Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Der Säug­ling riss bru­tal sei­nen Arm frei. »Las­sen Sie mich zu­frie­den!«, sag­te er sehr laut. »Wenn Sie wis­sen wol­len, was wir ge­re­det ha­ben, fra­gen Sie die jun­ge Dame dort! Ges­tern ist ihr Ver­lob­ter erst ge­fal­len, heu­te hat sie schon wie­der einen an­de­ren auf dem Korn! Ver­damm­ter Wei­ber­kram!«

Er hat­te im­mer mehr dem Aus­gang zu­ge­drängt, den Gri­go­leit schon er­reicht hat­te. Jetzt ging auch er hin­aus. Der Fet­te sah ihm einen Au­gen­blick nach. Dann wand­te er sich dem Tisch zu, an dem das Mäd­chen und der Dunkle noch im­mer mit blas­sen Ge­sich­tern sa­ßen. Das be­ru­hig­te ihn. Vi­el­leicht habe ich doch kei­nen Feh­ler be­gan­gen, als ich ihn lau­fen ließ. Er hat mich über­rum­pelt. Aber …

Er sag­te höf­lich: »Ge­stat­ten Sie, dass ich mich einen Au­gen­blick zu Ih­nen set­ze und ein paar Fra­gen stel­le?«

Tru­del Bau­mann ant­wor­te­te: »Ich kann Ih­nen nichts an­de­res sa­gen, als was der Herr eben er­zählt hat. Ich habe ges­tern die Nach­richt vom Tode mei­nes Ver­lob­ten be­kom­men, und heu­te möch­te die­ser Herr sich mit mir ver­lo­ben.«

Ihre Stim­me klang fest und si­cher. Jetzt, wo die Ge­fahr an ih­rem Tisch saß, wa­ren Angst und Un­ru­he ver­flo­gen.

»Wür­den Sie et­was da­ge­gen ha­ben, den Na­men Ihres ge­fal­le­nen Ver­lob­ten zu nen­nen? Und sei­ne For­ma­ti­on?« Sie tat es. »Und nun Ihr Name? Ihre Adres­se? Ihre Ar­beits­stel­le? Ha­ben Sie viel­leicht ir­gend­ei­nen Aus­weis bei sich? Ich dan­ke! Und nun Sie, mein Herr.«

»Ich ar­bei­te in dem­sel­ben Be­trieb. Ich hei­ße Karl Her­ge­sell. Hier mein Ar­beits­buch.«

»Und die bei­den an­de­ren Her­ren?«

»Wir ken­nen sie gar nicht. Sie ha­ben sich an un­sern Tisch ge­setzt und plötz­lich in un­sern Streit ge­mischt.«

»Und warum strit­ten Sie?«

»Ich will ihn nicht.«

»Wa­rum war dann die­ser Herr so em­pört über Sie, wenn Sie ihn nicht wol­len?«

»Was weiß ich? Vi­el­leicht glaub­te er mei­nen Wor­ten nicht. Es är­ger­te ihn auch, dass ich mit ihm tanz­te.«

»Na schön!«, sag­te der Ge­dun­se­ne, klapp­te das No­tiz­buch zu und sah da­bei von ei­nem zum an­de­ren. Sie sa­hen wirk­lich eher ver­strit­te­nen Lie­ben­den als er­tapp­ten Ver­bre­chern ähn­lich. Schon die Art, wie sie ängst­lich ver­mie­den, ein­an­der an­zu­se­hen … Und da­bei la­gen ihre Hän­de fast be­rüh­rungs­nah auf der Tisch­plat­te. »Na schön. Ihre An­ga­ben wer­den na­tür­lich nach­ge­prüft wer­den, aber ich den­ke doch … Je­den­falls noch eine bes­se­re Fort­set­zung die­ses Abends …«

»Nicht ich!«, sag­te das jun­ge Mäd­chen. »Nicht ich!« Sie stand gleich­zei­tig mit dem an­de­ren auf. »Ich gehe nach Haus.«

»Ich brin­ge dich.«

»Nein, dan­ke, ich gehe lie­ber al­lein.«

»Tru­del!«, bat er. »Lass mich doch noch zwei Wor­te mit dir re­den!«

Die Uni­form sah lä­chelnd von ei­nem zum an­de­ren. Sie wa­ren wirk­lich Ver­lieb­te. Eine flüch­ti­ge Nach­prü­fung der An­ga­ben wür­de ge­nü­gen.

