Langer Tunnel Nacht

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Langer Tunnel Nacht
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Hanno Roether-Stuck

Langer Tunnel Nacht

Roman

Der Inhalt dieses Buches ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.

Impressum:

© 2018 ckc-Kreis Mannheim

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung Gerhard Fontagnier

Urheberrecht 0727298

Schrift Times New Roman

ISBN 978-3-746709-21-5

epubli Berlin

1

›Raus hier!‹ war das Einzige, was in seinem Kopf Platz hatte – neben Panik pur. War er etwa gerade verrückt geworden? Andreas Langholz wusste es beim besten Willen nicht. Das war doch kein Traum, was da vor seinem inneren Auge abgelaufen war. Er war ja wach ... hellwach sogar, und er zitterte wie Espenlaub. Soeben war etwas absolut Unfassbares, Unglaubliches passiert, denn er hatte doch tatsächlich seinen eigenen Tod gesehen, gesehen, wie er starb – er, der junge Mann – in einer altertümlichen Kleidung. Und eines war sicher: Es war er, ja – er selbst. Ohne jeden Zweifel!

Nur wenige Minuten zuvor hatte er sich noch sehr nett mit jener älteren Dame unterhalten, die erst in Saarbrücken zugestiegen war und nach Frankfurt wollte, um dort ihre Tochter zu besuchen. Sie hatte auf ihn zuerst unbeholfen gewirkt, weil sie auf Anhieb keinen Platz für ihren relativ kleinen Koffer finden konnte. Im ICE aus Paris waren fast alle Plätze belegt. Aber Andreas schob nun, sich auf seinen und den noch freien Sitz gegenüber stellend, das Gepäck der anderen Reisenden auf der Ablage oberhalb der Fenster einfach enger zusammen ... und schon war die Sache geregelt. Die Frau setzte sich auf den Platz ihm gegenüber und sie kamen schnell ins Gespräch, als sie ihm für seine Hilfe dankte.

»Ach, in der Ausstellung im Musée d´Orsay waren Sie vorgestern. Das ist ja ein Zufall! Ich habe mir diese auch erst vor kurzem angeschaut«, sagte sie zu Andreas. »Die Impressionisten mag ich sowieso am liebsten. Das ganz unnachahmliche Flair ihrer Bilder, die Licht- und Schattenwirkung und insbesondere ihre großartige Handhabung der Farben, vor allem durch Renoir und Monet, ist für mich eine Offenbarung. Ich könnte stundenlang vor diesen Kunstwerken stehen und sie bewundern. Dabei komme ich beim Betrachten auf die schönsten Ideen und gehe dann immer ganz beglückt nachhause Die Sonderschau von Daumier hat mir dagegen nicht sehr viel gegeben. Seine gedeckten Brauntöne erinnern mich eher an die Alten Meister, und die schätze ich nicht so. Da ist der Rote Mohn doch etwas ganz anderes.«

›Ihre Tochter‹, fuhr sein Gegenüber ohne Pause fort, ›hätte unbedingt darauf bestanden, dass sie gerade Weihnachten nicht allein zubringen solle.‹ Mit einem Lächeln, das ihre Freude über diese Geste deutlich zum Ausdruck brachte, fügte die Frau hinzu: »Du kommst über die Feiertage einfach zu mir. Und keine Widerrede! hat sie gesagt. Denken Sie nur, so gehen Kinder heutzutage mit ihrer Mutter um. Also – ich hätte das früher nicht gewagt. Die Fahrkarte hat meine Große übers Internet gebucht und mir dann als Geschenk zum Nikolaus gleich mit zukommen lassen.« Andreas hatte zwar nicht gefunden, dass man so mit der Mutter nicht reden dürfte, wenn man ihr eine Freude machen möchte, seine Meinung aber für sich behalten und nur ganz freundlich zurück gelächelt. So war diese Unterhaltung eine ganze Weile gegangen. Bis es geschah!

Anhaltendes lautes Quietschen der Bremsen. Mit einem hartem Ruck war der ICE 9558 aus Paris kurz darauf zum Stehen gekommen, in der Mitte des Heiligenberg-Tunnels ... auf der Strecke von Kaiserslautern nach Neustadt an der Weinstraße – ›wegen einer Gleissanierung‹, wie danach schon im Lautsprecher des Zuges zu hören war. Und dann waren auch noch sämtliche Neonröhren verlöscht über den Fensterbändern von Waggon Nr. 23, in dem Andreas seit der Gare de l´Est Platz Nr. 54 rechts innehatte. Die Klimaanlage hatte inzwischen ebenfalls aufgehört, laut zu zischen und viel mehr Wärme, als eigentlich notwendig, in den Großraumwagen zu pusten. Aber wo funktionieren solche Geräte denn wirklich problemlos?

