Jüdische Bibelauslegung

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d. Grammatik, Lexikographie und der Umgang mit der Masora

Die grammatische Terminologie RaschisDie erste Generation der Peschat-Exegeten* verfügte noch nicht über eine solide grammatische und lexikographische Bildung, wie sie beispielsweise die judäo-arabischen Gelehrten Spaniens besaßen. Sie schöpften zum einen noch aus rabbinischen Quellen, zum anderen aber aus den Arbeiten der spanischen Hebraisten wie Menachem ibn Saruq und Dunasch ibn Labrat (van Bekkum 1993), deren Werke sie auf Hebräisch lasen. Weil sie kein Arabisch konnten, blieben ihnen die Werke von Jehuda Chajjūğ und Abū al-Walîd Merwân ibn Ganâch verschlossen. Dies betraf vor allem deren Arbeiten zur hebräischen Wurzel*-Lehre und der grundsätzlichen Dreiradikalität der hebräischen Verben. Daher konnte Raschi noch im Gefolge Menachems einkonsonantige Verben ausmachen und sah die verba tertiae infirmae als zweiradikalig an (van Bekkum 1993). Dazu passt auch, dass sich weder bei Raschi noch bei R. Josef ben Schim‘on Qara eine einheitliche grammatikalische Terminologie findet: Raschi kann beispielsweise die Begriffe jesod (‚Fundament‘/‚Grundlage‘), iqqar (‚Prinzip‘/‚Essenz‘/‚Hauptsache‘) und schoresch (‚Wurzel‘*) zur Klassifizierung der Wurzel eines Wortes verwenden.

Raschi zu Gen 49,10Gen 49,10: (…) Bis einst Schilo kommt, und ihm gehört die Versammlung der Völker [jiqqehat amim]: die Zusammenkunft der Völker, und das Jud von jiqqehat gehört essentiell (iqqar) zur Wurzel [jesod] (…) [es folgen weitere innerbiblische und rabbinische Belegstellen].

Raschi zu Ex 9,17Ex 9,17: Noch immer erhebst du dich [misttolel] über mein Volk: (…) Ich habe bereits am Ende von Paraschat Miqqetz erklärt [Raschi zu Gen 44,16]: Jedes Wort, dessen erster Wurzel(-buchstabe) [jesod] ein Samekh |68|ist, gibt, wenn es in den Hitpa‘el gesetzt wird, ein formbildendes Taw [taw shel schimmusch] in die Mitte der Wurzelbuchstaben [otijjot schel iqqar].

Raschi zu Ex 15,23Ex 15,23: Und sie kamen nach Mara [maratah] (…): wie ‚nach Mara‘ [le-Mara], und das He am Ende des Wortes kann anstelle eines am Anfang (befindlichen) Lameds stehen; (hier) steht das Taw anstelle des He, das zur Wurzel des Wortes Mara gehört. Durch die(se) Verbindung – denn es ist mit dem He, das er (am Ende) anstelle des Lamed hinzugefügt hat, verbunden – verwandelt sich das He der Wurzel (schoresch) in ein Taw (…).

Masoretische KommentierungenNoch ist nicht eindeutig geklärt, in welcher Form den nordfranzösischen Auslegern des 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts die masoretischen Notationen vorlagen. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass Raschi sowohl eigenständige masoretische Listen wie auch voll masorierte Bibelausgaben vor sich hatte, aber dies muss erst noch im einzelnen überprüft werden. Die Integration masoretischer Kommentare wie ketiv*/qere* oder die Einbindung der Akzentsetzung in die Exegese zeigt aber, dass Raschi und seine Schule sich darüber im Klaren waren, dass hier eine neue Form der hebraica veritas konstituiert werden konnte, die sich in Teilen unabhängig vom rabbinischen Schrifttum, aber gleichermaßen unabhängig von der lateinischen Bibelrezeption behaupten können sollte.

