Jüdische Bibelauslegung

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|112|c. R. Mosche Qimchi (Remaq; st. ca. 1190)

BiographieMosche Qimchi war ein Sohn Riqams und der ältere Bruder von Radaq. Er wurde wohl schon in Narbonne geboren. Mosche bewegt sich als Exeget und Grammatiker sehr in den Fußstapfen sowohl seines Vaters als auch in denen R. Avraham ibn Ezras. Wichtig ist vor allem sein sprachwissenschaftlicher Traktat über die Morphologie des hebräischen Verbums: Mahalakh Schevile ha-Da‘at (‚Der Weg der Pfade des Wissens‘). Mosche Qimchi ist der erste, der die Stammesmodifikation nif‘al als Passivstamm des qal ansieht und die Stämme entsprechend sortiert: qal, nif‘al, pi‘el, pu‘al, hif‘il, hof‘al, ggf. po‘el und hitpa‘el. Dies ist die Reihenfolge, in der noch heute die hebräischen Paradigmentafeln gesetzt werden.

Die Rezeption durch die christlichen HebraistenDer Mahalakh wird vor allem später von Elijahu ben Ascher ha-Levi Aschkenazi (Elia Bachur Levita; 1469–1549) verwendet und von dem christlichen Hebraisten Sebastian Münster (1488–1552) ins Lateinische übersetzt (gedruckt Paris 1520 unter dem Titel Liber viarum linguae sacrae). Er wurde zu einem der wichtigsten Werke für die christlichen Hebraisten aus der Zeit des Humanismus. Mosche Qimchi schrieb Kommentare zu den Büchern Mischle (Proverbia), Ezra/Nehemia sowie zu Hiob. Einige seiner Werke sind auch anderen Autoren zugeschrieben worden, sodass sein Œuvre nicht ganz einfach zu bestimmen ist. Daneben verfasste er auch einen kleinen grammatischen Traktat mit dem Titel Sekhel Tov (nicht zu verwechseln mit dem wohl aus Italien stammenden Midrasch Sekhel Tov des Menachem ben Schelomo; 1139). Wie immer: auch von Remaqs Werken ist wohl einiges verloren gegangen. R. Mosche Qimchi war der erste und wichtigste Lehrer seines berühmten Bruders David.

d. R. David Qimchi (Radaq; 1160–1235)

BiographieAuch Radaqs Wirken ist mit der Stadt Narbonne (in der historischen Provinz Languedoc) verbunden, wo er geboren wurde und auch starb. Radaq war Grammatiker, Exeget und Philosoph. An Berühmtheit hatte er seinen Vater und seinen Bruder bald überholt. Biographisch relevant ist sein religionspolitisches und stets vermittelndes Engagement: So beteiligte er sich an der sog. Maimonidischen Kontroverse zu Gunsten der Schriften des Maimonides (Talmage 1975, 27–39; siehe auch nachfolgend Kap. 6.1.a.)

Der Sefer MikhlolRadaqs wichtigste und bis heute bekannteste grammatische Schrift, die gleichzeitig auch das erste Werk war, mit dem er an die Öffentlichkeit ging, war der sog. Sefer Mikhlol (‚Buch der Gesamtheit‘), verstanden als die Summe des grammatischen Wissens zur hebräischen Sprache. Der Sefer Mikhlol bestand aus zwei Haupt|113|teilen, einer morphologisch-syntaktisch orientierten Grammatik, Cheleq ha-Diqduq (später auch als ‚der‘ Mikhlol bekannt) und einem Wörterbuch, Cheleq ha-Injan, später als Sefer ha-Schoraschim (‚das Buch der [hebräischen] Wurzeln‘) bekannt. Dabei ging es Radaq vor allem darum, die Fülle der grammatischen Traktate seiner Vorgänger wie R. Jehuda Chajjūğ und R. Jona ibn Ğanaḥ auf einen erträglichen Umfang zu bringen und auf das für den Lernenden notwendige Maß zu beschränken. Auf beide arabische Grammatiker wird auch in der Einleitung zum Mikhlol ausführlich eingegangen. Frank Talmage vergleicht den Mikhlol nicht umsonst mit der zweiten großen ‚summa‘ des 12./13. Jahrhunderts, dem Mischne Tora des Maimonides (Talmage 1975, 56). Die Kürze der Grammatik und die möglichst übersichtliche Zusammenstellung in Wort- und Satzlehre für diejenigen, die die hebräische Sprache nicht mehr aktiv anwenden, ist daher wesentlicher Teil des Programms:

