Jüdische Bibelauslegung

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c. Die spanischen Hebraisten und die philologische Exegese

Juden gab es auf der iberischen Halbinsel – ‚Sefarad‘* (arab. Al-Andalus) – schon in römischer Zeit sowie auch unter den im 6. und 7. Jahrhundert dort herrschenden Westgoten. Über die intellektuellen Kontakte in dieser Zeit zwischen den Juden und den katholischen Herrschern wissen wir wenig (zum Ganzen zuletzt Heil |37|2018). Allerdings gestalteten die unter den westgotischen Königen massiven Bestrebungen zu Zwangsbekehrung und Zwangstaufe kein Klima, in dem die Juden die intellektuelle Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Tradition suchten. Im Wesentlichen ging es wohl um Strategien, die das Überleben einer zahlenmäßig ohnehin kleinen Gruppe sichern sollten.

Die Juden unter den UmayyadenUnter der muslimischen Herrschaft der Umayyaden (755–1031) ab der Mitte des 8. Jahrhunderts änderte sich die Situation zunächst in wirtschaftlicher Hinsicht; relativ schnell nahmen die Juden aber auch die durch die muslimischen Denker gestellten Herausforderungen an. Wie vielleicht niemals mehr in der späteren Geschichte der Juden als Minorität in einem Land, kreuzten sich insbesondere im Spanien des 10. Jahrhunderts die Wege der Wissenschaft und der Politik und nahmen unmittelbar aufeinander Einfluss. Der vor allem den Künsten und der Architektur zugewandte Kalif von Cordoba Abd al-Rahman III. (ca. 890–961) gewährte nämlich nicht nur Religionsfreiheit für die Minderheiten, sondern versammelte Gelehrte aller Glaubensrichtungen um sich.

Wie dies schon für die Schriften R. Sa‘adjas dargestellt wurde, bestand eine enge Relation zwischen Auslegung und Übersetzung. Hatte jedoch R. Sa‘adja die Hebräische Bibel noch ins Arabische übersetzt, so lag der Schwerpunkt in Spanien zunehmend auf der Übersetzung vom Arabischen ins Hebräische und der Übernahme und Adaptation arabischer sprachwissenschaftlicher Termini ins Hebräische. Die arabisch sprechenden Juden hatten dadurch ohnehin eine zweite semitische Sprache, mit der das Hebräische verglichen werden und die als Quelle für die Eruierung schwieriger oder nur einmal vorkommender hebräischer Wörter (Hapaxlegomena*) dienen konnte. Da die meisten auch das Aramäische beherrschten, hatten die Juden der iberischen Halbinsel einen großen semitischen Sprachfundus, auf den sie für die Lexikographie zurückgreifen konnten. Abd al-Rahmans Leibarzt Hasdai ben Jizchaq ben Ezra ibn Schaprut (ca. 915–nach 970), ein jüdischer Gelehrter, dem Abd al-Rahman III. auch diplomatische Missionen anvertraut hatte, beauftragte daher den schon von seinem Vater begünstigten Menachem ben Ja‘aqov ibn Saruq (ca. 920 Tortosa; st. ca. 970), ein möglichst umfangreiches Wörterbuch des biblischen Hebräisch zusammenzustellen. So entstand die sog. Machberet Menachem (ca. 960), ein Werk, das schon deshalb sehr gewichtig ist, weil es lange Zeit die entscheidende Quelle für die hebräische Lexikographie der Juden in Nordfrankreich war.

Menachem ibn Saruq und die MachberetDie Machberet Menachem steht deutlich in der orientalischen und nordafrikanischen jüdischen Gelehrtentradition. Bereits in der Einleitung zur Machberet legt Menachem sein sprachwissenschaftli|38|ches Konzept dar und betont dabei schon fast apologetisch, dass die hebräische Sprache zu biblischen Zeiten viel reicher gewesen sei, ja, es habe sogar Wörter mit fünf Wurzelbuchstaben* (statt der für gewöhnlich drei, in Ausnahmefällen vier) gegeben. Hätten die Juden nicht ins Exil gehen müssen, so wäre auch der Sprachumfang um ein Vielfaches reicher. Hier findet sich die in der Renaissance-Zeit wieder aufgenommene Theorie, wonach die aetas aurea, also das goldene Zeitalter der Gelehrsamkeit und der Sprache, in der Antike zu suchen gewesen sei, und die spätere rabbinische Epoche eigentlich schon den Anfang vom sprachlichen Ende markiert habe. Und tatsächlich sind auch alle grammatisch-lexikographischen Schriften aus dem 10. und 11. Jahrhundert beinahe ausschließlich auf das Hebräische der biblischen Epoche konzentriert (Bacher/Blau 1974).

