleinen Ländereien an die Bauern ab.“

„Ja“, sagte ich, „davon habe ich gelesen.“

„Das hat den Bauern Vorteile gebracht. Hier bei uns in Kurdistan wurde diese Reform nicht umgesetzt.“

„Aber warum? Wer hat das entschieden?“

Jawed sagte: „Das waren das Schahregime und seine Gendarmen.“

„Warum machen die bei uns diesem Unterschied?“, wollte ich wissen.

„Das ist eben die Ungerechtigkeit. Die Savak und die Aghwat nehmen den Bauern seit Jahrhunderten alle guten Felder ab. Sie lassen sie auf ihren Namen umschreiben und lassen die Bauern nicht weiter darauf arbeiten. Sie nehmen somit den Bauern die Ernte weg. Viele unserer Freunde sind Lehrer in den anliegenden Dörfern und haben mit den Bauern gesprochen. Um es kurz zu machen: Die Bauern von Bilow und Darsiran haben sich versammelt und wir haben gemeinsam mit ihnen einen Plan ausgearbeitet, um gegen diese Ungerechtigkeit zu kämpfen. Die Bauern haben dort ihre Ernten eingeholt und wir waren ihnen wochenlang dabei behilflich. Die Gendarmen jedoch sind auf der Seite der Aghwat und sie haben viele Bauern ins Gefängnis gebracht. Aus Solidarität sind dann andere Bauern immer wieder auf die Felder gegangen, bis auch sie festgenommen wurden. Dann kamen die Bäuerinnen und die Kinder auf die Felder. Das war eine Revolution unserer Bauern hier in der Gegend. Aber wir konnten nicht zulassen, dass sie alle im Gefängnis landeten. Wir entschieden, dass es so nicht weitergehen konnte, denn sonst hätten die Bauern ihren Kampf gegen diese Ungerechtigkeit aufgegeben. Deshalb war ich auch in Sanandaj und Kermanschah. Dort schalteten wir einen guten Anwalt ein, der eine Klage eingereicht hat. Der Anwalt ist ein guter Freund unserer dortigen Freunde. Und er denkt genauso wie wir. Also, lieber Hussein, deswegen war ich die ganze Zeit unterwegs. Ich kann dir aber auch die gute Nachricht verkünden, nämlich dass ich heute erfahren habe, dass wir gewonnen haben!“

Ich staunte, ließ Jewad aber ausreden.

„Woher ich das weiß, ist im Moment noch ein Geheimnis. Ich muss sagen, die Bauern haben sehr mutig für ihre Sache gekämpft und der Anwalt hat sie bestens vertreten. Einige Bauern und eine Bäuerin sind zum Ministerium in Teheran geschickt worden, haben dort mit den Sachbearbeitern vom Landwirtschaftsministerium gesprochen und kommen heute aus Teheran zurück. Ich bin auf ihre Ergebnisse sehr gespannt und will morgen wissen, was sie alles im Detail erreicht haben, damit auch in unserem Kurdistan endlich Gerechtigkeit einkehrt. Wenn du willst, komm doch morgen mit mir nach Darsiran zu Dade Tele. Sie ist eine mutige Bäuerin. Die ganze Zeit hat sie gesagt: ‚Auch wenn mein Mann nicht mitmacht, ziehe ich es allein durch. Ich lasse mich nicht mehr von den Gendarmen und der Aghwat einschüchtern.‘ Die Bäuerin war mutiger als ihr Mann, dem man das aber verzeihen muss, denn er war zuvor schon im Gefängnis und wurde gefoltert. Die Bäuerin sagte, dass es ihr Recht sei, so vorzugehen. Und morgen wird sie bestimmt erzählen, wie es im Ministerium in Teheran war.“