Hans Fallada – Gesammelte Werke

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2

An die­sem ver­häng­nis­vol­len Don­ners­tag, drei­zehn­ten Ja­nu­ar, schlich ge­gen halb fünf Uhr nach­mit­tags Ku­falt be­son­ders un­lus­tig auf den »Bo­ten«. Sie­ben Stun­den war er un­ter­wegs ge­we­sen, und der Fang war jäm­mer­lich: zwei Abon­nen­ten. Oder ei­gent­lich nur an­dert­halb, denn die Wit­we Masch­ke, die sei­nem be­harr­li­chen Re­den nicht hat­te wi­der­ste­hen kön­nen, hat­te nur sech­zig Pfen­nig an­ge­zahlt, den Rest soll­te er sich am Ers­ten ho­len, wenn es Ren­ten gab.

Ku­falt grau­te es vor der gro­ben Stim­me des Kraft: »Zwei, soso, jaja, nur zwei … zwei!« Er ging in die Schen­ke von Lin­de­mann und setz­te das Scherf­lein der Wit­we in Ko­gnak um. Dann ließ er das Abon­ne­ments­geld des Le­der­ar­bei­ters Pa­chul­ke den­sel­ben Weg ge­hen.

So kam er kurz nach fünf et­was auf­ge­räum­ter in die Ex­pe­di­ti­on, wo Kraft schon war­te­te.

»Nur zwei, Herr Kraft«, sag­te er leicht­hin und wun­der­te sich, warum ihn die klei­ne Ste­no­ty­pis­tin Ut­neh­mer so ent­setzt an­starr­te. »Es wird im­mer schlech­ter.«

»Zwei …«, sag­te Kraft und setz­te ihn in Er­stau­nen. »Zwei sind ja auch ganz schön, bes­ser als nichts. – Ge­hen Sie mal rein zu Herrn Free­se, er möch­te Sie spre­chen.«

Ku­falt sah fra­gend von Kraft zur Ut­neh­mer. Das Mäd­chen be­weg­te wie ver­nei­nend den Kopf.

»Wa­rum schüt­teln Sie denn den Kopf?« frag­te Ku­falt er­staunt.

»Ich hab doch nicht den Kopf ge­schüt­telt«, log sie und lief rot an.

»Also ma­chen Sie schon, Herr Free­se war­tet doch«, rief Kraft plötz­lich sehr ge­reizt.

»Schön, schön«, sag­te Ku­falt und ging ge­gen das Re­dak­ti­ons­zim­mer. Noch hat­te ihn kei­ne Ah­nung des dro­hen­den Un­heils über­kom­men, schön warm und er­mun­ternd hat­te sich der Schnaps in ihm aus­ge­brei­tet, aber ver­wun­der­lich war es doch, wie sich die bei­den heu­te be­nah­men.

»Wa­rum sind Sie ei­gent­lich heu­te so, Herr Kraft?«

»Ich bin gar nicht so – ma­chen Sie doch bloß los, Mensch.«

Herr Free­se war nicht al­lein. Ne­ben ihm im Lehn­stuhl saß ein Mann, der Ku­falt auf den ers­ten Blick miss­fiel. Es war ein dür­rer, läng­li­cher Mann mit ei­nem lä­cher­li­chen Bauch, mit ei­nem tro­ckenen, vo­gel­ar­ti­gen Kopf, der ganz gelb war. Hin­ter ei­ner Ni­ckel­bril­le sa­ßen schar­fe, schwar­ze Au­gen.

Bei­de hat­ten ein Glas Ko­gnak vor sich ste­hen.

»Herr Ku­falt – Herr Bröd­chen«, mach­te Free­se be­kannt. Ku­falt ver­beug­te sich, aber Bröd­chen nick­te nur ein­mal, kurz und scharf. Er sah Ku­falt un­ver­wandt an, Ku­falt sah ihn wie­der an.

»Sie stel­len sich wohl am liebs­ten an den Ofen«, sag­te Free­se ge­müt­lich. »Si­cher sind Sie wie­der ganz durch­ge­fro­ren. – Wie viel ha­ben Sie denn er­gat­tert?«

»Zwei«, ant­wor­te­te Ku­falt.

»Zwei«, seufz­te Free­se. »Fünf hal­be Mark. Da­von kann man ei­gent­lich auch nicht le­ben, was?«

»Doch«, sag­te Ku­falt auf­merk­sam.

Der Dür­re mit dem Bauch sag­te gar nichts, er sah im­mer nur Ku­falt an.