LexikographieDie Machberet Menachem besticht zunächst durch die pure Menge der lexikographischen Einträge. Menachem ibn Saruq analysierte und klassifizierte nicht weniger als 12000 biblische Textabschnitte, die er nach ihren hebräischen Wurzeln* in alphabetischer Reihenfolge sortierte. Dabei findet sich eine Vielzahl von Beispielen für die im biblischen Hebräisch auftretende Polysemie (Mehrdeutigkeit) einzelner Wörter. Daneben stellte Menachem auch homonyme Begriffe zusammen, d.h. Wörter, die auf unterschiedliche Wurzeln zurückgehen, aber entweder gleichlautend sind oder dieselbe Orthographie aufweisen. Dass auch Menachems Schüler in dieser Verbindung von Lexikographie und Bibelauslegung die eigentliche Stärke der Machberet Menachem gesehen haben, zeigt sich auch daran, dass das Werk später ebenfalls unter dem Titel Das Buch der Erklärungen (sefer pitronim) firmierte.

Das hebräische Wort-WurzelsystemMenachem beschäftigt sich mit grundsätzlichen Überlegungen zum Wurzelsystem des Hebräischen, geht dabei aber noch nicht über seine Vorgänger hinaus, insofern auch er noch daran festhält, dass es ein- und zweiradikalige Wurzeln im Hebräischen gebe. Daneben finden sich bei ihm auch Überlegungen zur Poesie und biblischen Rhetorik. So schreibt er beispielsweise über den sog. Parallelismus membrorum* (Machberet Menachem fol. 11b): „Die eine Hälfte des Bibelverses belehrt über die andere; im Grunde wäre an der einen Hälfte genug, aber der Gedanke wird in der zweiten wiederholt“. Diese Überlegungen zum Parallelismus membrorum, Pleonasmen* und Ellipsen* haben bis heute ihre Gültigkeit in der Literaturkritik. Insgesamt gilt, dass wir heute kein hebräisches Lehrbuch und keine Grammatik aufschlagen können, deren Kenntnis der hebräischen Sprache nicht auch Menachem ibn Saruq zu verdanken wäre.

Dunasch ibn LabratUngeachtet aller Mühen, die Menachem auf seine sprachlichen Untersuchungen verwandte, wurde sein Buch von seinem |39|Gegenspieler Dunasch ibn Labrat (Mitte 10. Jahrhundert; Nordafrika; Bagdad; Spanien) scharf kritisiert, der in einer lexikographisch-grammatischen Streitschrift Erwiderungen (teschuvot) minutiös 180 Fehler Menachems diskutierte (vgl. Ibn Saruq, Menahem, Maḥberet, ed. Sáenz-Badillos, 5–45; Dunaš Ben-Labrat, Tešubot de Dunaš ben Labrat, ed. Sáenz-Badillos). Man könnte auch sagen, dass mit dieser ‚Rezension‘ des Machberet Menachem durch Dunasch so etwas wie eine ‚jüdische Wissenschaft‘ begann, insofern sich Untersuchungen an der Bibel, ihrem Wortschatz und damit verbunden auch zu ihrer Auslegung erstmals einem kritischen Forum zu stellen und den Kategorien von ‚richtig‘ und ‚falsch‘ unterzuordnen hatten.

