Marivan unter den Kastanienbäumen

Tekst
Autor:
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

„Und was denkst du, Jewad, sollen wir jetzt tun? Wie geht es weiter?“

Jewad überlegte. „Revolution ist der beste Weg. Den müssen wir weitergehen. Wir müssen bei jeder Aktion dabei sein und im Sinne unseres Zieles unser Bestes geben. Das weißt du doch, Hussein, das brauche ich dir doch nicht zu erklären. Wir sind auf der Seite der Arbeiter und der Bauern, die jeden Tag ihre harte Feldarbeit leisten. Der größte Teil unserer Bevölkerung wurde stetig von der Aghwat und den reichen Grundbesitzern um den Lohn der Arbeit beraubt. Wir lassen nicht zu, dass wir das bisher Erreichte wieder aufgeben müssen. Wir kämpfen so lange weiter, bis wir die Gleichberechtigung durchgesetzt haben.“

„Was meinst du damit, Jewad? Der Schah und die Savak sind noch da. Was haben wir denn erreicht?“

„Schau mal, Hussein. Ob in unserer Stadt Marivan oder, sagen wir, in gesamt Kurdistan, sind doch die Bauern hauptsächlich die Arbeiter. Die Aghwat hat sie ständig um ihren Ertrag betrogen und sie sind durch diese Ungerechtigkeit in Armut versunken. Durch die Weiße Revolution des Schahs haben die Bauern wenigstens ein kleines Stück Land erhalten. Aber die Bauern in unserer Stadt lernten für ihre Rechte zu kämpfen. Deshalb sind wir stolz auf sie und müssen sie in Zukunft weiter unterstützen. Die Aghwat wollte ihr Spiel bei uns weitertreiben. Aber Vertreter der Bauern sind nach Teheran gefahren, um ihr Recht einzuklagen. Doch das dauerte viel zu lange, und so gelang es ihnen nicht, ihren Lebensstandard zu verbessern. Du musst verstehen, dass die Reichen, sei es nun bei uns in Kurdistan oder im gesamten Iran, ihre Fahne nach dem Wind drehen, um ihren Reichtum durch Ausbeutung zu mehren. Ich glaube, das ist in der ganzen Welt so. Die Reichen streben stets nach mehr und vergessen dabei ihren Ursprung, ihre Herkunft und ihre Kultur. Unsere Bauern müssen lernen, das Erreichte zu behalten, sonst wären alle Anstrengungen umsonst gewesen. Dafür werden wir kämpfen und unsere Bauern müssen das verstehen lernen. Die Aghwat, die Savak und die Gendarmen sehen ihre Felle wegschwimmen, weil der Schah in einer schlechten Position oder gar am Ende ist. Sie träumen von den Zeiten vor der Weißen Revolution und wollen sich das zurückholen, was sie abgeben mussten. Das ist die Gefahr. Die schließen sich nun mit den Islamisten und ehemaligen Geheimdiensten zusammen.“

Ich schaute Jewad erstaunt an. „Woher weißt du das alles?“

Er lächelte. „Weißt du, Hussein, ich weiß es eben. Aber warten wir bis nach dem Fest anlässlich der Freilassung von Kak Foad in seinem Dorf Almana. Ich glaube, Kak Foad wird uns sagen, welches unser weiterer Weg sein muss. Bis dahin werde ich selbst an allen möglichen Demonstrationen teilnehmen, soweit ich es zeitlich schaffe. Aber, lieber Hussein, sei, was dich selbst betrifft, zu diesem Zeitpunkt vorsichtig.“

Nach dem Gespräch mit Jewad verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg nach Hause. Meine Gedanken kreisten. Jewad hatte mir viele Neuigkeiten erzählt und ich war froh, dass sich Kak Foad in Freiheit befand. Wenn ich das meiner Mutter erzählte, würde sie sich sehr freuen. Ich wollte ihr auch erzählen, dass bald alle politischen Gefangenen frei sein würden und dass dies das Ergebnis der Kraft der Menschen war. Unsere Mutter dachte meistens, dass Demonstrationen den Menschen nichts als Unheil einbrachten. Wenn ich ihr gleich alles erzählen würde, müsste mein Vater nicht wieder verzweifelt den BBC-Sender suchen und meine Mutter bräuchte keine Angst mehr wegen der Demonstrationen zu haben. Sie würde der Kraft des Volkes vertrauen und einen Sinn darin sehen.

