Hans Fallada – Gesammelte Werke

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8

Emil Bruhn wohn­te in der Ler­chen­stra­ße, auch weit drau­ßen vor der Stadt, in der Nähe sei­ner Holz­wa­ren­fa­brik, in der er, ge­nau wie im Kitt­chen, Fal­len­nes­ter für Hüh­ner im Ak­kord na­gel­te.

Er hat­te sei­ne grün­lich ge­tünch­te Kam­mer nicht für sich al­lein.

Er teil­te sie mit dem Wäch­ter ei­ner Le­der­wa­ren­fa­brik, der abends um acht fort­ging und erst mor­gens um acht wie­der­kam, an­dert­halb Stun­den spä­ter, als Bruhn das Haus ver­ließ. Sie schlie­fen im glei­chen Bett. Sie teil­ten so ziem­lich al­les mit­ein­an­der, und wenn es Dif­fe­ren­zen gab, und es gab oft Dif­fe­ren­zen, so wur­den sie am Sonn­tag aus­ge­tra­gen, wenn der Wäch­ter der Le­der­fa­brik sei­ne freie Nacht hat­te.

Ku­falt, erst zwei Wo­chen im Städt­chen, wuss­te al­les über die­se Dif­fe­ren­zen. Dass der Lump, der an­de­re, nie die ei­ge­ne, son­dern im­mer die frem­de Sei­fe be­nutz­te, dass er nie sein Zeug weg­häng­te und dass er je­den Sonn­tag­abend be­trun­ken mit ei­nem Mäd­chen auf die Bude kam und ver­lang­te, Bruhn sol­le auf dem Fuß­bo­den schla­fen. »Nur ein klei­nes Weil­chen, Emil. Gleich sind wir fer­tig …«

Ja, von die­sen Dif­fe­ren­zen er­zähl­te Bruhn viel und aus­gie­big. Aber da­von zu hö­ren war Ku­falt im­mer noch lie­ber, als wenn der Krü­ger im glei­chen Zim­mer mit Bruhn ge­wohnt hät­te.

Der Krü­ger war gott­lob längst wie­der ver­schütt­ge­gan­gen, hat­te sei­ne Ar­beits­kol­le­gen be­maust. Klei­ne, kläg­li­che, wi­der­li­che, sinn­lo­se Dieb­stäh­le von Ta­bak und Man­schet­ten­knöp­fen. Der saß schon wie­der drin, und Bruhn trau­er­te ihm nicht nach.

Wenn sich der Emil Bruhn in ei­nem ge­än­dert hat­te, so dar­in, dass die Jun­gen kei­ne Rol­le mehr in sei­nem Le­ben spiel­ten. Jetzt war er hin­ter den Mäd­chen her, aber ir­gend­wie klapp­te es im­mer nicht da­mit. Ent­we­der war er zu schüch­tern, oder er war zu frech. Oder sie wit­ter­ten an ihm, dass et­was nicht ganz in Ord­nung war, und es kam zu nichts. Und er lief her­um und glotz­te sich sei­ne gut­mü­ti­gen blau­en See­hundsau­gen nach ih­nen aus und rann­te auf die Tanz­bö­den und schwitz­te sich ab und zahl­te von sei­nen paar Gro­schen zwei, drei Glas Bier für sie, und dann ver­setz­ten sie ihn. Ver­schluckt von der Nacht, oder sie zo­gen ganz of­fen mit an­de­ren Ka­va­lie­ren los, und Bruhn hat­te das Nach­se­hen.

Vi­el­leicht war es dar­um, dass er die Rück­kehr Ku­falts so freu­dig be­grüßt hat­te. So ein schnie­ker Jun­ge, so fein in Scha­le, da muss­te es klap­pen. Die Mä­dels gin­gen im­mer zu zwei­en. Nun gut, Ku­falt soll­te die hüb­sche neh­men, es gin­gen doch im­mer eine hüb­sche und eine schie­che mit­ein­an­der, aber so schiech konn­te kei­ne sein, sie hat­te, was Emil Bruhn woll­te.

Er stand vor sei­nem Spie­gel und müh­te sich mit sei­nem wei­ßen Kra­gen ab, mit je­nem Ding, das sie da oben ein Quä­der nen­nen, müh­te sich ab und er­zähl­te, was für fei­ne Mä­dels heu­te zum Tanz kom­men wür­den, in den Rends­bur­ger Hof. Und hoff­te so treu auf sei­nen Ku­falt und hat­te kei­ne Ah­nung, dass es dem mit den Mä­dels auch nicht an­ders ging.