Unter Berufung auf Lev 19,17 (Deinen Stammesgenossen sollst Du zurechtweisen, so wirst du seinetwegen keine Schuld auf dich laden), nimmt sich nun Dunasch das Werk Menachems vor und scheut darin auch nicht davor zurück, große Vorgänger wie R. Sa‘adja gleich mit zu korrigieren. So weist er beispielsweise die Übersetzung R. Sa‘adjas von Ex 2,5bβ (‚und sie schickte ihre Magd‘) zurück, der das Wort amatah als ‚ihr Arm‘ statt ‚ihre Magd‘ aufgefasst und entsprechend mit ‚und sie streckte ihren Arm aus‘ übersetzt hatte. Dunasch argumentiert morphologisch und kontextanalytisch und verweist darauf, dass 1. das Mem in besagtem biblischen Ausdruck nicht dageschiert sei, während das Wort in der Bedeutung ‚Arm‘ mit Dagesch* zu schreiben gewesen wäre, und 2. die Verbindung von schalach (שלח, ‚schicken‘) und ammā nicht belegt sei. Heute wissen wir, dass hebräisch amâ (אָמָה ‚Magd‘) der akkadischen Parallelform amtu und ammâ (אַמָּה ‚Elle‘) dem akkadischen Begriff ammatu entsprechen, aber die mittelalterlichen Grammatiker konnten dies noch nicht wissen. Gleichwohl haben sie auf dem Feld der Grammatik und Hebraistik Pionierarbeit geleistet. Der Streit zwischen Dunasch und Menachem zog sich bis in ihre beiden Schülergenerationen weiter, die jeweils ‚Erwiderungen‘ (teschuvot) verfassten und damit gerade in Westeuropa sehr nachhaltig wirkten, denn die in Spanien lebenden Gelehrten Jehuda ben David Chajjūğ und Jona ibn Ğanaḥ (Abū al-Walîd Merwân ibn Ğanaḥ), die ein umfangreiches und zunächst ausschließlich auf Arabisch verfasstes Œuvre hinterließen, wurden erst von Jehuda ben Scha’ul ibn Tibbon (ca. 1120–ca. 1190) im 12. Jahrhundert ins Hebräische übersetzt und daher auch in Nordfrankreich bis zum Auftreten R. Avraham ibn Ezras nicht wahrgenommen (vgl. im Folgenden Kap. 4.1.b.).

Jehuda ben David ChajjūğJehuda Chajjūğ (10. Jahrhundert) stammte aus Fez, Marokko, wirkte aber in Spanien (Maman 2000). Er war Schüler des Menachem ibn Saruq, und ihm haben wir die bis heute gültige Theo|40|rie des dreiradikaligen hebräischen Wurzelsystems zu verdanken, das die Einteilung in starke und schwache Verben einschließt. Die Werke von Chajjūğ prägen unser Verständnis der hebräischen Morphologie und Etymologie bis heute. Chajjūğ verfasste mehrere Schriften zur Verblehre und Punktation. Sie sind alle auf Arabisch abgefasst. Darin nehmen sie nicht nur die Arbeiten von R. Sa‘adja Gaon wieder auf, sondern integrieren vor allem die arabische sprachwissenschaftliche Terminologie in die hebräische Grammatik und Sprachwissenschaft. Wilhelm Bacher verweist darauf, dass es allerdings auch unter den arabischsprachigen Grammatikern aus religionspolitischen und theologischen Gründen nicht unumstritten gewesen sei, das Arabische zur Erklärung des Hebräischen heranzuziehen. Zumindest rechtfertigt sich Jona ibn Ğanaḥ explizit für hebräisch-aramäisch-arabische Sprachvergleiche.

Jona ibn ĞanaḥDer aus Cordoba stammende Arzt und später vor allem von R. Avraham ibn Ezra viel zitierte Jona ibn Ğanaḥ (Abū al-Walîd Merwân ibn Ğanaḥ; 1. Hälfte 11. Jahrhundert) ist wohl der wichtigste der judäo-arabischen Grammatiker und Sprachwissenschaftler (Maman 2000). In Frankreich (Provence und Nordfrankreich) war er auch unter den Namen R. Marinus (vgl. R. Avraham ibn Ezra zu Hos 2,14.18; 11,4 u.ö.) bzw. R. Meron ben Ganâch (vgl. R. Menachem ben Schim‘on aus Posquières zu Ez 5,7; 7,6; 14,13 u.ö.) bekannt. Anders als Jehuda Chajjūğ verfasste Abū al-Walîd keine gesonderten bibelexegetischen Abhandlungen, sondern integrierte exegetisches Material in seine Grammatik und sein Wörterbuch. Er widmete sich dabei insbesondere der hebräischen Stilistik und Rhetorik sowie der Wurzellehre. Die Traditionsliteratur interessierte ihn vor allem mit Blick auf die daraus zu ziehenden Schlüsse hinsichtlich des Hebräischen, und hier findet sich denn auch immer wieder herbe Kritik an den philologischen Unzulänglichkeiten der Vertreter der rabbinischen Auslegungsmethoden, die er als „Verächter der Sprachwissenschaft“ abkanzelte. Er warf ihnen vor, sie läsen fehlerhaft und trügen den Talmud* falsch vor, weil ihnen das Wissen um die korrekte Aussprache fehle (Bacher 1974, 178). Jona ibn Ğanaḥ verfasste zunächst eine Reihe kleinerer Schriften als Ergänzung und Kommentierung der Werke Jehuda Chajjūğs. Sein Hauptwerk ist die zweiteilige Schrift Kitāb al-Tanqīḥ (Diqduq), die einen grammatischen Teil Kitāb al-Luma (Sefer ha-Riqma) und ein Wörterbuch Kitāb al-Uzūl (Sefer ha-Schoraschim) umfasst. Zu seinen wichtigsten Werken gehören der Sefer ha-Haśśaga (‚Buch des kritischen Einwandes‘ [gegen Chajjūğs Bücher über die schwachen Verben]; arab.), Sefer ha-Keruv we-ha-Yishshur (‚Das Buch der Annäherung und Erleichterung‘ [Kommentar zu ibn Chajjūğ]; arab.); Sefer ha-Schoraschim (‚Buch der Wurzeln‘) sowie Sefer ha-Riqma (‚Buch des Gewebes‘ [Grammatik]; arab.).