Mir ging Jewads Aussage durch den Kopf, dass unsere Organisation anders dachte als die Organisation von Herrn Kursch, Amin und Miriam, die ja bei der Volks-Fadaeen waren. Das hieß aber auch, dass sie mich nicht akzeptierten, weil sie anders dachten als ich. Mir war aber klar, dass es möglich war, auch ohne Gewalt und Waffen zu kämpfen. Ob sie nun mit mir sprachen oder nicht, ihr Freund wollte ich nicht sein. Aber vielleicht hatte auch Jewad bereits mit ihnen diskutiert. Vielleicht sprachen sie sogar über die Flugblattaktion, die möglicherweise nur eine getarnte Mutprobe gewesen war. Es beruhigte mich aber, dass Jewad mir Mut und gute Arbeit bescheinigt hatte. Nur hatte mich bisher noch niemand gefragt, ob ich mit der Organisation zusammenarbeiten wolle, obwohl Jewad mein Interesse gespürt haben musste. Doch warum sollte ich selbst fragen, zweifelte ich doch nach allem, welche Organisation die bessere sei. In meinem Herzen war ich unsicher geworden. Waren es die der Volks-Fadaeen? Ihre Theorie des kleinen Motors, der einen großen Motor in Bewegung setzen konnte, war denkbar. Aber warum musste ich darüber lachen? Herr Kursch war mutig. Es war denkbar, dass sie wie Helden das Regime stürzen konnten und alle Machthaber und deren Gefolge ins Gefängnis stecken würden. Dann wäre das Volk frei. Warum nicht? In der Geschichte der Menschheit gab es genügend Beispiele für so etwas. Ach, nein, ich blieb lieber bei meinem Freund Jewad, weil er alle guten Menschen aus unserer Stadt auf seiner Seite hatte. Jedoch musste ich noch viel lernen. Ich kannte noch nicht einmal den Namen der Organisation, der Jewad und seine Freunde angehörten. Demnächst würde ich ihn danach fragen. Wenige Male hatte ich den Namen „Shirin Bähre“ gehört, aber das war doch eigentlich nur ein Lied. Das konnte es doch nicht sein. Bestimmt hatten sie in unserer Stadt wieder Witze darüber gemacht. Aber eigentlich war es nicht witzig, sondern die absolute Ernsthaftigkeit des Kampfes für Gerechtigkeit.

All diese Gedanken gingen mir durch den Kopf, bis ich endlich zu Hause angekommen war. Ich sah meine Mutter im Hof, sie war mit Wäscheaufhängen beschäftigt. Innerlich war ich hektisch, ich bemühte mich aber um ein ruhiges Äußeres und begrüßte sie.

„Oh, wie spät ist es?“, schreckte sie auf. „Ich bin vor lauter Arbeit noch nicht zum Kochen gekommen. Gleich wird dein Vater nach Hause kommen.“

Ich nahm ihr den Wind aus den Segeln. „Mama, es ist noch früh! Du brauchst dich nicht zu beeilen.“

„Aber warum bist du denn heute früher zu Hause als sonst?“

„Weißt du, Mama, wir hatten heute kaum Unterricht. Irgendwie waren alle beschäftigt. Selbst die Lehrer hatten keine Lust auf Unterricht. Alle lasen in den Zeitungen und diskutieren über die Politik und all das, was in den letzten Tagen passiert ist.“

Meine Mutter hängte das nächste Wäschestück auf, als ich fortfuhr: „Mama, ich habe eine sehr gute Nachricht für dich.“

Sie drehte sich zu mir um und sah mich erwartungsvoll an.

„Unser Kak Foad ist auf freiem Fuß!“

„Oh, Gott sei Dank!“ Sie schlug beide Hände über ihrem Kopf zusammen. „Ich hoffe und bete, dass niemand meiner Söhne jemals in die Gewalt der Machthaber geraten wird und dass man euch niemals foltern wird. Gott wird euch beschützen. Es ist ein großes Geschenk, dass Kak Foad freit ist, weil er ein sehr guter Mensch ist.“

Ab dem darauf folgenden Tag ging ich täglich gewohnter Weise zur Schule, aber wir hatten höchstens eine Stunde Unterricht, weil die Lehrer offenbar keine Lust oder anderes zu tun hatten. So trieben wir Schüler uns auf der Straße herum und beobachteten, was geschah. Vor den Ämtern und Banken waren zahlreiche Polizeiautos zu sehen und die Polizisten waren mit Schlagstöcken ausgerüstet. Sie ließen nie mehr als zwei oder drei Personen zusammen laufen. Das Ortsradio war über Lautsprecher zu hören. Es wurde verkündet, dass Demonstrationen hart bestraft würden und verboten seien. Und doch gab es jeden Tag Demonstrationen und der Ruf „Nieder mit dem Schah!“ ertönte von überall her, bis Polizisten und Feuerwehrleute mit Wasserwerfern eingriffen und die Demonstration auflösten.