Die modernen Bibelübersetzungen präsentieren in Hos 8,4 folgenden Ausspruch: Sie setzten Könige ein, doch es ging nicht von mir aus. Sie setzten Oberste ein, ohne dass ich es wusste. Bei Raschi und R. Josef Qara ist die prophetische Kritik eine andere. Beide berufen sich auf die Masora, aber die exegetischen Zielführungen sind jeweils andere:

Raschi zu Hos 8,4השירו Sie setzten Könige ein. Eine andere Interpretation: השירו ist wie הסירו, (d.h.) sie setzten eine Regierung ab und ernannten eine andere. Dies ist im Buch der masoretischen Traditionen [Sefer ha-Masorot] nachgewiesen, das als Masora (eine Liste von Wörtern) zusammengestellt hat, die mit (dem Buchstaben) Sin geschrieben sind, die man (mit dem Buchstaben) Samekh liest. Und die richtige Erklärung [u-fitrono] ist, [dass man es als mit] Samekh [geschrieben lesen sollte].

R. Josef Qara zu Hos 8,4השירו Sie setzten Könige ein: Ich habe in meiner Tora geschrieben: Dann sollst du über dich einen König setzen, den der Ewige, dein Gott, erwählen wird (Dtn 17,15), aber sie setzten eigenmächtig Könige zu Königen (des Nordreiches) Israel ein, die sie (dann) auch (eigenmächtig wieder) vor mir vertrieben haben, ohne dass es durch mich (geschah), dass sie als Könige eingesetzt wurden. השירו Sie setzten (sie) ab, ohne dass ich es wusste. השירו ist eines von den Wörtern, die mit (dem Buchstaben) Sin geschrieben sind; man liest es (aber) als ein Wort (mit dem Buchstaben) Samekh. Deshalb kann ich es nicht als (Verb im Bedeutungskontext) des (nominalen) Ausdruckes Fürst (שר sar) erklären. Die Erklärung ist vielmehr: Sie setzten den einen König ab und stellten einen anderen König an seiner Statt auf: wie (bei) Nadab, dem Sohn von Jerobeam, Ela, dem Sohn von Bascha, und Simri, und (schlussendlich) setzten sie Omri an seiner Statt als König ein (…).

|69|Raschis Belegstelle findet sich im sog. Sefer Okhla we-Okhla (ed. Frensdorff 1864; § 191, 120). Aber Raschis Kommentar verbleibt auf der philologischen Argumentationsebene. Qaras Erklärung ist hier nicht unabhängig vom Kommentar des Raschi entstanden, aber er sucht die masoretische Argumentation durch innerbiblische Kontextbezüge zu verifizieren. In diesem Fall befragt er die Geschichtsbücher, und er bekommt Recht: Jerobeam wird von Bascha ermordet (1Kön 15,25–32), Ela wird während eines Trinkgelages von Simri ermordet, der sich selbst umbringt (1Kön 16,8–14), als Omri eingesetzt wird (1Kön 16,21–28). Die biblische Historiographie bestätigt die masoretische Lesekorrektur.

Mittelalterliche TextausgabenDie handschriftliche Überlieferung der mittelalterlichen Ausleger lässt keinen unmittelbaren Rückschluss darauf zu, welche Textausgaben ihnen vorgelegen haben. So kann, wie dies aus dem folgenden Beispiel ersichtlich wird, die Diskussion um eine Vokalisierung bedeuten, dass ein Ausleger nur ein mit Lesehilfen versehenes und damit lediglich teil-punktiertes Manuskript vor sich hatte, das seine Vokalisierung erst im Anschluss an die exegetische Beschäftigung erhält. Andererseits kann es sich jedoch auch umgekehrt so verhalten haben, dass der Ausleger einen vokalisierten Text vor sich hatte, dessen Vokalisierung jedoch zur Diskussion stand, sodass er die Erklärung einer bestimmten Punktation für nötig erachtete. Dies ist wohl in R. Josef ben Schim‘on Qaras Kommentar zu Hos 10,8 der Fall:

R. Josef Qara zu Hos 10,8Du hast dich versündigt, Israel (חטאת ישראל), das heißt: Hierdurch [d.h. durch den Stier] verführst du Israel in den Höhenheiligtümern von Bethel zur Sünde. חטאת: (Der Buchstabe) Tet ist mit einem rafe versehen [undageschiert], und er ist mit einem qamats (vokalisiert). Die Vokalisation lehrt uns (also) diese Erklärung: Wenn (der Buchstabe) Tet dageschiert wäre, dann wäre es ein Substantiv wie Chet’ [Sünde], aber (der Begriff hier) ist wie: Und siehe, deine Knechte werden geschlagen, und dein Volk versündigt sich (Ex 5,16) (…).

Qara liest die Form חטאת nicht als Nominalform im Status constructus (‚Sünde Israels‘), sondern als Verbalform von *חטא in der hier vorgeschlagenen Auslegungsmöglichkeit als Qal Perf. 2. Pers. sg. mask. (chata’ta). Diese Lesart der Vokalisation entspricht auch der Vokalisation der *חטא als Verbalform im Qal perf. in Hos 10,9 (Qal Perf. 2. Pers. sg. mask.) bzw. derjenigen in dem von Qara angeführten Vergleichsvers Ex 5,16. Die wichtigsten orientalischen Textzeugen (Codex Leningradensis; Codex Aleppo; BHS/BHQ ad loc.) kennen diese Lesart nicht, sondern bieten das Wort als Nominalform mit dageschiertem* Buchstaben Tet und patach als Vokalzeichen. Hieran zeigt sich, dass die Exegeten in Nordfrankreich eine von dem heute in der kritischen Wissenschaft gebräuchlichen Bibeltext (BHS/BHQ) abweichende Rezension vor sich hatten, und dies nicht nur hinsicht|70|lich der Masora, sondern auch hinsichtlich des Konsonantenbestandes und der Vokalisation (Liss/Petzold 2017; Liss 2014c).

e. Die Anfänge der Historiographie

Insbesondere anhand der Auslegungen der Vorderen und Hinteren Propheten lassen sich zwischen Raschi und Qara erste wichtige Weichenstellungen beobachten, denn die Ausleger stehen vielfach vor dem Problem, verschiedene Chronologien und Ereignisse, die sowohl in den Vorderen Propheten (den eigentlichen Geschichtsbüchern) als auch in den Prophetenbüchern (Jes, Jer, Ez, Hos–Mal [Zwölfprophetenbuch]) berichtet werden, miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Auch hier zeigt sich wieder, dass es Raschi vielmehr darum geht, aggadische Historiographie mit biblischer Geschichtsschreibung in Einklang zu bringen. Seine chronologischen Berechnungen stützen sich zumeist auf den sog. Seder Olam ([Rabba], einen erzählenden Midrasch* zur biblischen Chronologie, wahrscheinlich aus spätamoräischer* Zeit; vgl. Raschi zu Gen 6,3; 10,25f.; Lev 9,1 u.ö.). Demgegenüber stützt sich R. Josef Qara vornehmlich auf die innerbiblische Quellenauswertung (Qara zu Jos 10,13; Ri 11,26; 1Sam 1,22; 2,27 u.ö.). In seiner Auslegung zu Hos 5,3 rekonstruiert Qara die kult-politische Situation zur Zeit des Nordreichkönigs Hosea ben Ela (732–724; vgl. 2Kön 17) ebenfalls unter Bezugnahme auf den Seder Olam:

 