Hebräisch als wichtigstes LernzielVon dem Tag nämlich, an dem unsere Väter in Länder in die Verbannung zogen, die nicht die ihren waren, zwischen (fremden) Völker (lebten) und deren Sprache lernten, da vergaßen sie die heilige Sprache so weit, dass sich ihre Kinder und Kindeskinder bis zum heutigen Tag daran gewöhnten, eine (ihnen) fremde Sprache zu sprechen (…). Es ist (nämlich) nicht gut, dass ein Mensch mit Blick auf die Wissenschaft der Grammatik einen öden (Kopf) habe. (Gleichwohl) soll er sich mit der Tora, den Geboten und den Kommentaren beschäftigen (…). Um (dennoch) ausreichend zu lernen und die Wörter korrekt (anzuwenden), (soll er sich) mit der Grammatik möglichst konzise (al derekh qetsara) beschäftigen (Mikhlol 1b).

Tatsächlich wurde Radaq für den Mikhlol in ähnlicher Weise kritisiert wie Maimonides für den halachisch orientierten Mischne Tora: beiden Werken wurde vorgeworfen, sie hätten gleichsam das ‚Kind mit dem Bade ausgeschüttet‘, indem sie wegen der kompakten Struktur ihrer Werke zu wenig oder gar keine Quellen für ihre Behauptung anführten. Allerdings ging es Radaq hierbei in erster Linie um seine Leser: Diese sollten sich nicht um ihrer selbst willen mit der Grammatik beschäftigen; vielmehr sollte grammatisches Grundwissen dazu dienen, die wichtigen hebräischen Quellenschriften – Bibel, Talmud* und Auslegungsliteratur – richtig lesen und nutzen zu können.

Handbuch für KopistenEin weiteres wichtiges Werk Radaqs ist sein Handbuch für Kopisten, das den Titel Et Sofer (‚Feder des Kopisten‘; gedr. Lyck 1864) trägt. Es handelt sich um ein Buch, das diejenigen, die die wichtigste Arbeit tun, nämlich Bibeln und ihre Kommentierungen abzuschreiben, mit dem nötigen Grundwissen für diese Aufgabe auszustatten sucht. Radaq behandelt hier das Problem der verschiedenen Lesarten des Bibeltextes, ketiv* und qere*, die Punktierung sowie die te‘amim, d.h. die Akzentzeichen. Mit diesem masoretischen Werk in sefardischer* Tradition rückt er von der |114|reinen Philologie ein Stück näher an die Bibelkommentare, die sein literarisches Hauptwerk ausmachen sollten.

BibelkommentareNeben der Abfassung seiner grammatischen Arbeiten hat Radaq die Chronikbücher, das Buch der Psalmen, die Vorderen und Hinteren Propheten sowie das Buch Genesis kommentiert. Sein Kommentar zu Mischle (Proverbia) endet mit Kap. 21,14. Daneben verfasste er zwei allegorische Kommentare: einen zum Thema des Schöpfungswerkes (Ma‘ase Bereschit) sowie eine Auslegung zur Thronwagen-Vision des Ezechiel (Ma‘ase Merkava; Ez 1), die ihn deutlich als auf den Spuren des Maimonides wandelnd ausweist.

Polemische WerkeRadaqs antichristlich-polemische Ausführungen finden sich über seine Bibelkommentare verteilt und an Ort und Stelle diskutiert. Dennoch haben Spätere gerade diese Stellen aus seinen Kommentaren zusammengeschrieben und als Disputation (Wikkuach ha-Radaq) ausgegeben (gedruckt erstmals in Milchemet Chova, Konstantinopel 1710). Ein weiterer kleiner Traktat mit dem Titel Teschuvot ha-Radaq la-Notzrim (‚Erwiderungen Radaqs gegen die Christen‘) ist eine Zusammenstellung von Radaqs Psalmenkommentierungen (zum Ganzen ausführlich Talmage 1975, 189–193).