Plötz­lich hat­te sie sich ent­schlos­sen: »Nun gut, aber nur zwei Mi­nu­ten!«

Sie gin­gen. End­lich wa­ren sie aus die­sem ent­setz­li­chen Saal, aus die­ser At­mo­sphä­re von Ge­gen­sätz­lich­keit und Hass her­aus. Sie sa­hen sich um.

»Sie sind fort.«

»Wir wer­den sie nicht wie­der­se­hen.«

»Und du kannst le­ben. Nein, jetzt musst du le­ben, Tru­del! Ein un­über­leg­ter Schritt von dir wür­de die an­de­ren in Ge­fahr brin­gen, vie­le an­de­re – den­ke im­mer dar­an, Tru­del!«

»Ja«, sag­te sie, »jetzt muss ich le­ben.« Und mit ei­nem ra­schen Ent­schluss: »Lebe wohl, Karl!«

Ei­nen Au­gen­blick lehn­te sie an sei­ner Brust, ihr Mund streif­te den sei­nen. Ehe er sich noch ent­schlos­sen hat­te, lief sie schräg über die Fahr­bahn auf eine hal­ten­de Elek­tri­sche zu. Der Wa­gen fuhr an.

Er mach­te eine Be­we­gung, als woll­te er ihr nach­lau­fen. Aber er be­sann sich.

Ich wer­de sie dann und wann im Be­trieb se­hen, dach­te er. Ein gan­zes Le­ben liegt vor uns. Ich habe Zeit. Jetzt weiß ich doch, dass sie mich liebt.

1 Die Stur­m­ab­tei­lung war die pa­ra­mi­li­tä­ri­sche Kamp­f­or­ga­ni­sa­ti­on der NSDAP wäh­rend der Wei­ma­rer Re­pu­blik und spiel­te als Ord­ner­trup­pe eine ent­schei­den­de Rol­le beim Auf­stieg der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten <<<

2 Die Or­ga­ni­sa­ti­on Todt war eine pa­ra­mi­li­tä­ri­sche Bau­trup­pe im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land, die den Na­men ih­res Füh­rers Fritz Todt trug. <<<

3 Der Reichs­ar­beits­dienst (RAD) war eine Or­ga­ni­sa­ti­on im na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Reich, die ab 1935 jun­ge Män­ner (spä­ter auch Frau­en) zu ei­ner sechs­mo­na­ti­gen Ar­beits­pflicht her­an­zog. <<<

4 Der Bund Deut­scher Mä­del war in der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus der weib­li­che Zweig der Hit­ler­ju­gend. <<<

14. Sonnabend: Unruhe bei Quangels

Auch den gan­zen Frei­tag hat­ten die Ehe­leu­te Quan­gel kein Wort mit­ein­an­der ge­spro­chen – drei Tage Schwei­gen un­ter ih­nen, nicht ein­mal Bie­ten der Ta­ges­zei­ten, das war in ih­rer gan­zen Ehe noch nicht vor­ge­kom­men. So wort­karg Quan­gel auch ge­we­sen war, er hat­te doch hin und wie­der einen Satz ge­spro­chen, et­was über einen Ar­bei­ter in der Werk­statt oder we­nigs­tens über das Wet­ter oder dass ihm heu­te das Es­sen be­son­ders gut ge­schmeckt habe. Und nun nichts!

