Alraune. Phantastischer Roman

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»Nette Geschichten für die Kinder!« kläffte Rechtsanwalt Manasse. Die beiden Mädchen hörten gierig zu, starrten den Justizrat an mit weit offenen Augen und Mündern.

Aber der liess sich nicht unterbrechen. »Ach was, an so was kann man sich nicht früh genug gewöhnen.« Er tat so, als wenn Lustmörder das Allergewöhnlichste seien, was es gäbe im Leben, als ob man ihnen jeden Tag dutzendweise begegne.

Endlich war er zu Ende, sah nach der Uhr. »Zehn schon! Die Kinder müssen zu Bett! Trinkt noch rasch eine Glas Bowle.«

Die Mädchen tranken, aber die Prinzess erklärte, dass sie auf keinen Fall nach Hause ginge. Sie habe solche Angst und könne nicht allein schlafen. Und mit ihrer Miss auch nicht – – vielleicht sei die auch so ein verkleideter Lustmörder. Sie wolle bei ihrer Freundin bleiben. Sie fragte ihre Mama erst gar nicht, nur Frieda und deren Mutter.

»Meinswegen!« sagte Frau Gontram. »Aber verschlaft euch nicht, dass ihr zur rechten Zeit in die Kirch kommt.«

Die Mädchen knixten und gingen hinaus. Arm in Arm, eng umfasst.

»Fürchtest du dich auch?« fragte die Prinzess.

Frieda sagte: »Es ist alles gelogen, was der Papa sagt.« Aber Angst hatte sie trotzdem. Angst – – und daneben ein seltsames Wunschgefühl nach diesen Dingen. Nicht sie zu erleben – o nein, gewiss nicht. Aber sie sich auszudenken, sie auch so erzählen zu können. »Ach, das wären Sünden für die Beichte!« seufzte sie.

Oben trank man die Bowle aus, Frau Gontram rauchte noch eine letzte Zigarre. Herr Manasse war aufgestanden, hinausgegangen ins Nebenzimmer. Und der Justizrat erzählte der Fürstin eine neue Geschichte. Sie versteckte ihr Gähnen hinter dem Fächer, versuchte immer wieder auch einmal zu Wort zu kommen.

»Ach ja, liebster Herr Justizrat,« sagte sie rasch, »ich vergass es fast! Darf ich Ihre Frau Gemahlin morgen mittag mit dem Wagen abholen? Ein bisschen mitnehmen nach Rolandseck?«

»Gewiss,« antwortete er, »gewiss – – wenn sie will.«

Aber Frau Gontram sagte: »Ich kann nich ausfahre.«

»Und warum denn nicht?« fragte die Fürstin. »Es würde Ihnen doch gewiss recht gut tun, ein wenig hinauszukommen in die frische Frühlingsluft.«

Frau Gontram nahm langsam die Zigarre aus den Zähnen. »Ich kann nich ausfahre. Ich han keine anständige Hut aufzusetze – –«

Die Fürstin lachte, tat, als ob das ein Scherz hätte sein sollen. Sie wolle gleich morgen die Modistin schicken, mit neuen Frühlingsmodellen zum Aussuchen –

»Meinswegen,« sagte Frau Gontram. »Aber dann schicken Se die Becker, die von der Quirinusjass – die hat de besten.« Sie erhob sich langsam, betrachtete bedächtig ihren ausgebrannten Stummel. »Un jetzt jeh ich schlafe – gute Nacht!«

»O ja, es ist Zeit, ich muss auch gehen!« rief die Fürstin hastig. Der Justizrat brachte sie hinunter, durch den Garten zur Strasse. Half ihr in die Equipage, schloss dann bedächtig das Gartentor.

Als er zurückkam, stand seine Frau in der Haustüre, die brennende Kerze in der Hand.

»Mer könne nich zu Bett jehe,« sagte sie ruhig.

»Was?« fragte er. »Warum denn nicht?«

Sie wiederholte: »Mer könne nich zu Bett jehe. – Dä Manasse liegt als im Bett!«

Sie stiegen die Treppen hinauf in den zweiten Stock, gingen ins Schlafzimmer. In dem riesigen Ehebett lag, hübsch quer und fest schlafend, der kleine Rechtsanwalt. Seine Kleider hingen sorgfältig über dem Stuhl, die Stiefel standen daneben. Ein reines Nachthemd hatte er aus dem Schrank genommen und angezogen. Neben ihm, wie ein Igeljunges, knüllte sich sein Cyklop.

Justizrat Gontram nahm die Kerze und leuchtete.