Der Blick des Zweiunddreißigjährigen wurde im nun dunklen Waggon ganz zwangsläufig von den hellgelben Blinkleuchten draußen angezogen, an der Wand hinter dem anderen Gleis. Motorenlärm war im Tunnel zu hören und etliche Leute, mehr Schatten als richtige Menschen aus Fleisch und Blut, waren mit ihren schweren Maschinen zugange. Im gleichen Moment explodierte genau da drüben das Schweißgerät eines Streckenarbeiters blitzartig mit einer weiß-bläulichen Flamme. Allerdings nur zwei Sekunden lang. Dann hatte sich das Sicherheitsventil der Gasflasche schon geschlossen und damit eine Katastrophe verhindert.

Aber genau dieser Blitz hatte bei ihm riesiges Entsetzen ausgelöst. Wie auf einem imaginären Bildschirm nahm Andreas plötzlich wahr, dass er die Hände vor sein Gesicht schlägt und für einen Augenblick gar nichts mehr erkennen kann, so als ob er geblendet worden wäre. Dann sah er, wie er weg zu rennen versucht. – Vergeblich! Polternder Höllenlärm, grauer Staubnebel, herunter stürzendes Gestein begräbt ihn lebendig. Ein einziger Augenblick … und er ist nicht mehr. Danach war der Film gerissen. Andreas begann zu zittern. Sein Atem stockte. Die Stirn wurde weiß und feucht. Sein Herz raste und eine unerhörte Angst stieg in ihm auf ... ja schüttelte ihn geradezu. Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, was sich da ereignet hatte, und es schoss ihm durch den Kopf: ›Genau hier muss es passiert sein!‹

›Raus – nur raus hier!‹ Panik pur! Der junge Mann konnte nicht mehr denken. Wie ein Automat schnellte er von seinem Sitz hoch. »Hier bin ich gestorben!«, hörte er sich selbst aus zugeschnürter Kehle sagen. Die Blicke aller Mitreisenden richteten sich nun erstaunt auf ihn. Sein Kreislauf war außer Rand und Band. Sein Puls pochte wie wahnsinnig gegen die Wände seiner Adern. Andreas merkte gar nicht, dass er der alten Dame, mit der er vor noch nicht einmal fünf Minuten die interessantesten Details über die Ausstellung der Impressionisten ausgetauscht hatte, mächtig gegen das rechte Bein trat, als er in Panik im Dunkeln losraste und die Tür des Waggons suchte. ›Nichts wie raus!‹ Er rappelte sich sofort wieder auf, als er über eine Reisetasche gestolpert war, und tastete sich, mehr auf Knien als aufrecht, hin zur Tür, seinem Rettungsanker.

Draußen blinkten noch immer rhythmisch die gelben Lampen und warfen kurze, fahle Strahlen ins Wageninnere. Plötzlich ertönte eine laute Hupe, während er verzweifelt auf den Knopf zum Öffnen der Tür drückte. Erfolglos! Sie blieb verriegelt. Zu seinem Glück! Denn im gleichen Augenblick setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Das Licht ging an und danach war auch schon im Lautsprecher schwer verständlich zu hören: »Sehr geehrte Reisende, wir bitten Sie um Entschuldigung für die aus technischen Gründen auf unserer Fahrt nach Frankfurt eingetretene Verzögerung. Wir werden deshalb wenige Minuten später in Mannheim Hbf eintreffen. Dort sind jedoch sämtliche Anschlüsse gewährleistet.«

Ein winterlich fahles Licht, das die Tunnelnacht inzwischen abgelöst hatte, brachte Andreas in die Wirklichkeit zurück. Aber nur teilweise. ›Ruhig! ... Ganz ruhig!‹, meldete sich jetzt der Verstand des jungen Mannes zu Wort. Aber der konnte sich nicht beruhigen. ›Unmöglich!‹ Nochmals lief der ganze Film in seinem Gehirn ab. Andreas wusste nicht, ob er vielleicht tagträumte, Halluzinationen hatte oder tatsächlich doch verrückt geworden war.

