Langer Tunnel Nacht

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Morgen, überlegte er nun, während seine Augen unkonzentriert den großen Platz unten abstreiften, würde er am Eingangstor der Kirche bei Einbruch der Dunkelheit Bläser und Chöre hören, wie ihm von der Nachbarin schon beim Einzug angekündigt worden war. Er hatte bisher nicht darüber nachgedacht, ob die Frau, wie er, allein in der Wohnung lebte. Er würde sie aber danach fragen, sobald er ihr das nächste Mal im Teppenhaus begegnen würde, oder ihr vielleicht morgen einen kleinen Blumenstrauß bringen – zu Weihnachten und mit dem Wunsch nach einer guten Nachbarschaft. Sie schien etwas jünger als seine Mutter zu sein. ›Das Fenster solle er unbedingt öffnen‹, hatte sie ihm auch noch empfohlen. ›Der Heilige Abend würde so ganz besonders feierlich ausfallen. Und nach den Chorälen würden auch noch die Glocken läuten. Schöner könnte das Weihnachtsfest gar nicht beginnen‹, hatte sie ihm gesagt.

Während er auf die Kuppel drüben schaute, die die Baumkronen überragte, wobei sein Blick an dem angestrahlten Engel ganz oben wie an einem Leuchtfeuer hängenblieb, ging er in Gedanken auf den vor ihm liegenden ersten Arbeitstag ein. Auf den Gotthard-Tunnel, seine allererste Arbeitsstelle nach der Uni, hatte er sich riesig gefreut. Doch jetzt – für den Job in Stuttgart – wollte sich eine gleiche Begeisterung einfach nicht einstellen. Wie um die Sache wegzuschieben, hatte er sich deshalb auch mit Christèle und Pierre verabredet.

Irgend etwas war da – hatte er das unbestimmte Gefühl schon auf der Fahrt nach Paris gehabt – vor dem er sich in Acht nehmen müsse, was ihm nicht geheuer, fast bedrohlich vorkam, allerdings ohne realen Hintergrund und nicht mit dem Verstand zu rechtfertigen.

Er hatte doch sämtliche Pläne der riesigen Baustelle beim letzten, entscheidenden Vorstellungsgespräch intensiv betrachtet und im Vergleich mit seinem Gotthard-Tunnel eigentlich keinen Punkt gefunden, der aus Sicherheitsgründen zu bemängeln gewesen wäre. Außer, dass eine kurze Röhre nur eingleisig geplant war. Und dennoch bohrte in seiner Magengrube eine ungewisse Angst – völlig unpräzise und sicher gegenstandslos. Aber sie war da!

Und heute nun dieser Vorfall auf der Rückfahrt! Kaum war die Erinnerung hochgekommen, ging der Tanz wieder los. Andreas fing an zu zittern, bekam kaum noch Luft und fürchtete, dass sein Herz jeden Moment zerspringen würde. Um auf andere ... positive Gedanken zu kommen, begann er hastig, den Koffer auszupacken, und legte eine seiner vielen CDs auf. Dann ging er ins Bad. Er warf die heim gebrachte schmutzige Wäsche in den dafür vorgesehenen Behälter. Danach stellte er seine Zahnbürste und den Rasierer auf die Glaskonsole vor dem Spiegel. Und was sah er da? ›Unglaublich! – Grässlich!‹ Da schaute ihn doch wieder dieses Gesicht aus dem Spiegel an, das er schon im Tunnel vor seinem inneren Auge gehabt hatte.

Andreas fuhr sich mit der Hand über seine Augen, kniff sie ganz zusammen, guckte von neuem in den Spiegel und … sah immer noch dasselbe! Es blieb dabei. Sein Gesicht war ganz rußverschmiert, die Augen angstvoll aufgerissen und rot unterlaufen, seine Haare wirr und schwarz angesengt. An der rechten Schläfe klebte Blut, dunkel verkrustet. Das weiße Hemd zerrissen und völlig eingestaubt von graufarbigem Steinmehl. Und so sah auch etwas Schwarzes über dem Hemd aus, eine Art Wams.

In Panik rannte er aus dem Bad, suchte verzweifelt sein Handy, rief seinen Freund Lukas an und landete – oh Gott! – lediglich auf der Voicemail. »Der angerufene Teilnehmer ist zur Zeit leider nicht erreichbar«, hörte er starr vor Angst. Sein Herzklopfen begann nun alles auszublenden. Mit letzter Kraft brachte er die Worte heraus: »Hilf mir! Komm sofort. Ich bin verrückt geworden!« Dann warf er sich auf die Couch. Er durfte jetzt nicht durchdrehen, nicht die Nerven verlieren und vor allem nicht ohnmächtig werden, wenn auch der Kreislauf genau darauf hindeutete. Niemand würde in die Wohnung kommen, um ihm helfen zu können – ihn überhaupt vermissen, falls Lukas sein Handy nicht abhören würde. Seine Eltern hatten zwar einen Schlüssel, waren aber noch im Urlaub.