Wenige Tage nach diesen vergleichsweise kleinen Demonstrationen verkündete ein junger Mann auf dem Marktplatz mit lauter Stimme, dass ein Gendarm ein junges Bauernmädchen in einem nahe gelegenen Dorf vergewaltigt habe. Diese Information löste in der Stadt Entsetzen aus. Diese Information führte dazu, dass die Stadtbewohner ihren Groll gegen die Beamten und das Regime zum Ausdruck brachten, indem sie beispielsweise Ämter angriffen. Es kam zu einer großen Demonstration, in der sich der generelle Hass gegen das Regime der Ungerechtigkeiten entlud. Viele waren unterwegs, um zu demonstrieren, und in kurzer Zeit wurden es immer mehr, es waren Hunderte oder gar Tausende, die demonstrierten. Die Menschen ließen ihre Wut heraus. Polizei und Feuerwehr waren machtlos. Wasserwerfer wurden eingesetzt. Es fielen Schüsse und teilweise flogen Steine durch die Luft, gegen die sich die Demonstranten zur Wehr setzten. Hatte man diese für den Fall einer Eskalation bereitgehalten? Welche Organisation war es, die die Steine warf? Polizisten standen mit Waffen auf den Gebäuden. Zuerst schossen sie in den Himmel, dann in die Menschenmassen. Viele Demonstranten wurden verletzt oder kamen zu Tode. Notarztwagen waren pausenlos im Einsatz und es war ein Desaster, wie ich es noch nie erlebt hatte.

Plötzlich sah ich Amin und Miriam inmitten der Demonstranten. Sie hatten Steine in der Hand. Ein Stück entfernt erkannte ich Jewad, der gerade einem Verletzten in einen Krankenwagen half. Überall war ein heilloses Chaos und alles schrie: „Nieder mit dem Schah!“ Einer rief laut: „Tod den verbrecherischen Beamten!“ Männer, Frauen und Kinder versuchten einen Weg zu finden, um aus diesem Brutkessel herauszukommen. Trotz des kalten Wetters schwitzte ich und wollte unbedingt etwas unternehmen. Also rannte ich zu Jewad, um ihm meine Hilfe anzubieten. Unterwegs riefen neben und hinter mir mehrere junge Leute: „Tötet ihn! Tötet diesen Verbrecher!“ Ich schaute, was da los war. Mit ihren Fäusten schlugen sie auf einen Gendarm ein, dessen Kopf blutete. Einer der Angreifer trat mit seinem Stiefel auf ihn ein. Unbewusst hob ich meine Faust und wollte mitmachen, bis jemand von hinten meinen Arm ergriff. „Tu das nicht!“, hörte ich die Stimme hinter mir sagen. Ich drehte mich um und sah Kak Kawe vor mir stehen. Er wiederholte: „Tu das nicht, das ist nicht gut! Warum willst du diesen Mann schlagen?“

 

Ich antwortete: „Ja, aber das ist doch der Gendarm, der ein junges Mädchen vergewaltigt hat.“

Kak Kawe widersprach: „Nein, das ist nicht die Wahrheit, und selbst wenn es so wäre, warum sollte man ihn töten? Das wäre Selbstjustiz, die strafbar ist.“ Kak Kawe jagte die Passanten weg und wir halfen dem verletzten Gendarm auf. Ich schlug vor, ihn zu einem Krankenwagen zu bringen, doch Kak Kawe meinte, das sei zu gefährlich, weil im Krankenhaus zu viele wütende Menschen seien. Er beschloss, den Verletzten nach seiner Adresse zu befragen und ihn mit seinem Auto nach Hause zu bringen. Die Verletzungen seien nicht lebensbedrohend.

Als Kak Kawe losfuhr, rannte ich wieder zurück zu Jewad. Wir hoben einige verletzte Menschen von dem eiskalten Asphalt auf.

„Schnell, Hussein“, rief mir Jewad zu. „Begleite diese beiden Verletzten mit dem Auto zum Krankenhaus.“ Es war ein privater Pickup und ich stieg hinten ins Auto. Ich kannte die jungen Verletzten nicht. Sie schrien vor Schmerzen. Einer von ihnen hielt sein Bein fest und weinte. Wahrscheinlich war es gebrochen.

