Hans Fallada – Gesammelte Werke

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12

»Wie ge­fällt dir der Jun­ge?« frag­te sie.

»Gut. Sehr gut«, sag­te er has­tig.

»Er heißt Wil­li. Wil­helm«, sag­te sie.

»So hei­ße ich auch«, sag­te er.

»Ja, ich weiß«, sag­te sie.

Die Nacht war sehr dun­kel. Über dem blatt­lo­sen Ge­äst der Stadt­wald­bäu­me war der Him­mel – ohne Ster­ne – mehr zu ah­nen als zu se­hen. Sie wa­ren – erst ge­trennt ne­ben­ein­an­der durch die be­leuch­te­ten Stra­ßen, dann ein­ge­hängt über die Chaus­see, dann sich um­fas­send im ver­öde­ten Stadt­wald –, so wa­ren sie bis zu die­ser Bank ge­kom­men, um die jun­ge Fich­ten stan­den. Der Wind war über ih­nen, an den Sei­ten fer­ner, sie sa­ßen dicht bei­ein­an­der, warm.

Er sah ihr Ge­sicht wie einen hel­len Schim­mer, die Au­gen­höh­len ganz dun­kel – und es leuch­te­te aus die­ser sam­ti­gen Dun­kel­heit.

»Kin­der müs­sen einen Va­ter ha­ben«, sag­te sie.

»Ich bin auch so lan­ge al­lein ge­we­sen«, sag­te er und lehn­te den Kopf ge­gen ihre Schul­ter. Es war weich.

Sie zog ihn nä­her, mit ei­ner Hand ge­gen ihre Brust. »Und ich erst!« sag­te sie. »Wie das mit dem Kind pas­sier­te, und alle sa­hen mich an, und plötz­lich war ich ein Dreck, und Va­ter schlug mich im­mer, und Mut­ter heul­te ewig bloß …«

Sie ver­sank in Ge­dan­ken.

»Ich habe kei­nen Va­ter mehr«, sag­te er.

»Ach, das wäre viel bes­ser!« rief sie. »Dann könn­te ich mir ein Zim­mer mie­ten und für den Jun­gen ar­bei­ten … Aber so …«

»Wa­rum gehst du denn nicht weg?« frag­te er. »Du bist doch mün­dig.«

»Aber das geht doch nicht«, wi­der­sprach sie eif­rig. »Wo Va­ter hier Meis­ter ist, und bis das pas­sier­te, war er Ober­meis­ter von der Gla­se­r­in­nung. Wo mich hier alle ken­nen! Nein, nein, ich muss schon zu Haus blei­ben, bis mich mal ei­ner hei­ra­tet.«

Eine Wei­le Stil­le. Die Hand, die den Kopf an der war­men wei­chen Brust hält, ist lo­cke­rer ge­wor­den im Zu­griff. Aber dann kommt die an­de­re dazu, bei­de he­ben sie den Kopf, nun be­rüh­ren sich die Lip­pen, und die­ses Mal blei­ben die des Mäd­chens nicht ge­schlos­sen. Halb ge­öff­net ist ihr Mund, die Lip­pen sind weich, es ist, als schwell­ten sie un­ter dem Kuss, als blüh­ten sie auf.

Der Mund von Hil­de löst sich einen Au­gen­blick, sie stößt einen Laut aus; Be­frie­di­gung, Was­ser nach lan­gem Durst – und dann stürzt er gleich­sam aus dem Nacht­him­mel auf den sei­nen her­ab, saugt, ver­langt, wird im­mer vol­ler, glü­hen­der, zärt­li­cher …

Nein, kein Wort, kei­ne An­re­de, kein Ko­sena­me. Zwei Ver­durs­ten­de, die end­lich, end­lich trin­ken. Stil­les, end­lo­ses Küs­sen – und da­zwi­schen hin­ein hört Ku­falt den Nacht­wind im Wal­de, ein Ast schabt knar­rend an ei­nem an­de­ren, das plötz­li­che Auf­wir­beln von Herbst­laub, eine Au­to­hu­pe, fern, fern …

