Das Märchen im Drama

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Zum Forschungsstand

Der letzte und bislang einzige Versuch, eine Übersicht über deutschsprachige Märchendramen für Erwachsene vorzulegen, liegt beinahe 100 Jahre zurück. Margarete Kober hat 1925 in Das deutsche Märchendrama bis dato vorliegende Märchendramen in Deutschland präsentiert.

Zu den Theaterautorinnen und -autoren sowie zu einzelnen Märchendramen findet sich zwar aufschlussreiche Fachliteratur, jedoch hat diese weniger das Interesse, sich dem Genre als solchem anzunähern. So kommt es etwa zu fruchtbaren Auseinandersetzungen mit Ludwig Tiecks Werken, die auch auf seine Märchenbearbeitungen eingehen.1 Neuere Märchenstücke des 21. Jahrhunderts sind hingegen nur in eigenständigen Aufsätzen untersucht oder in der Auseinandersetzung mit einzelnen Autorinnen und Autoren betrachtet worden. Zu nennen sind beispielsweise die Arbeiten von Dieter Borchmeyer und Andrea Hübner zu Robert Walsers Märchenstücken sowie Inge Arteels Forschungsbeitrag zu Elfriede Jelineks Der Tod und das Mädchen I-V. Prinzessinnendramen.2

Das Genre der Märchendramatik wurde bisher nur verstreut und anhand einzelner Stücke vorgestellt. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die erste Arbeit, die die Charakteristika und Zusammenhänge von Märchenadaptationen im Drama umfassend untersucht.3 Anders als in den zuvor veröffentlichten Forschungsbeiträgen möchte ich mit dieser Untersuchung die Erkenntnisse bislang separater Forschungsansätze zur Schließung dieses wissenschaftlichen Desiderats gewinnbringend verbinden und ein innovatives Forschungsfeld eröffnen.

Charakteristika des Märchens

Mithilfe einer Konstellation zentraler Charakteristika wird im Märchen ein Wiedererkennungseffekt hergestellt, der sich aus einem changierenden Zusammenspiel von Motiven, Handlungsstrukturen und Darstellungsmustern ergibt.1 Dieses produziert Ähnlichkeiten durchaus divergent erscheinender Texte, die aufgrund ihrer Märchenhaftigkeit dennoch miteinander verwandt erscheinen. Im Märchen wird die Welt – anders als etwa in der Novelle – durch dessen Form entscheidend bestimmt und gewandelt.2

Zu den typischen Charakteristika des Märchens zählen die Formelhaftigkeit der Sprache, die Selbstverständlichkeit aufgehobener Natur- und Kausalgesetze, ein teilweise suspendierender Umgang mit Raum und Zeit, symbolreiche, archaische Handlungsschauplätze und Requisiten, eine von Farben und Zahlen geprägte Sinngebung und strukturierte Handlung, welche zudem eindimensional und linear erscheint, ein glücklicher Ausgang der Geschichte, sein übernatürliches Personal, die konventionalisierte Konzentrierung auf eine stereotype Heldenfigur sowie dualistisch angelegte, typisierte Figuren.3 Im Märchen wird meist eine klar strukturierte gesellschaftliche Ordnung vorausgesetzt, wobei die Figuren oft eindeutig moralisch kodiert sind und ein Scheitern der Protagonisten außerhalb des narrativen Interesses liegt.

