Hans Fallada – Gesammelte Werke

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9

Zwei Stun­den spä­ter sitzt Ku­falt im Zuge nach Ham­burg.

Es ist wie am Ent­las­sungs­ta­ge im Mai: Er muss wie­der von vor­ne an­fan­gen, al­les ist un­ge­wiss.

Es ist nicht ganz wie im Mai: Er weiß, so wie da­mals fängt er nicht wie­der an.

Dies­mal geht es auf die an­de­re Tour. Er hat kei­ne Lust mehr, sich Mühe zu ge­ben, es geht doch schief. Lebe schön, denkt er.

»Se­hen Sie mal«, hat Herr Kraft ge­sagt, »das hat­ten wir ja nun auch schon von Bröd­chen ge­hört, dass Sie das Geld nicht ge­nom­men ha­ben, aber trotz­dem …«

»Wis­sen Sie ei­gent­lich, wer es ge­nom­men hat?« hat Ku­falt neu­gie­rig ge­fragt.

»Das weiß er noch nicht ein­mal! Der Mau­rer Zwie­tusch doch selbst! Ja, da staunt er!«

»Und der woll­te mir alle Kno­chen zu Brei schla­gen«, wun­dert sich Ku­falt wirk­lich. »Wie­so hat er’s denn ge­nom­men?«

»Weil er ein ol­ler Süf­fel ist. An­dert­halb Jah­re ging’s, da war er bei den Gut­temp­lern, aber jetzt ist er wie­der auf Tou­ren. Jetzt holt er al­les auf ein­mal nach.«

»So ein Aas!« sagt Ku­falt mit Nach­druck. »Und ich hät­te Knast schie­ben dür­fen für den! Hat das Bröd­chen raus­ge­kriegt?«

»Nee, nee. Der Gast­wirt, bei dem Zwie­tusch das Geld de­po­niert hat, da­mit er im­mer sau­fen kann, und die Alte fin­det es nicht bei ihm – der Gast­wirt hat sich von selbst ge­mel­det, als er von Ih­rer Ge­schich­te ge­hört hat.«

»Dann ist die also rum im Städt­chen, mei­ne Ge­schich­te?« fragt Ku­falt.

»Ja!« sagt Herr Kraft mit Nach­druck. Und setzt has­tig dazu: »Und se­hen Sie, Ku­falt, dar­um kön­nen wir Sie auch nicht wei­ter be­schäf­ti­gen. So­lan­ge es nicht be­kannt war, Sie ver­ste­hen …? Aber jetzt, wo es rum ist, Sie ver­ste­hen! So in die Woh­nun­gen, uns macht man wo­mög­lich haft­bar!«

Ku­falt sieht ihn einen Au­gen­blick stumm an. »Bis­her ist nichts weg­ge­kom­men!« sagt er.

»Nein, nein, nein, nein, das sage ich auch nicht. Aber es kann doch viel be­haup­tet wer­den, es ist doch auch für Sie un­an­ge­nehm.«

»Ich hab gut ge­wor­ben.«

»Ha­ben Sie! Dar­über kein Streit, ha­ben Sie! Un­ser bes­ter Wer­ber! Aber wie die Ver­hält­nis­se nun ein­mal lie­gen … wir wol­len Ih­nen auch ger­ne einen Ab­stand zah­len, drei­ßig Mark, nein, fünf­zig Mark, nicht wahr, Herr Free­se …? Trotz­dem Sie ja ein schö­nes Geld bei uns ver­dient ha­ben. Aber Sie ver­ste­hen …«

Es konn­te gar nicht ei­lig ge­nug ge­hen, dass er Ab­schied nahm.

»Mein Zim­mer hier müs­sen Sie mir aber auch noch be­zah­len«, sagt Ku­falt mür­risch. »Ich blei­be nicht hier, ich fahr wie­der nach Ham­burg.«

»Aber …«, fängt Herr Kraft an.

»Mach schon, Mensch«, sagt Free­se. »Gib ihm. Und, Ku­falt, zu Har­ders wür­de ich nicht ge­hen, mich ver­ab­schie­den …«

Ku­falt sieht ihn mit großen Au­gen an.

»Bröd­chen ist auch bei Har­ders ge­we­sen.«

Aus. Ab da­für. Ende. Auch gut.