»Wo wa­ren Sie denn heu­te ei­gent­lich?« frag­te Free­se vol­ler In­ter­es­se, aber Ku­falt merk­te wohl, dass dies In­ter­es­se er­heu­chelt war.

»Im Nor­den«, sag­te er kurz.

»Im Nor­den, so?« frag­te Free­se. »Bei den Le­der­fa­bri­ken? Fa­brik­stra­ße? We­ber­stra­ße? Lin­sin­gen­stra­ße? Töp­fer­stra­ße? Tal­stra­ße?«

Der Lan­ge hat­te eine Be­we­gung ge­macht, als woll­te er ab­weh­ren, saß aber schon wie­der still.

»Ja«, sag­te Ku­falt.

Un­heil war in der Luft, so viel war klar. Aber so viel war auch klar, dass man, moch­te dies Un­heil hei­ßen, wie es woll­te, solch un­ge­wöhn­li­ches Ver­hör nicht ohne Wei­te­res hin­neh­men konn­te, für den Fall ei­nes Fal­les muss­te man vor­sor­gen …

»Wie­so fra­gen Sie üb­ri­gens, Herr Free­se?« er­kun­dig­te er sich und sah Herrn Free­se an.

Der sah ihn mit sei­nen ge­röte­ten fi­schi­gen Au­gen wie­der an. Die Zun­ge er­schi­en im Mund­win­kel, leck­te die Lip­pen ab – jetzt denkt er: Treh­ne –, die Zun­ge ver­schwand wie­der.

Free­se hat­te nichts geant­wor­tet, da­für ließ sich plötz­lich, ei­lig und böse die Stim­me des Dür­ren ver­neh­men: »Hel­ler Gum­mi­man­tel – stimmt! Dunkle Horn­bril­le – stimmt! Kä­si­ges Ge­sicht – stimmt! Grau­er Filz stimmt nicht, aber si­cher hat er noch einen grü­nen im Haus. Wir wer­den das nach­se­hen.«

Kri­mi­na­ler­fres­se! Hät­te ich doch längst se­hen müs­sen, ich Idi­ot! denkt Ku­falt er­schau­ernd. Aber ich hab den Gum­mi­man­tel ja gar nicht am Lü­becker Tor an­ge­habt!

Er fühlt – und är­gert sich dar­über wü­tend –, wie er rot wird und wie­der blass, plötz­lich wer­den sei­ne Knie weich, er muss sich fest an den Ofen leh­nen.

Die bei­den se­hen ihn un­ver­wandt an. Er ver­sucht zu lä­cheln – es geht nicht. Er möch­te et­was sa­gen – es wird nichts. Sein Mund ist plötz­lich ganz tro­cken.

»Kri­mi­nal­as­sis­tent Bröd­chen«, sagt der Dür­re schließ­lich, als dies Schau­spiel lan­ge ge­nug ge­dau­ert hat. »Mit Rück­sicht auf mei­nen Freund Free­se füh­re ich die Sa­che ohne Auf­he­bens.«

Er sieht sin­nend das Ko­gnak­glas an.

»Sie ha­ben also in der Töp­fer­stra­ße ge­wor­ben?«

Ku­falt will ant­wor­ten, Bröd­chen hebt die Hand.

»Ich ma­che Sie üb­ri­gens der Form hal­ber dar­auf auf­merk­sam, dass al­les, was Sie zu mir aus­sa­gen, ge­gen Sie ver­wandt wer­den kann. Sie brau­chen nicht aus­zu­sa­gen.« Er un­ter­bricht sich un­zu­frie­den. »Aber Sie ken­nen den Rum­mel ja schon. Sie sind vor­be­straft?«

»Ja«, sagt Ku­falt.

»Wie viel?«

»Fünf Jah­re Ge­fäng­nis.«

Der nickt, si­cher weiß er das al­les längst.