»Und der Mann schimpft mich aus, dass ich faul sei!« sagte er in kopfschüttelnder Verwunderung. »Und ist selbst zu faul, um nach Haus zu gehen!«

»Sss!« machte Frau Gontram. »Sss, sonst weckste se alle beide auf.«

Sie nahmen Bettzeug und Nachtwäsche aus dem Schranke und gingen. Ganz leise. Frau Gontram machte unten zwei Lager zurecht, auf den Sofas.

Da schliefen sie.

Alle schliefen im weiten Hause. Unten neben der Küche Billa, die starke Küchenmagd, bei ihr die drei Hunde; im Nebenzimmer die vier wilden Buben, Philipp, Paulche, Emilche und Jösefche. Oben schliefen die beiden Freundinnen, in Friedas grossem Balkonzimmer; schlief nebenan Wölfche mit seinem schwarzen Tabakschnuller; schliefen im Salon Herr Sebastian Gontram und seine Frau. Im zweiten Stock schnarchten um die Wette Herr Manasse und sein Cyklop, und ganz oben, in der Mansarde, schlief Söfchen das Stubenmädchen, das vom Tanzboden zurückgekommen und leise hinaufgeschlichen war über die Treppen. Sie alle schliefen, schliefen. Zwölf Menschenkinder und vier scharfe Hunde.

Aber irgend etwas schlief nicht. Schlurfte langsam um das weite Haus –

Draussen, am Garten vorbei, zog der Rhein. Hob seine in Mauern geschnürte Brust, schaute in die schlafenden Villen, drängte sich eng an den Alten Zoll. Katzen und Kater schoben sich durch die Büsche, fauchten, bissen, schlugen einander, fuhren los mit runden, heiss funkelnden Augen. Nahmen sich, lüstern, versagend, in schmerzender, quälender Lust –

Und hinten, weit hinten aus der Stadt her, tönte der trunkene Sang wilder Studenten –

Etwas kroch um das weisse Haus am Rhein. Schlich durch den Garten, vorbei an zerbrochenen Bänken und lahmen Stühlen. Schaute wohlgefällig auf das Sabbathtreiben der liebegierigen Katzen –

Stieg um das Haus. Kratzte mit hartem Nagel an die Wände, dass der Stuck klirrend herabfiel. Knipste auch an die Türe, dass sie leise erbebte. Wie ein Wind, so leicht.

Dann war es im Haus. Schlurfte über alle Treppen, kroch bedächtig durch alle Zimmer. Blieb stehn, sah sich rings um, still lächelnd.

Schweres Silber stand im Mahagonibüfett, reiche Schätze aus der Kaiserzeit. Aber die Fensterscheiben waren gesprungen und die Sprünge mit Papier verklebt. Holländer hingen an den Wänden, gute Bilder von Koekkoek, Verboekhvoeven, Verwée und Jan Stobbaerts. Aber sie hatten Löcher und die alten Goldrahmen waren schwarz von Spinnweben. Aus des Erzbischofs bestem Saale stammte der herrliche Lüster – aber seine zerbrochenen Kristalle klebten von Fliegendreck.

Etwas schlich durch das stille Haus. Und wo es hinkam, da brach etwas. Nur ein Nichts fast, nur eine unnennbare Kleinigkeit. Aber wieder und immer wieder.

Wo es hinkam, wuchs aus der Nacht ein kleinstes Geräusch. Knirschte hell eine Diele, löste sich ein Nagel, bog sich ein altes Möbel. Knarrte es in den verquollenen Läden oder klirrte seltsam zwischen den Gläsern –

Alles schlief in dem grossen Hause am Rhein. Aber irgend etwas schlurfte langsam herum –

Zweites Kapitel,
das erzählt, wie es geschah, dass man Alraune erdachte

Die Sonne war schon herunter, und die Kerzen brannten im Kronleuchter des Festzimmers, als Geheimrat ten Brinken eintrat. Er sah feierlich genug aus, war im Frack, den grossen Stern auf dem weissen Hemd und die Goldkette im Knopfloch, von der zwanzig kleine Orden baumelten. Der Justizrat stand auf, begrüsste ihn, stellte ihn vor, und der alte Herr ging herum um die Tafel mit einem abgetragenen Lächeln, sagte jedem ein süsses Wort. Bei den Festmädchen blieb er stehn, überreichte ihnen hübsche Lederetuis mit Goldringen, einen Saphir für die blonde Frieda und einen Rubin für die schwarze Olga. Hielt ihnen beiden eine sehr weise Ansprache.

