Hans Fallada – Gesammelte Werke

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30. Ennos Austreibung

Zwei Stun­den spä­ter war al­les aus­ge­stan­den. Der Münch­ner Schnell­zug war mit Bark­hau­sen in ei­nem Ab­teil zwei­ter Klas­se aus der Hal­le des An­hal­ter Bahn­hofs ge­rollt, mit ei­nem lä­cher­lich an­ge­be­ri­schen, ge­schwol­le­nen Bark­hau­sen, der zum ers­ten Male in sei­nem Le­ben ein Ab­teil zwei­ter Klas­se be­nutz­te. Ja, Frau Hä­ber­le, die auch groß­spu­rig sein konn­te, hat­te die­sem klei­nen Spit­zel auf sei­ne Bit­te hin im Zuge noch eine Zu­schlag­kar­te Zwei­ter ge­löst, um ihn bei gu­ter Lau­ne zu hal­ten, oder auch, weil sie selbst froh war, die­sen Kerl für min­des­tens zwei Tage los zu sein.

Nun, als sich die an­de­ren Rei­se­be­glei­ter lang­sam durch die Sper­re dräng­ten, sag­te sie lei­se zu Enno: »War­te ein­mal, Enno, wir set­zen uns einen Au­gen­blick da in den War­te­saal und über­le­gen, was nun zu tun ist.«

Sie setz­ten sich so, dass sie die Ein­gangs­tür im Auge hat­ten. Der War­te­saal war nur mä­ßig be­setzt, nach ih­nen kam eine lan­ge Zeit kei­ner mehr her­ein.

Frau Hete frag­te: »Hast du dar­auf ge­ach­tet, Enno, was ich dir ge­sagt habe? Glaubst du, dass wir be­ob­ach­tet wor­den sind?«

Und Enno Klu­ge mit sei­nem ge­wohn­ten Leicht­sinn, kaum war die drin­gends­te Ge­fahr vor­über: »I wo! Beo­b­ach­tet? Glaubst du, je­mand lässt sich von so ’nem Idio­ten, wie es Bark­hau­sen ist, schi­cken? So blau! So duss­lig ist kei­ner!«

Sie hat­te es auf der Zun­ge, ihm zu sa­gen, dass sie die­sen Bark­hau­sen mit sei­ner arg­wöh­ni­schen Ge­ris­sen­heit für er­heb­lich in­tel­li­gen­ter hielt als den klei­nen, fei­gen, leicht­sin­ni­gen Mann an ih­rer Sei­te. Aber sie sag­te es nicht. Sie hat­te es sich heu­te früh beim Um­klei­den zu­ge­schwo­ren, dass es mit al­len Vor­wür­fen vor­bei sein soll­te. Ihre Auf­ga­be war nur noch, die­sen Enno Klu­ge in Si­cher­heit zu brin­gen. War die­se Auf­ga­be er­füllt, woll­te sie ihn nie wie­der se­hen.

Er sag­te aus dem im­mer wie­der glei­chen Ge­dan­ken her­aus, der ihn seit ei­ner Stun­de quäl­te, er sag­te voll Neid: »Wenn ich du wäre, ich hät­te die­sem Kerl nie zwei­tau­send­ein­hun­dert Mark be­zahlt. Und dann noch zwei­hun­dert­fünf­zig Mark Rei­se­spe­sen. Und dann noch Fahr­kar­te und Zu­schlag­kar­te. Du hast dem Kerl über zwei­tau­send­fünf­hun­dert ge­ge­ben, so ’nem Schwein! Ich hät­t’s nie ge­tan!«

Sie frag­te: »Und was wäre aus dir ge­wor­den, wenn ich’s nicht ge­tan hät­te?«

»Hät­test du mir zwei­tau­send­fünf­hun­dert ge­ge­ben, du hät­test se­hen sol­len, wie fein ich das Ding ge­dreht hät­te! Das kannst du glau­ben, der Bark­hau­sen wäre auch mit fünf­hun­dert zu­frie­den ge­we­sen!«

»Tau­send hat ihm ja schon die Ge­sta­po ver­spro­chen!«

»Tau­send – da muss ich doch la­chen! Als wenn die auf der Ge­sta­po mit den Tau­sen­dern nur so schmis­sen! Und dann noch an so einen klei­nen Spit­zel, wie es der Bark­hau­sen ist! Dem brau­chen sie doch nur zu be­feh­len – und er muss tun, was sie wol­len, für fünf Mark Ta­ge­geld! Tau­send, zwei­tau­send­fünf­hun­dert – der hat dich aber bild­schön ge­rupft, Hete!«

Er lach­te spöt­tisch.

Sei­ne Un­dank­bar­keit ver­letz­te sie. Aber sie hat­te kei­ne Lust, sich mit ihm auf Er­ör­te­run­gen ein­zu­las­sen. Sie sag­te nur et­was scharf: »Ich will da­von nicht mehr re­den! Ver­stehst du, ich will nicht!« Sie sah ihn so lan­ge fest an, bis sei­ne blas­sen Au­gen sich senk­ten. »Wir wol­len jetzt lie­ber über­le­gen, was wir nun mit dir tun.«

»Ach, das hat doch noch Zeit«, sag­te er. »Vor über­mor­gen kann er nicht zu­rück sein. Wir ge­hen jetzt zum Ge­schäft zu­rück, bis über­mor­gen fällt uns schon was ein.«