»Wenn es nur nicht zu teu­er wird«, sag­te Ku­falt.

»Teu­er?« frag­te Emil. »Ich sit­ze mit ei­nem Bier den gan­zen Abend. Aber na­tür­lich, wenn man die Mä­dels erst be­sof­fen ma­chen muss …«

»Kommt gar nicht in Fra­ge«, sag­te Ku­falt.

»Na also«, sag­te Emil. »Ich hab doch im­mer ge­sagt, bei dir wird es was.«

»Und was hast du die­se Wo­che ver­dient?« frag­te Ku­falt.

»Ein­und­zwan­zig Mark sech­zig«, sag­te Bruhn. »Die zie­hen ei­nem im­mer mehr ab, die Räu­ber, die wis­sen, sie kön­nen mit mir ma­chen, was sie wol­len. Jetzt ha­ben sie schon dem Werk­meis­ter er­zählt, dass ich ein Raub­mör­der bin. Und der braucht nur die Fres­se auf­zu­tun und es den Kol­le­gen zu sa­gen, und ich sit­ze drau­ßen. Die ar­bei­ten doch nicht mit so ei­nem, wie ich bin, wenn sie’s erst wis­sen.«

Er steht da vor sei­nem Spie­gel, das Quä­der und der Schlips sit­zen nun rich­tig. Er sieht Ku­falt an.

Auch Ku­falt sieht sei­nen Emil Bruhn an.

Sie­he, da ist ein biss­chen Wär­me. Ver­lo­rens­te Erin­ne­rung an da­mals, als sie sich Kas­si­ber schick­ten, durch den Kal­fak­tor, als sie im Dusch­raum un­ter die­sel­be Brau­se kro­chen, als sie sich lieb­ten.

Sie sind da, wie­der sind sie bei­ein­an­der. Sie se­hen ein­an­der an. Das Le­ben ist wei­ter­ge­gan­gen, vie­les hat sich ver­än­dert, und sie vor al­lem sind an­ders ge­wor­den. Aber da ist der Duft von da­mals und die Erin­ne­rung an die nahe Berüh­rung und an die so heiß be­gehr­te, so sel­ten ge­sche­he­ne Er­fül­lung.

Nein, sie rei­chen sich heu­te nicht ein­mal mehr die Hand. Es ist eben wei­ter­ge­gan­gen, das Le­ben. Es ist ein an­de­rer Leib als da­mals der zwi­schen den Mau­ern, ein an­de­res Be­geh­ren als frü­her. Über die Stra­ßen lau­fen die Mäd­chen, und die Rö­cke we­hen um ihre Bei­ne, und sie ha­ben eine Brust. Ach, es ist so schön, es könn­te so schön sein …

»Und mit dei­nem Spar­kas­sen­buch ist auch nichts?«

»Nichts«, sagt Emil Bruhn. »Die ha­ben mich schön an­ge­schis­sen, die Lum­pen. Aber wenn ich je wie­der ins Kitt­chen kom­me …!«

»Wenn du fer­tig bist, ge­hen wir also«, ant­wor­tet Ku­falt.

Nein, es ist vor­bei. An­de­re Welt, an­de­re Ge­fähr­ten, du hältst es nicht, du rufst es nicht zu­rück, aber im­mer, dort in der Kö­nigs­tra­ße, hier in der Ler­chen­stra­ße, steht das ein­sa­me Bett, mit den Grü­belei­en, den Sor­gen, den selbsti­schen Er­fül­lun­gen.

Kann es denn gar nicht an­ders wer­den?

9

An der einen Sei­te des ver­räu­cher­ten Tanz­bo­dens, un­ter des­sen De­cke noch die Pa­pier­krän­ze und Lam­pi­ons der Ve­ne­zia­ni­schen Nacht vom letz­ten Kar­ne­val hin­gen – an der einen Sei­te stan­den die Mäd­chen, auf der an­de­ren Sei­te stan­den die Bur­schen.