In jenem Tunnel hatte er sich ein paar Stunden vorher sterben sehen. Es war ganz klar, dass er das war. Er hatte sich ja eindeutig erkannt. Aber was er gesehen hatte, musste lange her sein. Die Kleidung … die Haare! Zauber, Halluzination, geistige Umnachtung? Das war die Frage. Vermutlich das Letztere. Es war nicht auszuhalten! Jetzt war es endgültig. Er musste tatsächlich verrückt geworden sein! Denn ein früheres Leben konnte es doch überhaupt nicht geben! ›Nein … nein und nochmals nein!! Tief durchatmen! … Die Arme und die Beine sind ganz schwer … der Rücken ist angenehm warm. … die Atmung … zum Teufel! – Nein! – Nichts dergleichen! Ich fliege gleich durch die Decke‹, ging es ihm stattdessen durch den Kopf. Er sprang wieder auf und schaute aus dem Fenster.

Die Kirche draußen stand da ... wie immer. Sie strahlte majestätische Würde und Ruhe aus. Am östlichen Himmel war das markante Sternbild des Orion zu sehen, eines der wenigen,die er noch aus der Grundschule kannte. Als er es damals sah, war das schönste Fest mit leckeren Süßigkeiten, vielen Lichtern am nach Wald duftenden Tannenbaum und Geschenken immer ganz nah … und heute?

»Im Zug«, versuchte er sich selbst Beruhigung zuzusprechen, »hat doch keiner gesagt: Oh, Ihre Kleidung, Sie bluten! – Vom Bahnhof hierher hat mich ja ebenfalls keiner als Gespenst empfunden. Sonst hätten doch alle geschrien vor Schreck – so wie ich eben auch. Ich muss also für andere völlig normal aussehen und bin entsprechend sicher nicht verunstaltet … kann deshalb in Wirklichkeit gar nicht so sein, wie ich mich im Spiegel selbst gesehen habe, zu sehen vermutlich nur geglaubt habe. Ein Trugbild, das mir etwas vorgaukelt? Vielleicht stimmt es ja doch, dass ich schon einmal gelebt habe, auch wenn ich als moderner Mensch annehme, dass dies ganz unmöglich ist. Aber die Hindus glauben es doch auch. … Nein, das ist ja wirklich ein Hirngespinst! Bleibt also nur eines: Ich muss verrückt geworden sein!«

Das verzweifelte Selbstgespräch machte alles nur schlimmer. In seinem Kopf begann es zu dröhnen, als würden ganze Kolonnen von Hamsterrädern, denen das Schmieröl fehlt, quietschend am Laufen gehalten. Das Zittern nahm zu. Er musste den Pulli ausziehen. So heiß war ihm auf einmal, obwohl seine Finger eiskalt wurden. Und um ihn herum war es plötzlich ganz neblig. Er taumelte zum Sofa hin und ließ sich einfach drauffallen. Seine Kehle war zugeschnürt vor Angst. Er glaubte zu ersticken und versuchte mit zittrigen Fingern seinen Hemdkragen zu öffnen. Im Brustkorb kam scharfer Druck auf.

Unter furchtbarem Lärm sah er, wie die Felsdecke auf ihn herab stürzt. Überall Staub, der Nase, Zunge, Rachen zuklebt und würgenden Husten auslöst. Nacht-Schwärze schnürt den bebenden Körper ein. Ein Steinbrocken schlägt gegen seinen Kopf ... lässt ihn aufschreien. Aber der nicht enden wollende ohrenbetäubende Krach verhindert, dass er seinen eigenen Schrei hören kann. Todesangst ergreift Besitz von ihm. Eiskalter Schweiß rinnt ihm am ganzen Körper herunter. Er riecht ihn, obwohl die Nase zu ist. Ein weiterer Schlag gegen den Kopf! Nun wird er zu Boden gedrückt von der Kraft tonnenschwerer Gesteinsmassen. Er weiß, gleich ist er hier lebendig begraben! Urin und Kot sind nicht mehr zu halten. ›Das ist mein Ende!‹ Nur noch ein letzter ... pfeifender Japser. Dann kein Denken ... kein Fühlen mehr ...Aus!