Vor dem Krankenhaus traf ich Amin wieder. An seinem Gürtel trug er ein großes Messer. Ich schrie ihn an: „Hi Amin, warum trägst du das Messer an deinem Gürtel?“

Mit wütendem Blick antwortete er: „Also, wenn ich hier auch nur einem Polizisten oder Beamten begegne, bringe ich ihn um!“ Er war sehr aufgeregt und brüllte voller Enthusiasmus: „Endlich haben wir mal eine richtige Demonstration in unserer sonst so ruhigen Stadt. Das ist gut so. Oder glaubst du nicht, Hussein? Und übrigens: Tote haben wir auch!“

Ich schaute ihn mit bestimmenden, ja fast stechenden Augen an und fragte: „Sag mal, Amin, freust du dich etwa, wenn junge Menschen sterben? Oder Alte? Oder gar Kinder?“

„Nein, meine Freunde sollen natürlich nicht sterben, aber es gibt keine Revolution ohne Opfer und Blut. Schau doch in die Zeitungen, was in anderen Städten des Iran täglich passiert. Überall Tote, überall Opfer.“

Ich konnte nicht fassen, was Amin gerade von sich gegeben hatte. War es so wichtig, dass der Name unserer Stadt in die Zeitungen kam? Wenn ich ihn richtig verstanden hatte, meinte er: Ohne Tote keine Popularität? Was dachte der sich?

In diesem Moment fielen mir die Worte von Kak Kawe ein. Er hatte recht damit gehabt, den Polizisten nicht ins Krankenhaus bringen zu wollen. Dort hätten ihm möglicherweise Menschen wie Amin aufgelauert und gedroht.

Nun kam auch Jewad mit seinem Motorrad angefahren. Er begleitete ein Auto mit einem Verletzten. Amin und ich halfen ihm, den Verletzten aus dem Auto zu holen und ins Krankenhaus zu begleiten. Der Mann blutete am Kopf, wahrscheinlich war er von Steinen getroffen worden. Wir drei, Jewad, Amin und ich, setzten uns danach auf die Treppe des Krankenhauses und warteten ab, was mit den Verletzten weiter passierte. Dabei beobachteten wir das Geschehen vor dem Eingang des Krankenhauses.

Amin fragte Jewad: „Gibt es weitere Verletzte? Und weißt du, wie viele Tote es gibt?“

Jewad antwortete ihm, ohne ihn dabei anzuschauen. „Ich habe nur einen Toten gesehen, einen armen jungen Mann. Ich glaube, es war ein Passant, der mit der Demonstration gar nichts zu tun hatte. Er sah aus wie ein normaler Dorfbewohner aus der Umgebung, Aber ich weiß nicht, woher er stammte. Die anderen Verletzten wurden größtenteils von Steinen getroffen, ihre Verletzungen sind aber nicht lebensbedrohlich. Ich habe keine Antwort auf die Frage, warum das so passieren konnte. Es war doch eine friedliche Demonstration.“ Jewad schaute Amin mit stechenden Augen an und hatte nun seinerseits eine Frage an ihn. „Sag mal, Amin, kannst du mir erzählen, welche Verrückten die Demonstranten mit Steinen attackiert und verletzt haben?“

Amin war verlegen und bekam einen roten Kopf. „Nein, ich weiß nicht, wer das war. Aber das ist ja auch egal. Irgendjemand wird es schon gewesen sein, und das ist auch gut so, sonst hätten wir uns nicht verteidigen können.“

Jewad war erzürnt. „Was heißt hier, wir können uns nicht verteidigen?“ Mit der friedlichen Demonstration wollten wir nur unsere Meinung gegen das Regime zum Ausdruck bringen, und zwar ohne Gewalt. Gewalt ist nicht unser Ziel, weil es nichts bringt. Und wenn wir nun das Ergebnis sehen, ist ein armer Dorfbewohner, der mit der Demonstration überhaupt nichts zu tun hatte, unschuldig gestorben. Wer soll das vor der Familie des Toten verantworten? Wofür ist dieser junge Mann gestorben? Was sollen wir seiner Mutter und seinem Vater sagen?“

Amins Antwort kam knallhart: „Der junge Mann ist für unsere Revolution gestorben. Er wird vielleicht als Held gefeiert werden.“

Jewad ballte seine Faust und kochte innerlich.

„In anderen Großstädten“, fuhr Amin fort, „sterben viel mehr Menschen für die Revolution.