Die Mäd­chen tru­gen die klei­nen Fähn­chen der Fa­brik­ar­bei­te­rin­nen, vie­le Bur­schen hat­ten die Müt­zen auf dem Kopf. Man­che wa­ren ohne Jacketts. Wenn sie tan­zen woll­ten, wink­ten sie dem Mä­del zu, und das Mä­del kam her­über und trat vor sei­nen Herrn, der ru­hig die Un­ter­hal­tung zu Ende führ­te, ehe er den Arm um sei­ner Tän­ze­rin Rücken leg­te und mit ihr los­schob.

An ei­nem Tisch sa­ßen Ku­falt und Bruhn und tran­ken ihr Bier. Die an­de­ren Bur­schen gin­gen zwi­schen den Tän­zen zur The­ke und tran­ken im Ste­hen einen Schnaps oder ein Bier. Oder sie tran­ken auch nichts – wozu hat­te man drei­ßig Pfen­nig Ein­tritt be­zahlt?! Die Mu­sik lärm­te sehr, und die Mäd­chen san­gen alle Schla­ger mit. Und wenn der Tanz zu Ende war, lie­ßen die Ben­gels ihre Mä­dels ste­hen, wo es ge­ra­de war, und gin­gen von ih­nen fort, zu den an­de­ren Ben­gels.

»Wol­len wir nicht ir­gend­wo an­ders hin­ge­hen, wo es net­ter ist?« frag­te Ku­falt.

»Aber wo es net­ter ist, kos­tet es viel Geld«, sag­te Bruhn. »Und Weib ist Weib.«

Ku­falt woll­te et­was ant­wor­ten, da sah er sie. Sie war ziem­lich groß, mit ei­nem fröh­li­chen, of­fe­nen Ge­sicht, ei­nem le­ben­di­gen Mund und ei­ner Stups­na­se.

Vi­el­leicht war ihr Kleid wirk­lich eine Klei­nig­keit hüb­scher als das der an­de­ren. Aber viel­leicht kam es Ku­falt auch nur so vor.

»Wer ist die?« frag­te er Bruhn plötz­lich eif­rig und hat­te al­les Fort­ge­hen ver­ges­sen.

Bruhn fand na­tür­lich zu­erst nicht die, die Wil­li mein­te, aber dann sag­te er: »Ach die, die mach dir bloß ab. Die hat näm­lich schon ein Kind.«

»Wie­so?« frag­te Ku­falt ver­ständ­nis­los.

»Na, weil kei­ner für das Kind zah­len will«, er­klär­te Bruhn.

»Aber dann ge­ra­de«, fing Ku­falt an.

»Nein, nein«, sag­te Bruhn, »die lässt sich mit kei­nem Mann mehr ein. Die hat die Nee­se voll. Die hat so viel Dre­sche ge­kriegt von ih­rem Va­ter, dem Gla­ser­meis­ter Har­der in der Lüt­jen­stra­ße, die sieht kei­nen wie­der an.«

»Wenn es so ist«, sag­te Ku­falt lang­sam.

Und dann saß er still da und sah sie an. Die Mu­sik schi­en im­mer lau­ter zu wer­den, und manch­mal tanz­te sie auch und lach­te. Und sie war die Hil­de­gard von dem Gla­ser­meis­ter Har­der in der Lüt­jen­stra­ße. Dem sie heu­te Nacht wohl aus­ge­bimst war. Und er war der Ku­falt aus der Kö­nigs­tra­ße mit gar kei­nen Aus­sich­ten. Aber mit noch et­was Geld, ei­nem hei­len An­zug – und manch­mal sah sie ihn auch an.

Wenn die Mäd­chen weg­ge­hen, so kann man hin­ter­her­ge­hen. Und man braucht sich nicht zu ge­nie­ren, wenn man sich auch lä­cher­lich ge­macht hat, weil sie gar nicht rich­tig weg­ge­gan­gen sind, son­dern nur auf die Toi­let­te. Man kann ru­hig da­vor­ste­hen, sich aus­la­chen las­sen, die ha­ben es doch alle im Saal ka­piert: Der Neue in dem gu­ten blau­en An­zug, der mit dem klei­nen See­hund aus der Holz­wa­ren­fa­brik geht, der hat Feu­er ge­fan­gen. Was scha­det es schon? Ein­mal, ein­mal muss man tun dür­fen, wozu das Herz einen treibt. Fort sind die an­de­ren, und er sieht sie, und sie hat eine Art, sich ins Haar zu fas­sen, wenn sie tanzt, ih­ren Kopf ge­wis­ser­ma­ßen zu stüt­zen beim Tan­zen. Und sie hat ein Kind, sie hat schon mit an­de­ren Män­nern ge­schla­fen. Al­les wird leich­ter sein bei ihr …

Und dann der Kopf, wenn sie ihn senkt über das Glas, und die Haa­re fal­len alle über ihr Ge­sicht. O geh, flüs­tert es in ihm, o geh doch schon, dass ich mit dir spre­chen kann …

Aber sie tanzt wei­ter und lacht wei­ter und schwatzt wei­ter, und sie sieht ihn gar nicht, denn nun weiß sie, dass er sie sieht.