2

»Herr Langholz! ... Herr Langholz, können Sie mich hören?« Andreas war, als hätte ihn jemand gerufen. Er blinzelte und sah über sich zwei blaue Augen, die ihn prüfend anblickten. Sie steckten hinter einer Brille, die spiegelte, in seine Augen spiegelte und ihn blendete. Was war er müde! Schon wollte er seine Augen wieder zumachen, als diese Stimme, sie musste aus jenen zwei Augen kommen, fortfuhr: »Nicht wieder einschlafen, Herr Langholz. Versuchen Sie wach zu bleiben. Hallo!« Andreas spürte, wie eine Hand seine Schulter schüttelte. »Augen auf, Herr Langholz! ... Das ist wichtig. Ich bin Dr. Nell, der Notarzt. Ihr Freund hat mich gerufen.« Also versuchte Andreas erneut, sich auf diese Augen über ihm zu konzentrieren. Sie schauten ihn aus einem länglichen, schmalen Gesicht mit weißblonden, welligen Haaren an. Jetzt machte es sogar einen etwas freundlicheren Eindruck. Es gehörte, wie er inzwischen deutlicher wahrnahm, zu einer leuchtend rot-gelb reflektierenden Sicherheitsweste.

Augenblicklich war sein Verstand alarmiert. Sicherheitsweste ... rot-gelbe Streifen. Eine solche hatten doch die Arbeiter im Tunnel an! War er etwa noch dort? »Wo bin ich? Leb´ ich oder bin ich schon tot?« Da hörte Andreas die Stimme von Lukas. Es war doch die seines Freundes – oder? Nichts war ja scheinbar mehr verlässlich. »Andreas, du bist zuhause. Du hast mich angerufen. Ich sollte gleich kommen, hast du auf dem Handy hinterlassen. Das war vor nicht ganz zwei Stunden. Ich hatte danach versucht, dich zurückzurufen, aber du hast dich nicht gemeldet.«

Nachdem Lukas Andreas nicht erreichen konnte, machte er sich riesige Sorgen, denn der Wortlaut des Anrufs war ihm sehr beängstigend vorgekommen und auf gar keinen Fall ein Scherz. Das war klar. Dafür war seine Stimme viel zu hysterisch. Was war passiert? Andreas, ein verlässlicher Naturwissenschaftler und mit den Beinen fest auf der Erde, würde doch nie im Leben so was als Ulk machen.

Die beiden Männer hatten sich im Fitness-Center in Neuostheim kennengelernt. Fast vier Jahre war das nun her. Lukas erinnerte sich noch genau daran. Beide trainierten zufällig immer am gleichen Tag und zur gleichen Zeit. Und er hatte sich anfangs über den Kerl geärgert, der stets ewig lang die einzige Beinpresse blockierte, die es gab. Wie er es auch anstellte, ob er die Geräteabfolge änderte und versuchte, früher oder etwas später an die Beinpresse zu gehen, der Bursche war ihm im Weg, als hätte er einen sechsten Sinn. Wenn Lukas allerdings ehrlich gegen sich selbst war, hatte er sich ja gar nicht darüber geärgert. Er mochte den Mann, der einige Jahre jünger zu sein schien als er selbst, nämlich von Anfang an. Er fühlte sich irgendwie zu ihm hingezogen, zu dem Gesicht mit den wachen Augen hinter den kleinen ovalen Brillengläsern, dem sinnlichen Mund und dem glattrasierten Kinn sowie den kurzen rot-blonden Haaren über der hohen Stirn. Vor allem aber zu dem perfekt durchtrainierten Körper.

 

Lukas nutzte also die Wartezeit ganz nahe bei der Beinpresse und verfolgte jeden einzelnen Muskel an den Oberarmen dieses Mannes, wenn sie synchron mit dem Vor und Zurück der Beine den Bizeps anschwellen und den Rücken kraftvoll runden ließen. Lukas musste aufpassen, dass er nicht zu auffällig hinüber starrte zu dem Kerl mit den schönen langen Händen. Er musste diesen unbedingt näher kennen lernen und sprach ihn deshalb eines Abends an. ›Sie könnten doch ihre beiden Trainingspläne bei einem Bierchen abstimmen und überlegen, ob sie einander vielleicht gute Tipps geben oder sich an der Langhantel bei den Curls gegenseitig sichern könnten, wo sie doch sowieso immer gleichzeitig hier wären.‹ »Die Idee ist gar nicht so schlecht«, antwortete Andreas damals auf diesen Vorschlag nach einer Pause, in der er Für und Wider abzuwägen schien. Auch er fand sein Gegenüber recht sympathisch. »Wie reden wir einander an?«