Zwischen Amin und Jewad entbrannte ein lauter Streit. Ein Wort gab das andere. Und ich saß zwischen den Streithähnen auf der Treppe vor dem Krankenhaus. Ich vermutete, dass Amin und seine Freunde die Steine vorsätzlich mitgebracht und den Streit mit der Polizei provoziert hatten, um einen Grund zu finden, dass die Polizei sich genötigt fühlte, in die Menge zu schießen.

Jewad brachte es auf den Punkt. „Ich kenne euch, dich und deine Freunde. Ihr versucht, aus unserer Stadt einen Schlachthof zu machen, damit ihr populär werdet. Und das alles mit eurer scheiß Theorie, dass man einen Krieg oder eine Demonstration nur mit Gewalt führen kann. Wenn ihr so weiter agiert, sehe ich bald keinen Unterschied mehr zwischen eurer Gruppierung und dem Regime, und das ist nicht unsere Meinung und unser Ziel. Ihr seid genauso barbarisch.“

Amin verteidigte sich: „Ach, ihr, du und deine Freunde, ihr seid doch nichts weiter als Feiglinge und Angsthasen. Wenn ihr eure Forderungen nur auf Papier bringt, aber nicht aktiv mit Gewalt kämpft, werdet ihr überhaupt nichts erreichen. Ihr seid Träumer.“

Jewad lachte über Amins dumme Aussage und wandte sich an mich. „Hussein, siehst du nun den Unterschied?“ Nun drehte er sich zu Amin, wie immer mit seinem berühmten Lächeln im Gesicht, und gab ihm eine deftige verbale Ohrfeige: „Hör mir gut zu, Amin. Ja, du hast recht, wir sind die Kinder des kurdischen Volkes und wollen helfen. Wir wollen nicht den Platz der Machthaber einnehmen. Hast du das nun endlich verstanden? Wir helfen, wir kämpfen für Gerechtigkeit und einen besseren Lebensstandard für die Menschen des kurdischen Volkes. Und eines sage ich dir, Amin: Wir werden diesen Menschen so lange helfen, bis sie ihr eigenes Schicksal selbst in die Hand nehmen können, ohne Gewalt, damit wir eines Tages demokratische Verhältnisse haben. Besonders die Bauern, die Armen, die Arbeiter müssen mit Hilfe von Organisationen für ihre Rechte kämpfen lernen. Und das ist unsere Aufgabe, da müssen wir sie unterstützen. Unsere Diskussion ist hiermit beendet. Denke mal darüber nach, was in deiner beziehungsweise eurer Organisation falsch läuft. Ich hoffe, ihr werdet eure Meinung ändern, das jedenfalls wünsche ich euch, sonst kommt ihr keinen Meter weiter oder werdet womöglich auch noch korrupt.“ Jewad zwinkerte mir zu und sagte: „Hussein, komm, wir haben Wichtigeres zu tun, als mit einem Dilettanten zu sprechen.“ Seine Stimme klang fest und bestimmend. „Wir schauen jetzt erst einmal, was mit dem Toten passiert. Vielleicht können wir helfen, ihn wenigstens in sein Dorf zu seiner Familie zu bringen.“

Wir stiegen auf Jewads Motorrad und fuhren in Richtung Innenstadt. Unterwegs begegneten wir Polizisten, die auf den Straßenkreuzungen und vor dem Regime-Gebäude Aufstellung genommen hatten und Menschen festnahmen. Viele Straßen waren menschenleer. Nur Beamte in Uniform oder in Zivil waren zu sehen. Wir kannten viele von den Zivilen, das waren Savaks mit ihren weißen Autos. Die Müllabfuhr war bereits dabei, den Müll auf den Straßen zu beseitigen, während die Straßenreinigung das viele Blut beseitigte.

Jewad bog in eine kleine Seitenstraße, in der eigentlich Fahrverbot war.

Ich fragte ihn: „Wohin fährst du?“

„Ach“, sagte er, „es ist zu gefährlich, durch die Innenstadt zu fahren. Dort finden Massenverhaftungen statt. Diese Strecke hier ist ungefährlicher, niemand wird uns bemerken.“

Wir fuhren bis hinter unser Kaffeehaus und parkten hinter einem kleinen Haus. Hier würde man uns nicht entdecken. Dann liefen wir durch die kleine Gasse ins Kaffeehaus, trafen dort aber niemand Bekanntes. Wir gingen zur Theke und Jewad bestellte bei Abe Balkis zwei große Tassen Tee. Dann fragte er Kak Abe: „Was gibt es Neues?“

„Nichts Besonderes, nur ein paar Savakbeamte waren hier. Ich denke, die suchten jemanden. Und dann waren sie wieder verschwunden.“