Und wäh­rend Ku­falt atem­los trinkt, er­füllt eine gren­zen­lo­se Trau­rig­keit sein Herz: Vor­bei, wäh­rend ich küs­se, schon vor­bei … Im An­fang Ende. Und: Kin­der müs­sen einen Va­ter ha­ben … er heißt Wil­li … bis mich mal ei­ner hei­ra­tet … vor­bei, im Küs­sen schon vor­bei …

Arme, düs­te­re Erde, die mit der Er­fül­lung schon die Trau­er bringt, Pla­net, kaum von Son­nen­strah­len durch­wärmt, schon von Ei­ses­käl­ten ver­stei­nert … kal­te Glut, ar­mer Ku­falt …

Und – ach, wie sie sich küs­sen, nun ha­ben sie schon um­ein­an­der die Arme ge­schlun­gen, sie at­men has­ti­ger, das Hirn be­ginnt zu tan­zen, das Herz flat­tert, vor den Au­gen glimmt es wie aus Asche ent­flamm­te Glut – und wäh­rend sie sich im­mer ver­zeh­ren­der, be­gie­ri­ger, ein­wüh­len­der küs­sen, geht durch Ku­falts Kopf bö­ses Den­ken: Wenn du schlau bist, viel­leicht bin ich noch schlau­er … wenn du mich fan­gen willst, viel­leicht fan­ge ich dich … Und sei­ne eine Hand glei­tet von der Schul­ter un­ter den Man­tel, über die Blu­se, an die Brust, um­fasst sie. Und sein Bein be­drängt sie.

Mit ei­nem Ruck reißt sie sich los, sie reißt ih­ren Leib von sei­nem los, wie man ein Ei­sen von ei­nem Ma­gnet los­reißt.

Ei­nen Au­gen­blick ste­hen bei­de tau­melnd. Sie fasst – er ahnt es so­gar in der Nacht – nach ih­ren Haa­ren, wie sie es ges­tern auf dem Tanz­bo­den tat.

»Nein«, hört er sie flüs­tern. »Nie, nie wie­der.«

»Ich woll­te ja nur …«, sagt er has­tig.

»Wenn du das willst«, sagt sie, »dann kön­nen wir gleich ge­hen. Von ei­nem Male habe ich ge­nug.«

Sie schau­dert. Sie fasst nach sei­nem Arm. »Komm. Es wird kalt. Ge­hen wir noch ein Stück.«

Sie ge­hen. Nein, übel­ge­nom­men hat sie es nicht, aber … Das wird man nie über­win­den, denkt Ku­falt. Sie hat wirk­lich ge­nug. Sie hat Angst.

Und laut: »Du musst noch nicht nach Haus? Was sagt denn dein Va­ter?«

»Va­ter hat Ke­ge­la­bend«, sagt sie.

Sie fin­det im Dun­keln je­den Weg. Der Stadt­wald ist nicht klein, aber sie weiß je­den Weg. »Links müs­sen wir hin­ein, dort, wo es ganz schwarz aus­sieht. Dann kom­men wir zum Rin­den­häus­chen.«

Wie oft muss sie hier, denkt Ku­falt, mit dem an­de­ren ge­gan­gen sein. Oder mit den an­de­ren. Denn es gibt kei­nen Va­ter, kei­nen, der für das Kind zahlt. Und ich muss aus­ge­rech­net kom­men, wenn sie nicht mehr will. Im­mer habe ich Pech.

»Der klei­ne Di­cke, mit dem du warst, im Rends­bur­ger Hof – ist das dein Freund?«

»Der Bruhn? Ja«, sagt Ku­falt, »das ist mein Freund.«

»Vor dem nimm dich man in acht, ich hab ge­hört, das soll ein Raub­mör­der sein.«

»Raub­mör­der …«, sagt Ku­falt böse. »Was weißt du von Raub­mör­der? Ein fei­ner Jun­ge ist das.«

»Aber im Kitt­chen hat er schon ge­ses­sen«, sagt sie. »Ich weiß das si­cher.«

»Na, und wenn­schon«, ver­sucht Ku­falt. »Fin­dest du das schlimm?«

»Das ist Ge­schmack­sa­che«, er­klärt sie. »Ich möch­te kei­nen sol­chen. Auch kei­nen Ar­beits­lo­sen. Den­ke, vom Stem­pel­geld le­ben und den gan­zen Tag den Mann im Haus! Sol­che könn­te ich einen Hau­fen ha­ben. Ich könn­te im­mer noch eine Men­ge ha­ben.«

»Ja«, sagt Ku­falt.