 

|41|Natan ben Jechi’el aus RomDer italienische Lexikograph Natan ben Jechi’el aus Rom (Ba‘al ha-Arukh; 1035–ca. 1110) verfasste in seiner Funktion als Rosch Jeschiva der Jeschiva* von Rom ein Lexikon zur Terminologie der Talmudim* und der Midraschliteratur*, den Sefer Arukh. Der Sefer Arukh zeichnet sich dadurch aus, dass Jechi’el nicht nur eine Erklärung für einen talmudischen Begriff bietet, sondern auch eine etymologische Herleitung, und zwar nicht nur für die hebräischen, sondern auch für aramäische, arabische, persische, griechische und lateinische Lehnwörter (David 2007b). Obwohl Jehuda ben David Chajjūğs Entdeckung der Dreiradikalität hebräischer Wurzeln bereits bekannt war, hat sie noch keinen Eingang in den Sefer Arukh gefunden.

1.3. Zusammenfassung

Vom unvokalisierten hebräischen Bibeltext (3. Jahrhundert v.u.Z.) bis zum voll ausgeprägten masoretischen Bibelcodex des Hochmittelalters (9. Jahrhundert u.Z.) sollten mehr als 1000 Jahre vergehen. Dieser Zeitraum markiert nicht nur den Übergang von der Rolle zum Codex, sondern zugleich die Auseinandersetzungen der Juden sowohl mit dem beginnenden Christentum als auch – und vom 9.–11. Jahrhundert maßgeblich – mit dem erstarkenden Islam. Die Herausforderungen durch die muslimischen Gelehrten, Philosophen wie Sprachwissenschaftler des Arabischen, bildeten den Motor für die grammatische und philologische Arbeit der Masoreten am Bibeltext. Dies führte dazu, dass judäo-arabische Gelehrte wie R. Sa‘adja Gaon aus Sura die Bibel nicht nur ins Arabische übersetzten, sondern auch kommentierten. Mit Bibelauslegung und Übersetzung (ins Arabische) hat die innerjüdische Beschäftigung mit der Bibel eine Entwicklung genommen, wie sie sich nachfolgend ähnlich in Frankreich wiederholen sollte: Die Juden lebten in einer nicht-jüdischen Umweltkultur, und damit musste sich auch die Bibel vor einem nicht-jüdischen Forum (hier vor allem: gegen den Koran) beweisen. Hier waren es vor allem karäische* und judäo-arabische Gelehrte, die die Entwicklung einer hebräischen Sprachwissenschaft in großem Umfang und mit bleibendem Einfluss vorangetrieben haben. Dies betraf nicht nur die Beschäftigung mit der hebräischen Grammatik, sondern auch die Lesung und Aussprache des biblischen Textes. Ob die ersten Masoreten* Karäer* waren oder nicht, wird bis heute mit unterschiedlichen Ergebnissen diskutiert, und ist letztendlich auch gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Beschäftigung mit dem Bibeltext, seine textliche Stabilisierung ebenso wie die Eruierung einer innerbiblischen |42|Auslegungspotenz für alle kommenden Generationen der Bibelausleger prägend war, und die karäische Exegese daher aus dem Erbe der biblischen Textauslegung auch nicht wegzudenken ist. Diese Anfänge der philologischen Exegese, Lexikographie und hebräischen Sprachwissenschaft setzten sich in der hebräischsprachigen maghrebinischen und spanischen Gelehrtentradition fort, auf die dann später das westeuropäische Judentum in Frankreich zurückgreifen und sie für die Auslegung ad litteram (Peschat*) fruchtbar machen konnte.