O geh doch!

Ge­lieb­te, ein­sa­me Näch­te, ihr habt dies mög­lich ge­macht, dass es so sein kann, dass es so kom­men kann, wie ein Glück, wie das eine ganz große Glück. Und sie kann nicht nein sa­gen, und sie wird nicht nein sa­gen. Und sie mö­gen la­chen über ihn. Nächs­ten Sonn­abend wird er doch mit ihr tan­zen, und er wird Ar­beit be­kom­men, und er wird sie hei­ra­ten, er wird einen Jun­gen ha­ben.

 

Ach, Lie­se von vor Kur­zem, wie an­ders ist die­se Welt!

Das sind die klei­nen, schlecht­be­leuch­te­ten, schma­len Stra­ßen der Stadt, mit den nied­ri­gen Häu­sern. Und man fühlt tief den Him­mel, fühlt ihn tief und ganz nahe. Und der Wind jagt um die Ecken, und die bei­den Mä­dels da vorn ku­scheln sich en­ger an­ein­an­der. Und er geht hin­ter ih­nen her. Ei­nen Schritt hin­ter ih­nen her und hat noch im­mer nicht ein Wort ge­sagt. Die Lüt­jen­stra­ße kommt, und sie schließt die Haus­tür auf und schwatzt noch ein­mal mit der Freun­din, und er steht da­bei, dicht da­bei und fleht: O komm doch, komm.

Und die Haus­tür fällt zu, und das an­de­re Mäd­chen geht an ihm vor­bei und lacht und sagt: »Stie­sel!« und geht wei­ter. Und er steht al­lein. Und es ist sehr dun­kel, und er fürch­tet sich vor sei­nem Zim­mer.

Es ist viel spä­ter, als er ent­deckt, dass ein Hof hin­ter dem Haus ist und dass die Hof­tür nicht ver­schlos­sen ist und dass man auf den Hof ge­hen kann und dass hin­ter ei­nem Fens­ter im Erd­ge­schoss noch Licht brennt.

Und wie es kam, nun gut, ein­mal hat man Mut. Er kratz­te mit dem Fin­ger­na­gel an der Schei­be, lei­se, er klopf­te lau­ter. Das Fens­ter ging auf. Und sie war am Fens­ter. Und frag­te ganz sacht: »Ja?«

»O bit­te, du!« sag­te Ku­falt.

Und das Fens­ter ging wie­der zu, und es wur­de dun­kel. Und er stand da, in dem frem­den Hof, und plötz­lich sah er nach oben, in sei­ner Ein­sam­keit sah er nach oben. Und er sah die Ster­ne, und sie gin­gen so selt­sam nahe und be­deu­tend her­vor. Und eine Hand war in der sei­nen. Und es flüs­ter­te: »Komm.«

Es ist wie­der Licht in dem Zim­mer, aber es ist nicht ihr Bett, das er sieht. Es ist das Bett des Kin­des, und das Kind schläft. Es hat sich zu­sam­men­ge­rollt, die Knie hoch hin­auf­ge­zo­gen bis un­ters Kinn, wie es wohl frü­her in dem Mut­ter­leib ge­hockt hat. Und die Wan­gen sind ro­sig, und die Haa­re sind ver­wu­selt über der Stirn …

Bei­de se­hen sie her­un­ter auf das Kind.

Und dann se­hen sie ein­an­der an.

O lie­bes, liebs­tes Ge­sicht du!

Und er nimmt sei­ne bei­den Hän­de und legt die Fin­ger­spit­zen ge­gen ihre Wan­gen und führt ih­ren Kopf sei­nem Kopf ent­ge­gen. Und er meint, ihr Blut rau­nen zu hö­ren. Und sie se­hen sich nahe an, und ihre Li­der we­hen über die Au­gen, die braun sind. Und das Ge­sicht kommt nä­her und wird ganz groß.