Anna Quan­gel spür­te es je län­ger je stär­ker, dass die tie­fe Trau­er, die sie um den ver­lo­re­nen Sohn emp­fand, sich zu zer­streu­en an­fing vor der Un­ru­he über den so ver­än­der­ten Mann. Sie woll­te nur an den Jun­gen den­ken, aber sie konn­te es nicht mehr, wenn sie die­sen Mann be­ob­ach­te­te, ih­ren lang­jäh­ri­gen Ehe­mann Otto Quan­gel, im­mer­hin den Mann, dem sie die meis­ten und bes­ten Jah­re ih­res Le­bens ge­wid­met hat­te. Was war in die­sen Mann ge­fah­ren? Was war los mit ihm? Was hat­te ihn so ver­än­dert?

Am Frei­tag um die Mit­tags­zeit wa­ren bei Anna Quan­gel al­ler Zorn und al­ler Vor­wurf ge­gen Otto ver­gan­gen. Hät­te sie sich den ge­rings­ten Er­folg da­von ver­spro­chen, so hät­te sie ihn we­gen ih­res vor­schnel­len Wor­tes ›Du und dein Füh­rer‹ um Ver­zei­hung ge­be­ten. Aber es war klar zu se­hen, dass Quan­gel nicht mehr an die­sen Vor­wurf dach­te, ja, an­schei­nend dach­te er auch nicht mehr an sie. Er sah an ihr vor­bei, er sah durch sie hin­durch, er stand am Fens­ter, die Hän­de in den Ta­schen sei­nes Ar­beits­rocks und pfiff lang­sam, nach­denk­lich, mit großen Pau­sen da­zwi­schen vor sich hin, was er sonst nie ge­tan hat­te.

An was dach­te der Mann? Was mach­te ihn in­ner­lich so er­regt? Sie setz­te ihm das Es­sen auf den Tisch, er fing an zu löf­feln. Ei­nen Au­gen­blick be­ob­ach­te­te sie ihn so von der Kü­che aus. Sein schar­fes Ge­sicht war über den Tel­ler ge­neigt, aber den Löf­fel führ­te er ganz me­cha­nisch zum Mun­de, sei­ne dunklen Au­gen blick­ten auf et­was, das nicht da war.

Sie wand­te sich in die Kü­che zu­rück, einen Rest Kohl zu wär­men. Ge­wärm­ten Kohl aß er ger­ne. Sie war nun fest ent­schlos­sen, ihn gleich jetzt an­zu­spre­chen, wenn sie mit dem Kohl her­ein­kam. Er moch­te ihr noch so scharf ant­wor­ten, sie muss­te die­ses un­heil­vol­le Schwei­gen bre­chen.

Aber als sie mit dem ge­wärm­ten Kohl wie­der in die Stu­be kam, war Otto ge­gan­gen, der Tel­ler stand halb leer ge­ges­sen auf dem Tisch. Ent­we­der hat­te Quan­gel ihre Ab­sicht ge­merkt und hat­te sich fort­ge­schli­chen wie ein Kind, das wei­ter trot­zen will, oder er hat­te über dem, das ihn in­ner­lich so un­ru­hig mach­te, das Wei­ter­es­sen ein­fach ver­ges­sen. Je­den­falls war er fort, und sie muss­te bis in die Nacht auf ihn war­ten.

Aber in der Nacht vom Frei­tag zum Sonn­abend kam Otto so spät von der Ar­beit, dass sie trotz all ih­rer gu­ten Vor­sät­ze schon ein­ge­schla­fen war, als er sich ins Bett leg­te. Sie wach­te erst spä­ter auf von sei­nem Hus­ten; sie frag­te be­hut­sam: »Otto, schläfst du schon?«

Der Hus­ten hör­te auf, er lag ganz still. Noch ein­mal frag­te sie: »Otto, schläfst du schon?«

Und nichts, kei­ne Ant­wort. So la­gen sie bei­de sehr lan­ge still. Je­der wuss­te von dem an­de­ren, er schlief noch nicht. Sie wag­ten nicht, ihre Stel­lung zu än­dern, um sich nicht zu ver­ra­ten. End­lich schlie­fen sie bei­de ein.