»Ich weiß nicht, ich möch­te dich ei­gent­lich nicht wie­der ins Ge­schäft mit­neh­men, oder höchs­tens, um dei­ne Sa­chen zu pa­cken. Ich bin so un­ru­hig – viel­leicht sind wir doch be­spit­zelt wor­den?«

»Aber ich sage dir doch, wir sin­d’s nicht! Ich ver­steh mehr von so was als du! Und der Bark­hau­sen kann sich auch nie einen Spit­zel hal­ten, der hat ja nie Geld!«

»Aber die Ge­sta­po kann ihm einen stel­len!«

»Und der Spit­zel von der Ge­sta­po sieht zu, wie der Bark­hau­sen nach Mün­chen fährt und ich ihn zur Bahn brin­ge! So blau, Hete!«

Sie muss­te zu­ge­ben, dass er mit die­sem Ein­wand recht hat­te. Aber ihre Un­ru­he blieb. Sie frag­te: »Ist dir das nicht auf­ge­fal­len mit den Zi­ga­ret­ten?«

Er er­in­ner­te sich nicht mehr. Sie muss­te es ihm erst er­zäh­len, wie der Bark­hau­sen, sie wa­ren kaum aus dem Haus, über­all nach Zi­ga­ret­ten her­um­such­te, er muss­te durch­aus wel­che ha­ben. Er hat­te auch Hete und Enno des­we­gen an­ge­schnorrt. Aber die hat­ten auch kei­ne, Enno hat­te in der Nacht alle auf­ge­raucht. Bark­hau­sen war aber da­bei ge­blie­ben, er müs­se wel­che ha­ben, er hiel­te das nicht aus, er sei es ge­wohnt, eine am Mor­gen zu sto­ßen. Er hat­te sich rasch von Hete zwan­zig Mark »ge­borgt« und einen äl­te­ren Jun­gen an­ge­ru­fen, der dann mit viel Ge­schrei auf der Stra­ße her­um­spiel­te.

»Du, hör mal, Ede, weeß­te hier nich wen, bei den du Zi­ga­ret­ten krichst? Aber Ta­bak­kar­te hab ick kee­ne.«

»Val­leicht weeß ick ee­nen. Ham Se denn Jeld?«

Es war ein sehr blon­der, blau­äu­gi­ger Jun­ge in der Tracht der HJ ge­we­sen, mit dem Bark­hau­sen da ge­spro­chen hat­te, ein ech­tes, hel­les Ber­li­ner Ge­wächs.

»Na, jebn Se ma den Zwan­zi­jer her, ick wer holn …«

»Und det Wie­der­komm va­jessn! Nee, ick jeh mit dir. Au­gen­blick mal, Frau Hä­ber­le!«

Da­mit wa­ren die bei­den in ei­nem Hau­se ver­schwun­den. Nach ei­ner Wei­le war dann Bark­hau­sen al­lein zu­rück­ge­kom­men und hat­te Frau Hete die zwan­zig Mark ohne alle Auf­for­de­rung zu­rück­ge­ge­ben.

»Die hat­ten kei­ne. Der Rotz­jun­ge hat mich na­tür­lich bloß um die zwan­zig Mark be­schum­meln wol­len. Ich hab ihm aber eine ge­schal­lert, der liegt noch auf dem Hof!«

Sie wa­ren wei­ter­ge­gan­gen, zur Post, zum Rei­se­bü­ro.

»Na, und was fin­dest du da Ko­mi­sches bei, Hete? Der Bark­hau­sen ist da wie ich: Wenn es den roo­chert, der ist im­stan­de und quatscht ’nen Ge­ne­ral auf der Stra­ße an und bit­tet ihn um die Kip­pe!«

»Aber er hat hin­ter­her nicht ein Wort mehr von Zi­ga­ret­ten ge­sagt, trotz­dem er doch kei­ne ge­kriegt hat! Ich fin­de das ko­misch. Ob er doch was mit dem Jun­gen vor­ge­habt hat?«

»Was soll er denn mit dem Jun­gen vor­ge­habt ha­ben, Hete? Dem hat er eine ge­schal­lert, das wird schon stim­men.«

»Ob der Ben­gel viel­leicht un­ser Auf­pas­ser ist?«

Ei­nen Au­gen­blick stutz­te selbst Enno Klu­ge. Aber dann sag­te er mit sei­nem ge­wohn­ten Leicht­sinn: »Was du dir al­les wie­der ein­bil­dest! Dei­ne Sor­gen möch­te ich wirk­lich ha­ben!«

Sie schwieg. Aber die Un­ru­he saß wei­ter in ihr, und so be­stand sie auch dar­auf, dass sie jetzt nur kurz in den La­den gin­gen, um sei­ne Sa­chen zu ho­len. Dann woll­te sie ihn mit al­ler er­denk­li­chen Vor­sicht bei ei­ner Freun­din un­ter­brin­gen.

Ihm pass­te das gar nicht. Er fühl­te: sie woll­te sich von ihm lö­sen. Und er woll­te nicht ge­hen. Bei ihr war Si­cher­heit und gu­tes Es­sen und nicht mehr Ar­beit, als ihm be­hag­te. Und Lie­be und Wär­me und Trös­ten. Und dann: sie war so ein gu­tes Woll­schaf, der Bark­hau­sen hat­te sie eben um zwei­tau­send­fünf­hun­dert ge­scho­ren, nun war er dran!

