Nein, ein oder zwei Tage musste sie ihm schon Zeit lassen, ein neues Quartier zu suchen. Wenn er dabei der Gestapo in die Hände fällt – sie muss es darauf ankommen lassen. Er lässt es ja auch darauf ankommen – wegen einer Rennwette! Nein, sie muss sich von ihm freimachen, sie kann nie wieder Vertrauen zu ihm finden. Allein muss sie für sich leben, von nun an bis zu ihrem Tode! Und bei diesem Gedanken wird ihr angst.
Aber trotz dieser Angst sagt sie nach dem Abendessen zu ihm: »Ich habe mir alles überlegt, Enno, wir müssen uns trennen. Du bist ein netter Mann, du bist auch ein lieber Mann, aber du siehst die Welt zu sehr mit anderen Augen an, auf die Dauer könnten wir uns nicht vertragen.«
Er blickt starr auf sie, die wie zur Bekräftigung ihrer Worte ihm das Bett auf dem Sofa richtet. Er will erst seinen Ohren nicht trauen, und dann wimmert er los: »O Gott, Hete, das kannst du doch nicht wirklich meinen! Wo wir beide uns doch so liebhaben! Das kannst du doch nicht wollen, mich auf die Straße und der Gestapo in die Arme zu jagen!«
»Ach!«, sagt sie und will sich durch die eigenen Worte beruhigen. »Das mit der Gestapo wird auch nur halb so schlimm sein, sonst wärest du heute nicht den halben Tag in der Stadt herumgelaufen!«
Aber er bricht in die Knie. Wahrhaftig, er rutscht auf den Knien zu ihr hin. Die Furcht hat ihn ganz besinnungslos gemacht. »Hete! Hete!«, schreit und schluchzt er. »Du willst mich doch nicht töten? Du musst mich hierbehalten! Wo soll ich denn hin? Ach, Hete, hab mich doch ein bisschen lieb, ich bin ja so unglücklich …«
Heulen und Geschrei, ein kleiner, vor Angst winselnder Hund!
Er will ihre Beine umklammern, er fasst nach ihren Händen. Sie flieht vor ihm in ihr Schlafzimmer, sie riegelt sich ein. Aber die ganze Nacht hört sie ihn immer wieder gegen die Tür stoßen, die Klinke probieren, wimmern und betteln …
Sie liegt ganz still. Sie sammelt in sich alle Kraft, nicht nachzugeben, sich nicht weich machen zu lassen von ihrem eigenen Herzen und dem Gebettel da draußen! Sie bleibt fest bei ihrem Entschluss, nicht weiter mit ihm zusammenzuleben.
Beim Frühstück sitzen sie einander mit bleichen, übernächtigten Gesichtern gegenüber. Sie sprechen kaum ein Wort miteinander. Sie tun, als ob die Auseinandersetzung nie gewesen wäre.
Aber er weiß jetzt Bescheid, denkt sie, und wenn er sich heute kein Zimmer sucht, morgen Abend muss er mir doch aus dem Haus. Morgen Mittag sage ich es ihm noch einmal. Wir müssen uns trennen!
O ja, Frau Hete Häberle ist eine ebenso mutige wie anständige Frau. Und dass sie ihren Entschluss dann doch nicht durchführt, dass sie den Enno doch nicht von sich stößt, das liegt nicht an ihr, das liegt an Menschen, die sie noch gar nicht kennt. Zum Beispiel an dem Kommissar Escherich und dem Herrn Barkhausen.
1 Die Kommunistische Partei Deutschlands entstand am Jahresende 1918 aus einem Zusammenschluss des Spartakusbundes mit kleineren linksradikalen Gruppen. <<<
Während Enno Kluge und Frau Häberle sich zu einer Lebensgemeinschaft vereinten, die so schnell wieder zerbrach, hatte Kommissar Escherich schwere Zeiten hinter sich. Er hatte es verschmäht, seinem Vorgesetzten Prall zu verheimlichen, dass Enno Kluge seinen Beschattern so schnell wieder entronnen und, ohne eine Spur zu hinterlassen, im Meer der Großstadt untergetaucht war.