Radaq als LehrerObwohl Radaq in keiner traditionellen Bibelausgabe fehlt, führt er in gewisser Weise ein Schattendasein gegenüber Raschi, R. Avraham ibn Ezra oder Ramban. Dies hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass mit Radaq der klassische ‚Mann der zweiten Reihe‘ erkennbar wird. Radaq hat sich selbst einmal als der bezeichnet, ‚der den Schnitt einsammelt‘ (Sefer Mikhlol, 1a), also die Ernte derer einfährt, die gesät und auch schon gemäht und geerntet haben (daher auch die unzähligen Verweise auf Auslegungen seines Vaters). Er war der geborene Lehrer und weniger ein Mann der Wissenschaft. Talmage nennt ihn einen ‚teacher by profession‘ (Talmage 1975, 14). Ihm kam es auf die richtige Vermittlung und Sammlung sowie auf die sinnvolle Anwendung schon vorhandenen Wissens an (vgl. auch Goldberg/Sokolow 2010, 293–297).

In seinem Kommentar zu Spr 3,13 (Glücklich ist derjenige, der Weisheit gefunden hat, der Mensch, der Verständnis erlangt) schreibt er:

(…) Und danach preist er jenen (Menschen), der zu (so großem) Wissen in angemessenem (Umfang) gelangt ist, dass er es andere lehren kann. Und dies meint auch den Menschen, der Verständnis erlangt, d.h. es (andere) im selben Maße verstehen lässt.

Radaqs didaktische Fähigkeiten führten dazu, dass er, mehr noch als sein Vater und sein Bruder, in den jüdischen Lehrhäusern seit dem 14./15. Jahrhundert durchgehend rezipiert und auch bei den christlichen Hebraisten wie Johannes Reuchlin (1455–1522) oder Sebastian Münster (1488–1552) vielfältig zitiert und verwendet |115|wurde. Allerdings konnten die Vertreter der Wissenschaft des Judentums wenig mit ihm anfangen und haben ihn auch in der Forschung eher vernachlässigt. Er galt als fleißig, aber langweilig und unoriginell (vgl. Talmage 1975, 54). In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war es vor allem Talmage, der sich in einer Vielzahl von Monographien und Aufsätzen mit ihm beschäftigt hat. Erst in jüngster Zeit (Mor. Cohen 2003; Men. Cohen 1999) widmet man sich ihm verstärkt unter sprachwissenschaftlichen und theologischen Aspekten.

e. R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières (Mitte/Ende 12. Jahrhundert)

Biographie und WerkVon R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières (Provence) wissen wir eigentlich kaum mehr, als dass er ein Schüler des R. Josef Qimchi (Riqam) war. Leider sind nur noch seine Kommentare zu den Büchern Jeremia und Ezechiel erhalten (Kasher 2000; Simon 1998; Barol 1907). In diesen beruft er sich ausdrücklich auf R. Jehuda ben David Chajjūğ, R. Jona ibn Ğanaḥ (Abū al-Walîd Merwân ibn Ğanaḥ) und R. Avraham ibn Ezra. Entsprechend lassen seine Bibelauslegungen auch erkennen, dass es ihm vor allem um Grammatik und Stilfragen ging. Dies verbindet ihn auch mit Eli‘ezer aus Beaugency (vgl. oben Kap. 3.2.b.) und Radaq: Auch Radaq untersucht syntaktische Auffälligkeiten (z.B. Inklusion wie in Ex 12,8), verbunden zumeist mit einer Verschiebung der Tempora (z.B. qatal-jiqtol-Schema). Daneben verweist er durchgehend auf rhetorische Sprachfiguren und weitere Stilmittel wie figura etymologica, ‚Übertreibung‘ (guzma), elliptische Wendung, parallelismus membrorum* oder Reduplikation im Nomen.