Der Sonn­abend ließ sich noch schlim­mer an. Otto Quan­gel war un­ge­wohnt früh auf­ge­stan­den. Ehe sie ihm noch sei­nen Mucke­fuck1 auf den Tisch set­zen konn­te, war er schon wie­der fort­ge­lau­fen zu ei­nem je­ner has­ti­gen, un­be­greif­li­chen Gän­ge, die er frü­her nie un­ter­nom­men hat­te. Er kam zu­rück, von der Kü­che her hör­te sie ihn in der Stu­be auf und ab ge­hen. Als sie mit dem Kaf­fee her­ein­kam, fal­te­te er sorg­fäl­tig ein großes wei­ßes Blatt, in dem er am Fens­ter ge­le­sen, zu­sam­men und steck­te es ein.

Anna war si­cher, dass es kei­ne Zei­tung ge­we­sen war. Es war zu viel Weiß auf dem Blatt, und die Schrift war grö­ßer als in ei­ner Zei­tung ge­we­sen. Was konn­te der Mann ge­le­sen ha­ben?

Sie är­ger­te sich wie­der über ihn, sei­ne Heim­lich­tue­rei, all dies Verän­dert­sein, das so viel Un­ru­he und neue Sor­gen brach­te, zu all den al­ten hin­zu, die doch schon ge­reicht hat­ten. Trotz­dem sag­te sie: »Kaf­fee, Otto!«

Bei dem Klang ih­rer Stim­me wen­de­te er sein Ge­sicht und sah sie an, ganz als sei er ver­wun­dert, dass er nicht al­lein sei in die­ser Woh­nung, ver­wun­dert, wer da mit ihm sprach. Er sah sie an, und er sah sie doch wie­der nicht an. Es war nicht sei­ne Ehe­ge­fähr­tin Anna Quan­gel, die er so an­sah, son­dern je­mand, den er ein­mal ge­kannt hat­te und des­sen er sich müh­sam er­in­nern muss­te. Ein Lä­cheln lag auf sei­nem Ge­sicht, in den Au­gen; über die gan­ze Flä­che des Ge­sichts war die­ses Lä­cheln aus­ge­brei­tet, wie sie es noch nie bei ihm ge­se­hen hat­te. Sie war im Be­griff zu ru­fen: Otto, ach Otto, geh doch nun nicht auch du von mir fort!

 

Aber ehe sie sich noch recht ent­schlos­sen hat­te, war er an ihr vor­über­ge­gan­gen und aus der Woh­nung fort. Wie­de­r­um ohne Kaf­fee, wie­der muss­te sie ihn zum Wär­men in die Kü­che tra­gen. Sie schluchz­te lei­se da­bei: Was für ein Mann! Soll­te ihr denn gar nichts blei­ben? Nach dem Soh­ne auch der Va­ter ver­lo­ren?

Quan­gel ging un­ter­des ei­lig auf die Prenz­lau­er Al­lee zu. Ihm war ein­ge­fal­len, dass er sich bes­ser vor­her solch ein Haus ein­mal an­sah, ob sei­ne Idee von ei­nem sol­chen Hau­se auch rich­tig war. Sonst muss­te er sich was an­de­res aus­den­ken.

In der Prenz­lau­er Al­lee ging er lang­sa­mer, sei­ne Au­gen streif­ten die Hau­stü­ren, als such­ten sie et­was Be­stimm­tes. An ei­nem Eck­haus sah er die Schil­der von zwei Rechts­an­wäl­ten und ei­nem Arzt ne­ben vie­len Ge­schäfts­schil­dern.

