Jüdische Bibelauslegung

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2.2. Persönlichkeiten
a. R. Schelomo Jitzchaqi (Raschi; ca. 1040–1105)

BiographieDie erste Generation der jüdischen Gelehrten in Nordfrankreich finden wir in der Champagne, vor allem in der Messestadt Troyes. Hier ist als erster und wichtigster Kommentator R. Schelomo Jitzchaqi (späteres Akronym: Raschi) zu nennen. Biographische Informationen über Raschi haben wir wenig (vgl. Petzold 2018; Grossman 2006; 2001; 2000). Soweit wir wissen, wurde er in Troyes geboren (Champagne-Ardenne, südöstlich von Paris, südwestlich von Metz). Juden sind in Troyes schon seit rabbinischen Zeiten bekannt, aber erst seit der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts finden wir dort eine organisierte Gemeinde, die von ihren Mitgliedern Steuern einzog, und wir hören auch von jüdischem Grundbesitz (Taitz 1994). Zu Raschis Zeiten hatte diese Gemeinde sicher nicht mehr als ca. 100 Mitglieder (nicht: Familien). Raschis Mutter war die Schwester eines R. Schim‘on ‚ha-Zaqen‘, wohl nicht identisch mit R. Schim‘on bar R. Jitzchaq, einem Pijjut*-Autor. Seinen Vater erwähnt Raschi einmal als seinen Lehrer (abba mori) in seinem Kommentar zu bAZ 75a. Bedingt durch sein familiäres Umfeld (Weinbau; Landwirtschaft) lernte er dort alles Mögliche zu Währung, Geldhandel und Warenaustausch, aber auch über unterschiedliche handwerkliche Tätigkeiten – Gravierungs- und Prägetechniken, Stoff- und Wollverarbeitung etc. – ein Wissen, das ihm später bei seiner Kommentierung von Talmud* und Bibel immer wieder nützlich sein würde. Nach seiner religiösen Grundausbildung in Troyes zog es ihn zu den aufstrebenden Zentren im Aschkenaz*, zunächst nach Mainz, dann für weitere drei bis fünf Jahre nach Worms. Seine Lehrer in Mainz waren der bereits erwähnte R. Ja‘aqov ben Jaqar (st. 1064), und R. Jitzchaq ben Jehuda (11. Jahrhundert) sowie R. Jitzchaq ben R. El‘azar ha-Levi (st. nach 1070) in Worms. Um 1070 kehrte Raschi nach Troyes zurück; den Kontakt zu den Gemeinden in Mainz und Worms hat er stets zu halten versucht. Raschi starb 10 Jahre nach dem Beginn des 1. Kreuzzugs (1105). Sein Grab ist unbekannt.

Talmudstudium in MainzBei R. Ja‘aqov lernte Raschi vor allem Genauigkeit und Traditionstreue im Umgang mit den talmudischen und biblischen Tex|58|ten sowie neue Formen der Verschriftung traditioneller Lehr- und Lerninhalte. Durch R. Jitzchaq, der stärker in Gemeindepolitik und öffentliche Angelegenheiten involviert war, wurde Raschi mit einer weitaus praxisorientierteren und pragmatischen Auslegung vertraut gemacht, die ihm später in Troyes sehr zugute kommen sollte. Beim Talmudstudium machte man sich stichwortartige Notizen zu den Lernabschnitten, die auch mit Lehrern und Schülern anderer Jeschivot ausgetauscht wurden. Diese Notizen wurden gesammelt und fanden Verbreitung entweder als ‚Kommentare der Weisen von Mainz‘, ‚Kommentare der Frommen aus Mainz‘ oder einfach ‚Mainzer Kommentare‘, wie diese Anmerkungen beispielsweise bei Natan ben Jechi’el aus Rom (dem sog. Ba‘al ha-Arukh), einem italienischen Lexikographen (1035–ca. 1110), genannt werden. Aus den Mainzer Kommentaren wird namentlich oder anonym zitiert, ähnlich der rabbinischen Art der Tradierung. Die Notizen aus Mainz und Worms wurden so zur Grundlage für Raschis eigene Kommentare und zum Ausgangspunkt eigener halachischer Entscheidungsfindung.