 

f. Tanchum ben Josef ha-Jeruschalmi (ca. 1220–1291)

Biographie und WerkAuch über den wahrscheinlich aus Jerusalem stammenden Tanchum ben Josef ha-Jeruschalmi (ca. 1220–1291) haben wir nur spärliche biographische Informationen. Er ging wohl von Eretz Israel nach Ägypten, wo er eine umfassende Ausbildung in Sprachen (Arabisch; Griechisch; Hebräisch), Grammatik und Philosophie genoss. Die von ihm verfassten Schriften zeigen ein profundes Wissen um die judäo-arabischen Grammatiker und Bibelausleger, vor allem Jona ibn Ğanaḥ (vgl. oben Kap. 1.2.c.). Sein arabischer Bibelkommentar Kitâb al-Bayân (‚Das Buch der Erklärung‘) enthält bereits eine Einleitung mit allgemeinen Auslegungsprinzipien (al-Kulliyât). Allerdings haben sich nur Kommentare zu den Vorderen (Josua; Richter; Samuel; Könige) und Hinteren Propheten (Jeremia, Eze|116|chiel, Jona; Habakuk) sowie zu den Ketuvim (Klagelieder/Ekha; Psalmen [fragmentarisch]; Qohelet) erhalten (zum Ganzen Fenton 2000, 451–454; von Mutius 1983, I–V). Sein Wörterbuch zur Terminologie von Maimonides’ Mischne Tora (vgl. unten Kap. 6.1.a.) ist unter dem Namen Al-Muršid al-Kafi (ha-madrikh ha-maspiq) überliefert (Bacher 1903).

g. Menachem ben Schelomo ha-Meïri (1249–1316)

Von Menachem ben Schelomo ha-Meïri, der aus dem okzitanischen Perpignan (ca. 70 km südlich von Narbonne) stammte, das zu Meïris Zeit zum Königreich Mallorca gehörte (1276–1344), haben sich nur wenige biographische Details erhalten. Während seine Familie aus Carcassonne und Narbonne stammte, hat er wohl sein ganzes Leben in Perpignan verbracht. Bekannt ist Meïri vor allem durch seine unter dem Titel Bet ha-Bechira veröffentlichten Chidduschim* zum Talmud* (Stemberger 2011, 242–243; Ta-Shma/Derovan 2007). Nach Halbertal ist Meïri einer der brillantesten Köpfe der provencalischen Gelehrten, die die traditionelle Halakha* mit der Philosophie des Maimonides zu verbinden suchten (Halbertal 2000, bes. 22–49).

Schriften zur BibelVon Meïris Bibelkommentaren sind sein Tora-Kommentar sowie seine Kommentare zum Buch Mischle (Proverbia) und zu den Psalmen (1336; Ta-Shma/Derovan 2007) überliefert. Daneben ist von ihm eine Schrift mit dem Titel Qirjat Sefer erhalten, die unmittelbar aus seiner halachischen Tätigkeit als Dezisor (poseq) hervorging, denn in ihr behandelt er alles, was mit den vorgeschriebenen Schreibertätigkeiten der heiligen Schriften zusammenhängt. Im ersten Teil finden sich die Vorschriften zur Herstellung einer Tora-Rolle (sefer tora*), im zweiten eine Vielzahl masoretischer Themen (Dotan 2007, 652) wie ketiv*/qere*-Abweichungen, Plene- und Defektivschreibung* oder offene und geschlossene Abschnitte (petucha/setuma).

4.3. Neue Zugänge
a. Bibelwissenschaft in sefardisch-aschkenasischer Synthese

R. Avraham ibn Ezras Anspruch, die aus Spanien stammende universale Gelehrsamkeit in seine Bibelauslegung einzutragen, lässt einen vollkommen neuen Zugang zum biblischen Schrifttum erkennen: Die rabbinische Bildungswelt wird in den Kanon der übrigen Wissenschaften eingereiht und aus ihm gespeist. Als Grammatiker, Philosoph und Astronom teilt er Wissensgebiete ein, katalogisiert und sortiert. Deutlicher noch als bei seinen Vorgängern aus Nord|117|frankreich bedeutet dies auch eine bewusste Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von den bisherigen Auslegungswegen. Deshalb gehören R. Avraham ibn Ezra und Radaq zu den ersten, die ihrem Kommentar eine ausführliche Einleitung voranstellen, in der sie sich im Gegenüber zur bisherigen Exegese positionieren.