Die ältere Dame mit dem modischen blauen Hut auf dem Platz gegenüber bemerkte jetzt seinen Zustand, stand auf und ging zu ihm hin. »Junger Mann, was ist Ihnen denn passiert? Sie sehen ja ganz verstört aus. Kann ich Ihnen helfen? Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie etwa einen Arzt?« Noch während sie auf ihn einredete, ergriff sie ihn am Arm und brachte ihn zu seinem Sitzplatz zurück. Sie drückte ihn auf diesen und strich ihm sanft über die rötlich-blonden, kurz geschnittenen und zur Stirn gebürsteten Haare. Er brachte noch immer kein einziges Wort heraus und nahm geistesabwesend seine Brille mit dem Nickelrand ab. Diese hätte von Franz Schubert stammen können. Mit feuchten Fingern wischte er über die kleinen ovalen Gläser und verschmierte sie damit völlig, reflexartig, ohne überhaupt zu merken, was er da machte. In seinem Inneren aber gab es nur jenes Ereignis, das durch nichts aus seinem Denken gelöscht werden konnte und ihn selbst da noch beklemmte, als er eine dreiviertel Stunde später in der Oststadt von Mannheim nach dem kurzen Fußweg vom Bahnhof zum Werderplatz die Tür zu seiner Dreizimmer-Wohnung aufschloss.

Er hatte ein ausgedehntes Wochenende in Paris verbracht. Pierre, ein Freund von ihm, hatte ihn am Freitag gegen elf Uhr am Bahnhof abgeholt und sie waren dann sofort ins Museum gegangen. Während der Mittagszeit war der Andrang wenigstens nicht ganz so groß wie sonst. Andreas kannte Pierre von der Ecole Polytechnique Superieure, wo ihm die Friedrich-Alexander-Universität von Erlangen-Nürnberg während seines Ingenieur- und Informatikstudiums an der Technischen Fakultät wegen seiner hervorragenden Leistungen ein Stipendium für zwei Semester gewährt hatte. Entsprechend solide waren seitdem seine Französischkenntnisse.

»Wo bleibst du denn nur so lange?«, fragte ihn sein Freund, der bereits ein gutes Stück weiter, dann aber doch wieder zurück gegangen war, weil Andreas einfach nicht von einem Portrait des Malers Daumier loskam. Paul Camille de Denis à Montier-en-Der stand links unterhalb des reich verzierten Rahmens aus dunkelbraunem Holz mit einer dünnen Goldpatina auf dem kleinen weißen Schild und die Jahreszahl 1851.

Der Angesprochene reagierte nicht. So fesselte ihn das Gesicht mit der großen Nase und einem geschlossenen, aber weichen Mund, der ein fast freundliches Schmunzeln zeigte, beinahe so, als wollte er sagen: ›Da sehe ich dich ja endlich wieder, junger Freund.‹

 

Die lockigen, graumelierten Haare waren auf der linken Seite akkurat gescheitelt. Unter dem Kinn war der in damaliger Zeit unvermeidliche Vatermörder mit schwarzer Schleife zu sehen. Über der gestärkten weißen Hemdbrust und der violett gepunkteten Samtweste trug der gemalte Herr einen tiefschwarzen Gehrock mit gleichfarbigen Beinkleidern. Auf der Weste blinkte hell eine goldene Uhrkette. Er schien auf einem Sessel mit beigen Ranken und bordeauxroten Blüten zu sitzen, den rechten Arm entspannt auf der Sessellehne und den anderen fest auf seinen linken Oberschenkel aufgestützt. Seine Hände waren groß, aber gut gepflegt. Die Augen blickten leicht nach links genau auf Andreas, und zeigten fast den gleichen spöttischen Ausdruck wie der Mund. Pierre fasste Andreas an dessen Schulter: »Nun komm doch endlich. Was ist denn an diesem Bild so besonders? Es gibt doch noch etliche andere zu sehen. Los!«

»Ich kenne diesen Mann. Ich weiß nur nicht, woher.« In diesem Moment schien der Kopf des Herrn unmerklich zu nicken. »Den kannst du gar nicht kennen. Der ist doch schon vor über hundert Jahren gestorben.« Mit diesen Worten zog Pierre den Freund nun endgültig weiter. Aber er merkte, dass dieser sich immer noch mit jenem Gesicht befasste. »Grüble doch nicht über etwas nach, was es nicht gibt, – gar nicht geben kann! Wir beide sind Naturwissenschaftler und keine Okkultisten, die irgendwelchen übersinnlichen Erscheinungen auf den Leim gehen.«