Kommissar Escherich hatte ergeben all die Beschimpfungen auf sich herabhageln lassen, die infolge dieses Geständnisses fällig waren: er war ein Idiot, er war ein Nichtskönner, man würde ihn einlochen, diese Schlafmütze, die es in fast einem Jahre nicht mal fertiggebracht hatte, einen blöden Postkartenschreiber zu ermitteln!
Und hatte er mal eine Spur, so ließ er den Kerl wieder laufen, Trottel, der er war! Eigentlich hatte Kommissar Escherich Beihilfe zum Hochverrat geleistet, und danach würde man auch mit ihm verfahren, wenn er nicht binnen heute und einer Woche diesen Enno Kluge dem Obergruppenführer Prall vorführte.
Ja, Kommissar Escherich hatte diese Beschimpfungen ergeben angehört. Aber sie hatten eine seltsame Wirkung auf ihn: trotzdem er doch genau wusste, dass dieser Enno Kluge nicht das Geringste mit den Postkarten zu tun hatte, dass er ihm nicht einen Schritt weiter auf dem Wege zur Feststellung des wirklichen Täters helfen konnte, trotzdem konzentrierte sich plötzlich das Interesse des Kommissars fast nur auf die Feststellung des kleinen, bedeutungslosen Enno Kluge. Es war doch auch wirklich zu ärgerlich, dass diese Wanze, mit der er seinen Vorgesetzten so schön hatte hinhalten wollen, ihm durch die Finger geschlüpft war. In dieser Woche war der Klabautermann besonders fleißig gewesen: drei Karten von ihm landeten auf dem Schreibtisch des Kommissars. Aber zum ersten Mal, seit er diese Sache bearbeitete, interessierten Escherich die Karten und der Schreiber überhaupt nicht. Er vergaß sogar, auf seinem Stadtplan von Berlin die Fundstelle mit Fähnchen zu markieren.
Nein, erst einmal wollte er diesen Enno Kluge wiederhaben, und Kommissar Escherich machte wirklich ungewöhnliche Anstrengungen, den Mann zu kriegen. Er fuhr sogar ins Ruppinsche, zu Eva Kluge, für alle Eventualitäten mit einem Haftbefehl gegen sie und gegen ihn ausgerüstet. Aber er sah doch bald, dass diese Frau wirklich nicht das Geringste mehr mit dem Manne zu tun hatte und dass sie sehr wenig von seinem Leben im letzten Jahre wusste.
Was sie wusste, erzählte sie dem Kommissar, nicht besonders bereitwillig und nicht grade widerspenstig, sondern völlig gleichgültig. Dieser Frau war es ersichtlich ganz gleichgültig, was mit dem Mann wurde, was er getan hatte oder nicht getan hatte. Der Kommissar erfuhr von ihr nur die Namen von zwei oder drei Lokalen, in denen Enno Kluge früher verkehrt hatte, er hörte von seiner Wettleidenschaft und erfuhr auch die Adresse einer gewissen Tutti Hebekreuz, von der mal ein Brief in die Wohnung gekommen war. In diesem Brief war Enno Kluge beschuldigt worden, der Hebekreuz Geld und Lebensmittelkarten gestohlen zu haben. Nein, Frau Kluge hatte dem Mann, als sie ihn das letzte Mal sah, weder den Brief ausgehändigt noch zu ihm davon gesprochen. Nur die Adresse hatte sie zufällig behalten, als Briefträgerin hatte sie für Adressen ein besonders gutes Gedächtnis.
Mit diesem Wissen ausgerüstet, war Kommissar Escherich wieder nach Berlin zurückgekehrt. Er hatte natürlich, getreu seinem Grundsatz, Fragen zu stellen, aber keine zu beantworten, kein Wissen weiterzugeben, getreu diesem Grundsatz also hatte Kommissar Escherich sich gehütet, der Frau Eva Kluge eine Andeutung von dem Verfahren zu machen, das gegen sie in Berlin lief. Das ging ihn nichts an. Viel brachte er also nicht mit nach Hause, aber es war doch ein Anfang gemacht, die Spur einer Spur gewissermaßen – und er konnte dem Prall doch zeigen, dass er etwas tat, nicht nur wartete. Darauf kam es den Herren oben doch allein an, dass etwas getan wurde, mochte es auch das Falsche sein, wie ja der ganze Fall Kluge falsch war. Aber Warten vertrugen die Herren nicht.