R. Josef Qara zu Hos 5,3Fürwahr, nun hast du Hurerei getrieben, Ephraim: Fürwahr, nun wird es (vor) der ganzen Welt offenbar, dass ihr jetzt (wieder) hinaufziehen könntet, ihr aber (weiter) hinter den Kälbern herhurt. Und wisse, dass es (tatsächlich) so war, denn über (König) Hosea, den Sohn Elas, sagt (ein Vers): Und er tat, was in den Augen des Ewigen schlecht war, aber nicht wie die Könige Israels, die vor ihm waren. Gegen ihn zog Salmanasser, der König von Assur, hinauf (2Kön 17,2). Und wir lernten im Seder Olam (SOR 22): Warum musste Israel in den Tagen des (Königs) Hosea, des Sohnes Elas, in die Verbannung gehen? Weil sie bis dahin ihre Verdorbenheit auf die Könige Israels geschoben haben, wonach sie wegen deren Wachen nicht nach Jerusalem hinaufziehen konnten. (Dann) kam (König) Hosea, der Sohn Elas, hob die (Wachen) auf und sagte: „Jeder, der nach Jerusalem hinaufziehen will, möge hinaufziehen“. Aber dennoch zogen sie nicht hinauf.

Hosea ben Ela hatte die Pilgerfahrt nach Jerusalem grundsätzlich ermöglicht, aber die Bewohner des Nordreiches blieben dennoch aus (weil sie weiterhin zu den Heiligtümern in Dan und Bet-El zogen). Hier wird die rabbinische Überlieferung herangezogen, um den geschichtlichen Ablauf bzw. das, was man dafür hielt, im Sinne des littera gesta docet nachzuvollziehen und gleichzeitig das Nordreich, an dem es ohnehin nichts mehr zu entschuldigen gab, gegenüber dem Südreich einmal mehr theologisch zu belasten. Auffällig |71|an den historiographischen Darlegungen der nordfranzösischen Exegeten ist vor allem ihr Bemühen, die ‚verlorenen zehn Stämme‘ in möglichst negativem Licht zu zeichnen, gegen deren dunkle Folie sich das Südreich Juda und die ihm gegebenen Verheißungen besonders positiv abheben. Die moderne Exegese kennzeichnet diese Heilsworte zumeist als spätere judäische Zusätze. Diese exegetische Entlastung Judas kann vielleicht als Versuch gedeutet werden, Juda als Vorläufer des rabbinischen und zeitgenössischen Judentums zu präsentieren, das darin auch möglichen christlichen Anschuldigungen etwas entgegenzusetzen hatte.

2.4. Zusammenfassung

Mit dem Eintritt des Judentums in den christlichen Einflussbereich Westeuropas drückt die westeuropäische Bildungskultur seit den Karolingern, vor allem die christlich-lateinische Exegese der jüdischen Beschäftigung mit den Quellen, Talmud* und Bibel, ihren bleibenden Stempel auf. Die jüdischen Gelehrtenzentren in der Provence, in Frankreich (Troyes; Rouen) und in Deutschland (Speyer, Mainz und Worms: ‚SchUM‘) sind durch den von der christlichen Kirche formulierten Anspruch der veritas hebraica im positiven wie im negativen Sinn herausgefordert. Die lateinischen Glossatoren, die – analog zu ihren jüdischen Glaubensgenossen – vor allem mit der Organisation des traditionellen Erbes zu kämpfen hatten und sich auch immer wieder davon zu emanzipieren suchten, boten mit ihren Glossensammlungen eine Form an, die auch für die Juden passend war: Raschis Auswahl und Zusammenstellung traditioneller Midrasch-Auslegungen zeigen einen ähnlichen Anspruch. Die intensive Rezeption der antiken septem artes liberales (Trivium und Quadrivium) in den christlichen Kathedralschulen ist auch an den Juden nicht spurlos vorbeigegangen und zeigt in der Beschäftigung mit Grammatik und Rhetorik ihre Wirkung auf die Bibelauslegung. Die Lektüre der Bibel, die bis dahin unter den westeuropäischen Juden dem Studium des (v.a. babylonischen) Talmud eher nachgeordnet und allenfalls als Prolegomenon zum eigentlichen jüdischen Curriculum wahrgenommen wurde, erfährt eine neue Bedeutung und Gewichtung. Gleichzeitig antworteten die jüdischen Gelehrten auf den von der Kirche mit dem vierfachen Schriftsinn (litteralis, allegoricus, moralis und anagogicus) formulierten Anspruch der wahren Schriftlektüre mit intensiven Auseinandersetzungen um das Verständnis von Peschat* und Derasch* nach innen sowie philologisch motivierten Spitzen nach außen. Die frühen Kommentare der nordfranzösischen Exegese zeigen darüber hinaus auch erste Ansätze zu einer historiographischen Exegese.