Nicht laut äußerte er natürlich, dass die rational denkenden Franzosen die oft unpräzisen, eher aus dem Bauch kommenden Vorstellungen der Deutschen in den meisten Fällen sowieso nicht nachvollziehen können. »Du hast ja Recht. Aber trotzdem bleibe ich dabei: Diesem Gesicht bin ich schon einmal begegnet. Ob du es glaubst oder nicht.« Pierre gab es auf. Es war sinnlos, sich weiter damit zu beschäftigen. Stattdessen erzählte er von seiner Arbeit bei EADS. Seit einem halben Jahr sei er nun wieder in Paris. Monsieur Thierry hätte ihn ins Technische Marketing geholt. Dabei wäre er in Toulouse doch vor einer Beförderung gestanden, die jetzt einem Kollegen aus England zugefallen sei. Dieser wäre aber auch super und hätte sie natürlich so gut wie er selbst verdient.

Am Abend gesellte sich dann Christèle zu den beiden. Pierre hatte seine Lebenspartnerin gerade noch im Büro erreicht und über das Smartphone zu Chez Marcel gelotst. Dieses kleine Restaurant, von der Größe des Raumes her eigentlich eher ein Bistro, hatte für alle drei eine besondere Bedeutung. Es lag an einer Seitenstraße gleich hinter der Place de la République im 11. Arrondissement und war im Reiseführer von Paris als Geheimtipp verzeichnet. Im Chez Marcel hatte Andreas viele Abende verbracht, als er als Stipendiat um die Ecke wohnte. Hier gab es nämlich ein sehr gutes und günstiges Essen … und Musette – die Musik, die man als Ausländer in dieser Stadt einfach erwartet.

Pierre und Christèle waren eines Abends in das Lokal hereingeschneit. Tropfnass waren sie beide. Die eine rechts und der andere auf der linken Körperseite, weil es schüttete und die junge Frau mit ihren fülligen, blonden, wunderbar gewellten Haaren durch Pierre mit seinem Schirm wenige Meter davon entfernt vor einem Wolkenbruch gerettet worden war. Sie hatte nämlich direkt vor ihm einen Friseurladen verlassen, aber keinen Regenschirm dabei. Der junge Mann sah ihr entsetztes Gesicht, grinste einen Moment lang, bot dann aber auch schon, als er die wütende Reaktion auf seine Schadenfreude erkannt hatte, blitzartig die Situation nutzend, seine Ritterlichkeit an.

»Danke für die …« – es folgte ein spöttisches Lachen und dann noch ein Hüsteln – »freundliche Hilfe. Aber nur bis zu Marcel. Von dort rufe ich mir dann ein Taxi, das mich trocken ins Centre Pompidou bringt.«

Es gab zuerst einen Espresso, dann einen Aperitif. Danach noch einen und ein ziemlich langes Gespräch. Und das Taxi kam an jenem Abend erst ganze zwei Stunden später. Bis dahin hatte es nämlich schon gefunkt zwischen Christèle und Pierre – und Andreas hatte sich zwischenzeitlich auch noch als Kommilitone von Pierre entpuppt. Zu der Geburtstagsfeier, für die sich die junge Frau extra hatte hübsch machen lassen, wurde der Deutsche allerdings nicht gleich mitgenommen. Die Freundschaft zu ihm entwickelte sich etwas langsamer.

Die drei hatten sich seit längerem nicht mehr gesehen und Pierre hatte mit keinem Wort verraten, dass Christèle im fünften Monat schwanger war. »Es wird ein Junge und wir nennen ihn André nach dir. Du musst aber der Taufpate sein. Ist das nicht eine wunderbare Geste in einem vereinten Europa?«, rief sie Andreas laut zu, kaum, dass sie ins Lokal gekommen war. Nun ging sie zu ihm hin, umarmte und küsste ihn. Gleich danach fuhr sie, zu Pierre gewandt, fort: »Im Ultraschall war alles in Ordnung. Der Arzt meinte, wir bräuchten uns überhaupt keine Sorgen zu machen. Der Kleine ist prächtig gewachsen.« Nun fasste sie sich auf den schon deutlich gerundeten Bauch und hängte gleich an: »Jetzt stößt sein Füßchen gegen meine Haut. Ihr würdet es sehen, wenn ich nackt wäre.« Ihre Augen strahlten und Pierre sah man an, wie er seine Frau vergötterte. »Ich bin deshalb von der Praxis aus gleich wieder in mein Büro gegangen und habe dich bewusst nicht angerufen, damit du Andreas nicht verrätst, was ich ihm selber sagen wollte.«