Er drück­te ge­gen die Haus­tür. Sie öff­ne­te sich so­fort. Rich­tig: kein Por­tier in solch ei­nem viel be­gan­ge­nen Hau­se. Er stieg lang­sam, die Hand auf dem Ge­län­der, die Stu­fen der Trep­pe em­por, eine ehe­mals »hoch­herr­schaft­li­che« Trep­pe mit Ei­chen­par­kett, von der aber vie­le Be­nut­zung und Krieg jede Spur des Hoch­herr­schaft­li­chen ge­nom­men hat­te. Jetzt sah sie nur schmie­rig und ab­ge­tre­ten aus, die Läu­fer wa­ren na­tür­lich schon längst ver­schwun­den, wahr­schein­lich bei Kriegs­aus­bruch ein­ge­zo­gen.

Otto Quan­gel pas­sier­te ein An­walts­schild im Hoch­par­terre, er nick­te, lang­sam stieg er wei­ter. Es war nicht so, dass er etwa al­lein dies Trep­pen­haus be­nutzt hät­te, nein, im­mer­zu eil­ten Leu­te an ihm vor­über, ihm ent­ge­gen­kom­mend oder ihn über­ho­lend. Im­mer hör­te er Klin­geln ge­hen, Tü­ren schla­gen, Te­le­fo­ne läu­ten, Schreib­ma­schi­nen klap­pern, Stim­men spre­chen.

Aber da­zwi­schen kam im­mer wie­der ein Au­gen­blick, da Otto Quan­gel das Trep­pen­haus ganz für sich al­lein hat­te oder doch sei­nen Trep­pen­ab­schnitt für sich al­lein, wo al­les Le­ben sich in die Bü­ro­räu­me zu­rück­ge­zo­gen zu ha­ben schi­en. Das wäre dann der rich­ti­ge Au­gen­blick ge­we­sen, es zu tun. Es war über­haupt al­les rich­tig, ge­nau wie er es sich ge­dacht hat­te. Ei­li­ge Men­schen, die ein­an­der nicht ins Ge­sicht sa­hen, schmut­zi­ge Fens­ter­schei­ben, durch die nur ein grau­es Ta­ges­licht si­cker­te, kein Por­tier, über­haupt nie­mand, der an dem an­de­ren In­ter­es­se nahm.

Als Otto Quan­gel im ers­ten Stock­werk das Schild des zwei­ten An­walts ge­le­sen hat­te und durch eine deu­ten­de Hand da­hin be­lehrt wor­den war, der Arzt woh­ne noch eine Trep­pe hö­her, nick­te er zu­stim­mend. Er mach­te kehrt, er kam eben ge­ra­de vom An­walt, er ging aus dem Haus. Un­nö­tig, sich dort wei­ter um­zu­se­hen, ge­nau das Haus, wie er es brauch­te, und von sol­chen Häu­sern gab es Tau­sen­de in Ber­lin.

Der Werk­meis­ter Otto Quan­gel steht wie­der auf der Stra­ße. Ein dunk­ler jun­ger Mann mit sehr wei­ßer Ge­sichts­haut tritt auf ihn zu.

»Herr Quan­gel, nicht wahr?«, fragt er. »Herr Otto Quan­gel aus der Ja­blons­ki­stra­ße, nicht wahr?«

Quan­gel knurrt ein ab­war­ten­des »Nu?«, ein Laut, der bei­des, Zu­stim­mung wie Ab­leh­nung, be­deu­ten kann.