»We­gen was?«

»Un­ter­schla­gung.«

»Ver­büßt wo?«

»Hier am Ort.«

Der Dür­re mit dem Bauch nickt wie­der und sagt ge­müt­li­cher: »Also, Sie ken­nen den Rum­mel, und ich den­ke, Sie ma­chen kei­ne un­nö­ti­gen Sche­re­rei­en. Wir ha­ben Sie nun mal ge­klappt, Ku­falt …«

»Wie­so?« fragt Ku­falt auf­ge­regt. »Ich ver­ste­he über­haupt nichts. Ich be­strei­te al­les.«

Der Kri­mi­na­le nickt, sieht Free­se, des­sen Au­gen vor Span­nung und Ver­gnü­gen fun­keln, be­deu­tungs­voll an und sagt zu ihm gott­er­ge­ben: »Du siehst, er kennt den Rum­mel! Be­strei­tet von vorn­her­ein al­les! – In der Töp­fer­stra­ße ha­ben Sie aber doch ge­wor­ben? – Üb­ri­gens ha­ben Sie das schon zu­ge­ge­ben.«

»Das gebe ich auch wie­der zu«, sagt Ku­falt ganz ver­blüfft. (Was will der bloß mit sei­ner däm­li­chen Töp­fer­stra­ße?)

»So, das ge­ben Sie also zu. Schön. – Und bei ei­ner Frau Zwie­tusch sind Sie da auch ge­we­sen?«

Ku­falt über­legt. Die bei­den lau­ern so. Das scheint eine wich­ti­ge Fra­ge. Es muss also doch et­was mit der Töp­fer­stra­ße sein, trotz­dem er nicht die Boh­ne ver­steht, wie­so.

»Das kann ich nun nicht so ein­fach sa­gen«, er­klärt er vor­sich­tig. »Ich geh je­den Tag in drei­ßig, vier­zig Woh­nun­gen. Da be­hält man nicht je­den Na­men.«

»Sie be­strei­ten also, bei Frau Zwie­tusch ge­we­sen zu sein?«

»Das habe ich nicht ge­sagt. Ich habe ge­sagt, ich wüss­te es nicht. Ich müss­te erst mal das Haus se­hen. Und die Et­agen­tür. Vi­el­leicht auch die Frau.«

»Num­mer 97«, sagt Herr Bröd­chen.

»Kei­ne Ah­nung, ich seh nicht auf die Num­mern.«

Eine Wei­le herrscht Schwei­gen.

»Was ist denn über­haupt mit der Frau Zwie­tusch los?« fragt Ku­falt. Er hat das sehr gut raus­ge­bracht, fin­det er.

Die ant­wor­ten ihm aber nicht, son­dern der Dür­re fragt statt­des­sen: »Be­sit­zen Sie einen grü­nen Filz­hut?«

»Nein«, sagt Ku­falt.

»Was be­sit­zen Sie denn noch für einen Hut?«

»Ei­nen stei­fen schwar­zen und einen bläu­li­chen Filz­hut.«

»Bläu­lich und grün sind leicht zu ver­wech­seln«, er­klärt Herr Bröd­chen dem Herrn Free­se. »Je­den­falls ist es am bes­ten, ich geh mit dem Ku­falt erst mal auf sei­ne Bude und re­vi­dier den Klei­der­schrank.«

»Vor­läu­fig im­mer Herr Ku­falt«, pro­tes­tiert Ku­falt.

»Ge­ben Sie bloß nicht an, Mensch«, sagt der Kri­mi­nal­as­sis­tent ohne Auf­re­gung. »Also denn ge­hen wir, Free­se. Schö­nen Dank.«

»Trink doch erst dei­nen Ko­gnak aus, Bröd­chen«, sagt Free­se. »Komm, Ku­falt, trink auch einen. Auf den Schreck.«

Ku­falt vor­an, Bröd­chen hin­ter­her, ge­hen sie los. Das Fräu­lein Ut­neh­mer macht er­schro­cke­ne, teil­neh­men­de Au­gen, Herr Kraft aber hat sich in sein Haupt­buch ver­senkt und ant­wor­tet nicht ein­mal, als Ku­falt ziem­lich ver­gnügt »Gu­ten Abend« sagt.

Ja, er ist ziem­lich ver­gnügt; wenn die Kri­mi­na­len dies­mal nicht einen Bum­mel ge­macht ha­ben, frisst er einen Be­sen!

3

Vor der Tür vom »Bo­ten« bleibt Herr Bröd­chen über­le­gend ste­hen. »Sie brau­chen nicht ne­ben mir zu ge­hen, Herr Ku­falt«, sagt er schließ­lich. »Free­se sagt, Sie ha­ben sich ver­lobt. Ich gehe hin­ter Ih­nen. Aber wenn Sie Ge­schich­ten ma­chen …!«

»Knall­t’s!« be­stä­tigt Ku­falt. »Weiß schon. Ich mach kei­ne Ge­schich­ten. Wenn Sie mir nur sa­gen woll­ten, was los ist mit der Frau Zwie­tusch, Herr Kri­mi­nal­as­sis­tent.«

»Also ab nach Ih­rer Woh­nung!« kom­man­diert der.