»Dei­ne Freun­din!«, sag­te er un­zu­frie­den. »Was ist denn das für eine Frau? Ich gehe nicht gern bei frem­de Leu­te.«

Hete hät­te ihm sa­gen kön­nen, dass die­se Freun­din eine alte Mit­ar­bei­te­rin ih­res Man­nes war, dass sie jetzt noch in al­ler Stil­le wei­ter­wirk­te und dass je­der Ver­folg­te bei ihr Zuf­lucht fand. Aber sie miss­trau­te jetzt Enno, ein paar­mal hat­te sie ihn schon fei­ge ge­se­hen, er muss­te nicht zu viel wis­sen.

»Mei­ne Freun­din?«, sag­te sie dar­um. »Das ist eine Frau wie ich. In mei­nen Jah­ren. Vi­el­leicht ein paar Jah­re jün­ger.«

»Und was tut sie? Wo­von lebt sie?«, forsch­te er wei­ter.

»Weiß ich nicht ge­nau, ist wohl ir­gend­wo Se­kre­tä­rin. Üb­ri­gens ist sie un­ver­hei­ra­tet.«

»In dei­nen Jah­ren, wenn sie das ist, dann wird’s aber lang­sam Zeit«, sag­te er spöt­tisch.

Sie zuck­te zu­sam­men, ant­wor­te­te aber nicht.

»Nee, Hete«, sag­te er und gab sei­ner Stim­me einen zärt­li­chen Ton. »Was soll ich denn bei dei­ner Freun­din? Wir bei­de al­lein, das ist doch das Schöns­te. Lass mich bei dir blei­ben – der Bark­hau­sen kommt ja erst über­mor­gen –, we­nigs­tens bis über­mor­gen!«

»Nein, Enno!«, sag­te sie. »Ich möch­te jetzt, dass du das tust, was ich dir sage. Ich gehe al­lein in die Woh­nung und pa­cke. Du kannst un­ter­des­sen in ei­ner Wirt­schaft war­ten. Dann fah­ren wir ge­mein­sam zu mei­ner Freun­din.«

Er hat­te noch vie­le Wi­der­wor­te, aber schließ­lich füg­te er sich. Er füg­te sich, als sie – nicht ohne Be­rech­nung – sag­te: »Du wirst auch Geld brau­chen. Ich lege dir Geld oben­auf in dei­nen Kof­fer, ge­nug, dass du für die ers­te Zeit aus der Not bist.«

Als sie das ge­sagt hat­te, da füg­te er sich. Die Aus­sicht, bald Geld in sei­nem Kof­fer zu fin­den (und sie konn­te ihm doch un­mög­lich we­ni­ger ge­ben, als sie dem Bark­hau­sen ge­ge­ben hat­te!), die­se Aus­sicht lock­te ihn, be­stimm­te ihn. Blieb er bis über­mor­gen bei ihr, gab es erst über­mor­gen Geld. Er aber woll­te so­fort wis­sen, wie viel sie ihm zu­ge­dacht hat­te.

Sie sah mit Kum­mer, was ihn zum Ein­len­ken be­stimm­te. Er sorg­te selbst da­für, dass der letz­te Rest von Ach­tung und Lie­be in ihr zer­stört wur­de. Aber sie fand sich dar­ein ohne Mur­ren. Sie wuss­te es längst aus ih­rem Le­ben, dass man für al­les be­zah­len muss­te, und für das meis­te mehr, als es wert war. Die Haupt­sa­che blieb, dass er ihr jetzt den Wil­len tat.

 

Als Frau Hete Hä­ber­le sich ih­rer Woh­nung nä­her­te, sah sie wie­der den blon­den, blau­äu­gi­gen Jun­gen von vor­hin mit ei­ner Rot­te an­de­rer auf der Stra­ße to­ben. Sie schreck­te zu­sam­men. Dann wink­te sie ihn zu sich her­an: »Was machst du denn hier im­mer noch?«, frag­te sie. »Musst du denn aus­ge­rech­net hier rum­to­ben?«

»Ick wohn hier doch!«, sag­te er. »Wo soll ick denn sonst to­ben?«

Sie späh­te nach den Spu­ren von ei­nem Schlag in sei­nem Ge­sicht, aber sie konn­te nichts se­hen. Sicht­lich hat­te der Ben­gel sie nicht wie­der­er­kannt, bei sei­nem Ge­spräch mit Bark­hau­sen hat­te er sie wohl gar nicht be­ach­tet. Das wür­de ge­gen Spit­ze­lei spre­chen.

»Hier wohnst du?«, frag­te sie. »Ich hab dich doch noch nie hier auf der Stra­ße ge­se­hen.«

»Kann ick for Ihre Oo­gen?!«, frag­te er frech. Er pfiff durch­drin­gend den Lu­den­pfiff auf ei­nem Fin­ger. Er schrie an dem Hau­se hoch: »Mut­ta, kick mal aus­’t Fens­ter! Da is ’ne Frau, die will nich gloobn, det­te schielst! Mut­ta, schiel ihr mal watt!«

La­chend lief Frau Hete in ih­ren La­den, jetzt auch völ­lig über­zeugt, dass sie, was die­sen Jun­gen an­lang­te, Ge­s­pens­ter ge­se­hen hat­te.