Ibn Ezras Einleitung in den Tora-KommentarVon besonderer Relevanz ist ibn Ezras Einleitung zum ersten, in Lucca verfassten Pentateuch-Kommentar, denn dort legt er selbst die Grundlagen seiner Exegese fest und setzt sich intensiv mit anderen Exegeten und ihren Auslegungsmethoden auseinander. In verschiedene Richtungen werden exegetische Grenzmarkierungen abgesteckt. Ibn Ezra stellt zunächst vier Wege der Auslegung vor, um ihnen dann seinen eigenen fünften Weg, den Weg der ‚Grammatik‘ (diqduq), entgegenzuhalten (eine gute Einführung, Übersetzung und Kommentierung bietet Lancaster 2003).

Gegen die GeonimDer erste Weg betrifft jene, die ihre Darstellungen mit solchen (naturwissenschaftlichen) Diskussionen verweben, die mit dem Text nur mittelbar zusammenhängen. Ibn Ezra formuliert hier einen Vorwurf gegen die spätrabbinischen Geonim* als Exegeten, die zu Ausschweifungen neigen und allerlei Arten von Sekundärwissen wie Medizin oder Astrologie in die Auslegung einflechten. Er scheut dabei nicht einmal davor zurück, R. Sa‘adja und Schemu’el ben Chofni für ihre langatmigen Ausführungen zu kritisieren. Das einzige Verdienst von Schemu’els Kommentar, so ibn Ezra, sei seine Länge! Naturwissenschaftliches, profanes Wissen solle man nicht im Zusammenhang mit der Bibellektüre, sondern aus eigens von Experten auf den jeweiligen Gebieten zusammengestellten Büchern (sifre ansche ha-tevunot ‚Bücher der Männer der Wissenschaft‘) studieren, um die Beweisgänge nachvollziehen zu können, die ohnehin in den Kommentaren der Geonim fehlten.

Gegen die karäischen ExegetenDer zweite Weg betrifft die karäischen* Gelehrten, bei ibn Ezra auch ‚Sadduzäer‘ (tzedoqim) genannt, die glauben, dass sie auf die mündliche Tora* und die Erklärungen der traditionellen Exegese ganz verzichten und die Bibel nach ihrem eigenen Gutdünken auslegen könnten. Vor allem hinsichtlich der Auslegung von Geboten (mitzwot) und Rechtssätzen (chuqqim) glaubten sie nicht an die Worte derer, die die Religion autoritativ interpretierten (divre ma‘atiqe ha-dat), und verirrten sich im Gestrüpp der Grammatik. Ausgehend von Ps 104,19 Er hat den Mond gemacht (zur Festsetzung) der Festzeiten (mo‘adim) diskutiert ibn Ezra die terminologischen Schwierigkeiten von chodesch (‚Neumond‘ oder ‚Monat‘ im Hebräischen) und die damit verbundenen kalendarischen Unwägbarkeiten hinsichtlich der Feiertage (z.B. Jom Kippur*), die sich ausschließlich in Verbindung mit der mündlichen Lehre lösen ließen.

|118|Gegen die esoterische AuslegungDer dritte Weg ist nach ibn Ezra der Weg der Finsternis und der Dunkelheit (Joel 2,2). Es ist der Weg jener, die glauben, dass die Worte der Bibel voller Geheimnisse (sodot) und Rätsel (chidot) und daher durchgehend esoterisch zu interpretieren seien. Einzig darin sei diesen Auslegern Recht zu geben, dass sie jedes (biblische) Wort und jedes Gebot (kol davar u-mitzwa), ob ‚groß‘ oder ‚klein‘, d.h. wichtig oder weniger wichtig, auf die intellektuelle Goldwaage legten. Ibn Ezra setzt dieser Auslegung entgegen, dass man nur dort, wo der Verstand oder jede sinnliche Wahrnehmung in Widerspruch zum einfachen Wortsinn stehe (z.B. bei der ‚Beschneidung des Herzens‘ vgl. Dtn 10,16), einen verborgenen Sinn im Text suchen dürfe. In allen anderen Fällen sei es geboten, nach dem einfachen Wortsinn und der gängigen Bedeutung eines Satzes (kifshuto u-mischpato) auszulegen.