»Wollen Sie nachexerzieren, Herr Geheimrat?« fragte Herr Sebastian Gontram. »Wir sitzen schon seit vier Uhr da – siebzehn Gänge! Fein, was? Da ist das Menü – suchen Sie sich was aus!« Aber der Geheimrat dankte, er habe schon gegessen –

Dann trat Frau Gontram ins Zimmer. Im blauen, etwas altmodischen, seidenen Schleppkleide, hochfrisiert.

»Mer könne kein Eis esse,« rief sie, »dat Billa hat dä Fürst Pückler in der Backofe jestellt!«

Da lachten die Gäste: so etwas musste ja kommen, sonst fühlte man sich nicht wohl im Gontramhause. Und Rechtsanwalt Manasse rief, man solle die Schüssel hereinholen, das sähe man nicht alle Tage: Fürst Pückler frisch aus dem Backofen!

Geheimrat ten Brinken suchte nach einem Stuhle. Er war ein kleiner Mann. Glattrasiert, dicke Tränensäcke unter den Augen; er war hässlich genug. Wülstig hingen die Lippen, fleischig die grosse Nase. Tief hing deckend das Lid über dem linken Auge, aber das rechte stand weit offen, schielte lauernd hinaus.

Jemand sagte hinter ihm: »Tag, Ohm Jakob.«

Das war Frank Braun.

Der Geheimrat wandte sich, es schien ihm wenig angenehm, den Neffen hier zu treffen. »Du hier?« fragte er. »Nun, ich hätte es mir eigentlich denken können.«

Der Student lachte. »Aber natürlich! Bist ja so weise, Onkel. Übrigens bist du ja auch da. Und bist da, ganz offiziell, als Wirklicher Geheimer und als Universitätsprofessor, im stolzen Schmucke all deiner Orden. Ich aber bin nur ganz inkognito da – – das Korpsband steckt in der Westentasche.«

»Das beweist eben dein schlechtes Gewissen,« sagte der Onkel. »Wenn du erst –«

»Ja, ja!« unterbrach ihn Frank Braun. »Ich weiss es schon. Wenn ich erst so alt bin wie du, dann darf – – und so weiter – – das wolltest du doch sagen? Allen Heiligen sei Dank, dass ich noch nicht zwanzig bin, Ohm Jakob. Ich befinde mich ganz wohl dabei.«

Der Geheimrat setzte sich. »Ganz wohl, das kann ich mir denken. Bist im vierten Semester und tust nichts als raufen und saufen, fechten, reiten, lieben und dumme Streiche machen! Hat dich darum deine Mutter zur Universität geschickt? – Sag, Junge, warst du überhaupt schon einmal in einem Kolleg?«

Der Student füllte zwei Kelche. »Da, Ohm Jakob, trink, dann wirst du's leichter ertragen! Also: im Kolleg war ich schon, und zwar nicht nur in einem, sondern in einer ganzen Reihe. In jedem genau einmal – – und öfter gedenke ich auch nicht mehr hinzugehen. – Prosit!«

 

»Prosit!« sagte der Geheimrat. »Und du meinst, das sei völlig genug?«

»Genug?« lachte Frank Braun. »Ich meine, es sei sogar viel zu viel. Sei vollkommen überflüssig gewesen! Was soll ich im Kolleg? Es ist schon möglich, dass andere Studenten eine ganze Masse lernen können bei euch Professoren, aber ihr Hirn muss dann eingestellt sein auf diese Methode. Meins ist es nicht. Ich finde euch alle, jeden einzelnen, unglaublich albern und langweilig und dumm.«

Der Professor sah ihn gross an. »Du bist ungeheuer arrogant, mein lieber Junge,« sagte er ruhig.

»Wirklich?« Der Student lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander. »Wirklich? Ich glaube es kaum, aber ich meine, wenn's auch so wäre, möchte es nichts schaden. Denn sieh mal, Ohm Jakob, ich weiss doch genau, warum ich das sage. Erstens, um dich ein bisschen zu ärgern – – du siehst nämlich sehr komisch aus, wenn du dich ärgerst. Und zweitens, um nachher zu hören von dir, dass ich doch recht habe. Du, Onkel, zum Beispiel, bist ganz gewiss ein recht schlauer alter Fuchs, sehr gescheit und sehr klug und du weisst eine ganze Menge. Aber im Kolleg, siehst du, bist du ebenso unerträglich wie deine verehrten Herren Kollegen. – Sag selber, möchtest du sie vielleicht im Kolleg geniessen?«