Infolge des prägenden Einflusses der Kinder- und Hausmärchen (1812) auf die Wahrnehmung typisch märchenhafter Erzählungen werden Märchen häufig als Geschichten definiert, welche die Grimms gesammelt und bearbeitet haben.4 So gilt Grimms Sammlung allgemein als Maßstab zur Beurteilung ähnlicher Texte, im Zuge dessen ist sogar von der ‚Gattung Grimm’ die Rede.5 Die Unterscheidung von ‚Volksmärchen’ und ‚Kunstmärchen’, die anhand der Bestimmung einer Autorin oder eines Autors vorgenommen wird, zeigt sich hier als problematisch: Auch die sogenannten ‚Volksmärchen’ sind deutlich auf einzelne Autoren wie die Brüder Grimm oder Charles Perrault zurückzuführen. Daher wurde der Begriff des ‚Buchmärchens’6 etabliert, mit dem schriftlich fixierte, zumeist literarisierte Erzählungen gemeint sind, die den an das ‚Volksmärchen’ gestellten Erwartungen entsprechen.7 Der Fokus dieser Arbeit liegt auf eben diesen Buchmärchen; im Folgenden wird abkürzend von Märchen die Rede sein.8

Um die Zurückhaltung der Dramatikerinnen und Dramatiker gegenüber Märchen präziser nachvollziehen zu können, lohnt sich auch ein Blick auf spezifische Aspekte der historischen Entwicklung von Märchenfunktionen, die das Verständnis der Gattung mitprägen. Wie bereits angedeutet, dominiert seit der Romantik die Auffassung, bei Märchen handle es sich in erster Linie um Literatur für Kinder. Die Betitelung der Kinder- und Hausmärchen der Grimms hat diese Einschätzung als Kinderliteratur gefördert, doch handelte es sich bei Märchen anfänglich um Erzählungen für Erwachsene.9 Zunächst wurden Kinder während der Rezeption zwar geduldet, sie gehörten aber nicht zur intendierten Zuhörerschaft. Achtzig von zweihundert Märchen handeln von dem Zeitraum der Adoleszenz und sind dem Problem des Erwachsenwerdens gewidmet.10

Die Märchendramen des hier verhandelten Korpus zählen als Erwachsenenliteratur und basieren auf Märchen, die vor allem durch die Märchensammlungen von Charles Perrault und den Brüdern Grimm bekannt geworden sind.11 Obgleich die Vorlagen in sehr unterschiedlicher Weise den oben genannten Kriterien entsprechen oder diese in bestimmter Hinsicht abwandeln, werden sie aufgrund ihrer Charakteristika doch ohne Zweifel der Gattung des Märchens zugeordnet und als solche rezipiert. Diese Klassifizierung wird demnach nicht nur heuristisch unternommen, sondern ist von der Gattung selbst gerechtfertigt.

Zur Auswahl der Märchendramen

Gegenstand meiner Untersuchung sind 25 dramatische Märchenadaptationen, die von Ludwig Tiecks Märchenstücken (1797-1811) bis hin zu Dramatisierungen der allerjüngsten Gegenwart (2017) reichen. Obschon diese Studie keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, bildet sie dennoch den Bestand der deutschsprachigen Märchendramen seit der Romantik umfassend ab. Seit Ludwig Tieck wird das Märchen erstmals im deutschsprachigen Drama als handlungsdominierendes Moment eingesetzt.

Versteht man das Märchendrama auch als Dialog mit der Rezeption der Vorlage und als Auseinandersetzung mit dessen generischen Konventionen, gewinnen eben jene Theatertexte an Relevanz, in denen ein bereits existentes Märchen die zentrale Grundlage der Auseinandersetzung bildet.1 Hier treten Dramatikerinnen und Dramatiker in einen besonders vielschichtigen Diskurs mit der Rezeptionsgeschichte eines kulturell fest verankerten Märchens ein; Dramen, die zwar märchenhafte Elemente aufweisen, aber nicht auf ein bekanntes Märchen zurückzuführen sind, werden daher gegenüber direkten Adaptationen vernachlässigt.