Lehrhaus in TroyesIn Troyes und Umgebung wird Raschis Kompetenz in halachischen Fragen schnell erkannt, wie an der Vielzahl schriftlicher Anfragen zu sehen ist. Seine halachischen Entscheidungen sind ausgesprochen praxisorientiert (Grossman 2012, 12–51). Schon bald nach seiner Ankunft begründet er ein Lehrhaus, das wir uns jedoch nicht als groß angelegte ‚Akademie‘ vorzustellen haben, sondern als eine mehr oder weniger formlose Zusammenkunft von Schülern im Hause eines Lehrers. Das gemeinsame Lernen fand zumeist im privaten Raum statt, der dann punktuell zum Bet Midrasch* avancierte. Dort waren die bekanntesten seiner Schüler Simcha ben Schemu’el aus Vitry und R. Schema‘ja (Epstein 1897). Schon sehr bald wurde Raschi der Titel parschan data ‚Erklärer des Gesetzes‘ beigelegt, ein Titel, der möglicherweise schon auf R. Avraham ibn Ezra zurückgeht und der Raschi nicht nur als Bibelerklärer, sondern auch und vor allem als Talmudausleger charakterisiert.


Abb. 7: Raschi, Perusch al ha-Tora. Venedig 1522.

Raschi als KommentatorBei der Aufzeichnung seiner Kommentare begann Raschi mit dem Talmud, noch vor der Bibel, obwohl sich diese beiden Kommentarbereiche wahrscheinlich zeitlich überlappten. Es ist anzunehmen, dass er jedes biblische Buch kommentierte, allerdings stammen die heute unter seinem Namen gedruckten Kommentare zu Esra/Nehemia, Chronik und Hiob 40,25–42,17 nicht aus seiner Feder. Darüber hinaus hat Raschi auch Kommentare zu den pijjutim* verfasst. Einen ‚Urtext‘ von Raschis Kommentar gibt es nicht (siehe auch oben Kap. 2.1.d.), nicht einmal für den Pentateuch-Kommentar. Schon zu seinen Lebzeiten haben seine Schüler Sammlungen angefertigt, sog. quntresim, die vielfach kursierten |60|und laufend überarbeitet, ergänzt und modifiziert wurden. Nach Penkower hat Raschi selbst seine Kommentare revidiert und ergänzt (Penkower 2007b).

Raschis SchülerDie meisten Schüler Raschis waren entweder jüngere Männer aus gut situierten Elternhäusern oder Geschäftsleute, die sich vor allem zu den Messezeiten (zweimal jährlich) in Troyes aufhielten. Als Handels- und Umschlagplatz zeichnete sich Troyes schon frühzeitig durch Modernität und Weltoffenheit aus. Die Schüler, die von außerhalb hinzustießen, brachten, bedingt durch ihre unterschiedlichen Berufe und Gewerbe, ein hohes Wissen über allgemeine Bereiche des Lebens wie Wirtschaft, Naturwissenschaft, Medizin, Geographie, Politik und Geschichte ein.

b. R. Schema‘ja (ca. 1060–1130)

R. Schema‘ja ist biographisch kaum zu greifen, er gilt jedoch als einer der treuesten Gewährsleute Raschis und ist vor allem für die Verbreitung seiner Lehre von großer Bedeutung (zum Ganzen Grossman 1996, 347–352). Raschi erwähnt ihn namentlich in seinen Kommentaren zu Gen 35,16 und Ez 42,11. Unsicher ist, inwieweit er sogar mit ihm verwandt oder verschwägert war. Nach Grossman war er wohl so etwas wie Raschis ‚Assistent‘ (Grossman 1996): Er redigierte seine Kommentare, ergänzte sie mit eigenen Glossen (allein MS Leipzig B. H. fol. 1 enthält mehr als 250 von Schema‘jas Glossierungen; vgl. bereits Berliner 1903; Grossman 1991; Emanuel 2006, 317) und übte wohl auch in halachischen Fragen einen nicht unerheblichen Einfluss auf Raschi aus (Epstein 1897), jedenfalls haben sich auch religionsgesetzliche Responsen erhalten. Wie Raschi hat auch R. Schema‘ja Kommentierungen zu den pijjutim* hinterlassen.

c. R. Josef ben Schim‘on (Qara; ca. 1050–1125)