»Ich? – Nun, ganz gewiss nicht,« sagte der Professor. »Aber das ist auch ein ander Ding. Wenn du erst – na ja, du weisst es schon. – Aber nun sag mir, Junge, was in aller Welt führt dich hierher? Du wirst mir zugeben müssen, dass es nicht ein Haus ist, in dem dich deine Mutter gerne sehen möchte. Was mich anbetrifft –«

»Schon gut!« rief Frank Braun. »Was dich angeht, so weiss ich Bescheid. Du hast dieses Haus an Gontram vermietet und da er sicher kein pünktlicher Zahler ist, so ist es immer gut, wenn man sich von Zeit zu Zeit sehen lässt. Und seine schwindsüchtige Frau interessiert dich natürlich als Mediziner – – alle Ärzte der Stadt sind ja begeistert von diesem Phänomen ohne Lungen. Dann ist da noch die Fürstin, der du gerne dein Schlösschen in Mehlem verkaufen möchtest. – Und schliesslich, Onkelchen, sind die zwei Backfische da, hübsches frisches Gemüse, nicht wahr? – Oh, in allen Ehren natürlich, bei dir ist immer alles in allen Ehren, Ohm Jakob!«

Er schwieg, brannte eine Zigarette an und stiess den Rauch aus. Der Geheimrat schielte ihn an mit dem rechten Auge, giftig und lauernd.

»Was willst du damit sagen?« fragte er leise.

Der Student lachte kurz auf. »O nichts, gar nichts!« Er stand auf, nahm vom Ecktisch eine Zigarrenkiste, öffnete sie, reichte sie dem Geheimrat hin. »Da rauch, lieber Oheim. Romeo und Juliette, deine Marke! Der Justizrat hat sich gewiss nur für dich in die Unkosten gestürzt.«

»Danke!« knurrte der Professor. »Danke! – Noch einmal: was willst du damit sagen?«

Frank Braun rückte seinen Stuhl näher heran.

»Ich will dir antworten, Ohm Jakob. – Ich mag nicht mehr leiden, dass du mir Vorwürfe machst, hörst du? Ich weiss selbst recht gut, dass das Leben ein wenig wüst ist, das ich führe. Aber lass das – – dich geht's nichts an. Ich bitte dich ja nicht, meine Schulden zu zahlen. Nur verlang ich, Onkel, dass du nie wieder solche Briefe schreibst nach Hause. Du wirst schreiben, dass ich sehr tugendhaft, sehr moralisch sei, tüchtig arbeite, Fortschritte mache. Und solches Zeug. – Verstehst du?«

»Da müsste ich ja lügen,« sagte der Geheimrat. Es sollte liebenswürdig klingen und witzig, aber es klang schleimig, als ob eine Schnecke ihren Weg zöge.

Der Student sah ihn voll an. »Ja, Onkel, da sollst du eben lügen. Nicht meinetwegen, das weisst du wohl. Der Mutter wegen.« Er stockte einen Augenblick, leerte sein Glas. »Und um diese Bitte, dass du der Mutter was vorlügen mögest, ein wenig zu unterstützen, will ich dir nun auch erzählen, was ich vorhin – – damit sagen wollte.«

»Ich bin neugierig.« sagte der Geheimrat. Ein wenig fragend, unsicher.

»Du kennst mein Leben,« fuhr der Student fort und seine Stimme klang bitter ernst, »du weisst, dass ich – heute noch – ein dummer Junge bin. So meinst du, weil du ein alter und kluger Mann bist, hochgelehrt, reich, überall bekannt, bedeckt mit Titeln und Orden, weil du dazu mein Oheim bist und meiner Mutter einziger Bruder, dass du ein Recht habest, mich zu erziehen. Recht oder nicht – du wirst es nie tun; niemand wird es tun – nur das Leben.«

Der Professor klatschte sich auf die Knie, lachte breit.

»Ja, ja – das Leben! Warte nur, Junge, es wird dich schon erziehen. Es hat scharfe Kanten und Ecken genug. Hat auch hübsche Regeln und Gesetze, gute Schranken und Stachelzäune.«

Frank Braun antwortete: »Die sind nicht für mich da. Für mich so wenig wie für dich. Hast du, Ohm Jakob, die Kanten abgeschlagen, die Stacheldrähte durchschnitten und gelacht über alle Gesetze – – nun wohl, so werde ich es auch können.«