»Schlage vor, uns zu duzen. Ich heiße übrigens Lukas, bin Vierzig und lebe allein. Wenn du Lust hast, machen wir jetzt Schluss und unterhalten uns dann nach dem Duschen etwas ausführlicher irgendwo in der Nähe. Kennst du hier vielleicht ein nettes Lokal? Bist du mit dem Auto da?« – »Zweimal nein. Ich habe überhaupt keines und bin gerade erst wieder zurück in meiner Heimat. Nach einem Jahr in Paris habe ich vor kurzem die Diplomprüfung in Nürnberg bestanden und suche jetzt meinen ersten Job. Vielleicht schaffe ich es ja, beim Bau des Gotthard-Tunnels einen solchen zu finden. Ich habe mich nämlich auf Tunnelbau spezialisiert, wobei ich gar nicht genau weiß, warum. Aber irgend etwas in mir ... ich kann jedoch nicht beschreiben, was es war ... ließ einfach gar keine andere Überlegung zu. Aber darüber können wir ja noch ein anderes Mal sprechen.«

»Und wie heißt du?« »Ach so. ´tschuldigung. Ich bin der Andreas.« Da auch Lukas kein Lokal in der Nähe kannte, schlug Andreas nun vor, zum Alten Messplatz zu fahren, wo er in der Nähe mit einer Freundin zusammen eine WG hätte. Dort wüsste er, wo man nett sitzen könnte. Er merkte überhaupt nicht, wie sich in diesem Moment der Blick von Lukas veränderte, prüfend, ja fast traurig wurde, und der Mann dann wie abwesend anbot, ihn dahin in seinem Auto mitzunehmen. Dabei strich Lukas sich mit der linken Hand durch die schwarzen Haare, die an den Schläfen erste graue Stellen aufwiesen, und zupfte die Strähnen an der Stirn leicht nach oben – eine Geste, die so etwas wie Enttäuschung oder zumindest Ratlosigkeit ausdrückte, dies aber auf gar keinen Fall preisgeben wollte. ›Eine Freundin hat er also‹, ging es ihm durch den Kopf. Eine Freundin passte gar nicht in die Vorstellung, wie es mit ihnen weitergehen sollte.

Daran musste Lukas denken, als er jetzt die Hand seines Freundes in die seine nahm und ungeduldig auf den Arzt blickte, damit dieser endlich aus dem auf dem Boden Liegenden wieder einen gesunden Mann mache. Da entdeckte er auf einmal ein ganz leichtes Lächeln auf dem Gesicht von Andreas. Die hellbraunen Augen hinter den kleinen ovalen Brillengläsern blickten ungeheuer hilflos auf ihn. Lukas empfand den Mann in diesem Moment äußerst sexy. Ja, vielleicht gerade deshalb. »Geht es dir schon etwas besser? Was ist denn eigentlich passiert, ehe du umgekippt bist? Dein Anruf war so verwirrend für mich. Du hast etwas vom Verrückt werden erwähnt. Was hast du damit denn gemeint?«

»Ich glaube, ich werde hier nun nicht mehr gebraucht«, sagte Dr. Nell jetzt. »Medizinisch gibt es für mich nichts mehr zu tun. Ihr Freund gehört, denke ich, von nun an eher in Ihre Hände als Psychotherapeut. Verletzungen vom Fallen konnte ich ja nicht feststellen. Der Kreislauf ist stabil. Ich schlage jedoch vor, dass er gleich nach den Feiertagen ein EKG beim Hausarzt machen lässt. Wer ist das denn, damit ich ihm oder ihr ein paar Zeilen da lassen kann? Also alles Gute und trotz allem ein Frohes Fest Ihnen beiden. … Hm, Herr Kollege Freyer, beinahe hätte ich es vergessen: Schreiben Sie ihm etwas zur Beruhigung auf oder soll ich das noch schnell tun?«

Dr. Nell zog seine Latexhandschuhe aus und warf sie, nachdem er suchend im Raum umher geblickt, dabei allerdings keinen Abfallkorb entdeckt hatte, achtlos in den Notfallkoffer. Danach steckte er das Stethoskop in das daneben liegende Futteral und verstaute es in dem dafür vorgesehenen Fach. Zum Schluss klappte er den Koffer zu und reichte Andreas, ehe er aufstand, die Hand. »Nein, nein – bleiben Sie hier bei Ihrem Freund. Ich finde allein raus«, meinte er zu Lukas, der schon Anstalten machte, ihn zur Tür zu bringen. Er ergriff seinen Koffer und kurz danach fiel dann die Wohnungstür ins Schloss.