Ihm ist, als wi­che sie im­mer wei­ter von ihm zu­rück; es war so gut mit ihr, da sie noch schwie­gen, jetzt, da sie re­den, ent­fer­nen sie sich von­ein­an­der.

»Ja«, sagt er bloß.

»Wo ar­bei­test du?« fragt sie. »Bist du auf ei­nem Büro, oder bist du Ver­käu­fer?«

»Nein, auf der Zei­tung«, sagt er.

»O fein!« ruft sie. »Da kriegst du si­cher viel Ki­no­bil­letts. Kön­nen wir bald mal ins Kino?«

»Ich weiß nicht«, sagt er un­schlüs­sig. »Ich muss erst mal se­hen, wie es passt. Da sind noch mehr bei uns auf dem ›Stadt- und Land­bo­ten‹.«

»So, du bist auf dem ›Bo­ten‹«, sagt sie et­was ent­täuscht. »Ich dach­te, du wärst auf dem ›Freun­d‹. Wir le­sen im­mer den ›Freun­d‹. Der ›Freun­d‹ ist doch viel bes­ser!«

»Wo ihr den ›Bo­ten‹ gar nicht lest?«

»Doch, le­sen tun wir ihn schon. Aber wir sind eben an den ›Freun­d‹ ge­wöhnt. – Vi­el­leicht ist auch der ›Bo­te‹ bes­ser ge­wor­den«, sagt sie ein­len­kend. »Ich weiß es ja nicht, wir se­hen den ›Bo­ten‹ im­mer nur flüch­tig. – Komm, da ist das Rin­den­häus­chen. Drin ist es viel­leicht wär­mer.«

»Nein«, sagt er. »Ich möch­te jetzt nach Haus.«

»O Gott, nun bist du böse!« ruft sie be­stürzt. »Weil ich das vom ›Bo­ten‹ ge­sagt habe? Ich will nie wie­der was ge­gen den ›Bo­ten‹ sa­gen, be­stimmt nicht!«

»Nein, ich bin müde. Ich will jetzt nach Haus«, sagt er.

Sie ste­hen ein­an­der ge­gen­über. Auf der Lich­tung, die der schma­le Rin­den­tem­pel ziert, ist es et­was hel­ler. Er sieht ihr Ge­sicht, die Hän­de he­ben sich bit­tend auf die Höhe der Brust.

»O Wil­li«, sagt sie und nennt ihn zum ers­ten Mal beim Vor­na­men. »Sei mir doch nicht bös. Bit­te, komm.«

»Ich bin gar nicht bös«, sagt er, und sei­ne Stim­me klingt sehr ver­är­gert. »Aber ich bin wirk­lich müde und muss schnell ins Bett. Ich habe mor­gen viel zu tun.«

Ihre Hän­de sin­ken her­un­ter, sie schweigt einen Au­gen­blick.

»Also geh«, sagt sie dann ton­los. »Geh.«

Er wen­det sich zö­gernd, er mur­melt ein »Gute Nacht«.

»Gute Nacht«, sagt auch sie lei­se.

Und dann: »Gib mir noch einen Kuss, Wil­li, bit­te.«

Er dreht sich um nach ihr. Er geht einen Schritt auf sie zu.

Und plötz­lich um­fasst er sie. O Gott, es ist ja die Frau, die Frau, die Frau, nach der ich seit Jah­ren mich ge­sehnt, es ist das ver­miss­te Glück, die ewig aus­ge­blie­be­ne Er­fül­lung … Frau, Weib, Brust … es ist das Glück, es ist das Glück, es ist das große, große Glück … Müde zu­rück ins Zim­mer, ins ein­sa­me Bett …

Und er fällt hin­ab auf sie mit dem Sturm al­ler sei­ner Küs­se. Er be­täubt sie mit dem Sturz­bach sei­ner Berüh­run­gen, er ist hier, da, dort. Er stam­melt Wor­te da­zwi­schen, ab­ge­ris­se­ne, sinn­lo­se Wor­te. »O du, dass ich dich wie­der­ha­be … ach, du bist mein … wie ich dich lieb­ha­be …!«