»Hör zu, Onkel,« fuhr er fort, »ich kenne auch dein Leben gut genug. Die ganze Stadt kennt es und die Spatzen pfeifen deine kleinen Scherze von den Dächern. Aber die Menschen tuscheln nur, erzählen sich's in den Ecken, weil sie Angst haben vor dir, vor deiner Klugheit und deinem Gelde, vor deiner Macht und deiner Energie. – Ich weiss, woran die kleine Anna Paulert starb, weiss warum dein hübscher Gärtnerbursche so schnell fort musste nach Amerika. Ich kenne noch manche deiner kleiner Geschichten. Ah, ich goutiere sie nicht, gewiss nicht. Aber ich nehme sie dir auch nicht übel. Bewundere dich vielleicht ein wenig, weil du, wie ein kleiner König, so viele Dinge ungestraft tun kannst. – Nur begreif ich nicht recht, wie du Erfolg haben kannst bei all den Kindern – – du, mit deiner hässlichen Fratze.«

Der Geheimrat spielte mit seiner Uhrkette. Sah dann seinen Neffen an, ruhig, fast geschmeichelt. Er sprach: »Nicht wahr, das begreifst du nicht recht?«

Und der Student sagte: »Nein, ganz und gar nicht. Aber ich begreife gut, wie du dazu kommst! Längst hast du alles, was du willst, alles, was ein Mensch haben kann in den normalen Grenzen des Bürgertums. Da willst du hinaus. Der Bach langweilt sich in seinem alten Bett, tritt hier und da frech über die engen Ufer. – Es ist das Blut.«

Der Professor hob sein Glas, rückte es hinüber. »Giess mir ein, mein Junge,« sagte er. Seine Stimme zitterte ein wenig und es klang eine gewisse Feierlichkeit heraus. »Du hast recht: es ist das Blut. Dein Blut und mein Blut.« Er trank und streckte seinem Neffen die Hand hin.

»Du wirst an Mutter so schreiben, wie ich es gerne möchte?« fragte Frank Braun.

»Ja, das werde ich!« antwortete der Alte.

Und der Student sagte: »Danke, Ohm Jakob.« Dann nahm er die ausgestreckte Hand. »Und nun geh, alter Don Juan, ruf dir die Kommunikantinnen! Sehen hübsch aus in ihren heiligen Kleidchen, alle beide, was?«

»Hm!« machte der Onkel, »Dir scheinen sie auch nicht schlecht zu gefallen?«

Frank Braun lachte. »Mir? Ach du mein Gott! – Nein, Ohm Jakob, da bin ich kein Rivale – heute noch nicht, heute hab ich noch höhere Ambitionen. Vielleicht – wenn ich einmal so alt bin wie du! – Aber ich bin nicht ihr Tugendwächter und die zwei Feströschen wollen ja nichts Besseres, als gepflückt werden. Einer tut's, und in kürzester Zeit – warum du nicht? Heh, Olga, Frieda! Kommt einmal her!«

Aber die beiden Mädchen kamen gar nicht heran, drängten sich an Herrn Dr. Mohnen, der ihre Gläser füllte und ihnen zweideutige Geschichten erzählte.

Die Fürstin kam; Frank Braun stand auf und bot ihr seinen Platz. »Bleiben Sie, bleiben Sie!« rief sie. »Ich habe ja noch gar nicht mit Ihnen plaudern können!«

»Einen Augenblick, Durchlaucht, ich will nur eine Zigarette holen,« sagte der Student. »Und mein Onkel freut sich schon die ganze Zeit darauf, Ihnen seine Komplimente machen zu dürfen.«

Der Geheimrat freute sich gar nicht darauf, hätte viel lieber die kleine Prinzess da sitzen gehabt. Nun aber unterhielt er die Mutter –

Frank Braun trat zum Fenster, als der Justizrat Frau Marion zum Flügel führte. Herr Gontram setzte sich nieder, drehte sich im Klavierstuhl und sagte: »Ich bitte um ein wenig Ruhe. Frau Marion wird uns ein Liedchen vorsingen.« – Er wandte sich zu seiner Dame. »Na, was denn, liebe Frau? – Wahrscheinlich wieder mal ›Les Papillons‹? Oder vielleicht ›Il baccio‹ von Arditi? – Na, geben Sie nur her!«

Der Student schaute hinüber. Sie war immer noch schön, diese alte, aufgemachte Dame, und man glaubte ihr schon die vielen Aventüren, die über sie erzählt wurden. Damals, als sie die gefeiertste Diva Europas war. Nun aber lebte sie schon seit bald einem Vierteljahrhundert in dieser Stadt, still, zurückgezogen in ihrer kleinen Villa. Machte jeden Abend einen langen Spaziergang durch ihren Garten, weinte dort eine halbe Stunde an dem blumigen Grabe ihres Hündchens –

Jetzt sang sie. Längst gebrochen war diese herrliche Stimme, aber doch war ein seltener Zauber in ihrem Vortrage aus alter Schule. Auf den geschminkten Lippen lag das alte Lächeln der Siegerin und unter dem dicken Puder versuchten die Züge ihre ewige Pose bestrickender Lieblichkeit. Ihre dicke, verfettete Hand spielte mit dem Elfenbeinfächer und die Augen suchten wie einst aus allen Ritzen den Beifall zu ziehen.