[Zum Inhalt]

|43|2. Kapitel: Die Entstehung einer europäisch-jüdischen Bibel- und Bildungskultur

Battenberg, Friedrich, Das Europäische Zeitalter der Juden: Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1650. Darmstadt 2000 (2., um ein Nachwort des Autors erw. Aufl.).

Berndt, Rainer, The School of St. Victor in Paris. In: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2010, S. 467–495.

Chazan, Robert Leon, European Jewry and the First Crusade. Berkeley u.a. 1987.

Chazelle, Celia Martin/van Name Edwards, Burton (Hgg.), The Study of the Bible in the Carolingian Era (Medieval Church Studies, Bd. 3). Turnhout 2003.

Gelles, Benjamin J., Peshat and Derash in the Exegesis of Rashi (Études sur le judaïsme médiéval, Bd. 9). Leiden 1981.

Gibson, Margaret T., The Place of the Glossa Ordinaria in Medieval Exegesis. In: Mark D. Jordan/Kent Emery (Hgg.), Ad litteram. Authoritative Texts and Their Medieval Readers (Notre Dame Conferences in Medieval Studies, Bd. 3). Notre Dame, IN/London 1992, S. 5–27.

Grossman, Avraham, School of Literal Jewish Exegesis in Northern France. In: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2000, S. 321–371.

–, Rashi. Oxford/Portland, OR 2012.

Kamin, Sarah (Hg.), Jews and Christians Interpret the Bible (hebr./engl.). Jerusalem 1991.

Kanarfogel, Ephraim, The Intellectual History and Rabbinic Culture of Medieval Ashkenaz. Detroit 2013.

Liss, Hanna/Krochmalnik, Daniel/Reichman, Ronen (Hgg.), Raschi und sein Erbe. Internationale Tagung der Hochschule für Jüdische Studien mit der Stadt Worms (Schriften der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, Bd. 10). Heidelberg 2007.

Petzold, Kay Joe, Masora und Exegese. Untersuchungen zur Masora und Bibeltextüberlieferung im Kommentar des R. Schlomo ben Yitzchaq (Raschi) (Materiale Textkulturen, Bd. 24). Berlin u.a. 2018.

Sæbø, Magne (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2000.

Smalley, Beryl, The Study of the Bible in the Middle Ages. Oxford 1984 (3., erw. Aufl.).

Taitz, Emily, The Jews of Medieval France: The Community of Champagne (Contributions to the Study of World History, Bd. 45). Westport, CT 1994.

|44|2.1. Voraussetzungen und Hintergründe
a. Lateinische Bibelauslegung im christlichen Westeuropa

Das Bildungsprogramm der KarolingerTrotz der Vorherrschaft der kirchlichen Bildung auf der Basis der Bibel (das meint hier vor allem die Vorderen Propheten und die Psalmen sowie die kirchliche Rechtstradition) gestalteten schon die Karolinger ein umfassendes Bildungsprogramm, das die paganen klassischen Autoren ebenso umfasste wie die sog. septem artes liberales oder septem liberales disciplinae (Trivium und Quadrivium) sowie auch naturwissenschaftliche Werke, z.B. De Natura Rerum des Isidor von Sevilla (ca. 560–636). Die Theologen um Karl den Großen rekurrierten also weniger auf ihre eigenen Traditionen als direkt auf den biblischen Text. Dabei zeigt sich, dass der biblische Text als Auslegungsgegenstand auf spezifische Themen hin befragt wurde, etwas, das wir auch schon in der philosophischen Exegese R. Sa‘adjas kennengelernt haben. Ein vorgängiges Konzept – gesellschaftlich, politisch oder religiös – wird an den biblischen Text gehalten und mit ihm abgeglichen. Dabei, und dies ist ein wichtiger formaler Aspekt, tragen einzelne Persönlichkeiten ihr Verständnis und ihre Auslegungsmethode an den Text heran. Für die christliche Auslegungsliteratur ist dies nichts grundsätzlich Neues. Hier haben wir schon seit altkirchlicher Zeit ein individualisiertes Konzept von Textauslegung und Textverständnis, mit dem sich nun auch das beginnende westeuropäische Judentum konfrontiert sah.