Aber beim Pa­cken wur­de sie wie­der ernst. Ihr ka­men Be­den­ken, ob sie auch recht dar­an tat, den Enno zu ih­rer Freun­din Anna Schön­lein zu brin­gen. Ge­wiss, die Änne ris­kier­te alle Tage ihr Le­ben für je­den Un­be­kann­ten, dem sie Ob­dach ge­währ­te. Aber der Frau Hete war es, als schmug­gle sie der Änne doch mit Enno Klu­ge ein rech­tes Kuckucksei ein. Zwar schi­en der Enno wirk­lich ein po­li­ti­scher, kein ge­wöhn­li­cher Ver­bre­cher, das hat­te jetzt so­gar der Bark­hau­sen be­stä­tigt, aber …

Er war so leicht­sin­nig, nicht so sehr aus Un­be­dacht­heit, son­dern aus ei­ner völ­li­gen Gleich­gül­tig­keit ge­gen das Schick­sal sei­ner Mit­menschen her­aus. Es kam ihm gar nicht dar­auf an, was mit ih­nen ge­sch­ah. Er dach­te im­mer nur an sich, und er war im­stan­de, je­den Tag zwei­mal zu ihr, zur Hete, zu lau­fen, un­ter dem Vor­ge­ben, er seh­ne sich nach ihr, und zog so alle Ge­fahr auf Än­nes Kopf. Sie, die Hete, hat­te Au­to­ri­tät über ihn, die Änne aber nicht.

Mit ei­nem schwe­ren Seuf­zer tut Frau Hete Hä­ber­le drei­hun­dert Mark in einen Um­schlag, den sie oben in den Kof­fer legt. Heu­te hat sie mehr Geld aus­ge­ge­ben, als sie in zwei Jah­ren ge­spart hat. Aber sie wird noch ein wei­te­res Op­fer brin­gen, sie wird dem Enno für je­den Tag, an dem er die Woh­nung der Freun­din über­haupt nicht ver­lässt, hun­dert Mark ver­spre­chen. Er ist ja lei­der so, dass sie ihm einen sol­chen Vor­schlag ma­chen kann. Er wird nicht ge­kränkt sein, er wird höchs­tens im ers­ten Au­gen­blick ein biss­chen ge­kränkt tun. Aber das wird ihn wohl im Hau­se hal­ten, er ist auf Geld so gie­rig.

Mit dem Kof­fer in der Hand ver­lässt Frau Hete das Haus. Der blon­de Jun­ge spielt nicht mehr auf der Stra­ße, viel­leicht ist er jetzt bei sei­ner schie­len­den Mut­ter. Sie geht zu der Knei­pe am Alex­an­der­platz, wo sie den Enno tref­fen wird.

31. Emil Barkhausen und sein Sohn Kuno-Dieter

Ja, Bark­hau­sen hat­te sich sehr wohl ge­fühlt in die­sem vor­neh­men D-Zug im no­blen Zwei­te-Klas­se-Ab­teil mit Of­fi­zie­ren und Ge­ne­ra­len und Da­men, die so wun­der­schön ro­chen. Es stör­te ihn gar nicht, dass er we­der ele­gant noch wohl­rie­chend war und dass sei­ne Mit­rei­sen­den kei­ne freund­li­chen Bli­cke auf ihn war­fen. Bark­hau­sen war es ge­wohnt, un­freund­lich an­ge­se­hen zu wer­den. Kaum je in sei­nem jäm­mer­li­chen Le­ben hat­te ein Mit­mensch einen freund­li­chen Blick für ihn üb­rig­ge­habt.

Bark­hau­sen ge­noss sein kur­z­es Glück mit vol­len Zü­gen, denn kurz war es nur. Es muss­te nicht bis Mün­chen wäh­ren, die­ses Glück, nicht ein­mal bis Leip­zig, wie er zu­erst ge­fürch­tet hat­te, son­dern nur bis Lich­ter­fel­de, denn die­ser Zug hielt noch ein­mal in Lich­ter­fel­de. Das war der Feh­ler in Frau He­tes Be­rech­nung ge­we­sen: man muss­te, hat­te man Geld in Mün­chen zu be­kom­men, nicht gleich dort­hin fah­ren. Man konn­te es spä­ter tun, wenn man die drin­gends­ten Ge­schäf­te in der Stadt Ber­lin er­le­digt hat­te. Und das drin­gends­te Ge­schäft war jetzt, den Enno dem Esche­rich zu mel­den und fünf­hun­dert Mark zu kas­sie­ren. Üb­ri­gens brauch­te man viel­leicht über­haupt nicht nach Mün­chen zu fah­ren, man brauch­te der Post nur zu schrei­ben, dass sie das Geld hier­her nach Ber­lin zur Aus­zah­lung sen­den soll­te. Je­den­falls kam eine so­for­ti­ge Rei­se nach Mün­chen nicht in Fra­ge.

Also stieg – nicht ohne lei­ses Be­dau­ern – Emil Bark­hau­sen in Lich­ter­fel­de aus. Er hat­te noch eine klei­ne, leb­haf­te De­bat­te mit dem Fahr­dienst­lei­ter, der nicht ein­se­hen woll­te, dass man sich im Zuge zwi­schen An­hal­ter Bahn­hof und Lich­ter­fel­de noch ein­mal eine Rei­se nach Mün­chen an­ders über­le­gen kann. Über­haupt kam die­sem Man­ne der gan­ze Bark­hau­sen höchst ver­däch­tig vor.