So werde ich beispielsweise auf Robert Walsers Märchenstücke Schneewittchen, Aschenbrödel (beide 1901) und Dornröschen (1920) eingehen, deren titelgebende Protagonistinnen bereits einem breiten Publikum bekannt sind. Hier wird besonders deutlich, wie die Dramen in einen kontinuierlichen Dialog mit populären Märchenfiguren treten können. Dramatische Märchenneuschöpfungen wie Die versunkene Glocke (1891-96) oder Und Pippa tanzt! Ein Glashüttenmärchen (1905) von Gerhart Hauptmann werde ich nicht berücksichtigen. Einen Grenzfall stellt etwa der Theatertext Korbes (1988) von Tankred Dorst dar, der sich zwar im Titel und strukturell stark auf die Märchenspezifika der Vorlage der Grimms bezieht, sich jedoch inhaltlich fast gänzlich davon loslöst.

Der Fokus auf deutschsprachige Märchendramen erscheint mir im Rahmen dieser Arbeit nicht nur als eine praktisch nötige, sondern auch thematisch sinnvolle Eingrenzung, um eine spezifische Literarisierungslinie und ihre Entwicklung vertiefend betrachten zu können. Eine Übersicht der europäischen Märchendramatik beispielsweise könnte nicht so umfassend auf die einzelnen Dramen eingehen, wie es diese Arbeit durch ihre Konzentration auf deutschsprachige Werke vermag. Dennoch soll die Untersuchung auch für verwandte und für die Arbeit relevante fremdsprachige Märchendramen geöffnet werden.

Gerahmt wird die Analyse des deutschsprachigen Textkorpus daher von einer einleitenden Betrachtung der märchenhaften Fiabe teatrali des italienischen Autors Carlo Gozzi (1761-65) und einem vergleichenden Ausblick auf Ondine (1938) des Franzosen Jean Giraudoux. Der Fokus der Studie liegt zwar auf den deutschsprachigen Märchendramen, doch verspricht der Rückgriff auf Gozzis Märchenstücke ein besseres Verständnis ihrer Ursprünge. Gozzi, der Märchen erstmals so prominent in das Zentrum eines Dramas rückt, hat mit seiner Herangehensweise entscheidenden Einfluss auf Tiecks Märchenadaptationen. Die Betrachtung seiner Fiabe hilft entscheidend, in die Untersuchung der zentralen Dimensionen der dramatischen Aneignung des Märchens einzuleiten.

Die abschließende Analyse der französischen Ondine-Adaptation von Giraudoux bildet hier insofern eine aufschlussreiche Ergänzung, als dass sich der Autor mit der nationalpolitischen Dimension des Märchens beschäftigt. Daher stellt die Untersuchung des französischen Stückes den Abschluss und zugleich einen Ausblick auf weiterführende Überlegungen zu Märchendramen jenseits dieser Arbeit dar.

Das Märchen als dramatische Adaptation

Das Märchen tritt nicht allein als literarische Gattung auf, es wird in den unterschiedlichsten Medien wie Film, Tanz, Musik, bildenden Künsten und Werbung aufgegriffen und transformiert.1 Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht das Märchen als dramatisiertes Werk. Der Fokus der folgenden Auseinandersetzung richtet sich dabei allein auf die dramatische, das heißt textliche Bearbeitung des Märchens für das Theater und schließt bewusst keine Inszenierungsanalyse mit ein. Die literarische Gattung des Dramas ist primär für die Theaterbühne konzipiert und somit auf eine kollektive, plurimediale Rezeption hin angelegt.2 Hierbei unterscheide ich nicht maßgeblich zwischen Dramen und Lesedramen, wie sie etwa Robert Walser verfasst hat, da unter ihnen als medienspezifisch unterschiedenen Gattungsvarianten keine Differenzen festzumachen und diese dramengeschichtlich nicht haltbar sind.3

 

Wenn das Märchen als Text eine dramatische Fassung erhält, folgt formal das Erstellen von Dialogen, seltener auch das von Monologfassungen. Als Resultat des Gattungswechsels kommt es im Allgemeinen zu einer Unterteilung von Haupt- und Nebentext, da neben der Figurenrede Szenenanweisungen eingeführt werden. Der Nebentext gibt Informationen zum Beispiel in Form von Titel, dramatis personae, Markierung von Akten, Szenen und Regieanweisungen preis.4