BiographieR. Josef ben Schim‘on Qara stammte wohl ursprünglich aus der Provence und kam über Worms nach Troyes (Lederer-Brüchner 2017, 46). Wie schon bei Raschi, ist auch über seinen Vater, Schim‘on bar Chelbo, nicht viel mehr bekannt, als dass er einen Bruder hatte. Dieser Bruder war wohl Menachem bar Chelbo, der in Qaras Kommentaren als ‚mein Onkel‘ firmiert. Qaras Lebensdaten sind allerdings umstritten (vgl. Gruber, 2004, 64, mit den Lebensdaten 1060–1130 gegen Grossman 1996, 255–60, mit 1050/55–1120/30). Neuere Forschungen lassen ihn durch Europa reisen, um sich in diversen Lehrhäusern umzusehen. Nach Grossman studierte er wohl auch in Worms unter R. Jitzchaq ben |61|R. El‘azar ha-Levi und R. Meïr bar Jitzchaq. Seinen Beinamen ‚Qara‘ (hebr. קרא ‚lesen‘), den er wahrscheinlich schon durch Raschi und/oder seine Schule beigelegt bekam, trug er wohl aufgrund seiner Tätigkeit als Bibel-Lehrer und -Vorleser. Als solcher wirkte er jedenfalls an Raschis Lehrhaus in Troyes.

Im Lehrhaus von RaschiRaschi und Qara haben offenbar eng zusammengearbeitet. Nach Grossman (Grossman 1996, 255) war Qara sein Schüler-Kollege (talmid chaver). Raschi beruft sich auch bei manchen Auslegungen auf ihn, manchmal explizit (z.B. Raschi zu Jes 10,24), manchmal mit Einleitungen zu seinen Auslegungen wie jesch poterim/n ‚Manche legen (so) aus …‘ (Raschi zu 1Kön 16,34; 2Kön 14,26 u.ö.) oder mit schama‘ti ‚Ich habe (folgende Auslegung) gehört …‘ (Raschi zu 1Kön 4,3; 7,50 u.ö.). Neuere Forschungen an den zumeist bislang nicht kritisch edierten Kommentaren lassen vermuten, dass sich Raschi und R. Josef ben Schim‘on Qara ihre Tätigkeit am Lehrhaus wohl dergestalt aufteilten, dass Raschi die eher rabbinisch gebildete Hörerschaft unterrichtete, während R. Josef Qara mit den einfachen Hörern, möglicherweise auch den in Troyes zu den Messezeiten anreisenden Kaufleuten und Händlern arbeitete. Ob Qara Troyes noch zu Lebzeiten Raschis wieder verließ, ist ungewiss. Er war aber wohl auch gut bekannt mit Raschis Enkel Raschbam (Grossman 1996, 260; zu Raschbam vgl. im Folgenden Kap. 3.2.a.).

Qaras BibelkommentareWelchen Umfang Qaras literarisches Œuvre tatsächlich hatte, ist aufgrund der Quellenlage nicht einfach auszumachen. Qara schrieb nicht wenige Kommentare zu den pijjutim* (Hollender 2008, 36–40). Jedenfalls beruft sich R. Schema‘ja immer wieder auf ihn (Grossman 1996, 257). Zu den meisten biblischen Büchern sind (Glossen-)Kommentierungen von ihm erhalten. Eine erste Sichtung italienischer Einbandfragmente ergab, dass er wohl auch einen Pentateuch-Kommentar verfasst hat (Grossman 2000, 348). Erhalten haben sich auch Kommentare zu den Vorderen und Hinteren Propheten sowie zu den Schriften (vgl. zuletzt Lederer-Brüchner 2017, 58–60). Die Kommentare von Raschi und R. Josef Bekhor Schor schreiben ihm ebenfalls (glossenartige) Erklärungen (pitronim; pitronot) zu den Propheten und den Schriften zu.

 

2.3. Neue Zugänge
a. Bibelerklärungen ad litteram

Der Midrasch als StrohhalmR. Josef Qara hat sich als erster ganz explizit gegen die Auslegung auf der Basis des Midrasch* und für eine innerbiblische Textauslegung als Grundlage jeder Auslegung ausgesprochen. Der Midrasch |62|war für ihn der Strohhalm, an dem sich der Ertrinkende festhält. So schreibt er im Kommentar zu 1Sam 1,17:

Aber jeder, der den einfachen Wortsinn eines Verses [peschuto schel miqra] nicht erkennt und sich (gleich) der Midrasch-(Erklärung) einer Phrase zuwendet, gleicht demjenigen, der von einem reißenden Strom fortgespült wird, und [den die] Tiefen des Wassers überfluten, und der sich dann an alles klammert, was ihm in die Hand kommt, um (sich) zu retten …