Die Erkundigungen bei der Hebekreuz verliefen erfolglos. Sie hatte den Kluge in einem Café kennengelernt, sie kannte auch seine Arbeitsstelle. Er hatte zweimal einige Wochen bei ihr logiert, jawohl, das war richtig, sie hatte ihm wegen Geld und Lebensmittelkarten geschrieben. Aber das hatte er bei seinem zweiten Besuch aufgeklärt, die hatte ein anderer Untermieter geklaut, nicht der Enno.
Dann war er wieder abgehauen, ohne ihr was zu sagen, wohl zu irgendeinem Weib, das war so Ennos Art. Nein, sie hatte natürlich nie etwas mit ihm gehabt. Nein, sie hatte keine Ahnung, wohin er gezogen war. Aber hier in dieser Gegend war er bestimmt nicht, sonst hätte sie längst mal von ihm gehört.
In den beiden Kneipen war er bekannt unter dem Namen Enno, jawohl. Er hatte sich lange nicht sehen lassen, nein, aber er kam immer mal wieder. Jawohl, Herr Kommissar, wir lassen uns nichts merken. Wir sind solide Kneipiers, bei uns verkehren nur anständige Leute, die Interesse für den edlen Rennsport haben. Wir werden Ihnen sofort einen Wink geben, wenn er wieder auftaucht. Heil Hitler, Herr Kommissar!
Kommissar Escherich setzte zehn Leute an, die bei allen Buchmachern und Kneipiers im Norden und Osten Berlins Nachfrage nach Enno Kluge halten sollten. Und während Escherich das Ergebnis dieser Aktion abwartete, geschah ihm das zweite Merkwürdige: plötzlich schien es ihm nicht mehr ganz ausgeschlossen, dass dieser Enno Kluge doch etwas mit den Karten zu tun hatte. Zu merkwürdige Zusammenhänge geisterten um diesen Burschen: die beim Arzt gefundene Karte, und dann die Ehefrau, erst glühende Nazistin und dann plötzlich dieser Antrag, aus der Partei austreten zu dürfen, vermutlich, weil der Sohn in der SS etwas getan hatte, was der Mutter nicht gefiel. Alles um diesen kleinen Kerl endete irgendwie im Politschen, und Escherich hatte grade ihn für politisch völlig gleichgültig gehalten. Vielleicht war der Enno Kluge viel geriebener, als der Kommissar gedacht hatte, vielleicht hatte er auch anderen Dreck am Stecken als diese Karte, aber Dreck hatte er zu verscharren, das schien fast sicher.
Dies bestätigte auch der Assistent Schröder, mit dem der Kommissar zur Auffrischung seines Gedächtnisses den ganzen Fall noch einmal langsam durchsprach. Auch der Assistent Schröder hatte das Gefühl gehabt, mit dem Kluge stimmte was nicht, er verbarg etwas. Nun, man würde ja sehen, in dieser Sache würde bald etwas erfolgen. Der Kommissar hatte das im Gefühl, und in solchen Dingen täuschte ihn sein Gefühl nur selten.
Und dieses Mal täuschte es ihn wirklich nicht. Es geschah in diesen Tagen der Bedrohung und des Ärgers, dass dem Kommissar gemeldet wurde, ein gewisser Barkhausen bitte, ihn sprechen zu dürfen.
Barkhausen?, fragte sich Kommissar Escherich. Barkhausen? Was soll denn das für ein Barkhausen sein? Ach so, ich weiß schon, dieser kleine Spitzel, der für acht Groschen seine Mutter verraten würde.
Und laut: »Soll reinkommen!« Als der Barkhausen aber eintrat, sagte er zu ihm: »Wenn Sie mir aber nur was über die Persickes erzählen wollen, können Sie gleich wieder kehrtmachen!«
Der Barkhausen sah den Kommissar fest an und schwieg. Er tat so dar, dass er doch beabsichtigte, über die Persickes zu reden.