[Zum Inhalt]

|73|3. Kapitel: Die Bibel als Literatur

Banitt, Menahem, Rashi: Interpreter of the Biblical Letter. Tel Aviv 1985.

Berndt, Rainer u.a. (Hgg.), ‚Scientia‘ und ‚disciplina‘: Wissenstheorie und Wissenschaftspraxis im Wandel vom 12. zum 13. Jahrhundert (Erudiri Sapientia, Bd. 3). Berlin 2002.

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Liss, Hanna, „Peshat-Auslegung und Erzähltheorie am Beispiel Raschbams“. In: Hanna Liss/Daniel Krochmalnik (Hgg.), Raschi und sein Erbe. Internationale Tagung der Hochschule für Jüdische Studien mit der Stadt Worms (Schriften der Hochschule für Jüdische Studien, Bd. 10). Heidelberg 2007a, S. 101–124.

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Touitou, Elazar, Exegesis in Perpetual Motion. Studies in the Pentateuchal Commentary of Rabbi Samuel Ben Meir (hebr.). Ramat Gan 2003.

|74|3.1. Voraussetzungen und Hintergründe

Im Nordfrankreich des 12. Jahrhunderts finden wir in der ersten und zweiten Generation nach Raschi ganz unterschiedliche religiöse, theologische und philologische Zugriffe auf die biblisch-rabbinischen Literaturen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Juden der Champagne und der Normandie zunehmend intensiver in die französische Sprache und ihre Literaturen eintauchten.

a. Übersetzungen als Wegbereiter des Peschat

Die Le‘azimWie wir schon bei R. Sa‘adja und später den Juden Spaniens in der arabischsprachigen Umwelt gesehen haben, hängen auch für die Juden Nordfrankreichs, die das Altfranzösische (langues d’oïl) bestens beherrschten, Übersetzung und Bibelauslegung engstens miteinander zusammen. Und bei aller Treue zur traditionellen Auslegungsliteratur beginnt eben gerade an dieser Stelle das eigenständige, von der Tradition unabhängige Denken. Die Überlegung, welches Wort passt, was gemeint sein könnte, und wie ein Text beim Hörer verstanden wird (und verstanden werden soll), kann dem Ausleger kein traditioneller, auf Hebräisch verfasster Kommentar abnehmen. Daher kommt es unter den Juden in Nordfrankreich zu einer ganz ähnlichen Entwicklung wie bei jenen aus den Mittelmeerländern.

Auch bei den nordfranzösischen Juden finden wir so etwas wie einen ‚Tafsīr‘*. Allerdings sind dies nicht einfach fortlaufende und in einen Erzählfluss eingebundene (kommentierende oder paraphrasierende) Übersetzungswerke; auch werden diese Übersetzungen keiner einzelnen Persönlichkeit zugeschrieben, sondern stellen Sammelwerke dar, die Tausende von Le‘azim bieten (sg. La‘az), d.h. eine deutsche, altfranzösische, manchmal sogar slawische (alt-tschechische) Erklärung in hebräischer Graphie. Der Begriff La‘az, der sich schon im Talmud* findet (bYom 70a; bSot 49b; jSot 7,2 [21c]), meinte ursprünglich eine fremde, nichthebräische Sprache, in die hinein der heilige Text erklärt und übersetzt wurde. In Westeuropa wurde La‘az zunächst mit Latein verbunden. Daher ist der biblische Ausdruck La‘az (Ps 114,1) in den mittelalterlichen jüdischen Übersetzungen zunächst mit latinar (Italien), ladinar (Provence), ladinar oder roman Lar (Spanien), und aromancer (Nordfrankreich) wiedergegeben worden. Erst mit Raschi und seinen Tausenden von Glossierungen wurde La‘az zum Inbegriff der erklärenden Glosse in Altfranzösisch (Champagnisch, aber auch [wie im Falle Raschbams] Anglo-Normannisch).