Jewad fragte weiter: „Und was haben Sie von der Demonstration gehört?“

„Ich hörte, dass es einen großen Straßenkampf zwischen den Demonstranten und der Polizei gegeben hat. Die meisten waren Schüler, die aber nicht schwer verletzt wurden. Allerdings soll eine Person umgekommen sein. Man sagt, es handelt sich um einen Dorfbewohner aus Taleweran. Er wurde von einem der Gendarmen, die bewaffnet oben auf den Häusern standen, erschossen.“

„Wissen Sie, was sie mit der Leiche gemacht haben?“

„Ja doch, ich habe das von hier draußen gesehen. Die Schüler trugen die Leiche hoch über ihrem Kopf und sind mit lautem Geschrei zur Moschee in den Basar gelaufen. Wissen Sie, Jewad, was sie geschrien haben?“

„Nein, erzählen Sie weiter.“

„Sie schrien: ‚Das sind die Opfer unserer Revolution, er ist ein Opfer unseres Volkes. Nieder mit dem Schah und seinem Regime!‘ Kak Abe fuhr fort: „Wissen Sie, was ich denke?“ Sein Blick war sehr ernst. „Er war doch von Taleweran. Taleweran ist ein kleines Dorf, weit ab von den Städten. Dort leben sehr einfache Bauern, die nichts von Demonstrationen wissen und Analphabeten sind. Dieser arme junge Mann wurde das Opfer der Revolution. Ich finde, das ist sehr lächerlich. Er war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Ich weiß nicht, was in den Köpfen der Studenten und Schüler vorgeht.“

Jewad schaute erst zu mir und dann zu Kak Abe, zu dem er sprach: „Ja, Sie haben recht, er war zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Sonst nichts. Aber es ist passiert und wir können nichts dagegen mehr tun. Die Verantwortung tragen die Beamten, die einfach in die Menschenmassen geschossen haben. Sie sind verantwortlich für diesen Mord.“

„Ja.“ Kak Abe nickte. „Bestimmt haben Sie recht, aber ich fasse es noch nicht, ich weiß nicht, ja, vielleicht haben Sie recht.“

Jewad bezahlte für den Tee und wir gingen wieder auf die Straße. Er fragte mich: „Willst du zur Moschee mitkommen?“

Ich nickte mit dem Kopf und folgte ihm.

Vor der Moschee war die Hölle los. Viele Menschen diskutierten über das Geschehene. Die meisten von ihnen waren Jugendliche, junge Männer, Mädchen und auch Kinder.

Ein alter Mann, den Jewad gut kannte, kam auf uns zu. „Jewad, bitte, du musst etwas unternehmen. „Wir sind Gläubige und gehen hier täglich in den Gottesdienst.“ Verhindere, dass die jungen Menschen mit ihren schmutzigen Schuhen die Moschee betreten. Es gehen auch die jungen Frauen hinein. Das ist doch eine Sünde und Allah wird uns dafür bestrafen. Unternimm etwas, weil das so nicht geht!“

Jewad streichelte sanft über den Rücken des alten Mannes und sprach mit leiser Stimme: „Haben Sie bitte Geduld, heute ist kein gewöhnlicher Tag. Die Polizei hat einen unschuldigen Bauernsohn getötet und die jungen Leute drücken vermutlich nur ihre Solidarität für dieses Unrecht aus. Sie sind verständlicherweise sehr aufgeregt. Das wird sich schon wieder geben. Ich versichere Ihnen aber, dass ich aufpassen werde.“

Der alte Mann schüttelte seinen Kopf und sein Gesicht drückte Unverständnis aus, indem er eine Grimasse zog.

Ohne ein weiteres Wort betraten wir die Moschee. Die Leiche des jungen Bauernsohnes war mitten im Gebetsraum aufgebahrt und mit einem roten Tuch zugedeckt. Schabaz, ein Lehrer, den ich kannte, sah uns, kam auf uns zu und sprach Jewad an: „Schauen Sie, wir haben Plakate hergestellt, aber wir brauchen ein Bild von dem Toten. Wissen Sie, wo wir eines herbekommen können?“

„Ich weiß nicht einmal, wer er ist und wo er herkommt!“, antwortete Jewad. „Warum brauchen Sie Bild von ihm?“

Schabaz erklärte: „Wir sprachen vorhin darüber und haben uns entschieden, dass wir diesen Jungen als Held und Opfer unserer Stadt mit Würde und einer Zeremonie in seinen Geburtsort zurückbringen wollen. Das Foto würden wir gern auf den Sarg kleben.“