»Na also!«, sagte der Kommissar. »Warum machen Sie nicht kehrt, Barkhausen?«
»Der Persicke hat doch den Radio von der Rosenthal, Herr Kommissar«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich weiß es jetzt genau, ich habe …«
»Die Rosenthal?«, fragte Escherich. »Das ist doch die olle Jüdsche, die in der Jablonskistraße aus dem Fenster gesprungen ist?«
»Das ist sie!«, bestätigte Barkhausen. »Und den Radio hat er ihr einfach geklaut, das heißt, da war sie schon tot, aber aus der Wohnung …«
»Nun will ich Ihnen mal was sagen, Barkhausen«, erklärte Escherich. »Ich habe mich mit dem Kommissar Rusch über den Fall besprochen. Wenn Sie damit nicht aufhören, gegen die Persickes ständig anzustänkern, so fahren wir hier mit Ihnen Schlitten. Wir wollen von dieser Geschichte kein Wort mehr hören – und von Ihnen schon gar nicht! Sie sind der Allerletzte, der in dieser Sache rumstochern dürfte. Ja, Sie, Barkhausen!«
»Aber er hat den Radio doch geklaut …«, fing Barkhausen mit jener sturen Hartnäckigkeit wieder an, die nur blinder Hass verleiht. »Wo ich es ihm doch direkt beweisen kann …«
»Jetzt nur noch raus, Barkhausen, oder ich lasse Sie abführen, hier bei uns in den Keller!«
»Dann gehe ich aufs Präsidium am Alex!«, erklärte Barkhausen tief gekränkt. »Was Recht ist, muss Recht bleiben, und geklaut ist geklaut …«
Aber Escherich war etwas anderes eingefallen, nämlich sein Fall Klabautermann, der fast ständig seine Gedanken beschäftigte. Er hörte gar nicht mehr auf den Idioten. »Sagen Sie mal, Barkhausen«, sagte er, »Sie kennen doch auch einen Haufen Leute und gehen viel in die Kneipen? Kennen Sie vielleicht einen gewissen Enno Kluge?«
Barkhausen, der ein Geschäft witterte, sagte noch verdrossen: »Einen gewissen Enno kenne ich. Ob er weiter Kluge heißt, so viel ist mir nicht bekannt. Ich hab eigentlich immer gedacht, Enno wäre sein Nachname.«
»Kleiner, schmächtiger Mann, blass, leise und schüchtern?«
»Das könnte auf meinen stimmen, Herr Kommissar.«
»Heller Paletot, großkarierte braune Sportmütze?«
»So kenne ich ihn.«
»Hat ewig Weibergeschichten?«
»Von Weibergeschichten ist mir bei meinem nichts bekannt. Wo ich den gesehen habe, da verkehren keine Weiber.«
»Kleiner Pferdewetter –«
»Stimmt, Herr Kommissar.«
»Lokale: ›Ferner liefen‹ und ›Vor dem Start‹?«
»Derselbe, Herr Kommissar. Ihr Enno Kluge, das ist mein Enno!«
»Den müssen Sie mir finden, Barkhausen! Hängen Sie den ganzen blöden Persicke-Rummel an den Nagel, der trägt Ihnen bloß noch KZ ein! Kriegen Sie mir lieber raus, wo der Enno Kluge steckt!«
»Aber das ist doch kein Fisch für Sie, Herr Kommissar!«, rief Barkhausen abwehrend. »Das ist doch ein ganz kleiner Pinkel! Ein reiner Nebbich ist das! Was wollen Sie denn mit solchem Idioten, Herr Kommissar?«
»Das lassen Sie nur meine Sache sein, Barkhausen! Wenn ich durch Sie den Enno Kluge kriege, sollen Sie fünfhundert Mark verdient haben!«
»Fünfhundert Mark, Herr Kommissar? Fünfhundert Mark sind zehn von meinen Ennos noch nicht wert! Da muss ein Irrtum vorliegen.«
»Vielleicht liegt da sogar wirklich ein Irrtum vor, aber das geht Sie nichts an, Barkhausen. Sie kriegen Ihre fünfhundert Eier – so und so!«
»Na denn! Wenn Sie’s sagen, Herr Kommissar, dann will ich mal sehen, dass ich den Enno fasse. Aber ich zeige Ihnen den Mann bloß, ich bringe ihn nicht her. Mit so einem rede ich ja gar nicht …«