Aber fast im gleichen Moment klingelte es. Es war Frau Bergmann, die Nachbarin und hinter ihr stand ein Handwerker. »Geht es dem jungen Mann wieder gut? Was für ein Schreck und nur einen Tag vor Weihnachten! Unser Hausmeister hat mich angerufen, dass er das Schloss der Wohnungstür nicht in Ordnung bringen könne. Die Zentralanlage macht die Reparatur durch einen autorisierten Schlüsseldienst zwingend erforderlich«, sagte sie, ohne auch nur ein einziges Mal Luft zu holen, zu Lukas, der an die Tür gekommen war. »Und da ist nun der Mann, der jetzt alles in Ordnung bringen wird. Man kann doch über die Feiertage nicht mit einer nicht abzuschließenden Tür leben. Da hatte der junge Herr Langholz aber Glück – hm, – ich meine … G ... Glück im Unglück«, kam sie plötzlich ins Stottern. »Also, er sollte bei mir klingeln … der Handwerker, hat unser Hausmeister angeordnet … und jetzt ist der Mann da. Gute Besserung, sagen Sie bitte meinem neuen Nachbarn. Er kriegt morgen dann auch noch Weihnachtsplätzchen von mir, selbst gebackene.« … »Und wer unterschreibt wegen der Rechnung?« rief der Handwerker Frau Bergmann laut hinterher. Da war diese aber schon wieder in ihre Wohnung gehuscht. »Machen Sie sich darüber mal keine Sorgen. Auf der Rechnung werden Sie nicht sitzen bleiben«, antwortete Lukas dem Mann. »Sie können aber schon einmal anfangen, damit Sie nicht erst im kommenden Jahr fertig werden.« Murmelnd fügte er hinzu: »Toll, dass er nicht gleich Vorkasse verlangt.«

Vor einer guten Stunde wäre er zu dieser sarkastischen Bemerkung noch nicht fähig gewesen. Als Andreas ihn zu erreichen versuchte, war er gerade im Supermarkt und sein Handy zuhause am Akku zum Aufladen ... in der Diele. Deshalb sah er schon das Blinken, kaum dass er die Tür aufgeschlossen hatte. ›Nanu, kann meine Mutter denn nicht bis morgen warten? Sie weiß doch, dass ich erst dann anrufe und ihr sage, an welchem der beiden Feiertage ich sie besuchen werde‹, reagierte er fast ärgerlich. Ganz bewusst wollte er es so machen, damit sie kein großes Essen vorbereiten würde. Sie war nämlich erst vor kurzem gestürzt und musste sich noch schonen. Er würde deshalb kochen und sie damit überraschen. Morgen früh wollte er aber erst einmal Andreas zum Training abholen, der ja heute wieder aus Paris zurück kommen würde. Wie schon vor Jahren, das letzte Mal gemeinsam Fitness. Denn während der Woche würde Andreas dann ja in Stuttgart sein und vielleicht nicht an jedem Wochenende Zeit und Lust auf das Studio haben. So war das auch damals, kaum dass sie sich kennengelernt hatten.

Nach nur vier Monaten fing sein Freund am Gotthard-Tunnel an. Eines war wenigstens positiv ausgegangen. Die WG mit der Freundin war eine reine Zweckgemeinschaft gewesen und schon mit dem ersten Gehalt in der Schweiz wieder Vergangenheit. Aber leider war es trotzdem nicht mehr als eine Sportfreundschaft geworden.

Und nun die schockierende Nachricht auf dem Handy. Lukas raste sofort los, nachdem er seinen Freund am Telefon nicht erreichen konnte. Aber alles Sturmklingeln half nichts. Er stand vor verschlossener Haustür. Frau Bergmann, die der Sprechanlage nach auf der gleichen Etage wohnte, wollte ihm nicht öffnen.

»Da kann doch jeder kommen«, meinte sie. ›Sie würde weder ihn noch den neuen Nachbarn gut genug kennen, um die Haustür aufzusperren.‹ Auch auf seinen Hinweis, dass Herr Langholz ihm einen Notruf gesandt hätte, entlockte er ihr lediglich ein »Phh!« Glücklicherweise kam dann aber eine junge Frau, die ihn mit ins Haus ließ. Er jagte die Treppe hinauf und donnerte gegen die Tür: »Andreas mach auf! Du musst doch zuhause sein. Du hast doch um Hilfe gerufen!«

Kurz danach ging die Tür an der anderen Seite des Treppenhauses auf, aber nur einen Spalt breit und mit eingehängter Kette. »Machen Sie nicht so einen Lärm. Ich habe bereits den Hausmeister verständigt, dass er Sie umgehend hinauswirft.« Und danach war ihre Tür wieder zu. Lukas war am Verzweifeln. Er wusste seinen Freund hinter dieser Tür und konnte ihm nicht helfen. Wieder klingelte er und schlug mit seinem Schuh gegen die Tür. »Heheh! Was soll das denn?«, ertönte plötzlich lautstark der Bass eines Fünfzigjährigen mit 'nem Bauch, aber ziemlich kräftigen Armen, dicht hinter ihm. Es musste sich wohl um den angedrohten Hausmeister handeln.