Sie tau­meln. Das Rin­den­häus­chen kommt nä­her, eine Tür knarrt. Es ist sehr dun­kel dar­in und eine mod­ri­ge Käl­te, voll des Ge­ruchs von fau­len­dem Holz …

Es ist stil­ler. Das has­ti­ge At­men ist ru­hi­ger ge­wor­den und ru­hig. Hil­de weint lei­se vor sich hin. Er liegt mit dem Kopf auf ih­rem Schoß, sie strei­chelt sein Haar, aber ein an­de­res Haar ist es wohl, an das sie denkt: sei­di­ge­res, hel­le­res, jün­ge­res.

In sei­nem Bett­chen, an­dert­halb Ki­lo­me­ter ab, schläft der klei­ne Wil­li. Sie kann zu ihm, aber wird sie bei ihm blei­ben kön­nen? Nie, nie wie­der, hat sie ge­sagt, und so ist es auch jetzt noch.

»Wei­ne doch nicht mehr«, bit­tet er. »Es ist be­stimmt nichts pas­siert.«

 

Sie weint.

Und dann flüs­tert sie: »Hast du mich denn we­nigs­tens ein biss­chen ger­ne, Wil­li? Sage es doch, bit­te!«

13

Er hat es ge­sagt und hat ge­dacht: Sa­gen kann man viel. Und sie hat es ge­glaubt oder hat es nicht ge­glaubt. Und dann ha­ben sie sich ge­trennt. Im Licht ei­ner La­ter­ne, ihr Ge­sicht war ver­weint.

Sa­gen kann man viel.

Aber nun liegt er al­lein in sei­nem Bett; siehst du, es ist gut, al­lein in sei­nem Bett zu lie­gen zwi­schen den küh­len glat­ten La­ken, ohne frem­de Wär­me. Er liegt al­lein im Bett, das Zim­mer ist nicht ganz dun­kel, eine Stra­ßen­lam­pe wirft Licht ge­gen die Wand, da­hin sieht er.

Sa­gen kann man viel. Und: Sie hat mich rein­le­gen wol­len, nun habe ich sie rein­ge­legt.

Er macht die Au­gen zu, jetzt ist es dun­kel. Aber in der end­lo­sen Tie­fe der Dun­kel­heit er­scheint ein klei­nes hel­les Bild: Hil­de­gard von ges­tern Nacht am Bett des Kin­des. Sie hat sich dar­über­ge­beugt – und auch heu­te Nacht im Rin­den­haus hat sie eine Be­we­gung ge­habt … Nein, sie ist nicht nur Ab­wehr, nicht nur Verzweif­lung und Wei­nen ge­we­sen, sie war auch bei ihm, einen kur­z­en Mo­ment hat sie ihn in ihre Arme ge­nom­men, ihn, ihn, Wil­li Ku­falt, auch sie hat ihn ge­wollt – einen kur­z­en Mo­ment.

Eine schnel­le Se­kun­de voll Zärt­lich­keit, ein has­ti­ge­rer, se­li­ge­rer Atem, ein Seuf­zer vom Glück …

Ich muss sie wie­der­se­hen, und ich muss an­ders zu ihr sein. Viel net­ter. Sie hat es doch nicht schlimm ge­meint. Und das Kind? Gra­de we­gen des Kin­des! Sie hat recht, Kin­der müs­sen einen Va­ter ha­ben (wie es da schlief, so ver­wu­selt und zu­sam­men­ge­kro­chen!), und sie hat gra­de recht, wenn sie ver­sucht, einen Va­ter zu krie­gen. Wa­rum soll ich sie nicht hei­ra­ten? Vi­el­leicht wird es wirk­lich was mit der Zei­tung, viel­leicht ver­die­ne ich rich­tig Geld … Und wenn wir spä­ter ein­mal ver­hei­ra­tet sind, er­zäh­le ich ihr, dass ich vor­be­straft bin … Al­les kann noch gut wer­den …

Und er lä­chelt ein we­nig. Er denkt an ihre Be­we­gung, als sie ihn im Glück fes­ter in die Arme zog. Wann war ihm das ge­sche­hen?