»Was habt ihr beide denn miteinander gehabt? Sonst bist du doch nicht so empfindlich, Barkhausen! Sicher habt ihr irgendeinen Mist zusammen vergraben. Aber ich will nicht in eure zarten Geheimnisse dringen, schwimm ab, Barkhausen, und stell mir den Kluge!«
»Ich möchte noch um einen kleinen Vorschuss gebeten haben, Herr Kommissar. Nein, um keinen Vorschuss«, verbesserte er sich, »sondern um Geld für meine Spesen.«
»Was hast du denn für Spesen, Barkhausen? Das würde mich doch interessieren.«
»Ich muss doch mit der Bahn fahren, in allen möglichen Kneipen muss ich rumstehen, hier eine Molle, da eine Runde ausgeben, das läuft doch ins Geld, Herr Kommissar! Aber ich denke, fünfzig Mark werden genügen.«
»Ja, wenn der großmächtige Barkhausen ausgeht, da warten alle schon, dass er was ausgibt! Na, ich will dir zehn Mark geben, und nun hau wirklich ab. Glaubst du, ich habe nichts anderes zu tun, als mit dir rumzuquatschen?«
Barkhausen war tatsächlich der Ansicht, dass so ein Kommissar nichts anderes zu tun hatte, als den Leuten die Würmer aus der Nase zu ziehen und andere für sich arbeiten zu lassen. Aber er hütete sich wohl, das auszusprechen. Er ging nun wirklich zur Tür, wobei er sagte: »Aber wenn ich Ihnen den Kluge schaffe, müssen Sie mir auch bei den Persickes helfen. Die Brüder haben mich zu sehr in Rage gebracht …«
Mit einem Satz war Escherich hinter ihm drein, packte ihn an der Schulter und hielt ihm die Faust unter die Nase.
»Siehst du die?«, schrie er wütend. »Willste mal riechen an der Knospe, du dämlicher Hund? Noch ein Wort von den Persickes, und ich schicke dich in den Bunker, und wenn auch alle Enno Kluges von der Welt frei rumlaufen!«
Damit gab er dem Überraschten einen Stoß mit dem Knie in den Hintern, dass er wie eine Kanonenkugel in den Gang schoss. Er war aber grade auf eine SS-Ordonnanz abgeschossen, die ihm einen weiteren kräftigen Tritt versetzte …
Der Lärm, den diese zwei Abschüsse verursachten, hatte zwei SS-Posten am Treppenpodest aufmerken lassen. Sie nahmen den noch taumelnden Barkhausen in Empfang und warfen ihn die Treppe hinab, genau wie einen Kartoffelsack, drunter und drüber, ganz egal, wie’s grade kam.
Und als Barkhausen unten ächzend und ein wenig blutend liegen blieb, aber nur wenig, noch ganz betäubt von dem Sturz, fasste ihn der nächste Posten beim Kragen, schrie: »Willst du Schwein uns hier den schönen Fußboden vollsauen?«, schleppte ihn zum Ausgang und warf ihn auf die Straße.
Der Kommissar Escherich hatte den Anfang dieses Sturzes, bis die Treppe ihn seinen Blicken entzog, mit Behagen angesehen.
Die Vorübergehenden auf der Prinz-Albrecht-Straße vermieden es ängstlich, den im Dreck liegenden Unglücklichen anzusehen, denn sie wussten es ja, aus welchem gefährlichen Hause er hinausgeworfen war. Es war vielleicht schon ein Verbrechen, solchen Verunglückten mitleidig anzusehen, helfen durfte man ihm schon gar nicht. Der Posten aber, der mit schweren Schritten jetzt wieder am Ausgang auftauchte, sagte: »Wenn du Schwein in drei Minuten noch unsere Fassade schändest, dann mache ich dir Beine, und das nicht zu knapp!«
Das half. Barkhausen raffte sich auf und taumelte mit schweren, schmerzenden Gliedern nach Hause. Innerlich aber brannte er mal wieder vor hilflosem Hass und Zorn, und dieser Hass brannte ihn stärker, als seine Verletzungen weh taten. Er war fest entschlossen, für diesen Schurken von Kommissar keine Hand zu rühren, der sollte sich seinen Enno Kluge allein suchen!