O ja, sie passte hierher, Madame Marion Vère de Vère, passte in dies Haus, wie alle andern, die zu Gast waren. Frank Braun sah sich um. Da sass sein teurer Onkel mit der Fürstin, und hinter ihnen, an die Tür gelehnt, standen Rechtsanwalt Manasse und Hochwürden Kaplan Schröder. Dieser dürre, lange, schwarze Kaplan Schröder, der der beste Weinkenner war an der Mosel und an der Saar, der den erlesensten Keller führte und ohne den eine Weinprobe schier unmöglich schien im Lande. Schröder, der ein unendlich kluges Buch geschrieben hatte über des Plotinus krause Philosophie und der zugleich die Possen schrieb für das Puppentheater des Kölner Hänneschen. Der ein glühender Partikularist war, der die Preussen hasste, der, wenn er vom Kaiser sprach, nur an den ersten Napoleon dachte und alljährlich am fünften Mai nach Köln hinüberfuhr, um in der Minoritenkirche dem feierlichen Hochamte für die Toten der ›Grande Armée‹ beizuwohnen.

Da sass der gewaltige, goldbebrillte Stanislaus Schacht, cand. phil. im sechzehnten Semester, zu behäbig, zu faul sich auch nur zu erheben vom Stuhle. Seit Jahren wohnte er, als möblierter Herr, bei Frau Witwe Prof. Dr. v. Dollinger – – nun waren ihm längst Hausherrnrechte dort eingeräumt. Und diese kleine, hässliche, überschlanke Frau sass bei ihm, füllte ihm immer von neuem das Glas, lud immer höhere Portionen Kuchen auf seinen Teller. Sie ass nichts – aber sie trank nicht weniger wie er. Und mit jedem neuen Glas wuchs ihre Zärtlichkeit; liebend strich sie die knochigen Finger über seine mächtigen Fleischerarme.

Neben ihr stand Karl Mohnen, Dr. jur. und Dr. phil. Er war ein Schulkamerad von Schacht und dessen grosser Freund, studierte nun ebensolange wie der. Nur musste er immer Examina machen, musste immer umsatteln; augenblicklich war er Philosoph und dicht vor seinem dritten Examen. Er sah aus wie ein Kommis im Warenhaus, rasch, hastig und immer bewegt; Frank Braun dachte, dass er sicher noch einmal zum Kaufmann übergehen würde. Da würde er gewiss sein Glück machen, so in der Konfektionsbranche, wo er Damen zu bedienen hätte. Er suchte immer nach einer reichen Partie – – auf der Strasse. Machte Fensterpromenaden, hatte auch ein artiges Geschick, Bekanntschaften anzuknüpfen. Besonders reisende Engländerinnen krallte er gern an, aber leider – hatten sie nie Geld.

Noch einer war da, der kleine Husarenleutnant mit dem schwarzen Schnurrbärtchen, der jetzt plauderte mit den Mädchen. Er, der junge Graf Geroldingen, der in jeder Theatervorstellung hinter den Kulissen zu finden war, der ganz hübsch malte, talentvoll geigte und dabei doch der beste Rennreiter war im Regiment. Und der nun Olga und Frieda etwas von Beethoven erzählte, was sie grässlich langweilte und was sie nur anhörten, weil er ein so hübscher kleiner Leutnant war.

O ja, sie gehörten alle hierher, ohne Ausnahme. Hatten alle ein wenig Zigeunerblut – trotz ihrer Titel und Orden, trotz Tonsuren und Uniformen, trotz Brillanten und goldenen Brillen, trotz aller bürgerlichen Stellungen. Waren irgendwo angefressen, machten irgendwie kleine Umwege, seitab von den eingefassten Pfaden bürgerlichen Anstandes.

Ein Gebrüll ertönte, mitten hinein in Frau Marions Gesang. Es waren die Gontrambuben, die sich prügelten auf der Treppe; ihre Mutter ging hinaus, sie zur Ruhe zu bringen. Dann kreischte Wölfchen im Nebenzimmer und die Mädchen mussten das Kind hinauftragen in die Mansarden. Sie nahmen Cyklop mit, betteten beide zusammen in den engen Kinderwagen.

 

Und Frau Marion begann ihr zweites Lied: den ›Schattentanz‹ aus Meyerbeers Dinorah.