Nein, er war nicht ganz schlecht, Res­te wa­ren noch da von frü­her, er kam aus ei­ner Um­welt der Ei­gen­sucht, rück­sichts­lo­sen Selbst­be­haup­tens, von Schmutz … Aber nur ein we­nig Zärt­lich­keit, ein we­nig Ver­trau­en und Lie­be, und es reg­te sich un­ter dem Ge­röll, nicht al­les war ver­schüt­tet …

»Lie­be Hil­de«, flüs­tert er. »Liebs­te Hil­de.«

Es stimmt noch nicht ganz, aber bei­na­he konn­te es schon stim­men. –

Am nächs­ten Mor­gen dann stört er im Gold­wa­ren­ge­schäft von Lin­sing kurz nach acht Uhr mor­gens beim Rei­ne­ma­chen: Er kauft eine gol­de­ne Da­men­arm­band­uhr für sie­ben­und­sech­zig Mark.

14

Punkt neun Uhr be­tritt Ku­falt die Re­dak­ti­on des »Stadt- und Land­bo­ten«. Er trägt sei­nen bes­ten An­zug – den blau­en mit den wei­ßen Na­del­strei­fen –, einen noch sehr an­stän­di­gen schwar­zen Uls­ter, einen schwar­zen stei­fen Hut. In der Hand hat er eine brau­ne Ak­ten­ta­sche, und in der Ak­ten­ta­sche liegt ein Pa­ket­chen, In­halt gol­de­ne Da­men­uhr: Man kann nie wis­sen, wem man un­ter­wegs be­geg­net.

Hin­ter der Bar­re im Ex­pe­di­ti­ons­raum sitzt der große kno­chi­ge Mann mit dem Pfer­de­ge­sicht, dem ge­gen­über ein Fräu­lein an sei­ner Ma­schi­ne.

»Ku­falt«, stellt sich Ku­falt vor.

»Das weiß ich nun«, knurrt der an­de­re los. »Da­von habe ich die Nase schon voll.« Und als Ku­falt et­was be­stürzt dar­ein­blickt, setzt er we­sent­lich mil­der zu: »Was den­ken Sie, was ich für einen Stunk Ihret­we­gen mit dem Diet­rich ge­habt habe!«

»Aber ich hab das doch nicht ge­wollt«, pro­tes­tiert Ku­falt. »Herr Free­se hat’s ge­sagt, und ich weiß über­haupt nicht, wie­so.«

Kraft sieht ihn mit ei­nem lan­gen Blick an.

»Kom­men Sie mit«, sagt er dann. »Ich will Ih­nen Be­scheid sa­gen.«

Ku­falt wird in ein klei­nes Loch ge­führt, in eine Art Rum­pel­kam­mer mit Ei­mern, Be­sen, Re­ga­len voll ver­gilb­ten Zei­tungs­stö­ßen. Auf dem Tisch steht eine zer­bro­che­ne Pe­tro­le­um­lam­pe, in der Ecke ein ver­knautsch­tes, ver­lu­der­tes Sofa, in der an­de­ren Ecke Fla­schen, lee­re Fla­schen, so­gar Sekt­fla­schen sind dar­un­ter.

»Na, Sie müs­sen se­hen, dass Sie das hier ge­le­gent­lich zu­recht­krie­gen. Hier kön­nen Sie ar­bei­ten.« Mit ei­nem Blick auf Sofa und Fla­schen: »Das war frü­her das Pascha­zim­mer, als der Olle« – Blick nach dem Ne­ben­raum –, »als der Olle noch moch­te.«

Ku­falt schau­dert bei dem Ge­dan­ken an das grau-ver­sof­fe­ne Al­ko­hol­ge­spenst und Frau­en.