Der jun­ge Mann nimmt ihn für Zu­stim­mung. »Ich soll Sie von der Tru­del Bau­mann bit­ten«, sagt er, »dass Sie sie ganz ver­ges­sen. Ihre Frau möch­te die Tru­del auch nicht mehr be­su­chen. Es ist nicht nö­tig, Herr Quan­gel, dass …«

»Be­stel­len Sie«, sagt Otto Quan­gel, »dass ich kei­ne Tru­del Bau­mann ken­ne und nicht an­ge­quatscht zu wer­den wün­sche …«

Sei­ne Faust trifft den jun­gen Mann di­rekt an der Kinn­spit­ze, der sackt zu­sam­men wie ein nas­ser Lap­pen. Quan­gel geht acht­los durch die Leu­te, die zu­sam­men­zu­lau­fen be­gin­nen, hin­durch, di­rekt an ei­nem Schu­po vor­bei, auf die Hal­te­stel­le der Elek­tri­schen zu. Die Bahn kommt, er steigt ein, fährt zwei Hal­te­stel­len weit. Dann fährt er in der Ge­gen­rich­tung zu­rück, dies­mal auf der Vor­der­platt­form des An­hän­gers. Es ist, wie er ge­dacht: der größ­te Teil der Men­schen hat sich in der Zwi­schen­zeit ver­lau­fen, zehn, zwölf Neu­gie­ri­ge ste­hen noch vor ei­nem Café, in das man den An­ge­schla­ge­nen wohl ge­schafft hat.

Er ist schon wie­der bei Be­sin­nung. Zum zwei­ten Mal in­ner­halb zwei­er Stun­den hat Karl Her­ge­sell sich ei­ner amt­li­chen Per­son ge­gen­über aus­zu­wei­sen.

»Es war wirk­lich nichts, Herr Wacht­meis­ter«, ver­si­cher­te er. »Ich habe ihn wohl un­acht­sam auf den Fuß ge­tre­ten, und er schlug gleich zu. Kei­ne Ah­nung, wer das war, ich hat­te mei­ne Ent­schul­di­gung noch nicht raus, da schlug er schon zu.«

Wie­der darf Karl Her­ge­sell un­an­ge­foch­ten ge­hen, kein Ver­dacht be­steht ge­gen ihn. Aber er ist sich klar dar­über, dass er sein Glück so nicht wei­ter auf die Pro­be stel­len darf. Er ist zu die­sem Ex-Schwie­ger­va­ter Otto Quan­gel auch nur des­we­gen ge­gan­gen, um we­gen Tru­dels Si­cher­heit klar­zu­se­hen. Nun, was die­sen Otto Quan­gel an­geht, so darf er wohl un­be­sorgt sein. Ein har­ter Vo­gel das, und ein bö­ser dazu. Und ge­wiss kein ge­schwät­zi­ger, trotz sei­nes großen Schna­bel­ha­kens. Die­se Art, wie er rasch und böse zu­schlug!

Und weil ein sol­cher Mensch viel­leicht plap­pern konn­te, war die Tru­del bei­na­he in den Tod ge­hetzt wor­den. Der plap­per­te nie – auch vor de­nen nicht! Und um Tru­del wür­de der sich auch kaum küm­mern, er schi­en von der Tru­del nicht mehr viel wis­sen zu wol­len. Was solch ein ra­scher Kinn­ha­ken ei­nem doch manch­mal für Auf­klä­rung brin­gen kann!

Karl Her­ge­sell geht nun völ­lig un­be­sorgt in die Fa­brik, und als er dort durch vor­sich­ti­ge Um­fra­ge er­fährt, dass Gri­go­leit und der Säug­ling in den Sack ge­hau­en ha­ben, at­met er auf. Nun ist al­les si­cher. Es gibt kei­ne Zel­le mehr, aber er be­dau­ert das nicht ein­mal sehr. Da­für wird Tru­del le­ben!

Im Grun­de hat er sich nie so sehr für die­se po­li­ti­sche Ar­beit in­ter­es­siert, da­für umso mehr für die Tru­del!