|75|Hebräisch-altfranzösische GlossarienVerfasst wurden die Glossarien von den sog. ‚Bibel-Erklärern‘ (poterim), weshalb die Glossarien auch die Bezeichnung sifre pitronot* (‚Bücher der Erklärungen‘) erhielten. Raschi und R. Josef ben Schim‘on Qara beziehen sich immer wieder auf diese pitronot. Die sifre pitronot bieten textchronologisch, manchmal sogar mit Angabe der jeweiligen Parascha*, eine mehr oder weniger vollständige Vers-für-Vers-Übersetzung bzw. Wort-für-Wort-Erklärung des biblisch-hebräischen Lemmas* ins Altfranzösische. Manche Glossarien bieten einen Superkommentar zur besagten Glosse, manchmal bezieht sich dieser auf eine Kommentierung des Raschi. Die heute noch in mehr oder weniger großem Umfang erhaltenen Glossarien bieten die Glossen teils in alphabetischer Ordnung, teils vers-chronologisch angeordnet. Daneben gibt es eine Reihe handschriftlicher Fragmente, alle zumeist aus dem 13. oder beginnenden 14. Jahrhundert. Nur die wenigsten dieser Glossen-Sammlungen liegen heute ediert vor (die wichtigsten Editionen besorgten Banitt 1995–2001; 1972; Darmesteter 1937; 1929; 1909; Lambert/Brandin 1905; vgl. zum Ganzen das DEAF Grundlagenwörterbuch des Altfranzösischen, online: goo.gl/yi2Wvs [Zugriff 8/2018]). Der Ertrag für die Lexikologie kann dabei nicht hoch genug veranschlagt werden: Allein das Glossaire de Leipzig umfasst 22117 Lemmata. Von Raschi sind mindestens ca. 3500 Glossen in den Talmudkommentierungen und ca. 1300 Glossen in den Bibelkommentaren überliefert, die nicht mit den Übersetzungen in den Glossarien identisch sein müssen. Neben den Bibelvers-chronologisch angeordneten Glossarien gab es auch schon alphabetisch angelegte Bibellexika, Hebräisch-Französisch, oder Synonymenlisten, die beispielsweise die biblischen Tiernamen behandeln (Kiwitt 2012; Fudeman 2010) oder sich mit Materia medica befassen. In jüngster Zeit hat vor allem Gerrit Bos eine Reihe von Arbeiten zur in hebräischer Graphie abgefassten judäo-französischen, aber auch ibero-romanisch-arabischen Traktat- und Glossar-Literatur vorgelegt (Bos 2011; Bos u.a. 2010).

Hebraico-Französische SprachgeschichteRaschi und seine Zeitgenossen haben nicht nur einfach Französisch gesprochen; sie haben es auch geschrieben. Die neuere Forschung geht davon aus, dass sich das gesprochene Altfranzösisch der Juden nicht von dem ihrer Zeitgenossen unterschied. Der einzige Unterschied lag in der hebräischen Graphie; Fudeman (Fudeman 2010) spricht daher von „Hebraico-French“. Die Glossen sind daher auch eine einzigartige Quelle für die sprachgeschichtliche Erforschung des Altfranzösischen. Mehr noch als Raschi ist hier wiederum R. Josef ben Schim‘on Qara zu nennen, der in seinen Kommentaren regelmäßig Fünf-bis-Neun-Wort-Glossen, d.h. ganze Sätze einfügt (Beispiele bei Fudeman 2010), und den Sprach|76|geschichtler auf diese Weise mit einer Reihe von morphologischen, phonologischen und lexikalischen Informationen versorgt, denn die jüdischen Gelehrten, die das Altfranzösische in hebräischer Graphie schrieben, übertrugen die Wörter phonetisch.