Die Juden und die hebraica veritasEntgegen aller Gründungslegenden der Qalonymos-Familie* hat sich heute mehr und mehr die Sicht durchgesetzt, dass jüdische Gemeinden aus der Karolingerzeit zwar für Lyon, Rouen und Reims nachzuweisen sind, nicht aber eine jüdische Besiedlung in den Rheingemeinden. Die dortigen jüdischen Gemeinden, zunächst in Mainz, dann auch in den anderen Städten an Rhein und Mosel, entstanden wohl nicht vor dem 10./11. Jahrhundert. Der bislang älteste bekannte Grabstein auf dem Wormser Friedhof stammt aus dem Jahr 1058/59 (epidat – epigraphische Datenbank, Inv.-Nr.: 9008, goo.gl/fHfi23; Zugriff 10/2019). Dem steht nun allerdings entgegen, dass bereits Hrabanus Maurus (st. 856) in seinen Bußbüchern Juden erwähnt und die Juden für die Entwicklung der karolingischen Theologie eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben, und dies, obwohl sich außer Schutzbriefen aus der Kanzlei Ludwigs des Frommen kaum Belege für ihre soziale Präsenz erhalten haben.

Wie schon für die Frühe Kirche hatte das Judentum für die Theologen in der Karolingerzeit zunächst einmal eine hermeneutische Funktion: Es bildete die typologische Folie des alten Israel, und ihre Bibel, das Alte Testament, bildete präfigurativ das neue, das christliche Israel ab. Der alte Bund war durch den neuen abgelöst |45|worden (translatio testamenti), das Gesetz durch das Evangelium. Insgesamt galten die Juden als Gottesfeinde und avancierten zum Prototypen des (theologischen) Feindes für die christliche Lebenswelt. Auf der anderen Seite waren die Juden die Halter der hebraica veritas, der ‚hebräischen Wahrheit‘. Dieser auf Hieronymus (347–420) zurückgehende Begriff beinhaltet die Idee, dass die Wahrheit im hebräischen Text (des Alten Testaments) liege und nicht in der griechischen Übersetzung der Septuaginta*, weil der Text des Alten Testaments als göttliche Offenbarung an die Juden in hebräischer Sprache ergangen war.

Theodulf von OrléansDie Relevanz des hebräischen Textes wurde bereits von den Theologen am Hofe Karls des Großen erkannt. Theodulf von Orléans (ca. 760–821), ein westgotischer Gelehrter, der seit ca. 792 als theologischer Berater Karls fungierte und hierbei auch eine wichtige Rolle in der theologischen Abwehr des Adoptianismus* spielte, unternahm um 800 eine eigene Revision des lateinischen Bibeltextes der Vulgata* des Hieronymus. Dieses Werk ist in sechs Codices erhalten. Hier finden sich immer wieder lateinische Randnotizen, die den hebräischen Text gegen die Septuaginta textkritisch würdigen. Ob Theodulf dabei mit einem gelehrten Konvertiten oder einem Juden (hebraeus) in Kontakt stand, ist bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung. In jedem Fall bedeutete die kritische Konfrontation mit der hebräischen Texttradition und darin implizit auch mit der jüdischen Auslegungstradition einen für die karolingische Exegese wichtigen Impuls.

Die Schule von AuxerreAuch die Theologen aus der Abtei Saint-Germain d’Auxerre (Burgund) Haimo (st. ca. 855) und Remigius (ca. 841–908) waren offenbar mit der hebräischen Tradition vertraut und haben hebräische Überlieferungen in ihren Kommentaren verarbeitet (Chazelle/van Name Edwards 2003). So kannte man dort das Akronym TaNa“Kh (für Tora, Nevi’im und Ketuvim). Aus der Schule von Auxerre stammt zudem ein Genesis-Kommentar (der eventuell dem Remigius zuzuschreiben ist; van Name Edwards 1991), der sich explizit auf hebräisch-aramäische Texttraditionen beruft (‚dicunt hebraei‘). Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass es sich hierbei um Textmaterial handelt, das wir aus dem Midrasch Rabba und dem Targum* Jonatan kennen, und das nicht einfach auf Hieronymus zurückgeht.