 

„Ich verstehe“, nickte Jewad. „Ja, wir müssen unser Bestes tun. Irgendjemand muss ihn doch kennen. Haben sich keine Verwandten gemeldet?“

„Nein, bisher nicht. Aber vor einer halben Stunde war hier jemand aus Taleweran, seinem Dorf. Der sagte, der Name des toten jungen Mannes sei Mohammed. Er kenne die Familie, eine sehr arme Familie.“

Mir tat der arme Junge so leid! Zwischen all den Menschenmassen der Revolution hatte ausgerechnet er unschuldig durch eine Kugel sterben müssen! Wenn er es doch nur hören könnte, dass er als Held und Opfer der Revolution galt.

Schabaz teilte Jewad die Pläne mit und erzählte, was bereits unternommen worden war. Es würde Plakate geben und alle Demonstranten sollten den Sarg nach Taleweran begleiten.

Jewad gab Schabaz sein Wort, dass er noch an diesem Abend mit dem Leiter des Verkehrsamtes sprechen wolle, weil er persönlich mit ihm bekannt sei. Er würde ihn bitten, uns einen Bulldozer zur Verfügung zu stellen und vor unserer Autokarawane den Schnee wegzuschaufeln, der in Massen auf den Straßen nach Taleweran lag.

Schabaz nickte dankbar. „Ja, gut, dann organisieren Sie das bitte für morgen früh. Wir werden die Nachricht verbreiten.“

Jewad hatte auch noch eine Bitte und sprach zu Schabaz: „Würden Sie aufpassen, dass niemand die Moschee mit Schuhen betritt? Ich habe den alten Gläubigen versprochen, dass hier alles seine Richtigkeit hat. Die Bevölkerung darf nicht denken, wir würden Regeln missachten. Nicht dass sie meinen, wir seien gegen ihren Glauben oder würden nicht darauf achten. Die Bevölkerung muss auch Stück für Stück unsere Arbeit anerkennen. Passen Sie also auf, die jungen Leute sind noch unerfahren. Schon ein falsches Wort reicht für unsere Feinde, uns gegeneinander auszuspielen und Propaganda gegen uns zu machen, gegen unsere Meinungen gegenüber der Religion. Wir glauben an die Freiheit für alle Religionen und Meinungen. Das muss nicht jeder mit seinen eigenen Ohren hören, sondern die Menschen müssen es selbst erkennen, insbesondere die Arbeiter und die Bauern, der Großteil unserer Bevölkerung.“

„Ja, natürlich“, erwiderte Schabaz, „Sie haben vollkommen recht. Ich werde aufpassen, Sie können sich darauf verlassen.“

Danach verließen wir die Moschee. Die Straßen waren dunkel und bis auf wenige Kaffeehäuser und Restaurants waren alle Geschäfte geschlossen. Die Polizei jedoch war überall auf den Straßen präsent.

„Wir trennen uns hier“, bestimmte Jewad, „weil ich noch den Verkehrsamtsleiter aufsuchen werde. Er ist ein guter Bekannter, der uns sicherlich helfen wird. Das Beste ist, du gehst erst mal nach Hause. Wenn du morgen kannst, sehen wir uns wieder vor der Moschee und schauen dann, was wir als Nächstes tun können. Komm gut nach Hause und sei unterwegs vorsichtig.“

Als ich zu Hause ankam, eilte mir meine Mutter entgegen. Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben und sie schien voller Sorge zu sein. „Junge, wo steckst du so lange? Bist du in Ordnung?“ Sie umarmte mich und sagte: „Gott sei Dank, dir ist nichts passiert. Dade Fathe erzählte mir vorhin, dass viele junge Leute verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wurden.“

Ich kam gar nicht zu Wort, so sehr sprudelte es aus ihr heraus.

„Warum kommst du so spät nach Hause? Hast du deinen Vater nicht gesehen? Er ist zum Krankenhaus gelaufen, um nach dir zu suchen. Er fürchtete, du seist unter den Verletzten. Was denkst du dir eigentlich, jetzt erst zu kommen. Wir haben uns große Sorgen gemacht. Warst du etwa auch bei den Demonstrationen?“

„Ja, Mutter, ich war auch dabei. Aber es gibt keine wirklich Schwerverletzten. Die meisten haben sich in der Panik nur gegenseitig verletzt und manche wurden von Steinewerfern getroffen.“ Ich wollte meine Mutter mit diesen Worten etwas beruhigen.