»Neh­men Sie sich un­se­re neue Aus­ga­be mit«, eilt Free­se ihm nach. »Gera­de fer­tig. Rie­sen­scha­den­feu­er; auch von ei­nem Ih­rer …« Bricht ab. Sagt dann: »Also al­les Gute, Ku­falt.«

»Treh­ne ist nicht«, sagt Ku­falt und ver­sucht zu la­chen.

»Ach, die Treh­ne, die Treh­ne«, sagt Free­se. »Die fließt Ih­nen nicht weg, die bleibt Ih­nen im­mer noch. Und in Ham­burg ha­ben Sie üb­ri­gens auch die Fle­te …«

»Nee, nee«, sagt Ku­falt. »In Ham­burg steigt nun ein an­de­rer La­den, viel­leicht hö­ren Sie mal von mir …«

Und la­chend geht er los, hebt auf der Spar­kas­se sein Gut­ha­ben ab, so­weit es ohne Kün­di­gung geht, packt die Sa­chen, die knur­ren­de, aber angst­vol­le Wir­tin streicht im­mer im Ge­län­de her­um – »Dass man so was frei rum­lau­fen lässt!« –, und end­lich in den Zug!

Adieu.

Hil­de, Har­der, Bruhn, Bun­ker, »Bote« – Adieu!

Nun kommt ein an­de­rer Film.

Und er ent­fal­tet die neues­te Aus­ga­be des »Bo­ten«.

»Dreck­blatt«, mur­melt er.

Ja, aber nun fin­det er et­was, über an­dert­halb Sei­ten lang, in dem Dreck­blatt, das ihn die Bahn­fahrt ver­ges­sen macht.

Die Holz­wa­ren­fa­brik ist ab­ge­brannt.

»Von dem Brand­stif­ter, dem mit elf Jah­ren Ge­fäng­nis vor­be­straf­ten un­ge­lern­ten Ar­bei­ter Emil Bruhn, hat man trotz eif­rigs­ter Fahn­dung der ge­sam­ten städ­ti­schen Po­li­zei und der Land­jä­ge­rei noch kei­ne Spur. Man nimmt an, dass er sich noch in der Nacht nach Ham­burg ge­wandt hat. Ver­mut­lich ist ihm auch der Dieb­stahl ei­nes wäh­rend des Bran­des vor der Wirt­schaft von Kühn ge­stoh­le­nen Her­ren­ra­des zu­zu­schrei­ben, mit dem er sich …«

Nun, ol­ler Emil, wenn ich dich in Ham­burg tref­fen soll­te, ich mach nicht Kip­pe oder Lam­pen, ich ver­pfeif dich nicht!

ACHTES KAPITEL – Ein Ding wird gedreht

1

Es ist ers­tes Fe­bruar­drit­tel, Ham­burg liegt in Re­gen und Ne­bel, nas­ser Käl­te und schnell zer­ge­hen­dem Schnee.

Wenn der Wind nächt­lich über die Au­ßen- und In­nen­als­ter pfeift, schla­gen die Leu­te den Man­tel­kra­gen hoch und ma­chen, dass sie schnel­ler nach Haus kom­men. Um­sonst strah­len die Lu­xus­ge­schäf­te am Jung­fern­stieg im schöns­ten Glanz, kaum je, dass ein jun­ges Paar, noch warm und be­lebt von Thea­ter oder Kino, mus­ternd vor ei­ner Aus­la­ge ste­hen­bleibt. »Sieh doch, wie schön der große Aqua­ma­rin ist! Nein, da, der in Alt­sil­ber ge­fass­te …«

»Ja, herr­lich! – Komm, wir wol­len se­hen, dass wir nach Haus kom­men, die­se nas­se Käl­te kriecht durch die Schuh­soh­len!«

Zehn Mi­nu­ten, und der Strom der Thea­ter- und Ki­no­be­su­cher hat sich ver­lau­fen, die Lich­ter in den Aus­la­gen er­lö­schen, Sche­ren­git­ter schie­ben sich ras­selnd vor, Stahl­git­ter sen­ken sich auf der In­nen­sei­te der Schei­ben her­ab – die Stra­ße ver­ödet, und nur noch die frie­ren­den Mäd­chen ste­hen an den Ecken und war­ten auf Frei­er.