Insbesondere in seinen Auslegungen zu den prophetischen Büchern finden wir daher kurze, glossenartige Erklärungen, die zunächst einmal dazu gedacht waren, den Bibeltext überhaupt verstehen zu können:

R. Josef Qara zu Joel 1,10Verwüstet wurde das Feld, es trauert der Ackerboden (Joel 1,10a): Dies ist eine von den (stilistischen) Doppelungen, die in ihrem (Vers-)anfang unverständlich sind, aber durch ihre (andere Vers-)hälfte erklärt werden. Wenn (Joel) sagt „Verwüstet wurde das Feld“, so weiß ich nicht, wodurch es verwüstet wurde. Wenn er sagt: „Es trauert der Ackerboden“, weiß ich nicht, weswegen er trauert. Doch die Erklärung (dieser Vershälften findet sich) in ihrer (jeweils komplementären anderen Vers-)hälfte: Das, was ich (vorne) gesagt habe, (nämlich) „Verwüstet wurde das Feld“, (wird hinten mit der Phrase) denn das Korn wurde verwüstet (1,10bα) (erklärt), und (für) das, was ich (vorne) gesagt habe, (nämlich) „Es trauert der Ackerboden“ (findet sich hinten die) Erklärung „Weil der Most vertrocknet ist“ (1,10bβ) (…).

Qara hat die Erklärung von Unklarheiten oder Ungereimtheiten im Bibeltext an eine innerbiblische Auslegung gebunden: Bibeltext wird nur mit Bibeltext erklärt, vor allem in den (Vorderen und Hinteren) Propheten. Dabei macht er seine Hörer auf den parallelismus membrorum* aufmerksam, den diese erkennen sollen, um von dort aus das Verständnis des Verses zu erschließen. Hier geht es also noch gar nicht um die Raffinessen von Auslegungen, sondern zunächst einmal darum, den hebräischen Text durchzuarbeiten und Verständnisschwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Dass dies für die französischsprechenden Juden in Troyes nicht immer leicht war, zeigt der Vergleich zwischen der Erklärung von Qaras letztem Lemma* aus Nah 2,4 (‚werden geschwungen‘) und Raschis Erläuterung zu demselben Wort. Raschi kommentiert mit einer anderen Nuance, die offenbar mehr Hebräisch-, aber vor allem mehr biblisch-rabbinische Sprach- und Quellenkenntnisse voraussetzt:

R. Josef Qara zu Nah 2,4Und die Zypressen werden geschwungen [hor‘alu]: Das sind Lanzen aus Zypressenholz: Das Eisen (der Lanzen) war mit (Schutz-)kleidungen (aus Zypressenholz) umhüllt, bis sie in den Kampf zogen.

Raschi zu Nah 2,4Hor‘alu (Nah 2,4) (bedeutet) ‚sie sind eingewickelt‘. Ähnlich (finden wir es in) ‚die Gehänge, die Ketten und die Schals‘ [ha-re‘alot] (Jes 3,19). Und in der Sprache der Mischna haben wir (den Ausdruck) ‚eingehüllte (arabische Jüdinnen)‘ (vgl. mShab VI,6).

|63|Während Qara eine militärtechnische Erklärung bietet, um den Ausdruck zu erklären (Schutzumhüllung aus Zypressenholz), wählt Raschi eine lexikographische Zugangsweise, die er intertextuell erweitert, indem er innerbiblische und rabbinische Aussagen zitiert. Diese stichwortartigen Notizen kann man sich nicht nur gut als marginale Glosse vorstellen; sie verweisen auch darauf, dass in Raschis Unterricht vielfach nur noch auf rabbinische Überlieferung hingewiesen wurde, um sie dem Hörer wieder ins Gedächtnis zu rufen.

b. Bündelung von Wissen – der Umgang mit dem Midrasch

Kollektion und KompilationBerühmt ist Raschis Auslegung zu Gen 3,8, bei der man bisher das Hauptaugenmerk vor allem auf seinen Anspruch der Auslegung nach dem ‚einfachen Wortsinn‘ (Peschat*), d.h. auf syntaktische und lexikographische Erklärungen, Beseitigung inhaltlicher Schwierigkeiten, französische Glossierungen u.ä. gelegt hat (Kamin 1986; Gelles 1981). Aber Raschis Ausführungen sind hier wahrscheinlich viel formaler zu verstehen. Es geht ihm weniger um eine neue Methode der Bibelauslegung, sondern um eine bestimmte Einstellung zu den traditionellen Quellen (Midrasch*) und um die damit verbundene literarische Neuformierung dieses ‚klassischen‘ jüdischen Bildungsgutes:

Raschi zu Gen 3,8(Zu dieser Textstelle) gibt es viele Midraschim und unsere Lehrer haben sie bereits an entsprechender Stelle in Bereschit Rabba oder den anderen Midrasch(-Sammlungen) einsortiert. Ich aber komme (jetzt nur), den einfachen Sinn des Verses [peschuto schel miqra] (darzulegen) und jene Aggada (zu bieten), die das biblische Wort (befriedigend) erklärt – jedes Wort dort, wo es hingehört.

Raschi sah seine Aufgabe in einer Erweiterung des Lehrprogramms, die wie folgt gefasst werden kann: Die von ihm getroffene Auswahl an aggadischem oder halachischem Midrasch-Material wird so präsentiert, dass der Bibeltext nicht weiter von der mündlichen Tradition überwuchert wird und durch die gekürzte Zusammenstellung auch wieder deutlicher zu erkennen ist. Auch bei Raschi geht es also um die Frage nach der Auslegung auf der Basis rabbinischer auctoritas und ihrer Relation zur eigenen ratio.

Raschis Peschat-Auslegung* (er benutzt den Begriff übrigens fast nie in isolierter Form; vgl. aber Raschi zu Hld 7,5) umfasst daher zu mindestens drei Vierteln eine Derasch-Auslegung*. Diese Auswahl trifft der Ausleger, der sich aber noch hinter den breiten rabbinischen Schultern versteckt. Terminologisch zeigt sich die Zurückhaltung Raschis, etwas ‚Neues‘ zu bieten, das nicht auf traditionelle Auslegungen zurückgeht, in dem Ausdruck we-omer ani ‚Ich meine |64|(aber) …‘ (vgl. Raschi zu Ps 114,2 u.ö.). Raschis Auslegung sucht also einen alten und für die Bedürfnisse der Zeit nicht mehr ganz adäquaten jüdischen Auslegungskontext durch einen neuen zu ersetzen. In der Kollektion und Neuzusammenstellung (compilatio) liegt das innovative Moment Raschis, das ihn damit zum Kompilator (im lateinischen Sinne) werden ließ.

Raschi war in der Tat der einzige, der den hier dargelegten Anspruch des Auswählens und Kompilierens meisterhaft und in dieser Form auch so konsequent eingelöst hat, sei es, dass er sich auf bestehende Midraschim beruft, diese verkürzt oder komprimiert präsentiert, sei es, dass er selbst quasi einen Midrasch bietet, in dem bestimmte und für den Midrasch typische Fragen aufgeworfen und in diesem Sinne gelöst werden. Als Beispiel sei Gen 4,8 angeführt: Da sagte Kain zu seinem Bruder Abel – und es war, als sie auf dem Feld waren, da erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder (…). Raschis Kommentar erwächst aus dem Problem, dass wir nicht erfahren, was gesprochen wurde:

Raschi zu Gen 4,8Da sagte Kain zu Abel: Er begann mit ihm Worte des Streits und Zanks, um einen Vorwand gegen ihn zu haben, um ihn (dann) töten zu (können). Es gibt hierzu aggadische Midraschim, aber dies ist die inhaltliche Auflösung [d.h. die wörtliche Bedeutung] des Verses (jischuvo schel miqra).

Gen 4,8a ist ein syntaktisch problematischer und wahrscheinlich nicht ganz vollständiger Halbsatz, denn was gesprochen wurde, wird hier nicht mitgeteilt. Schon die Septuaginta* und in ihrer Folge die Vulgata* ergänzen an dieser Stelle die Aufforderung Kains an Abel, aufs Feld zu gehen. Der Midrasch ad loc. bietet eine bunte Palette von Möglichkeiten an, worum es gegangen sein könnte: die beiden Brüder wollten die Güter der Welt (bewegliche und unbewegliche) unter sich aufteilen und endeten im Streit; sie stritten um den Platz, auf dem der spätere Tempel erbaut werden würde; sie rangen um die Zwillingsschwester Abels … – eine ganze Reihe mehr oder weniger einleuchtender, die Geschichte aber nur unnötig aufblähender Details, die sich ohnehin niemand merken kann. Der Kommentar Raschis fasst all diese Derasch-Überlegungen* formal zusammen und kreiert damit eine eigene Lösung für das Problem, warum der Bibeltext an dieser Stelle keine weiteren Ausführungen macht. Die Lücke in der Aussage wird inhaltlich zusammenfassend und übergreifend ausgefüllt, um den Sachverhalt des Satzes sowie seinen besonderen Ausdruck zu erklären.