Bark­hau­sen aber blieb un­er­schüt­ter­lich: »Ru­fen Sie nur auf der Ge­sta­po an, Kom­missar Esche­rich, und Sie wer­den se­hen, wer recht hat, Herr Sta­ti­ons­vor­ste­her! Aber die Läu­se, die Sie sich dann in den Pelz ge­setzt ha­ben! Ich bin näm­lich dienst­lich!«

Schließ­lich ließ ihm der Rot­müt­zi­ge ach­sel­zu­ckend sein Fahr­geld zu­rück­zah­len, ihm war es egal. Mög­lich war al­les heu­te, mög­lich war es schon, dass sol­che frag­wür­di­gen Ge­stal­ten im Auf­tra­ge der Ge­sta­po her­um­lie­fen. Umso schlim­mer!

Emil Bark­hau­sen aber mach­te sich auf die Su­che nach sei­nem Sohn.

Aber vor der Tier­hand­lung von Hete Hä­ber­le fand er ihn nicht, ob­wohl das Ge­schäft ge­öff­net war und Kun­den aus und ein gin­gen. Hin­ter ei­ner An­schlag­säu­le ver­bor­gen, über­leg­te Bark­hau­sen, im­mer die Au­gen auf die La­den­tür ge­rich­tet, was ge­sche­hen sein konn­te. Hat­te Kuno-Die­ter ein­fach aus Lan­ge­wei­le sei­nen Pos­ten ver­las­sen? Oder war Enno weg­ge­gan­gen – viel­leicht wie­der nach »Fer­ner lie­fen«? Oder war der klei­ne Mann ganz fort­ge­zo­gen, und die Frau wirk­te nun al­lein im La­den?

Emil Bark­hau­sen er­wog es gra­de bei sich, ob er noch ein­mal ganz scham­los vor die über­lis­te­te Hä­ber­le tre­ten und Aus­künf­te von ihr ver­lan­gen soll­te, als ein viel­leicht neun­jäh­ri­ger Ben­gel ihn an­quatsch­te: »Hö­ren Se ma! Sind Sie der Vata von den Kuno?«

»Bin ich! Was ist denn?«

»’ne Mark solln Se mir jebn!«

»Wozu soll ich dir denn ’ne Mark ge­ben?«

»Det ich Sie sare, wat ick weeß!«

Bark­hau­sen tat einen ra­schen Griff nach dem Jun­gen. »Erst Ware, dann Geld!«, sag­te er.

Aber der Jun­ge war schnel­ler als er, war ihm un­ter dem Arm durch­ge­schlüpft und rief: »Na, denn nich! Be­hal­ten Se man Ihre Mark!« Und er ge­sell­te sich wie­der zu sei­nen Spiel­ge­fähr­ten, die auf der Fahr­bahn di­rekt vor dem La­den tob­ten.

Dor­thin konn­te Bark­hau­sen ihm nicht fol­gen, er woll­te sich doch lie­ber nicht se­hen las­sen. Er rief und pfiff nach dem Jun­gen, den er zu­gleich mit sei­ner ei­ge­nen, hier so un­an­ge­brach­ten Spar­sam­keit ver­fluch­te. Aber der Jun­ge ließ sich nicht so leicht lis­ten und lo­cken; erst eine gute Vier­tel­stun­de spä­ter tauch­te er wie­der bei Bark­hau­sen auf, stell­te sich vor­sich­tig in ei­ni­ger Ent­fer­nung von dem zor­ni­gen Mann auf und ver­kün­de­te frech: »Jetzt kost det zwee Mär­ker!«

Bark­hau­sen hät­te sich den Ben­gel wie­der­um lie­ber ge­grif­fen und nach No­ten durch­ge­prü­gelt, aber was soll­te er tun? Er war in sei­ner Hand, denn er konn­te ihm nicht nach­lau­fen. »Ick wer dir ’ne Mark jebn«, sag­te er fins­ter.

»Nee! Zwee Mark!«

»Jut, du sollst zwee Mark ha­ben!«

Bark­hau­sen nahm einen Pa­cken Schei­ne aus der Ta­sche, fand einen Zwei­mär­ker, stopf­te die an­de­ren Schei­ne zu­rück und hielt dem Jun­gen das Geld hin.

Der schüt­tel­te den Kopf. »Ih­nen kenn ick doch!«, sag­te er. »Wenn ick det Jeld neh­me, lan­gen Se nach mir. Nee, le­gen Se’s da uff ’t Pflas­ter!«

Fins­ter, ohne ein Wort, tat Bark­hau­sen, was der Jun­ge ihn ge­hei­ßen. »Na?«, sag­te er dann, rich­te­te sich wie­der auf und trat einen Schritt zu­rück.

Der Jun­ge pirsch­te sich lang­sam an den Schein her­an, stets wach­sam das Auge auf den Mann ge­hef­tet. Als er sich nach dem Gel­de bück­te, konn­te Bark­hau­sen kaum der Ver­su­chung wi­der­ste­hen, sich die­ses klei­ne Aas zu lan­gen und ab­zu­wa­ckeln. Er hät­te ihn fas­sen kön­nen, aber er wi­der­stand die­ser Ver­su­chung, viel­leicht be­kam er dann über­haupt kei­ne Aus­kunft, und der Ben­gel wür­de so schrei­en, dass die gan­ze Stra­ße zu­sam­men­lief.

»Na?«, frag­te er noch ein­mal und dies­mal dro­hend.

Der Jun­ge ant­wor­te­te: »Ick könn­te ja jetzt ooch ’n Aas sind und noch­ma Jeld von Sie valan­gen und noch­ma und im­mer wie­da. Aba ick bin nich so. Ick weeß jut, Sie woll­ten mir ebent wie­da uff de Pel­le, aba ick, ick bin nich so ’n Aas!« Dann, nach­dem er sei­ne mo­ra­li­sche Über­le­gen­heit über Bark­hau­sen so ge­büh­rend ans Licht ge­stellt hat­te, sag­te er rasch: »Se solln in Ihre Woh­nung uff Be­scheid von Ku­non war­ten!« Und der Jun­ge war weg.