»Na, Schat­zi, was wird mit uns?«

»Kei­ne Zeit, Mädi, kei­ne Zeit«, sagt der jun­ge Mann in Uls­ter und Me­lo­ne ei­lig. »Ein an­der­mal.«

Er geht rasch wei­ter, auch er hat den Man­tel­kra­gen hoch­ge­schla­gen, aber Näs­se und schnei­den­der Wind schei­nen ihm nichts aus­zu­ma­chen. Er pfeift ver­gnügt vor sich hin und tritt fest mit den Ha­cken auf, dass der Schnee­matsch zer­knallt.

Wird sich mor­gen früh freu­en über mei­ne Bü­xen,1 die Flee­ge, denkt er flüch­tig.

Vor dem Als­ter­pa­vil­lon steht ein Schu­po. Er steht dort dun­kel und dro­hend und hat die Stra­ße streng auf dem Kie­ker, aber der jun­ge Mann pfeift nur umso lau­ter …

Steh du nur. Du stehst um zwei­hun­dert Me­ter zu weit!

Und er biegt ab in die Gro­ße Blei­chen.

Nun hat er es nicht mehr so ei­lig. Er schlen­dert ganz ver­gnügt da­hin, pfeift auch mal wie­der, bleibt vor dem Schau­fens­ter ei­nes Her­ren­aus­stat­ters ste­hen und lässt sich mit ei­nem Mäd­chen in ein Ge­spräch ein. Zum Schluss schenkt er ihr eine Zi­ga­ret­te und ver­spricht, nächs­ten Abend um acht am glei­chen La­den zu sein. Jetzt hat er lei­der eine Verab­re­dung.

Nach den Gro­ßen Blei­chen kommt die Wex­stra­ße.

Es ist, als brenn­ten die Stra­ßen­la­ter­nen düs­te­rer hier, es ist auch kaum noch ein Mensch zu se­hen. Vom Mi­chel her schlägt es Mit­ter­nacht.

Der jun­ge Mann hat zu pfei­fen auf­ge­hört, er geht sach­te. Düs­ter ra­gen über ihm die Häu­ser, un­be­leuch­tet, ein Damp­fer heult vom Ha­fen her mit dem Ne­bel­horn: Es hallt in der feuch­ten Luft, als füh­re der Damp­fer an der nächs­ten Stra­ßen­e­cke.

Als der Mann beim Gro­ßen Neu­markt an­kommt, bleibt er un­schlüs­sig ste­hen. Er brennt sich wie­der eine Zi­ga­ret­te an, dann geht er rasch in ein Spei­se­lo­kal, stellt sich an die The­ke und lässt sich einen Grog mit dop­pel­ter Rum­por­ti­on ge­ben.

Als er den in­tus hat, ist die Uhr zwölf Uhr zwan­zig ge­wor­den. Er zahlt und geht wie­der auf die Stra­ße. Er geht nicht wei­ter, er geht zu­rück, wie­der sucht er die Wex­stra­ße auf.

An der Ecke vom Tramp­gang steht auch so ein ein­sa­mes Mäd­chen. Aber dies­mal war­tet er nicht ab, dass er an­ge­spro­chen wird, er spricht sie gleich sel­ber an.

Lang ist sei­ne An­spra­che nicht.

»Na?« fragt er bloß.

»Er sitzt bei Lütt«, flüs­tert sie has­tig.

»Be­stimmt?«

»Hei­lig und be­stimmt! – Krieg ich mei­ne fünf Mark?«

»Zwei«, sagt der Mann nach kur­z­em Über­le­gen. »Hier. – Die an­de­ren drei, wenn er wirk­lich da sitzt.«

»Pass bloß auf, Ernst«, sagt sie war­nend. »Das ist ein Rabe! Die Emma hat er ges­tern halb­tot ge­schla­gen und ih­rem Stenz die gan­ze Ma­rie aus der Ta­sche ge­prü­gelt!«

»Dann hat er also Geld?« Der Mann ist ent­täuscht.

»Ja, zwan­zig Mark si­cher.«

»Hmmm! Hmmm!« macht er. »Also denn auf nach­her.«

»Be­stimmt?«

»Hei­lig und be­stimmt!« äfft er ihr nach, lacht und geht wei­ter.

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2

Er geht nicht in den Tramp­gang, er geht ge­ra­de­aus wei­ter, beim Ra­de­ma­cher­gang hält er an, sieht in die dunkle Schlucht, in der eine trü­be Gas­la­ter­ne brennt, sieht nach rechts, sieht nach links – und taucht ein ins Gän­ge­vier­tel.