– Die Fürstin fragte den Geheimrat nach seinen neuesten Versuchen. Ob sie wieder einmal kommen dürfe die merkwürdigen Frösche zu sehen, die Lurche und die hübschen Äffchen?

Ja gewiss, sie möge nur kommen. Auch die neue Rosenzucht solle sie sich ansehen, in seinem Mehlemer Schlösschen, und die grossen weissen Kamelienhecken, die sein Gärtner dort anpflanzte.

Aber der Fürstin waren die Frösche und Affen interessanter als die Rosen und Kamelien. Und so erzählte er von seinen Versuchen der Übertragung von Keimzellen und der künstlichen Befruchtung. Sagte ihr, dass er gerade ein hübsches Fröschlein da habe mit zwei Kopfenden und ein anderes mit vierzehn Augen auf dem Rücken. Setzte ihr auseinander, wie er die Keimzellen ausschneide aus der Kaulquabbe und sie übertrage auf ein anderes Individuum. Und wie sich die Zellen fröhlich weiter entwickelten im neuen Leibe und nach der Verwandlung Köpfe und Schwänze, Augen und Beine hervortrieben. Sprach ihr dann von seinen Affenversuchen, erzählte, dass er zwei junge Meerkatzen habe, deren jungfräuliche Mutter, die sie nun säugte, nie einen männlichen Affen sah –

Das interessierte sie am meisten. Sie fragte nach allen Details, liess sich bis ins kleinste genau auseinandersetzen, wie er es anstelle, liess sich alle griechischen und lateinischen Worte, die sie nicht verstand, hübsch in deutsch wiedergeben. Und der Geheimrat triefte von unflätigen Redensarten und Gebärden. Der Speichel tropfte ihm aus den Mundwinkeln, lief über die schleppende, hängende Unterlippe. Er genoss dieses Spiel, dieses koprolale Geschwätz, schlürfte wollüstig die Klänge schamloser Worte. Und dann, dicht bei einem besonders widerlichen Worte, warf er sein ›Durchlaucht‹ hinein, trank mit Entzücken den Kitzel dieses Gegensatzes.

Sie aber lauschte ihm, hochrot, aufgeregt, zitternd fast, sog mit allen Poren diese Bordellatmosphäre, die sich breit aufputzte in dem dünnen wissenschaftlichen Fähnchen –

»Befruchten Sie nur Äffinnen, Herr Geheimrat?« fragte sie atemlos.

»Nein,« sagte er, »auch Ratten und Meerschweinchen. Wollen Sie einmal zusehen, Durchlaucht, wenn ich – –« Er senkte seine Stimme, flüsterte beinahe.

Und sie rief: »Ja, ja! Das muss ich sehen! Gerne, sehr gerne! – – Wann denn?« – Und sie fügte hinzu, mit schlecht gemachter Würde: »Denn wissen Sie, Herr Geheimrat, nichts interessiert mich mehr als medizinische Studien. – Ich glaube, ich wäre ein sehr tüchtiger Arzt geworden.«

Er sah sie an, breit grinsend. »Zweifellos, Durchlaucht!« Und er dachte, dass sie gewiss noch eine viel bessere Bordellmutter geworden wäre. Aber er hatte sein Fischlein im Garn. Begann wieder von der Rosenzucht und den Kamelienhecken und seinem Schlösschen am Rhein. Es sei ihm so lästig, und er habe es nur aus Gutmütigkeit übernommen. Und die Lage sei eine so ausgezeichnete – – und erst die Aussicht. – Und vielleicht, wenn Ihre Durchlaucht sich nun endlich entschliessen wolle, könne –

Die Fürstin Wolkonski entschloss sich, ohne einen Augenblick zu zögern. »Ja, Herr Geheimrat, ja gewiss, natürlich nehme ich das Schlösschen!« – Sie sah Frank Braun vorbeigehn und rief ihn an: »Ach, Herr Studiosus! Herr Studiosus! Kommen Sie doch! Ihr Herr Onkel hat mir versprochen, mir einige seiner Experimente zu zeigen – – ist das nicht entzückend liebenswürdig? Haben sie es auch schon einmal gesehen?«

»Nein,« sagte Frank Braun. »Es interessiert mich gar nicht.«

Er wandte sich, aber sie hielt ihn am Ärmel fest. »Geben Sie – geben Sie mir eine Zigarette! Und – ach ja, bitte ein Glas Sekt.« Sie zitterte im heissen Kitzel, über ihre Fleischmassen kroch ein perlender Schweiss. Ihre groben Sinne, aufgepeitscht von den schamlosen Reden des Alten, suchten ein Ziel, brachen wie breite Wogen über den jungen Burschen.