»Schön«, sagt Ku­falt und mar­schiert los.

Auf der Trep­pe ver­ei­ni­gen sie sich wie­der. Bröd­chen scheint schlech­ter Stim­mung, dass Ku­falt hier­her ohne Wipp­chen mar­schiert ist.

»Fein woh­nen Sie für zwei Mark fünf­zig den Tag.«

»Ich hab auch schon mehr ver­dient«, er­klärt Ku­falt. »Zwei­hun­dert­vier­zig Mark die Wo­che.«

 

»Da­von hat mir Free­se nichts ge­sagt«, be­merkt Bröd­chen un­zu­frie­den.

»Da­für gib­t’s Zeu­gen, Herr As­sis­tent. Nach so was müs­sen Sie Herrn Kraft fra­gen«, ent­geg­net Ku­falt fröh­lich. »Das steht al­les in den di­cken Bü­chern. Und Quit­tun­gen sind auch da.«

Er knipst das Licht im Zim­mer an.

»Und nun ist das Geld wie­der alle?« fragt der Kri­mi­na­le.

»Wie­so denn?« wun­dert sich Ku­falt. »Wer hat Ih­nen denn den Quatsch er­zählt? Elf­hun­dert­drei­und­sieb­zig Mark habe ich auf der Spar­kas­se.«

»So«, sagt der an­de­re und wird im­mer un­zu­frie­de­ner. »Dar­über spre­chen wir noch. Schlie­ßen Sie erst mal den Klei­der­schrank auf.«

»Der ist of­fen, Herr As­sis­tent«, sagt Ku­falt höf­lich.

»Fei­ne Kla­mot­ten ha­ben Sie«, be­merkt der As­sis­tent. »Al­les vom Wer­be­lohn be­zahlt?«

»Die Sa­chen hat mir mein Schwa­ger ge­schickt. Auch da­für gib­t’s Zeu­gen, Herr Se­kre­tär.«

»So! – Set­zen Sie mal die­sen Hut auf«, sagt der Be­am­te tri­um­phie­rend. »Der sieht ent­schie­den grün­lich aus. Das müs­sen Sie doch we­nigs­tens zu­ge­ben, Herr Ku­falt.«

»Bläu­lich­grau, fin­de ich«, ent­schei­det Ku­falt vor dem Spie­gel.

»Ach was, grün ist der! Das hat doch gar kei­nen Zweck, al­les zu leug­nen. – Zei­gen Sie mal Ihr Spar­kas­sen­buch.«

Ku­falt holt es aus dem ver­schlos­se­nen Schreib­tisch.

»Seit den zwei­ten Ja­nu­ar ha­ben Sie nichts mehr ein­ge­zahlt? Wie viel Bar­geld ha­ben Sie noch hier«

Ku­falt sucht es zu­sam­men, es sind sechs­und­vier­zig Mark.

»Und wo sind die drei­hun­dert Mark?« fragt der Be­am­te.

»Wel­che drei­hun­dert Mark?«

»Die Sie der Zwie­tusch aus der Kom­mo­de ge­nom­men ha­ben. – Tun Sie doch nicht so, Ku­falt, es hat gar kei­nen Zweck. Ich mach heu­te Abend noch Haus­su­chung in Ih­rer Bude, und wenn Sie’s bei­sei­te ge­schafft ha­ben, fin­de ich es auch.«

Ku­falt ist ganz fröh­lich. Sein Herz hat einen er­leich­ter­ten fro­hen Schlag ge­tan.

»Also der Frau Zwie­tusch hat ei­ner drei­hun­dert Eier aus der Kom­mo­de ge­klaut? Na, Herr As­sis­tent, dann ist es das Ein­fachs­te, wir ge­hen gleich zu ihr. Und dann wird sie Ih­nen be­stä­ti­gen, dass ich es nicht war.«

Der Be­am­te sieht ihn auf­merk­sam an.

»Wa­rum freu­en Sie sich denn so?« fragt er.

»Weil ich nun weiß, was es ist, und weil ich nun weiß, es wird sich gleich auf­klä­ren. – Ge­hen wir also los.«

Aber Herr Bröd­chen setzt sich. »Und warum ha­ben Sie vor­hin sol­che Angst ge­habt am Ofen?«

Ku­falt wird ver­wirrt. »Gar kei­ne Angst habe ich ge­habt«, be­strei­tet er.