»Hier ha­ben Sie Lis­ten«, sagt der Herr Kraft. »Da ste­hen alle Hand­werks­meis­ter drauf. Sie müs­sen sich nur noch die ein­zel­nen Be­ru­fe ge­ord­net raus­zie­hen. Neh­men Sie im­mer eine In­nung al­lei­ne vor, erst mal die Flei­scher oder Bä­cker, und dann im­mer wei­ter, sys­te­ma­tisch je­den Be­ruf durch. Mit­ar­bei­ter un­se­res Blat­tes ist näm­lich der Syn­di­kus sämt­li­cher Hand­wer­ke­rin­nun­gen. Jede Wo­che schreibt er einen lan­gen Rie­men über Hand­wer­ker­fra­gen. Da­mit müs­sen Sie boh­ren: Wir un­ter­stüt­zen euch, also müsst ihr uns auch un­ter­stüt­zen. Den ers­ten Abon­ne­ments­bei­trag kas­sie­ren Sie gleich ge­gen Quit­tung aus die­sem Block. Das ist Ihr Wer­ber­lohn. Abends mel­den Sie mir die Neu­abon­nen­ten, da­mit die schon am nächs­ten Mor­gen ihre Zei­tung be­kom­men. So …«

Kraft geht ge­gen die Tür. Dann sagt er ge­lang­weilt: »Es wird aber doch nichts mit Ih­nen, wenn Sie den Diet­rich auch raus­ge­bis­sen ha­ben.«

Und schiebt ab, ehe Ku­falt noch ant­wor­ten konn­te.

Der macht sich den Tisch frei, reißt von dem Sofa – nach Um­her­su­chen – die Schmier­de­cke, wischt den Tisch ab und be­ginnt sein Ta­ge­werk. Er stellt die Meis­ter nach Be­rufs­ka­te­go­ri­en zu­sam­men, die Ver­su­chung ist groß, mit den Gla­sern an­zu­fan­gen, aber er wi­der­steht und be­ginnt mit den Ma­lern.

Nein, er wird nicht mit Bä­ckern oder Flei­schern an­fan­gen, er hat sich über­legt, da muss man in einen La­den ge­hen, und er hat sich er­in­nert: Wenn er frü­her mal in einen La­den kam und da stand ge­ra­de ein Rei­sen­der, wie der mit­ten im Satz ab­schnapp­te und mit ei­nem höf­lich-erns­ten Lä­cheln zu­rück­tre­ten muss­te, dem Kun­den freie Bahn zu las­sen. Die Ma­ler sind schon schwie­rig ge­nug für den An­fang.

Er hat sie bei­sam­men, und nun sucht er sich auf dem Stadt­plan, wo sie alle woh­nen, ent­wirft eine Tour – der Weg geht hin und her durch die gan­ze Stadt –, wie wird er die Stadt ken­nen­ler­nen in den nächs­ten Wo­chen!

Er ist noch bei die­ser Ar­beit, als sich die Tür auf­tut und der Herr Che­fre­dak­teur Free­se her­ein­kommt: grau, zer­knit­tert, mit ro­ten, blin­zeln­den Au­gen. Er trägt ein paar Zei­tungs­blät­ter in der Hand. »Da«, krächzt er. Er räus­pert sich, mehr­mals, vie­le Male. »Von un­serm Syn­di­kus. Bock­mist! Aber dass Sie we­nigs­tens das ken­nen, was Sie emp­feh­len.«

»Ja«, sagt Ku­falt ge­hor­sam und greift nach den Blät­tern.

»Schön«, sagt der an­de­re. Er sieht Ku­falt an, o welch bö­ses bit­te­res Ge­sicht, welch fi­schi­ger kal­ter Blick!

»Jung«, mur­melt er. »Zu jung«, mur­melt er. Und plötz­lich wie ernst­lich be­sorgt: »Glau­ben Sie, Sie wer­den es schaf­fen?«

»Was schaf­fen?«

»Abon­nen­ten, je­den Tag sechs.«

»Ich weiß es ja noch nicht, hab’s noch nie ge­macht.«

»Weiß es nicht, hat’s noch nie ge­macht, schafft es nicht, und die an­de­ren wer­den grö­ßer und grö­ßer …« Er steht da, der alte Free­se, mit hän­gen­dem Kopf, sei­ne di­cken blau­en Lip­pen zit­tern un­ter dem Wal­ross­schnurr­bart.

Dann be­sinnt er sich. »Wo sind üb­ri­gens die zwan­zig Mark von dem Diet­rich?« fragt er. »Sie ha­ben mir das Geld doch mit­ge­bracht?«

»Ich habe kei­ne zwan­zig Mark mehr«, er­klärt Ku­falt.