Die gu­ten zwei Stun­den, die Bark­hau­sen in sei­ner Kel­ler­woh­nung auf den Be­scheid von Kuno war­ten muss­te, ver­min­der­ten sei­nen Zorn nicht, nein, sie ver­mehr­ten ihn noch. Die Gö­ren plärr­ten, Otti war im Wege, sie spar­te nicht an spit­zen Be­mer­kun­gen über sol­che fau­len Schwei­ne, die den gan­zen Tag rum­sit­zen, nischt tun wie Zi­ga­ret­ten qual­men und der Frau die gan­ze Ar­beit las­sen.

Er hät­te einen Zehn- oder Fünf­zig­mark­schein her­vor­zie­hen und da­durch Ot­tis Stink­lau­ne in das schöns­te Müt­zen­wet­ter ver­wan­deln kön­nen, aber er woll­te nicht. Er woll­te nicht schon wie­der Geld ver­schen­ken, eben erst hat­te er zwei Mark für eine duss­li­ge Nach­richt ver­schenkt, auf die er auch von al­lein hät­te kom­men kön­nen. Eine Wut er­füll­te ihn auf den Kuno-Die­ter, der ihm solch ein klei­nes Aas auf den Hals ge­schickt, der si­cher was ver­bockt hat­te! Der Kuno-Die­ter soll­te, dazu war Bark­hau­sen fest ent­schlos­sen, nun die Kei­le be­zie­hen, um die der Klei­ne sich ge­drückt hat­te.

Dann klopf­te es ge­gen die Tür, und statt des er­war­te­ten Bo­ten von Kuno-Die­ter stand dort eine Zi­vil­fi­gur, der man den ehe­ma­li­gen Feld­we­bel noch deut­lich ge­nug an­sah.

»Sind Sie der Bark­hau­sen?«

»Ja, was ist denn?«

»Sie sol­len zum Kom­missar Esche­rich kom­men. Ma­chen Sie sich fer­tig, ich bring Sie.«

»Ich kann jetzt nicht«, wi­der­sprach Bark­hau­sen, »ich wart auf einen Bo­ten. Sa­gen Sie dem Kom­missar, ich hab den Fisch ge­fan­gen.«

»Ich soll Sie mit­neh­men zum Kom­missar«, sag­te der ehe­ma­li­ge Feld­we­bel hals­star­rig.

»Nicht jetzt! Ich lass mir mein Ge­schäft nicht ver­mas­seln! Nicht von euch Brü­dern!« Bark­hau­sen war zor­nig, aber er be­zwang sich. »Sa­gen Sie dem Herrn Kom­missar, ich hätt den Vo­gel, und ich käme heu­te noch bei ihm vor­bei!«

»Also ma­chen Sie jetzt kei­ne lan­gen Ge­schich­ten und kom­men Sie mit!«, wie­der­hol­te stur der an­de­re.

»Das ha­ben Sie wohl aus­wen­dig ge­lernt, was an­de­res kön­nen Sie wohl nicht pfei­fen wie das ›Kom­men Sie mit!‹?«, schrie Bark­hau­sen jetzt zor­nig. »Du kannst wohl nicht ka­pie­ren, was ich dir sage? Ewig ›Kom­men Se mit‹! Das kannst du wohl nicht be­grei­fen, dass ich dir sage, ich war­te hier auf Be­scheid, ich muss hier sit­zen, sonst geht der Hase mir aus der Sch­lin­ge? Das ist wohl zu hoch für dich?« Er sah sein Ge­gen­über ein we­nig atem­los an. Dann setz­te er mür­risch hin­zu: »Den Ha­sen soll ich näm­lich für den Kom­missar fan­gen, ver­ste­hen Sie?«

Der ehe­ma­li­ge Feld­we­bel sag­te un­ge­rührt: »Von all dem weiß ich nichts. Der Kom­missar hat zu mir ge­sagt: Frit­sche, hol den Bark­hau­sen. Also kom­men Se schon!«

»Nee!«, sag­te Bark­hau­sen, »du bist mir zu däm­lich. Ich blei­be – oder willst du mich ver­haf­ten?« Er sah es dem an­de­ren an der Nase an, dass er das nicht konn­te. »Also hau schon ab!«, rief er und schlug dem die Tür vor der Nase zu.

Drei Mi­nu­ten dar­auf sah er den al­ten Feld­we­bel über den Hof ab­trüm­mern, der hat­te es sich an­ders über­legt, das »Kom­men Se mit«!

 

Und so­bald der Mann durch die Tor­ein­fahrt des Vor­der­hau­ses ver­schwun­den war, über­kam Bark­hau­sen Angst we­gen der Fol­gen, die sein fre­ches Auf­tre­ten vor dem Send­bo­ten des all­mäch­ti­gen Kom­missars ha­ben konn­te. Nur der Zorn über die­sen Kuno-Die­ter hat­te ihn dazu ge­bracht. Es war eine Un­ver­schämt­heit, den Va­ter Stun­den um Stun­den sit­zen­zu­las­sen, wo­mög­lich bis in die Nacht hin­ein. Über­all gab es Ben­gels, an je­der Stra­ßen­e­cke gab es je­mand, den man mit ei­ner Bot­schaft schi­cken konn­te! Aber er wür­de es dem Kuno schon zei­gen, was er von sei­nem Be­neh­men hielt, er soll­te sich sol­che Witz­chen nicht un­ge­straft er­lau­ben!