»Na­tür­lich hat er Angst ge­habt«, sagt der Be­am­te wie zu sich. »Free­se wird’s be­stä­ti­gen kön­nen. – Nein, nein, Ku­falt, et­was ha­ben Sie auf dem Kerb­holz – wenn Sie es auch bei der Zwie­tusch nicht ge­we­sen sein soll­ten … was ich be­zweifle …«

»Ich hab kei­ne Angst ge­habt«, sagt Ku­falt und hat sich wie­der ge­fasst. »Aber wenn ei­ner vor­be­straft ist wie ich, dann ist es ihm un­ge­müt­lich, wenn er mit ’nem Kri­mi­na­ler re­det. Man weiß ja nie, kann man sei­ne Un­schuld auch be­wei­sen, un­serei­ner ist doch im­mer gleich im Ver­dacht …«

»Nee, nee, Ku­falt«, sagt der an­de­re. »Mich re­den Sie nicht dumm. Ich kenn euch Brü­der doch. Ir­gend­wo stink­t’s bei Ih­nen.« Er ver­sinkt wie­der ins Grü­beln. »Na, ge­hen wir also erst ein­mal zur Zwie­tusch.«

»Ja, ge­hen wir«, sagt Ku­falt trot­zig. »Ver­däch­ti­gen, das kann je­der … Se­hen Sie, Herr As­sis­tent, wo ich so schön Geld ver­dient habe, und es liegt auf der Kas­se, und ich will zu Os­tern hei­ra­ten – ich wär doch sau­dumm, wenn ich we­gen drei­hun­dert Mark mir al­les ver­mas­seln woll­te.«

»Man­cher ist dumm und weiß es nicht«, sagt der As­sis­tent me­lan­cho­lisch. »So klau­en ist über­haupt dumm.«

»Ja, und dar­um tu ich’s auch nicht. Ich hab mal un­ter­schla­gen; das wis­sen Sie doch selbst, Herr As­sis­tent, dass Un­ter­schla­gen und Klau­en was ganz Ver­schie­de­nes ist.« Er macht ein Ge­ständ­nis: »Ich wär viel zu fei­ge zum Klau­en, Herr As­sis­tent.«

»So, so«, sagt der. »Trin­ken Sie je­den Tag so viel Ko­gnak?«

»Ich hab doch nicht viel Ko­gnak ge­trun­ken!«

»Je­den­falls mehr, als Ih­nen gut ist, und auch mehr, als Ih­nen Free­se ge­ge­ben hat. – Ha­ben Sie auch Ko­gnak ge­trun­ken, als Sie in der Töp­fer­stra­ße ge­wor­ben ha­ben?«

»Nein, ich trin­ke fast nie Ko­gnak.«

»Aber heu­te ha­ben Sie ge­trun­ken?«

»Ja … ich war schlech­ter Lau­ne, weil ’s Ge­schäft schlecht ging.«

»Wo?«

»Bei Lin­de­mann.«

»Und wie viel?«

»Vier.«

»Und dazu den von Free­se. Macht fünf. Mit fünf Ko­gnaks kann ’ne Hand schon mal aus­rut­schen.«

»Ich hab aber nicht ge­trun­ken, wie ich in der Töp­fer­stra­ße wer­ben ge­gan­gen bin.«

»Das wer­den wir se­hen.« Der Be­am­te gähnt. »Ge­hen wir also zur Frau Zwie­tusch.«

4

»Ich glau­be, in dem Haus bin ich nicht ge­we­sen«, sagt Ku­falt und sieht an dem Miets­kas­ten Töp­fer­stra­ße 97 hoch, der im un­ge­wis­sen Licht ei­ner Gas­la­ter­ne da­liegt.

»Glau­ben ist Re­li­gi­ons­sa­che«, ant­wor­tet Kri­mi­nal­as­sis­tent Bröd­chen. »Wa­rum soll­ten Sie gra­de in die­sem Haus nicht ge­we­sen sein, wo Sie die gan­ze Töp­fer­stra­ße ab­ge­klap­pert ha­ben …?«

»I wo, ich geh doch nicht in alle Häu­ser! Man­che se­hen mir von vorn­her­ein nicht so aus, da gehe ich erst gar nicht hin­ein!«

»So!« sagt Herr Bröd­chen. »Vor­sicht ist die Mut­ter der Por­zel­lan­kis­te, aber man kann auch zu vor­sich­tig sein, Ku­falt. – Ken­nen Sie das Trep­pen­haus?«

»Ist ein Ar­bei­ter­trep­pen­haus«, sagt Ku­falt prü­fend. »Di­rekt ken­nen, mich er­in­nern …? Die se­hen sich doch alle ähn­lich!«

Und er bückt sich, um die Schil­der an den drei Et­agen­tü­ren im Par­terre zu le­sen.