Von einem klaren Medienwechsel lässt sich hier noch nicht sprechen, handelt es sich doch um eine binnenliterarische Adaptation. Laut dem Literaturwissenschaftler Holger Korthals sind Drama und Erzählung einander ähnliche „‚Proto-Gattungen’ der literarischen Geschehensdarstellung“5, die strukturell eng verwandt sind. Dies muss jedoch eingeschränkt werden, da Dramen anders als etwa epische Texte primär auf ihre Inszenierung angelegt werden und im Moment ihrer Realisation das Medium wechseln. Auch wenn im Rahmen dieser Untersuchung keine Inszenierungsanalysen vorgenommen werden, ist die intendierte Bühnenrealisierung stets mitzudenken.

Grundsätzlich sieht sich eine Autorin bzw. ein Autor mit dramaturgischen Herausforderungen konfrontiert, wenn die vergleichsweise kurze Märchenform in ein abendfüllendes Drama übersetzt wird. Neben dieser temporalen Anpassung muss zudem mit dem Wegfall des Märchenerzählers umgegangen werden – etwa indem die Figuren selbst diese Funktion übernehmen. Durch die Konzentration der Analyse auf Märchendramen stellt sich generell die Frage nach der Eignung des Märchens für eine Adaptation im Drama.6

Margarete Kober, die sich ausführlich mit Märchenadaptationen vor 1925 beschäftigt, steht einer Dramatisierung von Märchen grundsätzlich kritisch gegenüber, da in diesen ein besonders „schlichter Erzählton und ein klarer, schlanker Aufbau der Begebenheiten“7 vorliege. Eine gelungene Adaptation des Märchens im Drama erscheint für sie problematisch, da es diese Spezifika verlieren müsse, um übertragen werden zu können:

An Stelle des ruhigen Flusses der Erzählung tritt ein An- und Abschwellen, an Stelle eines reinen Geschehens dramatische Spannung und Zuspitzung; hier muß der Dichter verweilen, dort überspringen, statt anzudeuten, muß er plastisch gestalten, statt Typen Individuen schaffen, statt einfacher Umrisse genaue Charakterisierung, Einzelschilderung, innere und äußere Motivierung geben. Der Mannigfaltigkeit des Geschehens muß Sättigung festen Untergrund verleihen, die Stimmung muß mit reicheren Mitteln erzeugt und mehr ausgeschöpft werden. Das deutsche Volksmärchen überlässt alles der mitschaffenden Phantasie des Zuhörers, das Märchendrama muß der horchenden und schauenden alles geben.8

Kober setzt hier ein überaus eingeschränktes Verständnis voraus. Während ‚das Drama’ eine strenge Form mit einer inneren und anschaulichen Wahrheit fordere, handle es sich bei dem ‚deutschen’ Märchen um eine naive, „schlichte, treuherzige Erzählung“9, die ernst genommen werden müsse und nicht ironisch verstanden werden könne. Das Märchen ist ihrer Ansicht nach noch nie in seiner „Reinheit und Vollkommenheit“10 im Drama erschienen, da sich beide in ihrer Form zu sehr unterschieden.

Während Kober voraussetzt, dass mit der Dramenadaptation des Märchens zwangsläufig eine Individualisierung und Psychologisierung der Figuren einhergehen müsse, nehme ich an, dass sich das Märchen gerade aufgrund seiner Schematisierung für eine Adaptation im Drama eignet. Im Korpus der relevanten Märchendramen lässt sich die Tendenz ausmachen, dass vor allem die Typisierung der Märchen übernommen und durch die Dramatisierung noch betont wird. Zumeist kommt es vermutlich nicht trotz der narrativ differenten Verfahren von Märchen und Drama, sondern vor allem wegen einer sich gegenseitig potenzierenden Wirkung zu einer Adaptation.