Eben wa­ren noch die Ster­ne da und die Nacht und das ein­sa­me Ste­hen auf dem Hof. Und nun kann solch ein Mäd­chen­ge­sicht die gan­ze Welt sein. Mit Ber­gen und Tä­lern und den er­trun­ke­nen Seen der Au­gen …

O du lie­bes, liebs­tes Ge­sicht!

Und ihr Mund ist da. Er ist fest ge­schlos­sen. Er gibt nicht nach un­ter dem Druck sei­ner Lip­pen.

Plötz­lich ent­glei­tet ihm erst ihre Schul­ter, dann ihr Ge­sicht. Das Kind schläft noch im­mer. Sie ste­hen da: frem­de Welt.

»Geh«, sagt sie bit­tend und führt ihn an der Hand über den Hof auf die Stra­ße.

Und er geht nach Hau­se.

So fing es an.

10

Es gab vie­le Din­ge, über die man mit Emil Bruhn nicht spre­chen konn­te. Im Kitt­chen schi­en Ge­mein­sam­keit ge­herrscht zu ha­ben – nun, nein, vie­le Din­ge, über die man schwei­gen muss­te.

»Wo bist du denn ges­tern Nacht ab­ge­blie­ben?«

»Ich war so müde, und es wur­de so lang­wei­lig …«

»Wohl, weil die Hil­de­gard Har­der weg­ging?«

»Ach die!«

»Und lässt sich von ei­ner wie der Wrun­ka Ko­wals­ka aus der Le­der­wa­ren­fa­brik ›Stie­sel‹ sa­gen?«

»Quatsch«, sagt Ku­falt nur. »Al­les Quatsch.«

Und als der Bruhn wei­ter schwieg: »Mit den Pfaf­fen war es auch nichts. Sie kön­nen alle nichts wol­len. Da ist das Wohl­fahrt­samt, sa­gen sie. Als wenn ich das nicht wüss­te!«

»Nicht ein­mal bei ihr rein­ge­kom­men bist du!«

»Ich habe mir was über­legt dei­net­we­gen, Emil«, sagt Ku­falt und tut eif­rig. »Mit dei­ner Holz­wa­ren­fa­brik ist es auf die Dau­er nichts. Und ein per­fek­ter Tisch­ler bist du doch …«

»Das bin ich«, muss Emil zu­ge­ben. »Wenn man elf Jah­re im Kitt­chen ge­tisch­lert hat …«

»Wenn du nun dei­ne Ge­sel­len­prü­fung nach­mach­test und gin­gest zu ei­nem rich­ti­gen Meis­ter, nach Kiel oder Ham­burg, wo nie­mand was von dir weiß?«

Bruhn ist wie­der mür­risch. »Und das Geld, mein Jun­ge, das Geld für die Prü­fung und all die Zeit, wo ich nichts ver­die­ne? Nein, du hast dich ges­tern schön bla­miert vor der gan­zen Stadt. Mit dir geh ich so leicht nicht wie­der aus!«

Kann man er­zäh­len? Ja, man könn­te er­zäh­len, man ist doch schließ­lich in ih­rem Zim­mer ge­we­sen, nachts, nach zwölf … Aber das Kin­der­bett und das nahe lie­be Ge­sicht …

»Wenn ich nun ein­mal für dich zum Di­rek­tor gin­ge und für dich re­de­te?« fragt Ku­falt. »Es ist doch ein Fonds da für die Ent­las­se­nen. Und bei dir hat es doch Sinn, du kriegst doch ver­nünf­ti­ge Ar­beit da­durch.«

»Du drückst es nicht durch«, sagt Emil ver­söhn­ter. »Die gan­ze Be­am­ten­kon­fe­renz wird da­ge­gen sein.«

»Also gehe ich hin«, sagt Ku­falt. »Ich hab im­mer beim Al­ten ’ne Num­mer ge­habt. Du wirst schon se­hen …!«

Die Nacht ist ver­ges­sen und der Freund, mit dem man pa­ra­die­ren woll­te und der sich Stie­sel nen­nen ließ, ohne so ’nem Po­len­weib eine zu kle­ben, wie sich das ge­hör­te …

»Wenn ich Tischler­ge­sell wür­de«, sagt Emil träu­me­risch. »Du hast ja gar kei­ne Ah­nung, wie mich die­se Ar­beit an­stinkt. Über acht Jah­re bau ich nun schon Fal­len­nes­ter. Je­den Ham­mer­schlag weiß ich. Aber wenn man wie­der mal einen Schrank bau­en könn­te oder einen rich­ti­gen Tisch, die Bei­ne an­stän­dig verz­argt …«

»Werd ich dem Di­rek­tor sa­gen«, er­klärt Ku­falt. »Aber dau­ern wird es wohl noch ’ne Wei­le, bis es be­wil­ligt ist.«

»Ich hab Zeit. Ich kann war­ten«, sagt Emil.