»Nee! Zwei­ten Stock doch!« ruft Bröd­chen un­ge­dul­dig, und Ku­falt er­steigt ge­hor­sam die ers­te Trep­pe, die zwei­te Trep­pe, Bröd­chen hin­ter­her.

»Also kom­men Sie wie­der run­ter«, sagt Bröd­chen un­zu­frie­den. »Wenn Sie es ge­we­sen sind, sind Sie ein ganz aus­ge­koch­ter Hund. Es ist na­tür­lich im Par­terre.«

»Ach Gott, Herr As­sis­tent«, sagt Ku­falt fröh­lich, »seit ich weiß, worum es sich dreht, habe ich gar kei­ne Ban­ge mehr.«

Aber das war ein Feh­ler, denn der Kri­mi­na­le sagt mit Be­deu­tung: »Seit Sie wis­sen, dass es sich nicht dar­um dreht! – Klop­fen Sie an, und ge­hen Sie zu­erst rein … Ich möch­te mal se­hen …«

Also Ku­falt klopft, und eine fet­te Wei­ber­stim­me ruft: »He­rein!«

Es ist eine klei­ne Ar­bei­ter­woh­nung, zu­erst kommt man in die Kü­che, die Tür zur Stu­be da­hin­ter steht of­fen. Ku­falt sieht zwei Bet­ten mit ei­ner wei­ßen Waf­fel­de­cke.

Am Herd steht eine di­cke, schwam­mi­ge Frau, schmie­rig­dun­kel ge­klei­det, mit ei­nem wei­ßen, vol­len Ge­sicht mit hän­gen­den Ba­cken, dunklen, un­ru­hi­gen Au­gen.

Ku­falt sieht die Frau prü­fend an, er ist ganz si­cher, er hat sie nie ge­se­hen. Dann nimmt er sei­nen (doch bläu­lich­grau­en!) Filz ab und sagt höf­lich: »Gu­ten Abend.«

»’n Abend«, sagt die Frau. »Was soll’s denn sein?«

Ku­falt ant­wor­tet ihr nicht.

»Na?« ruft er tri­um­phie­rend zum Kri­mi­nal­be­am­ten, der im Schat­ten ge­blie­ben war. »Hat sie mich er­kannt, oder hat sie mich nicht er­kannt?«

Ihm nun wie­der ant­wor­tet Herr Bröd­chen nicht. Er tritt aus dem Schat­ten. »’n Abend, Frau Zwie­tusch. Das ist also der jun­ge Mann?«

»Ich pro­tes­tie­re!« schreit Ku­falt wü­tend. »Wenn Sie der Frau er­zäh­len, ich bin das, so glaubt sie es auch. Ich bin es nicht, Frau Zwie­tusch, Sie ha­ben mich über­haupt noch nicht ge­se­hen, nicht wahr?«

»Hal­ten Sie den Mund, Ku­falt«, sagt Bröd­chen grob. »Sie ha­ben hier gar nichts zu fra­gen! – Frau Zwie­tusch, das ist also der jun­ge Mann, der hier in der Stra­ße für den ›Bo­ten‹ ge­wor­ben hat. Ist er bei Ih­nen ge­we­sen?«

»Se­hen Sie mich an!« be­schwört Ku­falt. »Se­hen Sie mich bit­te ge­nau an.«

»Den Mund sol­len Sie hal­ten, Ku­falt!«

Die Frau sieht hilf­los von ei­nem Mann zum an­de­ren.

»Ich weiß ja nicht …«, sagt sie. »Man sieht sich die Leu­te doch nicht so an. – War er so groß?« fragt sie hil­fe­su­chend den Be­am­ten.

»Das fra­ge ich Sie – hel­ler Gum­mi­man­tel, dunkle Horn­bril­le, fah­les Ge­sicht – Sie se­hen, das stimmt, Mut­ter Zwie­tusch.«

»Ja …«, sagt sie zö­gernd.