»Das war keine gute Idee. Ich habe mir ernste Gedanken gemacht, weil du dich nicht gemeldet hast und wollte dich schon…« – »Das ist ja vielleicht eine Überraschung!«, fiel ihm Andreas da ins Wort. »Und dann noch diese Ehre! – Dass euer Sohn sich so gut entwickelt … toll … aber bei den Eltern war ja auch nichts anderes zu erwarten. Gratulation!« Nun wurde aber auch er unterbrochen, und zwar von Joséphine, der Wirtin. Diese hatte aus ihrer winzigen Küche, kaum größer als fünf Quadratmeter, wieder einmal alles genau beobachtet. Der Blick durch die Öffnung, circa einen Meter breit, die das Lokal mit der Kombüse verband, war die einzige Möglichkeit, etwas vom Tageslicht mitzubekommen. Außerdem gelangte nur so Frischluft an ihren Herd, wobei die verbrauchte mit lautem Rauschen in eine Abzugshaube darüber gezogen wurde. Joséphine konnte deshalb so gut wie nie hören, was im Lokal vorging, und sie hatte lernen müssen, das Geschehen außerhalb ihres Reiches wie eine Taubstumme zu verfolgen. Sie war darin aber geübt und hatte so auch Marcel, den Gatten immer unter Kontrolle.

Von ihrem Ausguck aus hatte sie natürlich das Bäuchlein von Christèle mehr als fachmännisch begutachtet, obwohl sie selbst keine Kinder hatte. Das lag aber nur an Marcel, einem langen, dürren Männlein mit O-Beinen ... Da war sie sich ganz sicher. Er hatte damals das Restaurant geerbt und war somit für ihre Kochkunst als junge Frau die richtige Ausgangsbasis. Sie dagegen hatte außer ihrer Begabung und einer hübschen Figur, wie sie glaubte, auch wenn andere sie pummelig nannten, nichts einzubringen. Aber heutzutage war das eh kein Thema mehr. Marcel brauchte Führung und sie hatte diese in den mehr als dreißig Jahren, in denen sie nun verheiratet waren, ganz gut bewerkstelligt.

Schon auf halbem Weg rief sie Christèle jetzt zu: »Petit passereau, herzlichen Glückwunsch! Ist der Gemahl auch rücksichtsvoll?« Dann drückte sie die junge Frau an ihren dicken Busen, ohne an die von der Tomatensauce nasse und verfleckte Küchenschürze zu denken, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, Christèle einen dicken Schmatz auf die Wange zu drücken, der aber aufgrund des Größenunterschieds wieder einmal am Hals landete. Ihr blauschwarz eingefärbter Wuschelkopf, der nach Knoblauch und Bratenfett roch, kitzelte die Schwangere in der Nase.

»Das hätte ich mir«, rief sie Marcel zu, »auch gewünscht. Aber du warst ja nicht …« Der Rest dessen, was sie ihm vorwerfen wollte, ging in unverständlichem Gebrummel unter … und auch in Christèles plötzlichem Sturm auf die Toilette. Ihr war durch den Essensfond aus den Haaren der Wirtin spuckübel geworden. Diese würdigte ihren Mann keines Blickes, als sie nach dem Wichtigsten, was sie da unbedingt bei den Gästen zum Ausdruck hatte bringen müssen, wieder an den Herd watschelte, weil das Essen sonst angebrannt wäre. Es roch schon ziemlich verdächtig aus der casserole im Bratrohr. Auf dem Weg dahin strich sie flüchtig über ihren Damenbart und wischte die Hand danach an der Schürze ab. Ja, so war das Leben halt. Aber zu ändern war daran nun nichts mehr.

Das kleine Restaurant mit seinen sechs Vierer-Tischen und den vielen alten Lithografien aus dem Paris der Zwanziger Jahre an den beiden Wänden, die das schmale dreistöckige Gebäude von seinen Nachbarhäusern abgrenzten, war voll besetzt, wie fast immer abends. Ein gemischtes Publikum vom Alter her, – nicht nur Einheimische, sondern auch einige Gäste von der Insel jenseits des Kanals … und aus Deutschland.