»Sagen Sie mir, Herr Studiosus – –« ihr Atem keuchte, ihre mächtigen Brüste drohten das Mieder zu sprengen. – »Sagen Sie mir – – glauben Sie, dass – dass der Herr Geheimrat – – seine Wissenschaft, seine Experimente mit der – der künstlichen Befruchtung – auch auf Menschen anwenden könnte?«

Sie wusste recht gut, dass er's nicht tat. Aber sie musste dieses Gespräch fortsetzen, weiterführen um jeden Preis. Da, mit diesem jungen und frischen, hübschen Studenten.

Frank Braun lachte, verstand instinktiv ihre Gedanken. »Aber natürlich, Durchlaucht.« sagte er leicht. »Ganz gewiss! – Der Onkel ist gerade dabei – hat ein neues Verfahren entdeckt, so fein, dass die betreffende arme Frau gar nichts davon merkt. Rein nichts – bis sie eines schönen Tages fühlt, dass sie schwanger ist – so im vierten oder fünften Monat! – Nehmen Sie sich in acht, Durchlaucht, vor dem Herrn Geheimrat, wer weiss, ob Sie nicht schon –«

»Um's Himmels willen!« schrie die Fürstin.

»Ja, nicht wahr,« rief er, »das wäre doch unangenehm? – Wenn man so gar nichts davon gehabt hat!«

– Krach! Da fiel etwas von der Wand herunter, fiel Söfchen, dem Stubenmädchen, grad auf den Kopf. Und das Mädchen schrie laut auf, liess im Schreck das silberne Tablett fallen, auf dem sie den Kaffee servierte.

»Schad um das schöne Sèvres!« sagte Frau Gontram gleichmütig. »Wat war et denn?«

Dr. Mohnen nahm sich sogleich des weinenden Dienstmädchens an. Schnitt ihr einen Strang Haare weg, wusch die klaffenden Wundränder, stillte das Blut mit gelber Eisenchloridwatte. Vergass dabei nicht, das hübsche Mädchen auf die Wangen zu klopfen und verstohlen an die straffen Brüste zu fassen. Gab ihr auch Wein zu trinken, sprach ihr zu, leise ins Ohr –

Aber der Husarenleutnant bückte sich, nahm das Ding auf, das das Unheil gestiftet hatte. Hob es hoch, betrachtete es von allen Seiten.

Da, an der Wand hingen alle möglichen merkwürdigen Gegenstände. Ein Kanakengötze, halb Mann und halb Weib, bunt bemalt mit gelben und roten Streifen. Zwei alte Reiterstiefel, unförmig schwer, mit mächtigen spanischen Sporen versehen. Allerhand rostige Waffen, dann, auf grauer Seide gedruckt, das Doktordiplom irgendeines alten Gontram, von der Jesuitenhochschule zu Sevilla. Hing ein wundervolles elfenbeinernes Kruzifix, mit Gold eingelegt; hing ein schwerer buddhistischer Rosenkranz aus grossen grünen Jadesteinen.

Ganz oben aber hatte das Ding gehangen, das nun heruntergesprungen war; man sah gut den breiten Riss in der Tapete, wo es den Nagel weggezerrt hatte aus dem zermürbten Mörtel. Es war ein braunes staubiges Ding aus steinhartem Wurzelholz; wie ein uraltes, verrunzeltes Männlein sah es aus.

»Ach, et is unser Alräunche!« sagte Frau Gontram. »Na, et is nur jut, dat jrad dat Söfche vorbeijing: dat is aus der Eifel und hat ene harte Schädel! – Wenn et et Wölfche jewesen wär, hätt ihm dat ekliche Männche jewiss dat weiche Köppche zerschlagen.«

Und der Justizrat erklärte: »Wir haben es nun schon ein paar hundert Jahre in der Familie. Es soll schon einmal eine solche Dummheit gemacht haben; mein Grossvater erzählte, dass es ihm einmal in der Nacht auf den Kopf gesprungen sei. – Aber er wird wohl nur betrunken gewesen sein – – er trank immer gern ein gutes Tröpfchen.«

»Was ist's denn eigentlich? Und was macht man damit?« fragte der Husarenleutnant.

»Nun, es bringt Geld ins Haus,« antwortete Herr Gontram. »Es ist so eine alte Sage. – Der Manasse wird Ihnen das sagen können. – Kommen Sie, Herr Collega, schnurren Sie ab, Herr Polyhistor! – Wie ist die Sage von den Alraunen?«