»Hab ich denn so ’nen Hut auf­ge­habt?« fragt Ku­falt drin­gend. »Ich mei­ne, hat der sol­chen Hut auf­ge­habt? Sie ha­ben doch ge­sagt, er hat einen grü­nen Hut auf­ge­habt! Mein Hut ist doch nicht grün …?«

»Nee …«, sagt sie miss­trau­isch. »Grün ist der wohl nicht …«

»Hat der Mann denn sol­chen Hut auf­ge­habt, sol­che Fas­son, Mut­ter Zwie­tusch?« fragt auch der Be­am­te.

»Ich weiß doch nicht«, sagt sie. »Er hat ihn doch gleich ab­ge­nom­men. Hab ich grün ge­sagt?«

»Grün ha­ben Sie ge­sagt.«

»Vi­el­leicht hat er auch so aus­ge­se­hen?«

»Ja, Sie müs­sen es wis­sen, Frau Zwie­tusch«, sagt der Be­am­te streng. »Sie ha­ben üb­ri­gens aus­ge­sagt, er hat den Hut auch drü­ben, im Zim­mer, auf­be­hal­ten, erst beim Schrei­ben hat er ihn ne­ben sich auf den Tisch ge­legt.«

»Hab ich das? Dann wird es wohl stim­men. Dann wird es wohl der Hut sein, Herr Kom­missar.«

»So!« sagt Herr Bröd­chen. Aber er ist sicht­lich sehr un­zu­frie­den. »Und ist das der jun­ge Mann?«

»Erst hab ich ge­dacht, er ist es nicht, der an­de­re ist grö­ßer ge­we­sen und hat auch ’ne raue­re Stim­me ge­habt. Aber jetzt glau­be ich bei­na­he, er ist es doch ge­we­sen.«

»So«, sagt Bröd­chen, im­mer un­zu­frie­de­ner.

»Hat er denn das Geld noch, Herr Kom­missar?« fragt sie zu­trau­lich und deu­tet mit dem Dau­men auf Ku­falt.

Der Kri­mi­nal­as­sis­tent ant­wor­tet nicht.

Ku­falt steht da. Nichts mehr von Fröh­lich­keit, nur Furcht, gren­zen­lo­se Furcht. Da­für hat er sich ab­ge­stram­pelt, da­für hat er sich ge­quält, dass ihn solch ein al­tes dum­mes Weib grund­los rein­senkt. Bröd­chen braucht es bloß ein biss­chen leicht zu neh­men: Hat ihn er­kannt, also gut, ist er’s auch ge­we­sen, hab ich die Sa­che ge­klärt – und er sitzt drin. Denn nur noch fünf Mi­nu­ten – und sie er­kennt ihn be­stimmt wie­der. Ja, sie glaubt so­gar fel­sen­fest dar­an, be­schwört es bes­ten Glau­bens vor je­dem Rich­ter der Welt!

Und er hat gar kei­ne Mög­lich­keit, sich zu weh­ren, er ist vor­be­straft, je­der traut es ihm zu, sinn­los ist al­les. Was soll wer­den? Was in al­ler Welt soll wer­den mit Hil­de und Har­der und Free­se und Kraft? Und mit ihm? Und mit ihm!

»Frau Zwie­tusch!« be­schwört er sie. »Se­hen Sie mich doch ge­nau an! Hat der solch dun­kel­blon­des Haar ge­habt? Hat er so den Schei­tel ge­tra­gen? Hat er hoch­deutsch ge­spro­chen wie ich? Oder hat er platt ge­schnackt? Über­le­gen Sie doch mal …«

Bröd­chen sitzt auf ei­nem Kü­chen­stuhl und sieht mus­ternd von Ku­falt zur Frau, von der Frau zu Ku­falt.

»Nee, nee, jun­ger Herr«, sagt die alte Frau wei­ner­lich. »Sie wol­len mich bloß ver­wirrt ma­chen. Der Herr Kom­missar hat auch ge­sagt, Sie sol­len den Mund hal­ten. Und eine Schan­de ist es von Ih­nen, ei­ner al­ten Frau ihr gan­zes Er­spar­tes aus der Kom­mo­de zu klau­en, und ganz schein­hei­lig ha­ben Sie noch ge­sagt: ›Ma­chen Sie nur erst am Herd, dass Ihr Es­sen nicht an­brennt, ich kann war­ten‹ …«

Plötz­lich er­zit­tert Ku­falt, eine Erin­ne­rung kommt ihm, als hät­te er wirk­lich ir­gend­wo ge­ses­sen, hät­te wirk­lich so was ge­sagt …

Da er­klärt Herr Bröd­chen streng: »Nee, Zwie­tu­schen, so ein­fach ist das nun auch nicht. Jetzt dür­fen Sie sich nun auch kei­ne Ge­schich­ten ein­bil­den! Viel spricht bis­her nicht da­für, dass Sie ihn wie­der­er­kannt ha­ben.«

»Aber wo ich es doch sage, Herr Kom­missar«, klagt sie. »Na­tür­lich habe ich ihn er­kannt. Der ist es ge­we­sen!«

»Nie, nie bin ich bei Ih­nen ge­we­sen!« ruft Ku­falt er­bit­tert.