Quan­gel fährt auf der Elek­tri­schen wie­der sei­ner Woh­nung zu, aber als er aus­stei­gen müss­te, fährt er an der Ja­blons­ki­stra­ße vor­bei. Si­cher ist si­cher, falls wirk­lich noch ein Ver­fol­ger an sei­nen Ha­cken hängt, will er sich mit ihm al­lein aus­ein­an­der­set­zen, ihn nicht in die Woh­nung zie­hen. Anna ist jetzt nicht in der rich­ti­gen Ver­fas­sung, mit ei­ner un­an­ge­neh­men Über­ra­schung fer­tig­zu­wer­den. Er muss erst mit ihr re­den. Ge­wiss, er wird das tun, Anna spielt eine große Rol­le bei dem, was er vor­hat. Aber erst muss er an­de­res er­le­di­gen.

Quan­gel hat sich ent­schlos­sen, heu­te vor der Ar­beit über­haupt nicht mehr nach Haus zu kom­men. Er wird eben auf Kaf­fee und Mit­ta­ges­sen ver­zich­ten. Anna wird ein biss­chen un­ru­hig sein, aber sie wird schon war­ten und nichts Vo­rei­li­ges tun. Er muss heu­te was er­le­di­gen. Mor­gen ist Sonn­tag, da muss al­les da sein.

Er steigt wie­der um und fährt in die Stadt hin­ein. Nein, we­gen die­ses jun­gen Men­schen eben, dem er so rasch mit ei­nem Faust­schlag den Mund ge­stopft hat, macht sich Quan­gel kei­ne großen Sor­gen. Er glaubt auch nicht so recht an wei­te­re Ver­fol­ger, er glaubt viel­mehr dar­an, dass die­ser Mann wirk­lich von der Tru­del kam. Sie hat ja schon so was an­ge­deu­tet, sie müs­se ge­ste­hen, dass sie ih­ren Schwur ge­bro­chen habe. Da­rauf­hin ha­ben die ihr na­tür­lich al­len Um­gang mit ihm ver­bo­ten, und sie hat die­sen jun­gen Bur­schen als Bo­ten ab­ge­sandt. All das ganz un­ge­fähr­lich. Die rei­ne Kin­de­rei das, wirk­lich Kin­der, die sich in ein Spiel ein­ge­las­sen ha­ben, von dem sie nicht das Ge­rings­te ver­ste­hen. Er, Otto Quan­gel, ver­steht ein we­nig mehr da­von. Er weiß, in was er sich da ein­las­sen wird. Aber er wird die­ses Spiel nicht wie ein Kind spie­len, er wird sich jede Kar­te über­le­gen.

Er sieht die Tru­del wie­der vor sich, wie sie da in die­sem zu­gi­gen Gang ge­gen das Pla­kat des Volks­ge­richts­ho­fes lehn­te – ah­nungs­los. Er emp­fin­det wie­der die­ses un­ru­hi­ge Ge­fühl, als der Kopf des Mäd­chens von der Über­schrift »Im Na­men des deut­schen Vol­kes« ge­krönt war, er liest wie­der statt der frem­den die ei­ge­nen Na­men – nein, nein, dies ist eine Sa­che für ihn al­lein. Und für Anna, für die Anna na­tür­lich auch. Er wird ihr schon zei­gen, wer »sein« Füh­rer ist!

In der In­nen­stadt an­ge­kom­men, er­le­digt Quan­gel erst ei­ni­ge Ein­käu­fe. Er kauft nur für Pfen­nig­be­trä­ge, ein paar Post­kar­ten, einen Fe­der­hal­ter, ein paar Stahl­fe­dern, ein Fläsch­chen Tin­te. Und auch die­se Ein­käu­fe ver­teilt er noch auf ein Wa­ren­haus, eine Wool­worth-Nie­der­la­ge und auf ein Schreib­wa­ren­ge­schäft. Schließ­lich, nach lan­gem Über­le­gen, er­steht er noch ein Paar ganz ein­fa­che, dün­ne Stoff­hand­schu­he, die er ohne Be­zug­schein be­kommt.