Aber am nächsten Tage, als der Zorn etwas gelinder geworden war und die Stimme der Vernunft wieder zu sprechen anfing, sagte er sich, dass er erstens vom Kommissar Escherich zehn Mark bekommen hatte, und für die musste er arbeiten, sonst bekam er unweigerlich eine Betrugsanzeige. Und zweitens war es überhaupt nicht gut, es mit so hohen Herren ganz zu verderben. Die hatten nun mal die Macht, und wer klein war, der musste sich fügen. Das mit dem Rausschmiss gestern, das hatte sich schließlich ganz von selbst ergeben. Wäre er nicht gegen die Ordonnanz geprallt, wäre es ganz gelinde abgegangen. Sie sahen es wohl als einen Witz an, und wenn Barkhausen gesehen hätte, dass man einen anderen so behandelt, hätte er auch herzlich gelacht, zum Beispiel über einen gleicherweise abgefeuerten Enno Kluge.
Ja, das war der dritte Grund, warum Barkhausen den Auftrag doch lieber ausführte: er konnte damit dem Enno Kluge eins auswischen, der ihm durch seine blöde Sauferei das ganze schöne Geschäft vermasselt hatte.
So begab sich Barkhausen also, wenn auch mit schmerzenden Knochen, so doch guten Willens voll, in jene beiden Lokale, die auch der Kommissar Escherich aufgesucht hatte, und in einige weitere noch. Er fragte nicht nach Enno bei den Wirten, er stand nur da und lümmelte sich, er trank langsam, über eine Stunde, an einer Molle, redete auch ein bisschen von Pferden, über die er durch das ewige Zuhören sogar etwas wusste (war aber gänzlich von jeder Wettleidenschaft frei) – und ging dann in das nächste Lokal, um es dort genauso zu machen. Er hatte Geduld, der Barkhausen, er konnte es so ganze Tage treiben, ihm kam es nicht darauf an.
Aber er brauchte gar nicht viel Geduld zu haben, denn schon am zweiten Tag sah er den Enno im Lokal »Ferner liefen«. Er erlebte den Adebar-Triumph des Schmächtigen und empfand einen heftigen Neid wegen des Massels, den solch ein Idiot entwickelte. Außerdem wunderte ihn der Fünfzigmarkschein, den Kluge dem Buchmacher gegeben hatte. Durch Arbeit war der nicht erworben, das roch Barkhausen sofort. Der musste sich ganz hübsch gebettet haben, der kleine Schleicher, der!
Es ist ganz selbstverständlich, dass die Herren Barkhausen und Kluge einander nicht kannten, sie sahen sich nicht einmal.
Nicht ganz so selbstverständlich ist es, dass der Kneipier den Kommissar Escherich nicht anrief, trotz seines festen Versprechens. Aber das war ja nun so, dass man die Gestapo fürchtete und in ständiger Angst vor ihr lebte, aber etwas anderes war es, ihr Handlangerdienste zu tun. Nein, so weit ging es auf der anderen Seite auch nicht, dass Enno Kluge gewarnt wurde, aber jedenfalls wurde er nicht verraten.
Übrigens vergaß der Kommissar Escherich nicht diesen unterlassenen Anruf. Er gab einer bestimmten Abteilung darüber Nachricht, worauf dort über den Kneipier eine Kartothekkarte angelegt wurde, auf der das Wort »Unzuverlässig« stand. Eines Tages, früher oder später, würde es der Kneipier schon zu spüren bekommen, was das hieß, bei der Gestapo für unzuverlässig zu gelten.
Von den beiden Herren verließ Barkhausen zuerst das Lokal. Er ging aber nicht weit, sondern baute sich hinter einer Litfasssäule auf, wo er in heiterer Ruhe den Abgang des Kleinen erwartete. Barkhausen war ein Beschatter, der sein Opfer so leicht nicht aus dem Auge verlor, und dieses Opfer schon gar nicht. Er brachte es sogar fertig, sich auf der U-Bahn in den gleichen Wagen mit ihm zu quetschen, und obwohl Barkhausen lang war, sah ihn Enno Kluge doch nicht.