»Und so ’nen gol­de­nen Ring hat er auch an der lin­ken Hand ge­tra­gen, ge­nau hab ich’s ge­se­hen, als er das Buch beim Schrei­ben fest­hielt!«

»Da­von ha­ben Sie aber bis­her nichts an­ge­ge­ben, Frau Zwie­tusch!«

 

»Weil’s mir eben erst ein­ge­fal­len ist, Herr Kom­missar. Be­stimmt hat er sol­chen Ring ge­habt!«

In die­sem Au­gen­blick wird sie un­ter­bro­chen.

Ein großer, un­ter­setz­ter Mann in gelb­lich­wei­ßer Maurer­klei­dung stürzt her­ein, eine blaue Email­le­kan­ne wie ein Wurf­ge­schoss in der Hand schwin­gend. In das von Kalk­sprit­zern be­fleck­te Ge­sicht hän­gen lan­ge schwar­ze Haar­sträh­nen.

»Wo ist der Lump, der mei­ner Frau ihr Er­spar­tes ge­klaut hat?!« schreit er wü­tend. »Komm her, du Aas, ich schla­ge dir alle Kno­chen im Lei­be zu Brei …!«

Und er springt auf Ku­falt zu, fasst ihn an der Brust …

»Sach­te, Zwie­tusch …«, sagt Bröd­chen. »Sach­te …«, sagt der Herr Bröd­chen und be­eilt sich nicht sehr, da­zwi­schen­zu­tre­ten.

»Las­sen Sie mich ge­fäl­ligst los!« schreit auch Ku­falt. »Nichts habe ich Ih­nen ge­klaut!«

Und er ver­setzt dem Rie­sen einen Stoß.

In der of­fe­nen Tür drän­gen sich die Nach­ba­rin­nen.

Der Stoß ist nicht sehr kräf­tig ge­we­sen, denn Ku­falt ist nicht sehr kräf­tig. Aber doch ver­liert der große Mann so­fort den Halt, er tau­melt zu­rück, rutscht, aus und setzt sich auf den Fuß­bo­den.

An der Kü­chen­tür wird be­dau­ern­des Tu­scheln hör­bar. In die schwar­zen, eben noch wut­fun­keln­den Au­gen des Mau­rers tritt ein Aus­druck blö­den Er­stau­nens, dann lacht er schal­lend auf.

»Be­trun­ken! Schon wie­der be­trun­ken!« ruft Frau Zwie­tusch kla­gend. »Je­den Abend jetzt be­trun­ken …!«

»Das ist der Kum­mer we­gen dem Geld!« ruft eine spit­ze Frau­en­stim­me von der Kü­chen­tür her.

»Tot­schla­gen müss­te man sol­che jun­gen Kerls!«

»Ar­bei­ter­gro­schen mit ih­ren Wei­bern ver­aa­sen …!«

Bröd­chen hat die Sze­ne auf­merk­sam be­trach­tet. »Sie dür­fen auf­ste­hen, Zwie­tusch. Seit wann trin­ken Sie denn wie­der?«

»Das geht kei­nen was an«, sagt der star­ke Mann mür­risch, müh­sam mit Hil­fe ei­nes Kü­chen­stuh­les hoch­kom­mend. »Aber wenn ich dich Bür­sch­chen mal wie­der er­wi­sche …!«

»Dür­fen Sie nicht wie­der be­sof­fen sein«, er­gänzt Bröd­chen tro­cken. »Kom­men Sie, Ku­falt. Vi­el­leicht spre­chen wir mor­gen früh noch mal vor, Frau Zwie­tusch, dass Sie sich den Herrn bei Ta­ges­licht an­se­hen. Gu­ten Abend!«

Und durch das schimp­fen­de Spa­lier der Wei­ber geht er ab mit sei­nem Be­schul­dig­ten.