|65|c. Erste Anfänge literarischer Narrativität

Eng verwandt mit der formalen Beobachtung der Konzentration von Midrasch*-Zitaten auf das Notwendigste ist die Tatsache, dass die ersten Peschat*-Exegeten (Raschi; R. Josef ben Schim‘on Qara) den biblischen Textfluss ernst nahmen und ihn nicht durch einzelne Detail-Kommentierungen unnötig auseinander zu reißen suchten. Qara formuliert dies im bereits erwähnten Kommentar zu 1Sam 1,17f., wo er betont, dass er an dieser Stelle hier keinen Midrasch bieten wolle, denn der Bibeltext sei hinreichend und benötige keine zusätzlichen Informationen aus dem Midrasch:

R. Josef Qara zu 1Sam 1,17Wisse aber: als die(se) Prophezeiung aufgeschrieben wurde, wurde sie ganz aufgeschrieben mitsamt allen Erklärungen (…) Man muss (daher) auch keinen (Auslegungs-)Beweis von anderen Orten [d.h. aus anderen Quellen] heranziehen, (schon gar nicht) einen Midrasch (…).

Ziel der Auslegung ist es, den Text so konzise darzubieten, dass der Leser sich nicht in den vielen, nicht unmittelbar zum narrativen Ablauf gehörenden Details verliere. Indes ließ sich ein solches Vorgehen nicht überall durchhalten, und so finden wir, dass Raschi und Qara durchaus doch rabbinische Überlieferungen einbringen. Dies wird jedoch formal so gestaltet, dass der durchgehende Textfluss der Bibel zwar ergänzt, nicht aber durch isolierte Einzelinformationen auseinandergerissen wird. Ein solches Vorgehen wurde v.a. dort nötig, wo der Bibeltext inhaltliche Leerstellen oder sprachliche Redundanz aufweist, die geglättet oder erklärt werden müssen und dabei durchaus selbst in eigenständigen Narrativen bzw. fiktionalen Dialogen enden können.

So bietet beispielsweise Gen 29,18 eine Reihe von attributiven Näherbestimmungen der Rachel, die auf den ersten Blick redundant wirken: Da sagte er [Jakob]: Ich will dir [Laban] sieben Jahre dienen um Rachel, deine Tochter, die jüngere. Raschi kommentiert wie folgt:

Raschi zu Gen 29,18Warum all diese Näherbestimmungen [simanim] (hinsichtlich der Rachel)? Weil er [Jakob] von ihm wusste, dass er [Laban] ein Betrüger war, sagte er zu ihm: „Ich will dir für Rachel dienen – vielleicht wirst du aber sagen: (Die Vereinbarung gilt für) eine andere Rachel, (eine) von der Straße“. Darum sagt der Vers: ‚deine Tochter‘: (Jakob sagte) „Vielleicht wirst du aber sagen: ‚Ich werde den Namen von Lea umtauschen und sie Rachel nennen‘“. Darum sagt der Vers: ‚die jüngere‘. – Aber trotz all (dieser Vorsichtsmaßnahmen) half es ihm nicht, denn er betrog ihn doch.

Raschis Auslegung unterscheidet sich inhaltlich nicht vom Midrasch (vgl. BerR 70,17), der schon darauf insistiert, dass der biblische Ausdruck keineswegs „die Leidenschaft des Freiers für die Angebetete und keine andere“ (Jacob 2000, ad loc.) mitteilt, son|66|dern eine verkürzte Nacherzählung der Vorsichtsmaßnahmen des misstrauischen Jakob gegenüber Laban darstellt. Formal hat Raschi aber an einigen Stellen gekürzt und den Text so zusammengestellt, dass der Bibeltext in fließender Chronologie auch durch die Erklärung hindurch lesbar bleibt. Jedoch ist ein Verständnis, wie wir es heute bei der literaturtheoretisch orientierten Bibelexegese finden, wonach diese Aufzählung ein stilistisches Mittel zur inhaltlichen Steigerung darstellt, bei Raschi (noch) nicht auszumachen. Dazu fehlte ihm das methodische Instrumentarium. Erst die Generation seines Enkels Raschbam sollte ein Gefühl für einen profanen literaturwissenschaftlichen Ansatz entwickeln.