Der Free­se sieht ihn lan­ge an. Ein Fun­ke Spott er­wacht in sei­nem Auge. »Traut mir kei­ne zwan­zig Mark mehr zu und geht für mich wer­ben … Wie sie sich ab­stram­peln! Wie sie stram­peln!« flüs­tert er ent­zückt.

Der Fun­ke er­lischt. Ein bö­ser, gal­li­ger Mann bleibt. »Die De­cke ge­hört aufs Sofa, ver­ste­hen Sie, jun­ger Mann«, sagt er grob. »Das ist ’ne wich­ti­ge De­cke, ver­ste­hen Sie, von der kann ich träu­men, he!«

Er kreischt das He un­na­tür­lich laut her­aus, als schrie ein Vo­gel, dann schrammt er die Tür zu. Und Ku­falt macht sich an einen Ar­ti­kel über die Fol­gen des Nacht­back­ver­bots für den mit­tel­stän­di­schen Bä­cker. Dann irrt er in den Ro­man ab.

15

Es ist elf Uhr ge­wor­den, und nun ist es so­weit: Ku­falt hat kei­nen Grund mehr, län­ger zu zö­gern. Er nimmt sei­ne Ak­ten­ta­sche, sagt zu Herrn Kraft ganz ge­schäfts­mä­ßig: »Also, ich geh jetzt auf die Tour«, und mar­schiert los.

Die ur­sprüng­li­che Tour fing ei­gent­lich zehn Häu­ser vom »Stadt- und Land­bo­ten« an, beim Ma­ler­meis­ter Retzlaff; aber das hat Ku­falt eben im letz­ten Au­gen­blick noch um­ge­sto­ßen: Sei­nen ers­ten Be­such wird er bei Ma­ler­meis­ter Ben­zin ma­chen, in der Ul­men­stra­ße, ziem­lich an der Pe­ri­phe­rie der Stadt. Hin­aus­ge­scho­ben ist Schon­zeit, und auf dem Wege kann er au­ßer­dem noch sei­ne Rede me­mo­rie­ren.

Un­ter­wegs kann er sei­ne Rede nicht mehr me­mo­rie­ren, denn Herr Diet­rich stößt zu ihm. Drei Häu­ser vom »Bo­ten« tritt er an Ku­falt her­an und sagt: »Gu­ten Tag, Herr Ku­falt.«

»Gu­ten Tag, Herr Diet­rich«, sagt Ku­falt, lüf­tet den Hut und mar­schiert wei­ter. Diet­rich mar­schiert mit. Diet­rich sieht heu­te nicht so ge­sund rot­braun aus wie am gest­ri­gen Mit­tag. Diet­rich ist fle­ckig und über­näch­tig, die Spit­ze sei­ner lan­gen Nase ist ganz weiß.

»Ihr blau­es Wun­der wer­den Sie er­le­ben«, sagt Diet­rich, »beim Abon­nen­ten­wer­ben.«

Ku­falt ant­wor­tet nicht und geht wei­ter. Es ist dumm, der Mann hat ihm nichts ge­tan, nein, der Mann hat ihm noch zwan­zig Mark ge­borgt, aber eine Wut hat er doch auf ihn.

»Ich wür­de nicht mit so ’ner Ak­ten­ta­sche ge­hen«, sagt Herr Diet­rich miss­bil­li­gend. »Das sieht im­mer so nach Rei­sen­dem aus. Den Quit­tungs­block ste­cken Sie ein­fach in die Man­tel­ta­sche, und je­der Dienst­bol­zen lässt Sie glück­strah­lend als neu­en Kun­den ein.«

»Dan­ke schön«, sagt Ku­falt höf­lich und geht wei­ter. Aber dann kann er sei­ne Neu­gier doch nicht be­zäh­men und fragt: »Wie­so hat der Free­se Sie ei­gent­lich raus­ge­schmis­sen? We­gen der fünf­und­zwan­zig Pro­zent, die Sie von mir ab­ha­ben woll­ten?«

»Wis­sen Sie was«, schlägt Diet­rich vor, »ich gebe Ih­nen alle Tipps, na­ment­lich für die In­se­ra­ten­wer­bung, und da­für ge­ben Sie mir doch die fünf­und­zwan­zig Pro­zent. We­gen der Abrech­nung ver­traue ich Ih­nen voll­kom­men.«

»Ohne Kau­ti­on?« fragt Ku­falt.