Zu dieser Arbeit. Eine Übersicht

Aus den Überlegungen zum Genre des Märchendramas für Erwachsene ergibt sich folgende Aufteilung der Arbeit: Im ersten Kapitel über die Tendenzen und Charakteristika von Märchendramen werde ich mich mit den Ursprüngen des europäischen Märchendramas auseinandersetzen. Anhand der märchenhaften Fiabe teatrali von Carlo Gozzi lässt sich die Verwandtschaft von Commedia dell’arte und Märchen nachweisen. Beiden ist nicht nur die Nähe zu archetypischen Themen und ähnlich reduzierten Erzählstrukturen, sondern auch eine Neigung zum ‚Volkstümlichen’ und zu drastischen Darstellungen gemein. Auffälligerweise gerät das Märchen in Verbindung mit Elementen der Commedia dell’arte oft zur Satire und stiftet eine Tradition, welche sich bis in die Gegenwart fortsetzt: Auch Märchendramen wie Der Kater oder Wie man das Spiel spielt (1964) von Tankred Dorst oder Das blaue Licht / Dienen (2017) von Rebekka Kricheldorf zeigen ausgeprägte satirische Züge. Zudem lässt sich eine traditionsgeschichtliche Beeinflussung der Märchensatiren Ludwig Tiecks durch Gozzis Märchendramen nachweisen; auf Tiecks Märchenadaptationen werde ich daher ausführlich im Anschluss eingehen. Besonders an Tiecks Stücken, die den Anfang deutschsprachiger Märchendramatik markieren, lassen sich generische Eigenarten des gesamten Korpus herausarbeiten.

Im zweiten Kapitel werde ich die Disposition zur Satire im deutschsprachigen Märchendrama vorstellen. Mehr als zwei Drittel der Stücke aus diesem Korpus weisen satirische Züge auf. Aufbauend auf den Erkenntnissen aus dem ersten Kapitel über die Spezifika der Märchendramatik werde ich in viele der Theatertexte einführen. Durch die Frage, was der Gegenstand der jeweiligen Satire ist, lassen sich bereits in vielen Fällen wesentliche Züge der Dramen erfassen.

Bemerkenswert ist, dass sich Ironie, Kritik und Spott nicht gegen die Märchenvorlage selbst, sondern vor allem gegen ästhetische und politische Strömungen richten. Daher werde ich untersuchen, inwiefern sich das Märchen in besonderer Weise als satirisches Medium anbietet. Dabei steht im Vordergrund der Auseinandersetzung, was genau die Nähe zum Satirischen im Märchendrama über seine generischen Eigenarten aussagt. So ist eine zentrale Frage, ob gerade dem Spiel mit etablierten Klischees die Möglichkeit innewohnt, diese mithilfe des Märchens – unter anderem mit dessen scheinbar starren Geschlechterrollen – als Projektionsflächen darzustellen.

Der distanzierte Gestus, der durch den ironisch-satirischen Zugriff bereits in vielen Märchendramen gegeben ist, wird oftmals durch ein offensiv intertextuelles Verfahren verstärkt. Daher werde ich im dritten Kapitel die intertextuellen Strategien der Märchendramen analysieren. Während jedes Märchendrama, das sich auf ein bekanntes Märchen bezieht, offensichtlich intertextuelle Bezüge aufweist, liegt bei drei Märchenstücken ein besonderer Fall vor. Sowohl Tankred Dorsts Der Kater oder Wie man das Spiel spielt (1964) als auch Martin Mosebachs Rotkäppchen und der Wolf (1988) beziehen sich auf bereits bestehende Märchendramen von Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater (1797/1812) und Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens1 (1800/12). Elfriede Jelinek wiederum adaptatiert mit ihren Prinzessinnendramen (2000) die Märchenstücke von Robert Walser. Neben der Analyse der intertextuellen Bezüge zu den Märchenvorlagen im Allgemeinen werden diese Dramen gesondert vorgestellt.