Inhaltliche Enthüllung prophetischer AnklagenInsbesondere die poetischen Abschnitte in den klassischen Prophetenbüchern mit ihren Mahn- und Anklageworten erweisen sich häufig als schwer verständlich, weil sie (ihrer Gattung als Unheilsworte entsprechend) oftmals bei vagen Aussagen verbleiben, die auch die moderne Exegese mit inhaltlichen Konkretisierungen füllen muss. In Hos 5,1 findet sich eine prophetische Anklage, die die verschiedenen Personengruppen – politische und kultische Funktionsträger sowie das Volk – angreift, aber keine konkreten Vorwürfe formuliert: Hört dies, (ihr) Priester! Und merkt auf, (ihr vom) Haus Israel! Und Haus des Königs, nimm es dir zu Ohren! Denn über euch ergeht das Urteil, denn eine Falle seid ihr für Mitzpa geworden und ein ausgespanntes Netz auf dem Tabor. Der Kommentar von R. Josef ben Schim‘on Qara (zu Hos 5,1) sucht diese Leerstellen zu füllen, wobei er seinen Kommentartext mit dem Bibeltext kunstvoll verwebt:

 

R. Josef Qara zu Hos 5,1Hört dies, (ihr) Priester! Der Heilige, gepriesen sei er, sagte zu den Priestern: „Warum bringt ihr vor mir nicht tamid-Opfer und (andere) Opfer dar?“ Und sie antworteten ihm: „Israel gibt (sie) uns nicht“. Und merkt auf, (ihr vom) Haus Israel! Zu Israel wiederum sagt er: „Warum bringt ihr nicht eure Opfer herbei, um sie auf dem Altar darzubringen?“ Und sie antworteten ihm: „Das Haus des Königs nimmt es uns weg“. Das bedeutet: Die Könige Israels stellen ihre Wachen (auf) den Wegen auf, damit Israel nicht zum Pilgerfest hinaufziehen kann, um ein Opfer darzubringen. Und Haus des Königs, nimm es dir zu Ohren! „Warum habt ihr Wachen aufgestellt, damit man nicht nach Jerusalem hinaufziehen kann, um ein Opfer darzubringen?“ Denn über euch ergeht das Urteil: Weil ihr [Könige Israels] das Recht der Priester (in Anspruch) nehmt und [von den für die Priester bestimmten Abgaben] esst. Denn eine Falle seid ihr für Mitzpa geworden und ein ausgespanntes Netz auf dem Tabor: Denn man kann nicht nach Jerusalem hinaufziehen, wenn man nicht über Mitzpa oder über den Berg Tabor geht. Dort aber stellten sie ihre Wachen auf, dass diese zum Klappnetz, zum Hinterhalt oder zum ausgespannten Netz werden, um diejenigen, die auf (diesen) Wegen vorbeikommen, abzufangen.

Qaras Kommentar basiert auf jSan 2,6 [20d], wo Hos 5,1 in völlig anderem Zusammenhang (Zusammenstellung verschiedener Dicta |67|zum Recht des Königs) und vom übrigen Kontext ausgesprochen dissoziiert zitiert wird. Auch werden hier anstelle der bei Qara genannten tamid-Opfer (regelmäßige Hochopfer) die vierundzwanzig Abgaben für die Priester erwähnt. Qara hat hier nur noch das Motiv aus dem talmudischen* Text genommen (d.h. das Ausbleiben der Abgaben aufgrund der Beschlagnahmung durch den König), kann aber damit sein exegetisches Hauptziel gut verfolgen. Dies besteht darin, den Text so zu erklären, dass die biblische Textchronologie und gleichzeitig auch die innere Logik des Bibelverses transparent wird. Als übergeordneter Anspruch steht mithin die Explikation des biblischen Ausdrucks, der sich jede rabbinische Überlieferung thematisch unterzuordnen hat. Hier geht es also nicht mehr darum, den Midrasch mit dem Bibeltext zu relationieren, wie dies noch bei Raschi der Fall gewesen war. Im Vordergrund steht jetzt der Bibeltext als eigenständige literarische Entität, die auch einer entsprechenden Würdigung bedarf.