»Ohne Kau­ti­on«, be­stä­tigt Diet­rich.

»Ich brauch kei­ne Tipps«, er­klärt Ku­falt.

»Auch schön«, sagt Diet­rich gleich­mü­tig. »Man weiß nie, manch­mal sind die Men­schen noch dus­se­li­ger, als man denkt. Dem Free­se tränk ich es aber ein. Ich gehe jetzt auf den ›Freun­d‹.«

»Hier geht es aber nicht zum ›Freun­d‹«, sagt Ku­falt.

»Wis­sen Sie was, Herr Ku­falt«, sagt Diet­rich. »Sie brau­chen mir mei­ne zwan­zig Mark noch nicht wie­der­zu­ge­ben. Ich habe Ih­nen ge­sagt: Wir ar­bei­ten zu­sam­men, und wir ar­bei­ten noch zu­sam­men. Aber dem Free­se ge­ben Sie die auch nicht, ver­stan­den? Sa­gen Sie dem Free­se ru­hig, Sie ha­ben die mir ge­ge­ben.«

Pau­se.

»Der kauft sich näm­lich doch bloß Ko­gnak da­für.«

Pau­se.

Diet­rich lacht, aber et­was küm­mer­lich. »Ich kauf mir al­ler­dings auch bloß Ko­gnak da­für.« Er lä­chelt be­glückt. »Hier ist Der Tan­nen­baum von mei­nem Freun­de Schmidt. Wol­len wir uns Mut antrin­ken, ich für den ›Freun­d‹, Sie für den ers­ten Kun­den?«

»Ich trin­ke nicht …«

»Ach nee, ach ja, Sie trin­ken nicht am Vor­mit­tag«, sagt der an­de­re has­tig. »Weiß ich, gol­de­ne Grund­sät­ze, aber ich geh rein …«

Er bleibt ste­hen, sieht nach dem Fens­ter der Knei­pe. »Sa­gen Sie, ha­ben Sie das auch, wenn Sie zu viel ge­sof­fen ha­ben, dass Sie es am nächs­ten Tage gar nicht ab­war­ten kön­nen, dass Sie wie­der sau­fen? Da­von wird der Ma­gen so ge­lin­de …« Er lä­chelt. Dann trü­be: »Aber es hält nicht vor, im­mer ra­scher wird er wie­der böse …« Ab­bre­chend: »Also, ich hebe einen. Oder kip­pe.« Nach­den­kend: »Mal se­hen, ob das Bier schon ge­lau­fen ist bei mei­nem Freun­de Schmidt. Sonst kip­pe ich.«

 

Er streckt die Hand aus. »Dann: Hals- und Bein­bruch.«

»Dan­ke, dan­ke«, sagt Ku­falt und schüt­telt die Hand. Der Zorn ist weg, er ist so­gar ein biss­chen ge­rührt. »Wenn Sie heu­te mal gar nicht trän­ken, Herr Diet­rich …?«

»Wis­sen Sie was«, sagt Herr Diet­rich, »wenn sie mich da auch raus­ge­funkt ha­ben, den ol­len ›Bo­ten‹ muss ich doch wei­ter­le­sen. Schrei­ben Sie ’ne Quit­tung aus: Diet­rich, Wol­len­we­ber­stra­ße 37 III.«

Ku­falt fasst zö­gernd Block und Blei­stift.

»Ach, Geld?« lacht Diet­rich. »Geld! Na­tür­lich krie­gen Sie Ihre Mark fünf­und­zwan­zig. Hier …« Er fischt in den Ta­schen. »Eine Mark fünf­und­zwan­zig. Stimmt ge­ra­de.«

Ku­falt schreibt. »Ich dan­ke auch schön«, sagt er und gibt die Quit­tung an Herrn Diet­rich.

»Kei­ne Ur­sa­che«, sagt der. »Kei­ne Ur­sa­che. Wir ar­bei­ten noch zu­sam­men, ich habe es Ih­nen ge­sagt.«

Und er ver­schwin­det in der Knei­pe, den Quit­tungs­zet­tel hat er sich un­ters Hut­band ge­steckt.