Lukas schaltete sofort. Jetzt war Ruhe gefordert und Überzeugungskunst, überlegte er scharf, obwohl er vor Aufregung völlig aus dem Häuschen war. »Guten Tag. Ich bin Lukas Freyer, von Beruf Psychotherapeut. Der hier lebende Herr Langholz hat mir telefonisch einen Notruf zukommen lassen. Der Mann muss in der Wohnung sein. Ich fürchte das Schlimmste. Wir müssen dringend in die Wohnung kommen, um nach ihm zu schauen. Wenn Sie wollen, können wir ja die Polizei einschalten, falls Sie eine Diebstahls-Absicht oder einen Hausfriedensbruch vermuten. Da ist übrigens mein Ausweis und die Zulassung als Arzt.« Lukas hatte sie nervös aus seiner Brieftasche gekramt. Seine Finger zitterten vor Aufregung. Aber der Hausmeister schien das nicht zu bemerken und von seiner Ehrlichkeit überzeugt zu sein. Ein Arzt war in seiner Vorstellung eben immer ein guter Mensch.

Dennoch checkte er mit einem kurzen Blick Größe und Kondition seines Gegenübers und kam zu dem Ergebnis, kein unbeherrschbares Risiko einzugehen, wenn er mit dem Generalschlüssel die Tür öffnen, mit diesem Mann in die Wohnung gehen und nachsehen würde, ob ein Notfall vorliege. Vorausgesetzt, der Fremde wäre immer vor ihm, so dass er ihn in Schach halten könnte. Ein viel größeres Problem war für ihn, dass er doch nicht ohne Erlaubnis des Besitzers in dessen Wohnung gehen dürfte – mit einem Fremden erst recht nicht. Der Neue war ja gerade erst eingezogen und hatte ihm bisher für den Notfall noch keine Vollmacht ausgestellt wie die übrigen Eigentümer. Aber er war die Vertrauensperson im Haus. Sei´s drum! Jetzt war Hilfe gefragt und da musste gehandelt werden. Basta!

Die Tür ließ sich jedoch nicht öffnen. Mehrere Versuche blieben ohne Erfolg. Steckte etwa der Schlüssel von innen? »Ich bin gleich wieder hier, muss halt meinen Werkzeugkasten schnell holen«, rief er dem verdutzten Arzt zu, bereits einige Stufen weiter unten … und fuhr fort, als er kurz danach eine blaue Metallkiste auf den Marmorboden knallte, drei Faltschubladen auseinanderzog und ein drahtähnliches Etwas daraus entnahm. »Drehen Sie sich um. Da können Sie jetzt nicht hingucken!« Nach vier Knackgeräuschen schien in der Wohnung etwas zu Boden gefallen zu sein und darauf hin ließ sich das Schloss bewegen. »Leider kann man diese Tür jetzt nicht mehr abschließen. Das werde ich nachher richten. Jetzt wollen wir erst einmal nachschauen, was los ist.«

»Und dann habe ich den Notarzt gerufen«, sagte Lukas zu seinem Freund. Er half ihm dabei vom Boden auf und brachte ihn auf die Couch. »Aber nun ist ja alles wieder gut. Erzähle, was passiert ist.«

3

Zwei Wochen waren seither verstrichen. Andreas fühlte sich wieder so wie früher. Die Pillen hatten ihm geholfen und er war mit Lukas gestern noch einmal im Fitness-Center gewesen, ehe heute nun sein Arbeitsantritt in Stuttgart anstand.

Er hatte die Feiertage bei seinen Eltern verbracht, die glücklicherweise einen Tag früher als geplant aus dem Urlaub zurück gekommen waren, weil in Spanien ein Generalstreik gegen die inzwischen zweite Lohnkürzung ausgerufen worden war. Die Reiseveranstalter hatten deshalb alle verfügbaren Flugzeuge eingesetzt, um die Urlauber noch vorher nachhause, beziehungsweise in die Ferienorte zu bringen.