Bark­hau­sen schwelg­te or­dent­lich in Fan­tasi­en, wie er den Bur­schen ver­mö­beln woll­te. Er sah sich beim Prü­geln die­ses kind­li­chen Kör­pers, und ein Lä­cheln lag auf sei­nem Ge­sicht, aber es war kein Lä­cheln ab­klin­gen­der Wut … Er hör­te ihn schrei­en, und er leg­te ihm die eine Hand auf den schrei­en­den Mund, wäh­rend die an­de­re weiter­schlug, so lan­ge weiter­schlug, bis der gan­ze Jun­ge zit­ter­te und sein Mund nur noch wim­mer­te …

Bark­hau­sen wur­de es nicht müde, sich die­se Bil­der im­mer wie­der vor­zu­stel­len. Da­bei streck­te er sich auf sei­nem Sofa und stöhn­te wol­lüs­tig.

Bei­nah kam ihm der Jun­ge, end­lich der Send­bo­te Kuno-Die­ters, stö­rend, der jetzt klopf­te. »Was ist?«, frag­te er kurz.

»Ich soll Sie zu Kuno brin­gen.«

Dies­mal war es ein großer Jun­ge von vier­zehn oder fünf­zehn Jah­ren in der HJ-Blu­se.

»Aber erst ge­ben Sie mir mal fünf Mark.«

»Fünf Mark!«, groll­te Bark­hau­sen und wag­te sich die­sem großen Ben­gel im brau­nen Hemd doch nicht of­fen zu wi­der­set­zen. »Fünf Mark! Ihr Jun­gens könnt ja fein mit mei­nem Gel­de rum­schmei­ßen!« Er such­te zwi­schen den Schei­nen.

Der große HJ-Jun­ge sah ge­spannt auf den Pa­cken Geld in der Hand des an­de­ren. »Ich hab Fahr­geld aus­ge­ge­ben«, sag­te er. »Und dann, was den­ken Sie, was ich für Zeit ver­säumt habe, ganz aus dem Wes­ten bis hier?«

»Und dei­ne Zeit kos­tet viel Geld, was?« Bark­hau­sen hat­te den rich­ti­gen Schein im­mer noch nicht ge­fun­den. »Und Wes­ten, das sagst du so, Wes­ten kann nie stim­men! Was bei dir wohl Wes­ten ist? Vi­el­leicht meinst du Stadt­mit­te, das könn­te noch eher pas­sen!«

»Na, wenn die Ans­ba­cher nicht im Wes­ten ist …«

Zu spät sah der Jun­ge, dass er sich ver­plap­pert hat­te. Bark­hau­sen hat­te die Schei­ne schon weg­ge­steckt. »Dan­ke!«, lach­te er spöt­tisch. »Du brauchst dei­ne teu­re Zeit nicht wei­ter zu ver­säu­men. Ich find jetzt schon al­lein. Am bes­ten fah­re ich wohl mit der Un­ter­grund­bahn zum Vik­to­ria-Lui­se-Platz, was?«

»Das ma­chen Sie nicht mit mir! So was wer­den Sie nicht mit mir ma­chen!«, sag­te der HJ-Ben­gel und trat mit ge­ball­ten Fäus­ten auf den Mann zu. Sei­ne dunklen Au­gen leuch­te­ten vor Zorn. »Ich habe Fahr­geld aus­ge­ge­ben, ich habe …«

»Du hast dei­ne kost­ba­re Zeit ver­säumt, weiß schon!«, lach­te Bark­hau­sen. »Hau ab, mein Sohn, Doof­heit hat im­mer Geld ge­kos­tet!« Plötz­lich fass­te ihn wie­der die Wut. »Was stehst du hier noch rum in mei­ner Stu­be? Willst du mich in mei­ner ei­ge­nen Stu­be ver­trim­men? Mach, dass du jetzt raus­kommst, oder ich lass dich dein ei­ge­nes Ge­schrei hö­ren!«

Er drän­gel­te roh den er­zürn­ten Jun­gen aus dem Zim­mer, schlug die Tür vor sei­ner Nase zu. Und den gan­zen Weg, bis sie aus der Un­ter­grund­bahn am Vik­to­ria-Lui­se-Platz stie­gen, hat­te er ab­wech­selnd spöt­ti­sche und zor­ni­ge Be­mer­kun­gen für die­sen Ben­gel, der nicht von sei­ner Sei­te wich, der aber – ob­wohl blass vor Zorn – doch nicht mehr mit ei­nem ein­zi­gen Wort auf alle sei­ne An­zap­fun­gen ein­ging.

Oben auf dem Vik­to­ria-Lui­se-Platz, aus dem Schacht der U-Bahn kom­mend, setz­te sich der Jun­ge plötz­lich in Trab und war dem Man­ne weit vor­aus. Bark­hau­sen muss­te sich ent­schlie­ßen, ihm so rasch, wie es nur ging, nach­zu­ei­len: All­zu lan­ge woll­te er die bei­den Ben­gels nicht mit­ein­an­der re­den las­sen. Er war sich nicht ganz si­cher, für wen sich Kuno-Die­ter ent­schei­den wür­de, für sei­nen Va­ter oder für die­se Sautöle.