Er geht rechts, noch ein­mal rechts, über­quert wie­der die Wex­stra­ße, ver­schwin­det im Lan­gen Gang, geht ein Stück die Düs­t­ern­stra­ße und ver­schwin­det wie­der im Schul­gang.

Er geht im­mer in der Mit­te der schma­len Gän­ge, manch­mal streckt er die Arme aus und ver­sucht, ob er die Haus­wän­de rechts und links fas­sen kann. Manch­mal kann er es, manch­mal ist der Gang zu breit.

 

Bis­her ist ihm kein Mensch be­geg­net. Die al­ten Fach­werk­häu­ser ste­hen still und un­be­leuch­tet, als sei­en sie längst aus­ge­stor­ben, sie nei­gen ihre Gie­bel ein­an­der zu, als woll­ten sie vorn­über fal­len, vom Him­mel ist nichts zu se­hen.

Manch­mal fällt aus ei­ner Knei­pe Licht­schein auf die Stei­ne, über die er geht, ein Or­che­stri­on lärmt mit Zim­beln und Schel­len, ein Gram­mo­phon kreischt. Die Fens­ter der Knei­pen sind gelb oder rot ver­hängt.

Dem Mann ist nicht mehr nach Pfei­fen zu­mu­te, so lang­sam er geht, er schwitzt leicht, ein­mal fasst er nach sei­ner Ge­säß­ta­sche. Al­les in Ord­nung, aber – der Ent­schluss ist doch nicht leicht, wenn man auch noch so sehr vor den Mä­dels an­gibt.

Man könn­te im­mer noch nach Haus ge­hen!

Er ist di­rekt vor Ku­gels Ort, er sieht schon den röt­li­chen Schein aus Lütts Knei­pe. Also nun los!

Zwei Schu­pos, baum­star­ke Kerls, den Sturm­rie­men des Tscha­kos un­term Kinn, ge­hen ge­ra­de auf ihn zu, fes­te um­ge­schnallt, und die Po­li­zei­knüt­tel am Rie­men wip­pen im glei­chen Takt.

Sie mus­tern den spä­ten Spa­zier­gän­ger scharf.

»Gu­ten Abend«, sagt der und lüf­tet höf­lich sei­nen schwar­zen Stei­fen.

»Schlech­te Nacht«, sagt der eine Schu­po über­ra­schend sanft und lei­se. »Schlech­tes Wet­ter. Schlech­te Ge­gend.«

Der Mann, der an ihm vor­über auf Ku­gels Ort woll­te, muss ste­hen­blei­ben. Die bei­den Rie­sen hal­ten vor ihm und se­hen auf ihn hin­un­ter wie auf eine Pup­pe.

»Kann man da rein?« fragt der Mann leicht und deu­tet mit dem Kopf auf den Licht­schein der Lütt­schen Wirt­schaft.

»Wa­rum wol­len Sie denn da rein?« fragt der Schu­po mit der sach­ten hol­stei­ni­schen Auss­pra­che freund­lich.

»Es wür­de mich in­ter­es­sie­ren«, sagt der Mann. »Ich habe so viel vom Gän­ge­vier­tel ge­hört.«

»Da ge­hen Sie man lie­ber nicht rein«, flüs­tert der Schu­po sacht, aber mit Nach­druck. »Die könn­ten Ihren Bre­gen – ver­kleis­tern!«

Er lacht sich selbst Bei­fall.

»Ach!« macht der Mann ent­täuscht, »wo kann man denn noch hin­ge­hen?«

»Nach Haus!« brüllt über­ra­schend der an­de­re Schu­po. »Schleu­nigst nach Haus. Uns hier noch ex­tra Schwie­rig­kei­ten ma­chen …!«

Er will wei­ter­re­den. Aber der Mann sagt has­tig gute Nacht, lüf­tet wie­der den Hut, über­quert schnell Ku­gels Ort, läuft durch den Ebrä­er­gang, biegt so­fort in den Ami­dam­ma­cher­gang, taucht zum drit­ten Mal auf der Wex­stra­ße auf. Das Mäd­chen ist nicht mehr da, er geht rasch die Wex­stra­ße hin­un­ter und ist nur vier Mi­nu­ten spä­ter schon wie­der auf Ku­gels Ort, jetzt von der an­de­ren Sei­te kom­mend.

Ku­gels Ort ist leer, der Schein von Lütts Wirt­schaft liegt ru­hig und röt­lich auf den Kopf­stei­nen.