 

Seine Mutter meldete sich bei ihm, kaum dass Lukas an jenem Unglückstag weg war. Und sie war selig, die ganze Familie nun wieder um sich zu haben. Das war die Rolle, die sie doch seit der Hochzeit mit größter Hingabe ausfüllte: Kochen, waschen, putzen … lesen. – Nein! – lesen gehörte nicht dazu, zumindest nicht für sie als fleißige Hausfrau. Lesen war nur etwas für die Männer. Und ihr Bub hatte sich schon seit seiner Kindheit mit allerlei technischen Themen beschäftigt. Anfangs musste der Vater die Gebrauchsanweisung für den Fischer-Baukasten vorlesen, den er stolz seinem Sohn aus der eigenen Kindheit vererbt hatte. Und je komplizierter die Modelle auf dem schon reichlich zerschlissenen Heft aussahen, umso erstrebenswerter erschien es Andreas, gerade diese nachzubauen. Bald konnte er dann schon selber lesen. Bis er allerdings nur noch etwas aus eigener Fantasie bastelte und gar keine Anweisungen mehr benötigte, verging keine allzu lange Zeit. Diese nutzte er dann lieber für das Studium von Technikbüchern.

Jahrelang hatte er in seiner Kindheit zwischen Lokomotivführer und Baumeister als Berufsziel geschwankt. Aber später war ihm ein Ingenieurstudium doch erstrebenswerter erschienen. Dass er nun alles sogar miteinander verbinden konnte, war ein richtiger Glücksfall.

Wie war er stolz, seine Eltern zum Durchstich des Gotthard-Tunnels einladen zu können. Die Mutter hatte als Überraschung dann auch noch Lilly mitgebracht. Lilly kannte er schon aus der Schule und seine Mutter hätte sie wirklich zu gerne als Schwiegertochter gehabt … und mehr als einen Versuch unternommen, das auch zu erreichen. Andreas fand Lilly sehr nett, mehr aber nicht. Nur seine Mutter wollte das überhaupt nicht begreifen. Im Übrigen selbst bis heute nicht, denn zu Sylvester war Lilly von ihr ebenfalls wieder eingeladen worden.

»In wenigen Minuten werden wir Stuttgart Hbf erreichen. Sie haben Anschluss …«, holte ihn der Lautsprecher aus seinen Erinnerungen. ›Also heute fängt wieder ein neuer Abschnitt in meinem Leben an‹, dachte er und stellte sich vor dem Ausgang des Waggons in die Schlange der Leute, die ebenfalls in Stuttgart ihr Reiseziel erreicht hatten, ohne zu wissen, ob jene sich darauf freuten, sich davor fürchteten oder überhaupt keine Emotionen damit verbanden. Sein negatives Gefühl von vor Weihnachten war zwischenzeitlich doch einer gewissen Neugier auf den Job gewichen oder, vielleicht aber auch einfach von den Tabletten verdrängt worden.

Er konnte sich gerade noch mit der linken Hand am Griff der Schiebetür des mittleren der drei Abteile festhalten, die zwischen dem Großraum und den Toiletten lagen, um nicht die Frau direkt vor ihm um zu schubsen, als der Zug vor dem endgültigen Halt ein letztes Mal kräftig ruckte. Da diese sich aber nirgendwo festklammern konnte, ergriff Andreas geistesgegenwärtig ihren Arm. Beim finalen Stopp rutschte sie dann auf ihn zurück. »Entschuldigung«, sagte sie lachend, »Das geht ja schon gut los, ehe ich überhaupt auf der Veranstaltung bin. Ich will nämlich demonstrieren.«

Ein hübsches Gesicht ohne jede Schminke, mit leuchtenden grünen Augen, umrahmt von kurz geschnittenem braunem Haar, hatte sich für einen Moment zu ihm umgedreht, ihm dann aber gleich wieder den Rücken zu gestreckt. Die junge Frau war in einen grün-blau karierten Wollmantel mit einer Kapuze gehüllt. ›So, … ja wo und für was?‹, wollte Andreas noch fragen. Da strömte aber schon alles nach draußen. Und der grün-blau karierte Mantel ging die ganze Zeit vor ihm her.

Auf dem Bahnsteig schallten Lautsprecher-Ansagen durch die Luft und kämpften mit allen möglichen Gesprächsfetzen der Ankommenden oder Abreisenden um die Vorherrschaft. Unterschiedlichstes Getrappel war zu vernehmen, begleitet vom Surren der hinterher gezogenen Rollkoffer. Der Lärm steigerte sich in der riesigen Bahnhofshalle sogar noch und wurde schließlich ganz unerträglich, als Andreas ins helle, von den vielen gegenüberliegenden Fenstern auf die Stufen der gewaltigen Treppe an der monumentalen Front des Bauwerks zurückgeworfene Sonnenlicht blinzelte.