Sie stan­den wirk­lich vor ei­nem Haus der Ans­ba­cher. Der HJ-Jun­ge re­de­te eif­rig auf Kuno-Die­ter ein, der mit ge­senk­tem Kopf ihn an­hör­te. Als Bark­hau­sen her­an­kam, zog sich der Bote zehn Schrit­te zu­rück und ließ die bei­den al­lein mit­ein­an­der re­den.

»Was denkst du dir ei­gent­lich, Kuno-Die­ter?«, fing Bark­hau­sen zor­nig an. »Dass du mir ewig sol­che Ker­le auf den Hals schickst, un­ver­schäm­te Bur­schen, die vor­ne­weg ihr Geld for­dern?«

»Ohne Jeld tut kee­ner wat, Vata«, ant­wor­te­te Kuno-Die­ter gleich­mü­tig. »Det weeß­te ja selbst. Und ick will ooch wis­sen, wat ick bei dem Je­schäft va­di­e­ne, ick hab Fahr­jeld aus­je­jem …«

»Im­mer die­sel­be Tour, dass euch aber gar nischt an­de­res ein­fällt! Nee, Kuno-Die­ter, jetzt sags­te dei­nem Va­ter erst mal or­dent­lich, was hier ei­gent­lich los ist in der Ans­ba­cher, und denn wirs­te ja sehn, wat dein Vata für dich tut. Dein Vata ist gar nicht so, nur Drän­geln, Drän­geln ver­trägt dein Va­ter nicht!«

»Nee, Vata«, sag­te Kuno-Die­ter wie­der. »Ick hab Angst, du va­jisst et nach­her mit dem Be­zahln – det Jeld na­tür­lich. Maul­schel­len wirs­te schon zum Be­zahln ha­ben. Du hast schon ’ne Mas­se Jeld in die­se Sa­che be­kom­men und wirst wohl noch mehr da­bei er­ben, denk ick. Ick ste­he hier nu schon den jan­zen Tag for dir rum, ohne Es­sen, da will ick ooch ma Jeld sehn. Ick habe je­dacht, fuff­zig Mark …«

»Fünf­zig Mark!« Es ver­schlug Bark­hau­sen fast die Luft, als er die­se un­ver­schäm­te For­de­rung hör­te. »Ick wer dir sa­ren, wat ick dir jebn wer­de. Ick wer dir fünf Mark jebn, jenau die fünf Mark, die der Lu­latsch da ha­ben woll­te, und dar­über wirs­te dir je­fäl­ligst noch freun! Ick bin nich so, aba …«

»Nee, Vata«, sag­te Kuno-Die­ter und sah aus sei­nen blau­en Au­gen Bark­hau­sen trot­zig an. »Du va­di­enst ’ne Stan­ge Jold bei det Je­schäft, ick mach nich die jan­ze Ar­beet und las­se mir mit fünf Mark ab­spei­sen, so blau, denn sar ick dir eben jar nischt!«

»Wat wills­te mir denn noch jroß er­zähln!«, lach­te Bark­hau­sen spöt­tisch. »Dass der Klee­ne in dem Haus da drin­steckt, det weeß ick nu ooch so. Und det and­re wer ick schon al­lee­ne raus­krie­gen. Nee, jeh man jetzt nach Hau­se und lass dir von Mut­ter wat zu es­sen jebn! Für janz dumm lässt sich dein Vata doch nich va­koofen! Ihr bei­den Hel­den!«

»Denn jeh ick da ruff«, sag­te Kuno-Die­ter ent­schlos­sen, »und sare dem Klee­nen, det de uff ihn passt. Denn vapfeif ick dir, Vata!«

»Du ver­damm­ter Rotz­jun­ge, du!«, schrie Bark­hau­sen und schlug nach dem Soh­ne.

Aber der lief schon, lief in den Ne­ben­ein­gang des Hau­ses hin­ein. Bark­hau­sen lief ihm nach, folg­te ihm über den Hof, und auf der un­ters­ten Trep­pe des Hin­ter­hau­ses hol­te er ihn ein. Er schlug ihn zu Bo­den und fing dann an, auf den Lie­gen­den, mit den Fü­ßen Sto­ßen­den ein­zu­prü­geln. Es war bei­na­he so, wie er es sich vor­her auf dem Sofa aus­ge­malt hat­te, nur Kuno-Die­ter schrie nicht, son­dern wehr­te sich mit ver­bis­se­ner Wut. Das stei­ger­te Bark­hau­sens Zorn noch. Mit vol­ler Über­le­gung schlug er dem Jun­gen ins Ge­sicht und trat mit den Fü­ßen nach sei­nem Bauch. »Dir Aas will ick det schon wei­sen!«, keuch­te er, und ein ro­ter Ne­bel schwamm vor sei­nen Au­gen.

Plötz­lich fühl­te er, wie ihn was von hin­ten pack­te, je­mand hielt sei­nen Arm fest. Et­was riss an dem einen, et­was an dem an­de­ren Bein. Er sah sich has­tig um: Es war die­ser Hit­ler­jun­ge, es war eine gan­ze Rot­te Ben­gels, Halb­star­ke, vier oder fünf Bur­schen, die sich da auf ihn ge­stürzt hat­ten. Er muss­te von Kuno-Die­ter ab­las­sen, er muss­te sich die­ser Ben­gels er­weh­ren, von de­nen er je­den Ein­zel­nen mit ei­ner Hand hät­te nie­der­schla­gen kön­nen, die aber in ih­rer Ge­samt­heit ihm höchst ge­fähr­lich wer­den konn­ten.