»Na schön! Also mor­gen«, sagt Ku­falt. »Ich muss se­hen, dass ich es mir so ein­rich­te. Ich hab mor­gen viel zu tun …«

»Was hast du denn zu tun?« fragt Emil. »Du hast doch gar nichts zu tun.«

»Gera­de hab ich viel zu tun. Lau­fen muss ich den gan­zen Tag.« Er macht eine Pau­se und hus­tet. Er sieht die Stra­ße ent­lang, es ist Herbst­wet­ter, kalt, win­dig, näss­lich, ge­gen sechs – im­mer­hin ist es nicht aus­ge­schlos­sen, dass die Hil­de­gard Har­der ein­mal auf die Stra­ße kommt.

Nein, sie kommt nicht. Er sagt so ne­ben­hin: »Ich wer­de wohl von jetzt an mei­ne zehn, zwölf Mark den Tag ver­die­nen.«

»An­schiss«, sagt Bruhn bloß.

»Wie­so An­schiss?! Gar nicht An­schiss«, sagt Ku­falt em­pört. »Ich bin heu­te Mit­tag bei Free­se ge­we­sen …«

»Kenn ich nicht«, sagt Bruhn. »Ei­nen Free­se kenn ich nicht. Was sollst du ihm denn im Voraus für die piek­fei­ne Stel­lung ge­ben?«

»Gar nichts«, bricht Ku­falt aus. »Nicht ’nen Pfen­nig! Erst war so ein Blas­ser bei mir, Diet­rich hieß er. Der woll­te ’ne Kau­ti­on ha­ben. Na, den habe ich schön rein­ge­legt, ein Vier­tel von all mei­nen Ein­nah­men hat er auch ha­ben wol­len. Nach­her hat er mir zwan­zig Mark ge­pumpt!«

Ku­falt bricht in ein Ge­läch­ter aus, und auch Emil lacht mit, trotz­dem ihm all das nicht ganz klar vor­kommt. Dann muss Ku­falt von Diet­rich er­zäh­len: »Eine Mol­le und einen Korn an der Ecke, so dumm, dass er mir mein letz­tes Geld ab­nimmt, so doof …«

Und nun lacht auch Emil. »Dem ist das recht, dem Bru­der, dem! Und dann bist du hin­ter sei­nem Rücken zu dem Herrn Free­se ge­gan­gen?«

»Bin ich«, sagt Ku­falt und ist merk­wür­dig kurz. »Und ich darf Abon­nen­ten und An­zei­gen wer­ben, und von al­lem krie­ge ich Geld.«

»O Mensch, o Man­ning, Man­ning, Mensch!« ju­belt Bruhn. »Und wenn du nun noch zum Di­rek­tor gehst, und der La­den klappt auch – dann ver­die­nen wir bei­de so viel Geld, dass wir in die rich­tig fei­nen Lo­ka­le zu den rich­ti­gen Wei­bern ge­hen kön­nen, und alle Wrun­kas und Hil­de­gards kön­nen uns …«

Es war in die­sem Au­gen­blick, dass eine Stim­me ne­ben ih­nen sag­te: »Darf ich Sie mal einen Au­gen­blick spre­chen?«

Ver­le­gen­heit, Stil­le, Ver­le­gen­heit.

Dann sag­te zu­erst Ku­falt: »Vi­el­leicht kom­me ich heu­te Abend noch mal bei dir vor, Emil!«

»Schön«, sag­te Emil. »Und denk an den Di­rek­tor!«

»Wird ge­macht!« sag­te Ku­falt. »Geht in Ord­nung, al­ter Jun­ge!« Und sei­ne Stim­me klang un­na­tür­lich frisch. Dann aber gin­gen die bei­den, Hil­de­gard Har­der und Wil­li Ku­falt, ge­gen den dunklen Stadt­park, aus der Stadt hin­aus.