Ei­nen Au­gen­blick ver­pus­tet der Mann, wischt sich sein schwit­zen­des Ge­sicht mit ei­nem Ta­schen­tuch ab, fasst noch ein­mal nach dem Stahl­klotz in der Ge­säß­ta­sche, steckt ihn in die Man­tel­ta­sche und drückt dann ent­schlos­sen auf die dünn­ge­grif­fe­ne Mes­sing­klin­ke zu Lütts Wirt­schaft.

3

Eine Stim­me rief schrill: »Ach­tung, Schmie­re!«

Tie­fe Stil­le trat ein.

Der Mann hat­te die Tür hin­ter sich zu­ge­zo­gen und sah mit blin­zeln­den Au­gen in den Dampf. Alle Bli­cke wa­ren auf ihn ge­rich­tet.

Er nahm den Hut ab und sag­te: »’n Abend!«

Der brei­te Wirt mit dem di­cken bläu­li­chen Ge­sicht, das von ei­ner tol­len blau­ro­ten, form­lo­sen Nase ent­stellt war, sag­te breit: »’n Abend, Hei­de­prim«, und deu­te­te kaum merk­lich in einen hin­te­ren Win­kel sei­ner Wirt­schaft.

»’n Abend, Herr Kri­mi­na­ler«, sag­te ein Bur­sche. »Schen­ken Sie mir Ihre Kip­pe.«

»Sel­ber Rabe!« sag­te der Mann forsch und ver­such­te zu lä­cheln.

Hin­ter ihm – er stand nun an der The­ke – wa­ren zwei Bur­schen auf­ge­stan­den und scho­ben sich ge­gen ihn.

»Hän­de weg von der Mut­ter!« be­fahl der Mann.

»Lasst den Jun­gen in Ruh, ihr«, kom­man­dier­te auch der Wirt. »Der ist stie­kum.«

Die Bur­schen stan­den zö­gernd.

»Du See­len­ver­käu­fer«, sag­te der eine. »Brau­chen wir ’ne neue Fres­se? Es gibt für die an­de­ren schon nichts zu tun.«

»Halt den Rand, setz dich! Sollst dich set­zen, oder ich schmeiß dich raus. Bin ich Wär­me­hal­le?«

Die Bur­schen setz­ten sich, böse mit­ein­an­der flüs­ternd.

Der Mann an der The­ke hat­te einen großen Ko­gnak ge­trun­ken. Und noch einen.

Die jun­gen Bur­schen sa­hen ihm nei­disch zu: Der hat’s!

Aus dem Hin­ter­grund des Lo­kals kam jetzt lang­sam ein großer, düs­te­rer Mann mit schwe­ren Kno­chen, mit Hän­den wie Wasch­höl­zer.

Er ging lang­sam auf den Mann an der The­ke los, pflanz­te sich vor ihm auf und sah ihn an. Es war ein bö­ser, has­s­er­füll­ter Blick, die nied­ri­ge Stirn un­ter dem schwar­zen Haar buck­lig und fal­tig, der dic­klip­pi­ge Mund stand halb of­fen und ließ die schwar­zen ver­dor­be­nen Zäh­ne se­hen.

»’n Abend, Batz­ke«, sag­te der Mann an der The­ke und tipp­te an sei­nen Stei­fen.

Batz­ke sah den Mann an, sein Mund be­weg­te sich. Dann hob er lang­sam die un­ge­heu­re Hand …

»Zweck­los«, sag­te der Mann leicht­hin, aber sei­ne Stim­me zit­ter­te et­was. »Ka­no­ne!«

Und die Hand in der Man­tel­ta­sche hob sich an, dass der Lauf durch den Stoff trat.

Batz­ke lach­te auf. »Jun­ge­ken – und mit ’ner Ka­no­ne! Eh du schießt, bis­te hin.«

Sei­ne Hand hob sich wie­der.

»Ich habe die Vier­hun­dert für dich«, sag­te der Mann rasch.

Das Ge­sicht des an­de­ren ver­än­der­te sich, die Hand sank her­un­ter. Noch ein­mal sah Batz­ke den Mann an.

Dann ging er, die Hän­de fest in die Jacket­ta­schen ge­bohrt, wort­los in sei­ne Ecke zu­rück.