Anknüpfend an die Beobachtung, dass Märchendramen oftmals intertextuelle Elemente aufweisen, werde ich im vierten Kapitel auf ein weiteres Distanzierungsverfahren im Märchendrama eingehen. Oft wird das Märchen im Drama als Synonym theatraler Künstlichkeit eingesetzt. Die Märchenillusion dient dabei als Spiegelung der Theaterillusion und kann auf diese Weise als Reflexion von dramatischen Illusionsmitteln genutzt werden. Gleichermaßen gilt das Märchenhafte jedoch als Symbol des Natürlichen und Mythischen, das als Ideal dem Gewöhnlichen und Menschlichen entgegengesetzt wird. Die divergente Inszenierung des Märchens als Form lässt sich besonders anschaulich an den selbstreferentiellen Bezügen nachvollziehen, wie ich zeigen werde.

Um weitere Tendenzen des Märchendramas zu erfassen, bedarf es ebenso eines Blickes auf die gesellschaftskulturelle Bedeutung des Märchens. Ein Bruch mit der Erwartungshaltung gegenüber dem Märchen spielt oft mit dessen Status als ‚Volkskultur’. Märchen gelten spätestens seit der Romantik als Ausdruck eines Wunsches nach gesellschaftlicher Ordnung und kollektiver Identitätsstiftung – ein Spannungsfeld, das dem Märchendrama als Reibungsfläche dienen kann. So scheinen Darstellungen, die von Subversion und Ambivalenz bestimmt sind, bewährte Strategien des Märchendramas zu sein, um mit dieser Codierung des Märchens umzugehen. Zu beobachten ist dabei häufig eine Destruktion des Versuchs, narrative Sinnstiftung anhand des Märchens zu betreiben. Auf diese Facetten des Märchendramas gehe ich im fünften Kapitel ein.

Abschließend werde ich die Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit den deutschsprachigen Märchendramen in einer vergleichenden Analyse der französischen Märchenadaptation Ondine gegenüberstellen, um nicht zuletzt einen Ausblick auf mögliche Studien im internationalen Theaterraum zu eröffnen. Durch die Verhandlung der deutsch-französischen Beziehung um 1938 ist Giraudoux mit seiner politisierten Ondine-Bearbeitung von besonderem Interesse für diese Arbeit und zugleich geeignet, um die zuvor herausgearbeiteten Ergebnisse zu überprüfen.

Ziel der vorliegenden Studie ist es, das Märchendrama als künstlerisch eigenständiges und bislang marginalisiertes Genre an seinen Schnittstellen zum Drama als Medium und zum Märchen als Gattung zu betrachten. Diese Absichten verbinden sich in dem grundlegenden Anliegen, durch die Analyse der Märchenstücke vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart vielschichtige Einblicke in deren generische Eigenarten zu geben. Hierzu werden vor allem die satirischen, intertextuellen und selbstreferentiellen Anspielungen befragt. So kann die vorliegende Untersuchung erstens einer fruchtbaren Reflexion der problematisierten Normalitätsvorstellungen im Märchendrama dienen. Zweitens wird die Dramatisierung der Schematisierungen und Stereotype des Märchens im Theatertext als Verhältnis von Gesellschaft und Individuum produktiv ausgewertet. Im Konnex der Märchen- und Dramenillusionen führt die Analyse drittens immer wieder zu der grundsätzlichen Frage nach der generativen Kraft der Imagination zurück. Im Genre des Märchendramas treten all diese Facetten für jedes ‚Lebensalter’ deutlich zutage – und es wäre, mit Nietzsche gesprochen, in der Tat ‚kurzsichtig’, ohne Märchen und Spiel durch’s Leben gehen zu wollen.