 

Die Schule von St. VictorVon besonderer Bedeutung für die lateinische Bibelexegese sollte sich die Schule der Abtei von St. Victor am linken Seineufer erweisen. Gegründet 1108 von Wilhelm von Champeaux (ca. 1070–1121), galt sie schon bald als bedeutendste Abtei von Regularkanonikern (Chorherren), die nach der Augustinerregel lebten und sich der gregorianischen Reform verpflichtet hatten. Die für die |46|westliche Theologie und Exegese entscheidenden Köpfe wie Hugo von St. Victor (ca. 1096–1141) sowie seine Schüler Richard (st. 1173) und Andreas (st. 1175) von St. Victor zeigten besonderes Interesse an der Bibelauslegung und der Bestimmung der Relation von ratio und scriptura sacra (Berndt 2009; Berndt u.a. 2002). Mehr als Hugo verschrieb sich Andreas von St. Victor der Bibelauslegung nach dem Literalsinn (Berndt 1991). In seinem hebraistischen Anspruch wandte er sich auch der jüdischen Bibelauslegung zu und suchte daher den Kontakt zu seinen jüdischen Zeitgenossen. Die Bedeutung der Bibel und der Schriftauslegung zeigt sich zudem an der umfangreichen Bibliothek von St. Victor, die nicht nur, aber vor allem für ihre Bibelausgaben berühmt war (Tischler 2014).

Bibelkommentare als GlossenkommentareFormal waren die Bibelkommentare des 11. und 12. Jahrhunderts als Glossenkommentare gestaltet. Diese neue Form der Zusammenstellung wichtiger Kommentare und Interpretationen seit der Kirchenväterzeit verbindet sich heute vor allem mit Namen wie Anselm (ca. 1050–1117) und Radulf von Laon (st. 1131), aus deren Kreis auch Wilhelm von Champeaux stammte. Die Glossensammlungen aus der Schule von Laon wurden durch die sog. Media Glossatura des Gilbert von Poitiers (ca. 1080–1154) und die Magna Glossatura des Petrus Lombardus (ca. 1100–1160) ergänzt. Die berühmte Glossa Ordinaria (in ihren vielfältigen Rezensionen), die zwischen ca. 1130–1160 von den Gelehrten aus Laon, Auxerre und Paris arrangiert wurde, verweist einmal mehr auf die Relevanz der Bibel und ihrer Auslegung im Kontext der neuen Unterrichtsformen und -inhalte der Kathedralschulen. Nach Gibson (Gibson 1992) stammte die Glossa Ordinaria unmittelbar aus dem Lehr- und Lernbetrieb von St. Victor.

Christlich-jüdische KulturkontakteWie genau sich die intellektuellen Kontakte zwischen den Juden und den christlichen Theologen vollzogen haben, zu welchen hebräischen Texttraditionen die lateinischen Exegeten Zugang hatten und wer dies vermittelte, wissen wir noch nicht. Auch die Frage, auf welche Weise und durch welche Gelehrte die intensive Beschäftigung mit der Hebräischen Bibel auf der lateinischen Seite ihr Echo und damit auch Eingang in die jüdisch-exegetische Arbeit seit dem 10. und 11. Jahrhundert gefunden hat, muss einstweilen unbeantwortet bleiben. Soviel lässt sich aber wohl sagen: Die geographische Nähe der Wohnorte der mittelalterlichen Bibelausleger und Tosafisten* zu Auxerre, Sens, Troyes und Reims ist kein Zufall. Es zeigen sich erstaunliche Parallelen in den Anfängen der mittelalterlichen Bibelexegese auf jüdischer und christlicher Seite, und sie haben ihre regionalen Schnittstellen in einer überschaubaren Region zwischen Loire, Seine und Rhone im heutigen Frankreich. Die christliche und die jüdische Bibelexegese des Mittelalters formierten sich darin in |47|einem sprachlich und kulturell determinierten gemeinsamen Raum, aber dennoch in zeitlicher Distanz. Eine revidierte kritische Analyse dieser exegetischen Traditionen auf beiden Seiten bleibt Aufgabe weiterer Forschungen.