Dann sitzt er in ei­nem die­ser großen Bier­re­stau­rants am Alex­an­der­platz, er trinkt ein Glas Bier, er be­kommt auch noch mar­ken­frei zu es­sen. Wir schrei­ben 1940, die Ausplün­de­rung der über­fal­le­nen Völ­ker hat be­gon­nen, das deut­sche Volk hat kei­ne großen Ent­beh­run­gen zu tra­gen. Ei­gent­lich ist noch fast al­les zu ha­ben, und noch nicht ein­mal über­mä­ßig teu­er.

Und was den Krieg selbst an­geht, so wird er in frem­den Län­dern fern von Ber­lin aus­ge­tra­gen. Ja, es er­schei­nen schon dann und wann eng­li­sche Flug­zeu­ge über der Stadt. Dann fal­len ein paar Bom­ben, und die Be­völ­ke­rung macht am nächs­ten Tage lan­ge Wan­de­run­gen, um die Zer­stö­run­gen zu be­sich­ti­gen. Die meis­ten la­chen dann und sa­gen: »Wenn die uns so er­le­di­gen wol­len, brau­chen sie hun­dert Jah­re dazu, und dann ist noch im­mer nicht viel da­von zu mer­ken. Un­ter­des ra­die­ren wir ihre Städ­te vom Erd­bo­den aus!«

So re­den die Leu­te, und seit jetzt Frank­reich um Waf­fen­still­stand bat, hat sich die Zahl de­rer, die so re­den, stark ver­grö­ßert. Die meis­ten Men­schen lau­fen dem Er­folg nach. Ein Mann wie Otto Quan­gel, der mit­ten im Er­folg aus der Rei­he tritt, ist eine Aus­nah­me.

Er sitzt da. Er hat noch Zeit, noch muss er nicht in die Fa­brik. Aber jetzt ist die Un­ru­he der letz­ten Tage von ihm ab­ge­fal­len. Seit er die­ses Haus be­sich­tigt, seit er die­se paar klei­nen Ein­käu­fe er­le­digt hat, ist al­les ent­schie­den. Er braucht nicht ein­mal mehr groß nach­zu­den­ken über das, was er noch zu tun hat. Das tut sich jetzt von al­lein, der Weg liegt klar vor ihm. Er braucht ihn nur wei­ter­zu­ge­hen, die ers­ten ent­schei­den­den Schrit­te in ihn hin­ein sind schon ge­tan.

Dann, als sei­ne Zeit ge­kom­men ist, zahlt er und macht sich auf den Weg in die Fa­brik. Ob­wohl es ein wei­ter Weg ist vom Alex­an­der­platz aus, geht er ihn zu Fuß. Er hat heu­te schon ge­nug Geld aus­ge­ge­ben, für Fah­re­rei, für die Ein­käu­fe, das Es­sen. Ge­nug? Viel zu viel! Trotz­dem Quan­gel sich jetzt für ein ganz an­de­res Le­ben ent­schlos­sen hat, wird er an den bis­he­ri­gen Ge­wohn­hei­ten nichts än­dern. Er wird wei­ter spar­sam blei­ben und sich die Men­schen vom Lei­be hal­ten.

Schließ­lich steht er wie­der in sei­ner Werk­statt, auf­merk­sam und wach, wort­los und ab­wei­send, ganz wie im­mer. Ihm ist nichts an­zu­se­hen von dem, was in ihm vor­ge­gan­gen ist. So ein Zi­ga­ret­ten­rau­cher wie der falsche Tisch­ler Doll­fuß wird ihm nie was an­mer­ken. Für den steht sein Bild fest: ein al­ter Trot­tel, von ei­nem schmut­zi­gen Geiz be­ses­sen, nur für sei­ne Ar­beit in­ter­es­siert. Das ist das Bild, und so soll es auch blei­ben.

1 dün­ner, schlech­ter Kaf­fee oder auch Kaf­fee-Er­satz <<<