Der Mann sah ihm nach. Dann wisch­te er sich über die Stirn, die schweiß­nass war, und sag­te zum Wirt: »Noch ’nen Ko­gnak, ja?«

Er fühl­te, dass die Bli­cke al­ler vor­ne im Lo­kal auf ihm la­gen, jetzt mit an­derm Aus­druck. Er trank sei­nen Ko­gnak und sah da­bei den Wirt fra­gend an.

Der be­weg­te ver­nei­nend den Kopf.

»Jetzt nicht«, flüs­ter­te er. »Er hat je­man­den da.«

Der Mann trank sei­nen Ko­gnak aus, be­zahl­te, tipp­te an sei­nen schwar­zen Hut und sag­te wie­der: »’n Abend.«

»’n Abend, Hei­de­prim«, sag­te der Wirt, und der Mann schob ab.

4

Drau­ßen stand das Mäd­chen.

»War er da?« frag­te sie.

»Hier hast du dei­ne drei Mark«, sag­te der Mann. »Du war­test, bis er raus­kommt. Sag ihm kei­nen Na­men, sag ihm, der Vier­hun­der­ter war­tet auf ihn. Ver­stehst du das?«

»Ja«, sag­te das Mäd­chen. »Der Vier­hun­der­ter war­tet auf dich.«

»Dann bring ihn zu mir.«

»Und was krieg ich?« frag­te das Mäd­chen. »Es ist kalt, und mei­ne Soh­len sind ka­putt.«

»Noch mal drei Mark«, sag­te der Mann. »Oder du lässt es.«

»Ge­macht«, sag­te das Mäd­chen.

Der Mann trat rasch in die Wex­stra­ße, späh­te nach bei­den Sei­ten (er wäre un­ger­ne jetzt den Schu­pos be­geg­net) und ging dann rasch die Wex­stra­ße hin­un­ter nach der Fuhl­ent­wie­te.

Er ging ein Stück hin­ein, sah sich auf­merk­sam um, sie war leer, er schloss rasch eine Haus­tür auf und trat in das Haus. Sorg­fäl­tig schloss er wie­der ab. Ohne Licht tas­te­te er sich eine Trep­pe hin­auf, öff­ne­te eine Et­agen­tür, knips­te Licht an und sag­te halb­laut: »Al­les in Ord­nung, Frau Pas­to­rin. Schla­fen Sie wei­ter.« Er hör­te die Frau im Bett ra­scheln, dann sag­te eine alte hel­le Frau­en­stim­me: »Ist gut, Herr Le­de­rer – wie war’s im Thea­ter?«

»Schön, schön«, sag­te der Mann und häng­te Uls­ter und Hut in einen Schrank. »Es ist üb­ri­gens mög­lich, dass ein Kol­le­ge mit sei­ner Frau noch kommt – las­sen Sie sich nicht stö­ren, Grog­was­ser krie­ge ich al­lein warm.«

»Dan­ke schön«, sag­te die alte Frau. »Schla­fen Sie auch gut. Früh­stück wie im­mer?«

»Früh­stück wie im­mer«, sag­te der Mann. »Gute Nacht.«

Er knips­te das Licht aus auf dem Flur und ging in sein Zim­mer. Dort stand er einen Au­gen­blick nach­denk­lich im Dun­keln.

Der Wind braus­te ums Haus, heul­te an den Schei­ben, dann strich es da­ge­gen wie schar­fer Schnee.

»Schlech­te Nacht. Schlech­tes Wet­ter. Schlech­te Ge­gend«, wie­der­hol­te er und seufz­te.

Er steht eine Wei­le da im Dun­keln, lauscht auf den Wind und Schnee. Vi­el­leicht kommt er gar nicht, denkt er.

Auch gut, denkt er. Kommt er mor­gen. Kom­men tut er. Zwan­zig Mark hat er – dann zie­hen vier­hun­dert im­mer.

Er macht Licht an.

Es ist ein net­tes, an­stän­di­ges Zim­mer, dunkle Ei­che, dunkle große Klub­ses­sel, ein rich­ti­ger Ge­wehr­schrank, eine Kro­ne aus Ab­wurf­stan­gen mit ei­nem Leuch­ter­weib­chen. Das Bett steht hin­ter ei­nem großen grün­sei­de­nen Schirm.