Gegen die Anfänge der provencalischen Kabbala?Der hier genannte exegetische Vorwurf wird gemeinhin so verstanden, als richte sich ibn Ezra gegen die Christen mit ihrer allegorischen und, damit zusammenhängend, ihrer christologischen Interpretation (Lancester 2003, 159–162). Aber gegen diese Lesart sind doch Einsprüche zu erheben: Alle anderen genannten Gruppierungen in ibn Ezras Einleitung betreffen die innerjüdische Auseinandersetzung, dies gilt auch für die Karäer*. Warum also sollte ibn Ezra hier auf einmal eine nichtjüdische (christliche oder muslimische) Gruppe angreifen, zumal wir nichts davon wissen, dass er explizit in christlich-jüdische oder muslimisch-jüdische Diskussionen oder Dispute verwickelt war. Auch die gegen Ende des Abschnittes genannten ‚geschaffenen (Formen)‘ (notzarim), die man möglicherweise als Polemik gegen die notzrim (‚Nazarener‘, Christen) lesen könnte, sind nicht wirklich überzeugend. Hinzu kommt, dass der Kommentar schon sehr bald nach ibn Ezras Ankunft in Italien verfasst wurde, wo er noch nicht viel Kontakt mit christlicher Auslegung gehabt haben konnte. Es scheint mindestens ebenso schlüssig zu sein, dass sich ibn Ezra an dieser Stelle gegen eine beginnende mystisch-esoterische Bibelauslegung richtet, wie er sie durch die ersten Vertreter der provencalischen Kabbala (R. Avraham ben Jitzchaq aus Narbonne, ‚Ravad II‘; 1110–79) oder die Schriften des sog. Ijjun-Kreises kennengelernt haben könnte (Scholem 1962, 175–180; 273–292), und wie wir sie in ausgeprägter Form ab der Mitte des 12. Jahrhunderts auch unter den sog. ‚Frommen Deutschlands‘ (Chaside Aschkenaz*) im Rheinland nachgewiesen finden. Dafür spräche auch, dass ibn Ezra die Abwägung und das genaue Nachsinnen (schiqqul) über jedes kleinste Gebot ins Spiel bringt. Diese Art der Exegese mit dem expliziten Rekurs auf die Geheimnisse (sodot), die der biblische Text ebenso wie die nachbiblische Tradition und Liturgie in sich bergen, finden wir gerade unter den |119|Chaside Aschkenaz (vgl. im Folgenden Kap. 5.3.b.). Es wird zu prüfen sein, inwieweit ibn Ezras Kommentare auch an anderen Stellen eine Auseinandersetzung mit den Vertretern der jüdischen Mystik erkennen lassen.

Gegen die (mittelalterlichen) MidraschwerkeDer vierte Weg, den ibn Ezra zurückweist, kommt dennoch schon fast ‚zum Punkt‘ (qerova el ha-nequdda). Es ist die Auslegung all jener, die ausschließlich auf der Basis des Midrasch* (Derasch*) interpretieren und den Peschat* zumeist unberücksichtigt lassen. Neben uns heute unbekannten Werken nennt ibn Ezra den Kommentar Leqach Tov des R. Tuvja ben Eli‘ezer, der die Kommentierung des Pentateuch und der fünf Megillot* umfasst. Dieser Kommentar, der die Judenverfolgungen im Rheinland 1096 zweimal erwähnt, wurde um 1100 in Kastoria (Griechenland) verfasst. Darüber hinaus wendet sich ibn Ezra in diesem Abschnitt auch gegen bestimmte hermeneutische Auslegungsmethoden wie Notariqon* (Zerlegung eines Wortes in mehrere bzw. Ausgestaltung eines jeden Buchstabens eines Wortes zu einem eigenen Wort) oder Gematria* (Berechnung des Zahlwertes eines Wortes).