Kurz vor Christèle kam ein kleines Mädchen aus der Toilette zurück (seine Mutter war noch beim Händewaschen) und informierte den Papa aus Recklinghausen schon von weitem: »Da hat gerade eine Frau gekotzt. Die hat einen dicken Bauch und die Mama hat gesagt, dass sie bald ein Baby kriegt. Vielleicht will sie es aber gar nicht haben und hat es deshalb ausgek…« Da war jedoch die Hand des Vaters bereits auf ihrem Mund. ›Gott sei Dank verstehen die anderen Gäste nicht‹, hoffte der Gute mit hochrotem Gesicht, was seine Melanie da gerade heraus posaunt hatte. Um sicher zu sein, warf er einen möglichst unauffälligen Blick durch das Restaurant. Aber weder die Engländer noch die Franzosen schien dieser fröhliche Ausruf der Kleinen auch nur im Geringsten gestört zu haben. Lediglich an dem Tisch vorne am Fenster, der bereits für neunzehn Uhr von der Concierge des Méridien nahe der Avenue de Charles de Gaulle für zwei Ehepaare mittleren Alters und guten finanziellen Rückhalts aus Bonn reserviert worden war, stellte der junge Vater fest, dass getuschelt wurde. Allerdings verstehen konnte er nichts von dem: »Wenigstens im Urlaub und dann auch noch beim Abendessen in einem so angesagten Restaurant müsste man doch vor solchen Gören verschont bleiben!«

Alle warteten nun hungrig auf das Menü, an dem Joséphine schwitzend, aber ohne jedwede Hektik werkelte. Ihr Atem ging schwer wegen der Hitze und weil die ganzen Pfunde bei ihren Einsachtundfünfzig einschließlich Pumps schon seit vielen Jahren vom ständigen Probieren drückten. Schließlich konnte sie aber nichts unkontrolliert den Kunden vorsetzen. Da sie das Lokal permanent im Blickfeld haben wollte, musste sie höllisch aufpassen, dass nicht ihr Busen aus Versehen all den Töpfen auf dem Gasherd zu nahe kam. Einmal war ihr das ja passiert – da war sie aber noch nicht so routiniert wie heute – und der heiße Dampf hatte die rechte Brust wie einen frisch gekochten Hummer aussehen lassen.

Während Joséphine die casserole nun aus dem Rohr des Herdes zog, ihren Deckel abnahm und die Lammkeulen mit Rotwein begoss, wobei ihr eine Wolke aus alkoholgeschwängertem Knoblauchdampf entgegen flog, drehte ihr Gatte das Tape mit den valses, Liedern von Edith Piaf und Chansons von Charles Aznavour in dem aus den Sechzigern stammenden Gerät um. Alle Gäste liebten diese leise Musik im Hintergrund, die zum Mitsummen der weltbekannten Schlager verlockte.

Als Pierre und Andreas vor einer guten halben Stunde ins Lokal gekommen waren, war Marcel mehr als überrascht, Andreas nach über einem Jahr wiederzusehen. »Comment ça va? Ei schau, Monsieur l´Allemand gibt uns heute Abend die Ehre.« Anders hatte Marcel Andreas noch nie genannt. Langholz war für einen Parisien nämlich unaussprechbar. Aber den Vornamen zu benutzen, hielt er bei einem Ausländer auch nicht für angebracht. Das wäre dann doch zu weit gegangen, obwohl Andreas nicht als ein solcher zu erkennen war. Außer eben nach Marcels Meinung.

Nachdem Marcel durch seine Frau mitbekommen hatte, dass Christèle in anderen Umständen war, goss er sofort vier Aperitifs ein, den edelsten Lillet, den er besaß. Und schon flogen die dünnen Beinchen hinüber zum Tisch der drei Freunde. »A votre santé und auf die Deine ganz speziell, chère Christèle«, brachte er seinen Toast aus. Das Glas wollte er ihr gerade reichen, als Joséphine aus ihrer Kochecke geschossen kam. »Du bist ja wohl des Teufels! Dieses Mädchen darf doch jetzt nicht deinen Fusel trinken. Keine Ahnung! Alkohol – Alkohol für eine Schwangere – nicht zu fassen. Gib her!« Mit diesen Worten kippte sie den Aperitif für Christèle selbst hinunter und leckte ihren Flaum über der Oberlippe mit der Zunge, ehe sie dann das leere Glas mit der Rechten auf Marcels Tablett zurück knallte. Dieser wollte zwar etwas sagen, verkniff es sich aber, als er in Joséphines schwarze, Glut sprühende Augen sah. Stattdessen blickte er zu Boden und schluckte zweimal. ›So undankbar ist diese Welt‹, kam es ihm dabei wieder in den Sinn, da er seiner Joséphine damals doch so ein tolles Leben offeriert hatte.