Der Mann nimmt aus dem Biblio­theks­schrank eine Schach­tel Zi­ga­ret­ten, ein Kist­chen Zi­gar­ren und stellt das auf den Rauch­tisch. Er holt eine Fla­sche Ko­gnak, noch eine Fla­sche Rum aus dem Bü­fett, stellt sie auch hin. Dann drei Schnaps­scha­len, drei Tee­glä­ser, eine Dose mit Zu­cker.

Er steht einen Au­gen­blick nach­den­kend da, er lauscht. Die­se al­ten Häu­ser sind zu still, denkt er. Dann holt er noch drei Tee­löf­fel.

Er denkt wie­der nach und geht lang­sam ge­gen die Tür.

Macht wie­der kehrt, nimmt sei­ne Brief­ta­sche aus dem Jackett und zählt acht Fünf­zig­mark­schei­ne ab. Er knifft sie zu­sam­men, legt sie auf den Rauch­tisch und setzt dar­über einen großen, schwe­ren, mar­mor­nen Aschen­be­cher. Er über­zeugt sich ge­nau, dass die Schei­ne nir­gend­wo un­ter dem Aschen­be­cher her­vor­se­hen.

Wie­der denkt er nach.

Er ver­schwin­det hin­ter dem Schirm und taucht auf mit Haus­schu­hen und in ei­nem Rauch­jackett. Die Pis­to­le trägt er of­fen in der Hand.

Er sieht sich die bei­den Klub­ses­sel an, ist aber nicht zu­frie­den, er rückt noch einen Stuhl aus Rohr­ge­flecht an den Tisch. Der Stuhl hat Arm­leh­ne und im Rücken und auf dem Sitz Kis­sen, auf das Sitz­kis­sen legt er seit­lich die Pis­to­le und deckt ein Ta­schen­tuch dar­über.

Er nimmt zwei Schrit­te Ab­stand und sieht das an. Es sieht rich­tig aus: Von der Pis­to­le ist nichts zu se­hen, und das Ta­schen­tuch liegt da, als sei es ver­ges­sen.

Er seufzt leicht auf, schaut nach der Uhr (ein Uhr fünf­zehn) und geht in die Kü­che, wo er auf ganz klei­ne Gas­flam­me einen Topf mit Was­ser auf­setzt.

Wie­der im Zim­mer, nimmt er ein Buch und fängt an zu le­sen.

Es ver­geht eine sehr lan­ge Zeit, es ist to­ten­still im Haus, der Wind aber scheint stär­ker zu wer­den. Er sitzt da und liest, sein blas­ses, ver­zo­ge­nes Ge­sicht mit dem schwa­chen Kinn, dem sinn­li­chen Mund ist müde, aber er liest wei­ter.

Dann sieht er wie­der auf die Uhr (zwei Uhr sie­ben­und­fünf­zig), be­trach­tet un­schlüs­sig die An­rich­tung auf dem Rauch­tisch, steht auf, lauscht auf den Flur. Nichts. Er geht lei­se über den Flur, sieht in die Kü­che, gießt Was­ser in dem halb leer ge­koch­ten Topf nach, öff­net die Et­agen­tür und lauscht ins Trep­pen­haus.

Nichts.

Als er ins Zim­mer zu­rück­kommt, schau­dert er vor Käl­te, er gießt sich einen Ko­gnak ein, einen zwei­ten, einen drit­ten …

Auch das Buch wird über die Pis­to­le ge­legt, der Mann fängt an, hin und her zu ge­hen. Er geht lei­se und rast­los, eine Die­le knackt, wenn er dar­auf­tritt, und so tief er in Ge­dan­ken ist, nach dem drit­ten Knack weiß sein Fuß Be­scheid und ver­mei­det die Die­le.

Drau­ßen auf dem Flur ist ein lei­ses Geräusch, er öff­net die Tür zu sei­nem Zim­mer und sagt halb­laut: »Hier­her. Bit­te recht lei­se!«

Batz­ke kommt vor dem Mäd­chen her­ein, er scheint auf­ge­räum­ter als vor­hin.

»Na, al­tes Haus, Ku­falt …«

»Nicht, kei­nen Na­men!« sagt der Mann rasch. »Ilse, hol das Grog­was­ser, es muss längst ko­chen.«

Und als sie drau­ßen ist: »Ich hei­ße üb­ri­gens Ernst Le­de­rer …«

»Schei­be«, sagt Batz­ke. »Also gieß mir ’nen Ko­gnak ein, Le­de­rer. Oder darf ich die Fla­sche neh­men?«