11

Ku­falt war nicht um­sonst so schweig­sam über die Un­ter­re­dung mit Herrn Che­fre­dak­teur Free­se ge­we­sen. Der »Stadt- und Land­bo­te« moch­te ein klei­ne­res Blatt sein als »Der Va­ter­lands­freund« – aber ein eben­so großer Mann wie der Herr Scia­lo­ja war der Herr Free­se si­cher­lich.

Frei­lich nichts von Schwie­rig­kei­ten, durch­ge­las­sen zu wer­den, nichts von War­ten … »Ge­hen Sie da durch«, sag­te ein lan­ger, kno­chi­ger, pfer­de­ge­sich­ti­ger Mann und zeig­te auf eine Tür. »Aber gute Stim­mung hat er heu­te nicht.«

Also ging Ku­falt durch.

Da sah ein di­cker, schwe­rer, schmudd­li­ger Mann hin­ter sei­nem Schreib­tisch, einen weiß­grau­en Wal­ross­bart hat­te er, und einen Knei­fer, des­sen Glä­ser her­ab­hin­gen.

Auf der einen Sei­te vom Schreib­tisch sitzt Herr Free­se, auf der an­de­ren steht Ku­falt. Zwi­schen bei­den auf dem Schreib­tisch ist ein Ge­wu­sel von Pa­pie­ren, aber auch Bier­fla­schen, eine Ko­gnak­bud­del, Glä­ser. Herr Free­se sieht grau aus, nur sei­ne Au­gen sind ge­rötet und böse.

Er blin­zelt nach Ku­falt, er macht den Mund auf, als woll­te er re­den, dann macht er den Mund wie­der zu.

»Gu­ten Mor­gen«, sagt Ku­falt, »ich kom­me auf Ver­an­las­sung von Herrn Diet­rich.«

Free­se krächzt ein­mal, krächzt zwei­mal, dann hat er die Keh­le so frei, dass man deut­lich ver­ste­hen kann: »Raus!«

Ku­falt über­legt einen Au­gen­blick, er ist ja nicht mehr der Ku­falt von da­mals, als er aus dem Kitt­chen kam mit der Hoff­nung, al­les wür­de schon glatt­ge­hen; er weiß, man muss ein biss­chen zähe sein, schlu­cken, ei­gent­lich ge­nau wie im Kitt­chen – er über­legt also und sagt dann: »Oder ei­gent­lich kom­me ich ge­ra­de ge­gen den Rat von Herrn Diet­rich!«

Er steht und war­tet ab, wie das wirkt.

Herr Free­se sieht ihn mit sei­nen klei­nen ge­röte­ten Au­gen böse an. Er krächzt wie­der, er macht die Keh­le frei – dann sieht er nach der Ko­gnak­fla­sche und schüt­telt trü­be den Kopf, er krächzt noch ein­mal und sagt lang­sam: »Jun­ger Mann, Sie sind schlau. Sie sind nicht schlau ge­nug für einen al­ten Mann.« Plötz­lich un­ter­bricht er sich: »Stört der Ofen Sie nicht!«

Ku­falt ist ver­wirrt, er sieht sich um nach dem großen, wei­ßen Ka­chel­ofen, der Hit­ze strahlt, er kann nicht ra­ten, was der an­de­re hö­ren möch­te (denn am liebs­ten sag­te er das), so sagt er denn: »Nein, stört mich nicht.«

»Aber mich«, sagt Herr Free­se müh­sam. »Zu kalt, viel zu kalt. Wer­fen Sie drei Bri­ketts auf, nein, halt, fünf!«

Eine Kis­te steht da mit Bri­ketts, aber nichts, wo­mit die schwar­zen Din­ger an­zu­fas­sen – Ku­falt sieht sich um, er hat eine Er­leuch­tung, er nimmt vom Schreib­tisch einen Fet­zen Pa­pier, ein Ma­nu­skript also wohl, da­mit fasst er die Bri­ketts an, feu­ert sie in die Glut, hin­ter­her das Pa­pier … Er dreht sich um nach Free­se.

»Fuchs­schlau«, mur­melt der, »fuchs­schlau. Doch nicht schlau ge­nug.«

Er sitzt zu­sam­men­ge­sun­ken da und sieht trü­be aus, ein al­ter Mann. Durch das Fens­ter kommt et­was wie ein Herbst­son­nen­strahl über das graue ver­wüs­te­te Ge­sicht, die ge­röte­te Stirn, das schänd­li­che Ge­wu­sel aus wei­ßen und grau­en Haa­ren.