Doch offenbar wusste sie schon mehr, denn sie sagte: „Was erzählst du mir da, Hussein? Ich habe doch von Dade Fathe gehört, dass ein junger Mann getötet wurde.“

„Das stimmt“, gab ich zu. „Es war ein Dorfbewohner, der in dieser Zeit zwar auf der Straße war, aber nichts mit der Demonstration zu tun hatte. Ein Gendarm hat ihn einfach erschossen.“

In diesem Moment kam mein Vater zur Haustüre herein. Er brüllte wie ein Löwe: „Schämst du dich denn nicht, so spät nach Hause zu kommen?! Überall habe ich dich gesucht! Ich war im Krankenhaus und bin die ganzen Straße abgelaufen.“

Ich schaute ihn mit unschuldigen Augen an und sagte nichts.

Danach aßen wir Abendbrot und es fiel kein Wort mehr zu dem Thema. Ich glaubte in diesem Moment des schlechten Gewissens gegenüber meinen Eltern, dass sie froh waren, mich heil und ohne Verletzungen wieder zu Hause zu haben. Eltern waren in Erziehungsdingen manchmal ungerecht gegenüber ihren Kindern, aber als Heranwachsender wollte man auch sein Recht gegenüber den Eltern durchsetzen. Doch meist waren Kinder bis zum Abschluss ihrer Schullaufbahn von den Eltern, die ja ihretwegen auf vieles verzichteten, abhängig. Bis sie irgendwann auf den eigenen Beinen des Lebens standen. Das war sicher für beide Seiten ein sehr langer Weg, der nicht ohne Kompromisse gegangen werden konnte. Aber ein Kind blieb immer ein Kind. Und Eltern sorgten sich nun mal um ihre Kinder. Das lag in der Natur der Dinge. Aber kümmerten sich später auch die Kinder um ihre Eltern, beispielsweise wenn sie alt und gebrechlich waren? Für mich war die Antwort klar. Natürlich wollte ich meine eigenen Wege gehen, aber ich würde auch meinen Eltern helfen, wo immer es mir möglich war.

Nach dem Abendbrot schaltet mein Vater den Fernseher ein, während das Radio spielte.

Meine Mutter war genervt. „Warum sind beide Geräte eingeschaltet? Da versteht man ja gar nichts! Entweder das eine oder das andere. So ist es ja furchtbar!“

Mein Vater verdrehte seine Augen. „Wir dürfen in diesen Zeiten keine Nachricht verpassen.“

„Was geht dich das alles an?“, murmelte meine Mutter vor sich hin. „Du bist doch nicht politisch aktiv. Warum willst du immer der Erste sein, der die Nachrichten hört? Das wird doch am nächsten Tag alles wiederholt oder wir erfahren es von den Nachbarn. Schalte wenigstens für unsere Kinder den Kinderkanal im Fernsehen ein, die langweilen sich sonst.“

Mein Vater ließ durchblicken, dass er der Herr im Haus war: „Lass mich in Ruhe! Ich möchte keine alten Nachrichten von der Klatschtante Dade Fathe hören. Das ist eher was für euch Waschweiber, und am Ende kommt sowieso immer das Falsche heraus.“

Meine beiden kleinen Brüder Nasser und Mansor waren natürlich auf der Seite unserer Mutter, die schließlich doch siegte und beim Schalten durch die Programme einen Zeichentrickfilm fand.

Währenddessen lauschte ich zusammen mit meinem Vater vor dem Radio, ob es Neuigkeiten bezüglich der heutigen Demonstration gab. Mein Vater, der es sich nicht gefallen ließ, von seiner Frau bevormundet zu werden, schaltete den Zeichentrickfilm weg und fand schließlich den Nachrichtenkanal, wo es eine Reportage von Farah Diba gab. In ihrem langen Pelzmantel besuchte sie das Grab des Imam Reza. Unser Vater lächelte und sagte: „Schaut euch nur diese Volksverdummung an. Im gesamten Iran gibt es Unruhen und Demonstrationen und die zeigen nur sie, nichts anderes.“

Plötzlich hörten wir beim BBC-Sender, dass ein Streik unter den Ölarbeitern, den Mitarbeitern der Autofabriken und anderen ausgebrochen war. Die linken Parteien ebenso wie die Gewerkschaften verkündeten, dass sie bis zum Ende der Schah-Ära streiken würden. Weiterhin wurde von den vielen Demonstrationen in Teheran und in anderen Großstädten berichtet. Jedoch fiel kein Wort über unsere Demonstration in Marivan.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?