Enno Kluge dachte nur an seinen Triumph mit Adebar, an das Geld, das endlich wieder einmal reichlich in seiner Tasche knisterte, und dann dachte er an Hete, bei der er es doch eigentlich sehr gut hatte. Mit Liebe und Rührung dachte er an die gute, ältliche Zerfließende, aber er dachte nicht daran, dass er sie vor ein paar Stunden belogen und bestohlen hatte.
Freilich, als er dann vor dem Laden ankam und sah, der Rollladen war hochgezogen, und sie wirkte schon wieder im Geschäft, und sie hatte ihm sein Weglaufen bestimmt übelgenommen, da sank seine gute Stimmung wieder. Aber mit dem Fatalismus, mit dem sich Leute seines Schlages auch in das Widrigste fügen, betrat er den Laden und ging seiner Abreibung entgegen. Dass er aber, mit solchen Gedanken beschäftigt, nicht grade sehr genau darauf achtete, wer ihm auf den Fersen saß, das kann niemanden wundernehmen.
Der Barkhausen hatte den Kluge im Laden verschwinden sehen. Er stand etwas ab in einem Torweg, denn er nahm natürlich an, Kluge wolle dort etwas kaufen und werde gleich wieder herauskommen. Aber die Kunden gingen und kamen, gingen und kamen, und Barkhausen wurde schon ganz nervös. Wenn er Kluges Herauskommen übersehen hatte – er hatte die fünfhundert Eier schon ganz sicher in seiner Tasche gefühlt, diesen Abend noch.
Nun ging laut der Rollladen herunter, und jetzt war es sicher: der Enno hatte sich irgendwie verdrückt. Vielleicht hatte er doch Witterung von seinem Beschatter gehabt, war unter irgendeinem Vorwand durch den Laden in das Haus gegangen und durch die Haustür wieder heraus. Barkhausen verfluchte sich ob seiner Dummheit, nicht auch die Haustür im Auge behalten zu haben. Immer hatte er nur auf die Ladentür geglotzt, Kamel, das er war!
Nun, es gab ja die Möglichkeit, Enno morgen oder übermorgen wieder in dem Lokal zu treffen. Jetzt, wo er durch Adebar so einen Reibach gemacht hatte, würde sein Wettfimmel ihm schon keine Ruhe lassen. Er würde jeden Tag kommen und so lange wetten, bis das Geld alle war. Ein Außenseiter wie Adebar lief nicht alle Wochen, und wenn er lief, hatte man nicht auf ihn gesetzt. Der Enno würde sein Geld schon rasch loswerden.
Der Barkhausen schob auf seinem Heimweg noch nahe an dem kleinen Tierladen vorbei. Da sah er plötzlich durch die Schaufensterscheibe (nur die Ladentür war durch den Rollladen versperrt), dass ein einsames Licht im Laden brannte, und wie er nun die Nase an der Scheibe plattdrückte und über die Aquarien durch die Vogelkäfige linste, da sah er, dass noch zwei Gestalten im Laden wirkten: ein aufgegangener Pudding von einer Alten im gefährlichsten Alter, wie er gleich richtig schätzte, und dazu sein Freund Enno. Enno in Hemdsärmeln und einer blauen Schürze, Enno, der fleißig Futternäpfe füllte, Wasser eingoss, einen Scotch putzte.
Was für einen Dusel solch ein Idiot wie der Enno doch hatte! Was die Weiber an dem nur sahen? Er, der Barkhausen, saß fest mit der Otti und fünf Blagen, und so ein oller Knacker, der kam daher und setzte sich gleich in eine ganze Tierhandlung, komplett mit Frau, Fischen und Vögeln.
Verächtlich spuckte Barkhausen aus. Was für eine saublöde Welt das war, die dem Barkhausen alles Gute vorenthielt, um es einem solchen Idioten in den Schoß zu werfen!
Aber je länger Barkhausen guckte, umso klarer wurde ihm, dass um das Paar da drinnen kein Liebeszauber blühte. Sondern sie redeten kaum miteinander, sie sahen sich fast nie an, und es war sehr möglich, dass der kleine Enno Kluge nichts darstellte als einen Arbeiter, der die Frau da drinnen beim Aufräumen des Ladens unterstützte. Dann musste er in absehbarer Zeit aus dem Haus herauskommen.