 

Er benötigte schnell eine Köchin für das Lokal, nachdem seine Mutter eines Abends am Herd tot umgefallen war. Damals gab es ja noch keine so moderne Lüftungsanlage wie heute. Da war es ein wirklicher Schlauch gewesen, in diesem Loch zu schuften, wo er schon als kleiner Junge mit seinem Kätzchen gespielt hatte. Aber Joséphine hatte seiner Meinung nach zu keiner Zeit wirklich verstanden, welch einzigartige Aufstiegschance er der jungen, nicht gerade hübschen und schon gar nicht gutwilligen Frau geboten hatte. Letzteres hatte er zwar erst nach der Hochzeit herausgefunden – da saß sie aber schon im Speck. Gut, wenn er sie nur als Angestellte genommen hätte, wäre es ihn noch viel teurer gekommen. Denn dann hätte er ja den Lohn zusätzlich zur Investition in die Lüftungsanlage zu zahlen gehabt. Als mit ihr verheiratet, entfiel dieser von vornherein und das Geld, welches er zum Umbau brauchte, erarbeitete sie bereits selbst. Denn gut kochen konnte sie wirklich, – das musste man ihr lassen – so dass die Einnahmen rasch stiegen und den Umbau schnell amortisierten. Außer dem nicht gefundenen großen Glück war sie also keine Fehlkalkulation gewesen.

Und nach ihm fiel doch sowieso alles in fremde Hände. Joséphine hatte zwar einen Neffen, aber der taugte nichts und wollte das Lokal auch gar nicht gegen eine Leibrente übernehmen. Marcel musste später aber doch schließlich von etwas leben. Dabei hoffte er inbrünstig, dass er der übrig Bleibende sein würde. Anfangs hatte er ja noch versucht, sich gegen ihre ewige Rechthaberei durchzusetzen. Aber er hatte dabei jedes Mal nur den Kürzeren gezogen. Seine Frau hatte stets das letzte Wort, egal was er auch hinzufügte. Also ließ er ihr mit der Zeit halt ihren Willen. Es brachte gar nichts. Und er war schlussendlich ja ein verträglicher Mensch.

Heute dachte er sowieso anders über das Ganze. Sollte sie doch einfach Recht behalten! Er hatte dafür sein kleines und geheimes Konto aus den Rabatten der Weinlieferanten. Einmal im Jahr, ja einmal im Jahr reichte dieses für einen Nachmittag in hübscher junger Gesellschaft, der die dreihundertfünfundsechzig Nächte mit seiner schnarchenden Joséphine mehr als wettmachte. Er war danach zwar stets ziemlich geschafft, aber dennoch ganz beschwingt auf der Heimfahrt.

Seine Frau war nun aber schon im Begriff, ein Glas Orangensaft für Christèle zu holen. Die drei Freunde schauten ziemlich verlegen durch die zwei großen, beinahe bis zum Fußboden gehenden Glasscheiben rechts und links der Eingangstür auf die Straße hinaus. Drüben auf der anderen Seite blinkte eine rot-blaue Neonreklame über einem kleineren Supermarkt.

Kaum war der Saft auf dem Tisch, da herrschte die Wirtin Marcel an ... in nicht gerade freundlichem, aber wenigstens leisem Ton, so dass keiner der anderen Gäste etwas mitbekam: »Das Essen ist fertig. Kümmere dich um den Wein, anstatt Christèle Probleme zu bereiten!« Dann eilte sie in die Küche zurück und holte, als wäre nichts gewesen, einen Stapel Teller aus der Warmhalte-Säule. Sie hatte gerade noch Zeit, die plats du jour herzurichten für die vier Deutschen ganz vorne am Fenster, denen ein 3-Gänge Menü so spät abends viel zu opulent war. Dabei trällerte sie den Song vergnügt vor sich hin, den sie kurz zuvor auf Marcels Tonband gehört hatte. Christèle grinste Pierre an, als sie ihm unter dem Tisch sanft gegen das Bein stieß. Und beide waren sich sicher: ›So wird es bei uns einmal bestimmt nicht werden!‹