Ibn Ezras exegetischer KönigswegDer fünfte Weg ist jener, den ibn Ezra als den für sich einzig akzeptablen beschreibt. Er stellt so etwas wie eine Synthese aus verschiedenen Auslegungswegen dar. Ibn Ezra kündigt dabei an, er wolle sich insbesondere dem Peschat-Verständnis des Textes widmen, in den legislativen Teilen des Pentateuch jedoch den rabbinischen Auslegungstraditionen folgen und dabei (gegen die Karäer) den Nachweis erbringen, dass eine traditionelle Auslegung nicht notwendig im Widerspruch zur Grammatik stehen müsse. Den Hauptteil seiner Auslegungen stellen auch in der Tat sprachliche, etymologische und grammatische Beobachtungen. Daneben setzt er sich auch, je nach biblischem Buch unterschiedlich akzentuiert, mit Stilfragen wie Dubletten, Ellipsen oder Transpositionen auseinander.

Rationale und geoffenbarte GeboteDie talmudischen* Rechtssätze (mischpatim) ähneln dem griechischen Konzept des Naturrechts, und so ist dies auch bereits von den frühen jüdischen Philosophen verstanden worden. R. Sa‘adja unterschied zwischen rational fassbaren Gesetzen und geoffenbarten Gesetzen. Diese Definition ist auch von R. Avraham ibn Ezra aufgenommen worden.

Ibn Ezra zu Ex 20,2Wisse, dass alle Gebote (dem Menschen) auf zwei Wegen (zugänglich sind): Der erste Weg (umfasst jene) Gebote, die von Gott ins Herz eines jeden mit Verstand begabten Menschen eingepflanzt wurden, und es sind derer viele, und es ist unter den zehn Worten [der Dekalog] einzig das Schabbat(gebot), das überhaupt nicht durch rationale Abwägung (erfasst werden kann). Daher wird jeder Einsichtige in jedem (anderen) Volk mit (jeder anderen) Sprache die (verbleibenden Gebote des Zehnworts) anerkennen, denn sie wurden dem allgemeinen Menschenverstand eingepflanzt, und ihnen ist |120|weder etwas hinzuzufügen, noch ist etwas von ihnen wegzunehmen [vgl. Dtn 4,2; 13,1]. Und es sind dies die Gebote, die Abraham gemeinsam mit anderen hinzugefügten Geboten bewahrte. Und Gott gab die Tora ohnehin nur den mit Einsicht begabten Menschen: Wer also keine Einsicht hat, hat auch keine Tora!

 

Der zweite Weg aber repräsentiert jene (mehr) verdunkelten Gebote, bei denen auch nicht deutlich ausgeführt wurde, warum sie geboten wurden. Gott behüte, dass eines dieser Gebote der rationalen Abwägung widerspreche. Wir sind allerdings verpflichtet, alle (Gebote) zu halten, die Gott uns befohlen hat, ob uns nun ihr zugrunde liegendes Geheimnis offenbart ist oder nicht (…).Wenn wir aber nur ein Gebot finden würden, das der rationalen Abwägung widerspräche, so wäre es nicht richtig, dass wir glauben, dass man es in (dieser wörtlichen) Bedeutung (zu verstehen hätte). Vielmehr müssen wir in den Büchern unserer Altvorderen nachforschen, was seine (eigentliche) Bedeutung ist, (oder) ob es nicht im übertragenen Sinne (derekh maschal) gemeint war [Ex 20,2 langer Kommentar].

Wie alle jüdischen philosophischen Denker vor ihm, bemüht sich auch ibn Ezra, die Rationalität der Gebote zu postulieren und allenfalls die Beschränkung menschlicher Erkenntnis dafür verantwortlich zu machen, wenn ein Gebot nicht von sich aus gleich einsichtig ist. Dass der jüdische Mensch alle Gebote halten muss, unabhängig davon, ob er sie versteht oder nicht, ist für ibn Ezra keine Frage. Allerdings schießt seine abschließende Erklärung fast über das Ziel hinaus, denn eine allegorische Deutung, weil der Literalsinn problematisch scheint, ist eigentlich das Letzte, was ein jüdischer Theologe im Kontext der Debatte um das Gesetz formulieren sollte (vgl. auch Stemberger 2000).

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