Barkhausen zog sich also von neuem auf seinen Beobachtungsposten im Torweg zurück. Da der Rollladen geschlossen war, würde Kluge aus der Haustür kommen, und so behielt Barkhausen die im Auge. Aber das Licht im Laden war erloschen, und Kluge war noch immer nicht gekommen. Da entschloss sich Barkhausen, viel zu wagen. Auf die Gefahr hin, den Enno im Treppenhaus zu treffen, schlich er sich in das Haus, das noch nicht abgeschlossen war. Es war aber solch Mietshaus mit zwei oder gar drei Höfen, das meist überhaupt nicht abgeschlossen wird, weil zu viel Parteien darin wohnen.
Barkhausen notierte zuerst den Namen »H. Häberle« in seinem Hirn und schlich dann auf den Hof hinaus. Und siehe, er hatte Glück, sie hatten noch nicht verdunkelt, trotzdem es jetzt schon nach acht Uhr war, und an einem schief hängenden Store vorbeiblickend, konnte Barkhausen die Stube bestens übersehen. Was er da aber sah, das überraschte ihn derart, dass er fast einen Schreck bekam.
Denn da kniete sein Freund Enno auf der Erde, kniend rutschte er hinter der dicken Frau her, die mit ängstlich angezogenen Röcken Schritt für Schritt vor ihm zurückwich. Ennochen aber hatte die Ärmchen erhoben, er schien zu weinen und Klagelaute auszustoßen.
Ihr lieben Leute!, dachte Barkhausen und trat auf seinem Beobachtungsposten vor Entzücken von einem Bein auf das andere, ihr lieben Leute, wenn ihr euch so Appetit auf die Nacht macht, dann proste Mahlzeit, dann seid ihr ja verdammt ulkige Kruken! Da will ich gerne hier die halbe Nacht stehen und euch zukieken.
Aber da schlug die Tür hinter der Alten zu, und der Enno stand an der Tür, bewegte die Klinke auf und ab und schien weiter zu flennen und zu beschwören.
Vielleicht war’s nicht nur so ’ne kleine Vorfeier für die Nacht, dachte Barkhausen. Vielleicht haben sie sich gestritten, oder Enno hat was von ihr haben wollen, was sie ihm nicht gibt, oder sie will überhaupt von dem verliebten alten Gockel nichts wissen … Was geht es mich an? Jedenfalls bleibt er hier zur Nacht, wozu wäre ihm sonst auf dem Sofa ein so schönes weißes Bettchen zurechtgemacht?
Der Enno Kluge stand grade vor dem Bettchen. Barkhausen konnte das Gesicht seines ehemaligen Kumpels ganz deutlich sehen. Es war zum Verwundern, wie es jetzt ausschaute. Eben noch Weinen und Wehklagen, und nun grinste der Mann, sah zur Tür, grinste wieder …
Der hat der Alten also nur ein Theater vorgespielt. Na, denn also, mein Junge, viel Glück! Ich fürchte nur, der Escherich spuckt dir in deine Suppe!
Der Kluge hatte sich eine Zigarette angesteckt. Nun ging er direkt auf das Fenster zu, durch das Barkhausen spähte. Der fuhr erschrocken zur Seite, ins Dunkle – das Verdunklungsrouleau sauste herunter, und Barkhausen konnte ruhig seinen Beobachtungsposten für diese Nacht aufgeben. Große Aufregungen waren nicht mehr zu erwarten, wenigstens würde er davon nichts mehr zu sehen bekommen. Der Enno aber war ihm für diese Nacht erst einmal sicher …
Eigentlich war mit dem Kommissar Escherich vereinbart worden, dass Barkhausen ihn sofort nach der Entdeckung Enno Kluges anrufen sollte, einerlei ob Tag oder Nacht. Aber wie Barkhausen da in der Nacht immer weiter vom Königstor fortging, wurde immer zweifelhafter, ob ein sofortiger Anruf wirklich das Richtige war, das für Barkhausens Nutzen richtig ist. Ihm war eingefallen, dass es in dieser Sache doch zwei Parteien gab, dass er also eigentlich von beiden Nutzen ziehen konnte.