Alle diese Ereignisse waren vergessen, als Andreas in Mannheim mit zittrigen Fingern nun seine Wohnungstür aufschloss. Draußen dämmerte es inzwischen. Seinen Rollkoffer ließ er mitten im Flur stehen und suchte nach einem Bier. Im Kühlschrank war aber keines. Also goss er sich stattdessen einen Cognac ein aus der Flasche, die im Sideboard unter seinem Fernseher stand und ein Schildchen umhängen hatte: nur für besondere Gelegenheiten. Eine solche war heute zwar keineswegs, und falls doch, dann nur im negativen Sinn, aber nach dem fürchterlichen Schrecken im Zug benötigte er unbedingt Alkohol, um sich endlich ablenken zu können. Er hatte ja noch immer keine Ruhe gefunden, war noch immer total aufgewühlt. Ein zweites Glas folgte dem ersten gleich hinterher. Erst danach hatte sich sein Puls so weit herunter gedreht und die Gedanken waren so ruhig geworden, dass Andreas aus dem großen Fenster des Wohnzimmers in die dunkel werdenden Bäume draußen auf dem Werderplatz und auf die Christuskirche schauen wollte, deren beleuchtete Fenster wie stets abends durch die herbstkahlen Äste der Platanen strahlten.

Sonst war dies jeweils das Allererste, was er tat, wenn er nachhause kam. Er war jedes Mal richtig begeistert, wenn die hell angestrahlte Kuppel der Kirche vor dem dunklen Nachthimmel eine solch imposante Kulisse im Fensterrahmen bildete.

Irgendwie wäre ihm dieser Anblick bekannt, bildete er sich sofort ein, als er die Wohnung zum ersten Mal besichtigte. Er war sich aber nicht klar darüber, ob es dabei um die Erinnerung an eine große Reise nach Rom in der Kindheit oder doch eher an seinen Aufenthalt in Paris ging.

Andreas hatte die Wohnung erst vor vier Wochen bezogen. Es war sehr schwierig gewesen, etwas Passendes nahe beim Zentrum seiner Heimatstadt als Eigentum zu finden. Die Lage war ihm jedoch äußerst wichtig, damit die Investition nicht ihren Wert verlieren würde. Die Anlage sollte außerdem nicht so groß sein, dass die Eigentümer-Versammlungen anonym ablaufen könnten. Er war interessiert daran, zu den Nachbarn einen guten Kontakt aufzubauen, damit sie ein Auge auf die Wohnung hätten, auch wenn sie im dritten Stock durch Einbrecher nicht wirklich gefährdet war. Aber er würde ja ab dem fast schon vor der Tür stehenden Neuen Jahr tagsüber in Stuttgart sein, wo er am Tunnelsystem für S 21 arbeiten würde, als Chef von mehreren Ingenieuren. Seine Erfahrung beim Bau des Gotthard-Basis-Tunnels hatte ihm die neue Stelle verschafft. Wohnen wollte er aber auf gar keinen Fall in der Schwaben-Metropole. Und die Bahnfahrt kostete ihn ja nichts außer der Zeit für den ICE – hin und zurück etwa eineinhalb Stunden täglich – wobei er auch das eine oder andere Mal in den von der DB für die Leitenden angemieteten Appartements übernachten könnte, wenn seine Arbeit dies erforderlich machen würde. Wegen der Zugfahrten war aber ein wichtiges Kriterium, sein Zuhause vom Bahnhof aus leicht zu Fuß erreichen zu können.

Die Eigentumswohnung war nicht billig gewesen. Aber er hatte in der Schweiz gut, nein … sogar sehr gut verdient – mehr als in der neuen Position, allein schon wegen der Spesen und der niedrigen Steuern für Ausländer. Doch jetzt hatte er zum ersten Mal eine Manager-Rolle. Das war der entscheidende Grund gewesen, den Job zu nehmen, wogegen er mit Blick auf städtebauliche sowie technische Vorteile vom neuen Tiefbahnhof weniger überzeugt war. Allerdings hätte es derzeit woanders für ihn als Tunnelbauer auch kein besseres Angebot gegeben. Von dem Ersparten in der Schweiz und dem Erbanteil nach dem Tod der Großmutter konnte er die Wohnung mehr als zur Hälfte bezahlen, so dass die finanzielle Belastung für ihn leicht zu bewältigen war.