Diese Treppe glitt der Mantel nun vor ihm hinunter. Es war genau 8 Uhr 28 bei 5 Grad Plus. So stand es auf einem roten Leuchtband unten auf dem Bahnhofsplatz. Andreas fror und er glaubte, nicht richtig zu sehen. Denn da unten wogte trotz der Kälte eine riesige Menschenmenge hin und her, mit Transparenten und Trillerpfeifen. Das war ja eine tolle Begrüßung zum Arbeitsbeginn!

»Oben bleiben – oben bleiben! Wir wollen kein Milliardengrab!«, schallte es in Chören an gegen: »Bahn frei für modernes Reisen. Schnellbahntrasse … große Klasse.« Ein junger Mann mit einer rot-wallenden Haarmähne brüllte in ein Megaphon: »Vier Milliarden für vier Minuten Zeitgewinn – das ergibt wirklich keinen Sinn!« Dann machte er auf die Gefahr für die Mineralwasser-Quellen aufmerksam, geißelte die viel zu geringe Kapazität des geplanten Tiefbahnhofs und sprach über vorprogrammierte Verspätungen wegen der nur acht geplanten Gleise im Untergrund.

»Auch wenn das Ergebnis aufgrund irreführender Behauptungen – ich würde sie aus heutigem Wissen gar Lügen nennen – bei der Volksabstimmung uns zu Verlierern gemacht hat, so bleiben wir doch dabei: Unser Bahnhof darf in diesem Loch, das da gerade hinter diesem Zaun gebuddelt wird, nicht vergraben werden. Schlimm ist nur, dass die neue Regierung, die wir doch alle herbeigesehnt haben, nun anscheinend gar nichts mehr für uns tun will. Aber auch auf uns allein gestellt, kämpfen wir weiter bis zum guten Ende. Und das wird kommen. Glaubt es mir, Freunde, Mitstreiter!« Wieder das Gejohle und schrille Pfeifkonzert. Die Menschenansammlung vor Andreas verkeilte sich völlig ineinander. Stoffbahnen wurden in die Luft gereckt, auf denen zu lesen war, wie viele Bäume im Park sinnlos umgehackt worden waren und dass die gesamte Frischluftzufuhr im Kessel gestört würde. Auch auf die aussterbenden Tierarten wurde hingewiesen … und dann ertönte wieder das rhythmische »Oben bleiben – oben bleiben!«

Die Gegner von Stuttgart 21 schienen in der Mehrzahl zu sein. Rentner, viele junge Leute und selbst biedere Hausfrauen demonstrierten gegen den Bahnhof, über dessen Bau schon Jahre zuvor entschieden worden war, den sie aber nun, wo es tatsächlich angefangen hatte mit dem Ausheben der riesigen Baugrube, nicht mehr haben wollten. Eine Minderheit zeigte sich dagegen begeistert davon, dass die Stuttgarter Berlin verkehrstechnisch nun bald in den Schatten stellen würden – in etwa fünf Jahren schon – und die Nachbarn in München dann immer noch mit ihrem Sackbahnhof aus dem 19. Jahrhundert leben müssten wie mit einem Brett vor dem Kopf. Aber das passte zu denen ja auch ganz genau.

»Herzlich willkommen bei der Bahn der Zukunft. Anscheinend hat Sie der Mob da unten nicht aufhalten können«, begrüßte Dr. Vogel Andreas, am Fenster seines großen und elegant eingerichteten Büros stehend – direkt vis-à-vis vom Bahnhofsturm. Angewidert schaute er dabei in seinem Maßanzug hinab auf die Menschenmenge da unten auf dem Bahnhofsplatz und setzte breit grinsend hinzu: »Uns wird er das auch nicht können. Mit Ihnen ist nun meine Führungsriege komplett. Ich verstehe wirklich nicht, in was sich dieser Pöbel alles hineinmischen will. S 21 wurde bestens geplant und ist bereits seit über zehn Jahren ordnungsgemäß genehmigt. Die Stadt Stuttgart und anscheinend auch die neue Landesregierung stehen doch hinter uns. Oder machen zumindest nichts, was uns weh tun könnte. Das hätte ich von dem älteren Herrn überhaupt nicht erwartet, galt er doch früher als richtiger Revoluzzer. Und Sie können sich von Ihrem Kollegen, der für die Finanzen zuständig ist, zeigen lassen, dass all die Zuschüsse der Schwaben unsere Bilanz wie ein warmer Regen düngen. Eine Bilderbuchrendite!«

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