Schläft er ein? fragt sich Ku­falt.

Der an­de­re denkt nicht dar­an. »Aus dem Kitt­chen kom­men Sie«, sagt er. »Die Ge­sichts­far­be ken­ne ich. Pflegt sich noch die Hän­de, das Schwein, hofft noch auf an­stän­di­ge Ar­beit.«

Er hebt trü­be sei­ne ei­ge­ne Pran­ke und be­trach­tet sie, die seit Wo­chen nicht ge­wa­schen scheint, so grau sieht sie aus.

 

Free­se schüt­telt den Kopf, er be­trach­tet wie­der Ku­falt, er sagt: »Es hat al­les kei­nen Sinn, Jüng­ling, al­les kei­nen Sinn. Durch den Stadt­park fließt die Treh­ne, bei den Le­der­wer­ken ist ein gu­ter Ha­fen, über­all ist das Was­ser kühl und nass – bei Ih­nen hat es noch einen Sinn.«

»Und bei Ih­nen?« fragt Ku­falt atem­los das Ge­s­penst aus Al­ko­hol und Trüb­sinn.

»Zu alt«, sagt Free­se, »viel zu alt. Wenn man nichts mehr zu er­war­ten hat, lebt man im­mer wei­ter … Sie ha­ben noch was zu er­war­ten, also Schluss!«

Die bei­den sind still.

»Kalt«, sagt der alte Mann und schau­dert mit ei­nem Blick auf den Ofen. »Las­sen Sie nur, es hilft doch nichts mehr. – Wie kom­men Sie zu Diet­rich?«

»Er ist bei mir ge­we­sen auf der Woh­nung.«

»Und was hat er Ih­nen ge­bo­ten?«

»Alle mög­li­che Ar­beit, ein Vier­tel der Er­trä­ge an ihn.«

»Hat er Sie an­ge­pumpt?« fragt Free­se.

»Nein«, sagt Ku­falt stolz. »Ich hab ihn an­ge­pumpt.«

»Wie viel?«

»Zwan­zig Emm.«

»Kraft!« schreit der Mann laut. »Kraft!!!«

Die Tür zum Vor­der­zim­mer tut sich auf, und das Pfer­de­ge­sicht steckt sei­nen Kopf her­ein.

»Na?« fragt es.

»Der jun­ge Mann fängt mor­gen früh bei uns an, An­non­cen- und Abon­nen­ten­wer­ben. Der ge­wöhn­li­che Satz. Wenn er nicht sechs am Tage schafft, fliegt er. Vor­läu­fig fliegt erst ein­mal der Diet­rich.«

»Aaa­ber …«, fängt der Kraft an.

»Fliegt der Diet­rich, lässt sich an­pum­pen!« sagt Herr Free­se mit Nach­druck. Und dann: »Raus!«

Und Herr Kraft geht wirk­lich raus.

»Also mor­gen früh um neun«, sagt Herr Free­se. »Aber ich sage Ih­nen gleich, es hat kei­nen Zweck. Sie schaf­fen nie sech­se, und ich schmeiß Sie raus, und dann kommt doch das Was­ser …«

Er sitzt da, si­cher sieht er es, er sieht es. »Das Was­ser«, sagt er. »Grau, kalt, nass. Was­ser …«, sagt er. »Nass«, sagt er und schüt­telt sich.

Dies­mal schenkt er sich einen Ko­gnak ein.

Er schau­dert auch beim Trin­ken.

Dann sagt er kla­rer: »Und wie ist es mit den zwan­zig Mark von Diet­rich? Der hat noch Schul­den hier. Zah­len Sie die gleich ab.«

»Aaa­ber …«, fängt Ku­falt an.

»Na also«, sagt der alte Mann. »Sie ha­ben noch Angst, wo­von Sie die nächs­ten Tage le­ben wer­den – und Sie wol­len Abon­nen­ten wer­ben?!!! Gu­ten Mor­gen.«

»Gu­ten Mor­gen!« sagt Ku­falt und ist schon bei­na­he bei der Tür. Dann hört er es noch ein­mal: »Das Was­ser«, und sieht das graue auf­ge­schwemm­te Ge­sicht, das grau­wei­ße Haar, die­sen Ni­ckel­mann der Schnaps­fla­sche …

»Das Was­ser …«, sagt der.