 

Französische Glossen in hebräischer GraphieSo finden wir פורצינש (PORZYNS, porceins/porceints ‚[die] Gürtel [Pl.]‘) (Qara zu Jes 3,22, Raschi zu Ex 28,4; Fudeman 2006, 164) oder דויינש (DWYYNŚ doins) als 1. Pers. Sg. Präs. Ind. von doner ‚geben‘ (Raschbam zu Gen 1,29; Kiwitt in Liss 2011a). Bei Raschi zu Gen 1,27 (Und Gott schuf den Menschen in seinem Bild …) wird der hebräische Ausdruck tzelem ‚Bild/Abbild‘ (noch) mit קוין coin ‚(Münz-)Prägung‘ übersetzt, und man kann hieran sehen, ab wann sich im Französischen die Bedeutung von coin ‚Münze‘ zum heutigen ‚Ecke/Winkel‘ verschoben hat: zu Raschis Zeiten eben offenbar noch nicht.

Lateinkenntnisse bei den Juden?Insbesondere im Kontext der Frage nach möglicher anti-christlicher Polemik bei den nordfranzösischen Bibelkommentaren wird immer wieder diskutiert, ob die jüdischen Gelehrten in Frankreich (und Aschkenaz*) zumindest über Lateinkenntnisse verfügt haben und in welchem Umfang dies der Fall gewesen sein mag. Das Lesen und Verstehen von lateinischen Bibelkommentaren ist dabei in jedem Fall vom Entziffern eines Vertrages zu unterscheiden. Mögen also in Wirtschaftskontexten rudimentäre lateinische Lesekenntnisse vorhanden gewesen sein, um Geschäftsbeziehungen zu ermöglichen: ‚Lateinkenntnisse‘ im Sinne theologischer Bildung und lateinischer Literarizität waren es (noch) nicht. Hierbei sollte nicht vergessen werden, dass auch die Frage nach den Lateinkenntnissen unter (christlichen) Nicht-Klerikern im Zeitraum zwischen 1100 und 1300, denen ja auch zumindest eine gewisse Kenntnis der Sprache niemals abgesprochen wurde, heute differenzierter beurteilt wird. Clanchy (Clanchy 2001) unterscheidet zwischen ‚pragmatic‘ und ‚cultivated‘ reader: Ein Nicht-Kleriker (ebenso wie auch ein Teil der jüdischen Bevölkerung) mochte die Fähigkeit besitzen, Obligationen oder Verträge zu lesen. Dies könne jedoch nicht automatisch mit der primären Teilhabe an einer allgemeinen lateinischen Bildung und Bildungskultur gleichgesetzt werden, weil Bücher ohnehin rar waren und derartige Bildungsgüter auch in fest umrissenen gesellschaftlichen Strukturen vermittelt wurden. Die Tatsache, dass nicht einmal im 13. Jahrhundert unter den Rittern die lateinische (Lese-)Kultur wirklich beheimatet war, lässt noch einmal mehr die Frage nach Lateinkenntnissen, nach jüdischen lateinischen litterati, in neuem Licht erscheinen: Mag also durchaus (und weiterhin) die Möglichkeit eingeräumt werden, dass Juden mündliche Kenntnis von der einen oder anderen christlichen Auslegung erhalten haben, selbst lesen konnten sie es jedoch wahrscheinlich nicht.