Die Hergesells fuhren mit dem Zuge von Erkner nach Berlin. Jawohl, es gab keine Trudel Baumann mehr, Karls andauernde Liebe hatte gesiegt, sie hatten geheiratet, und jetzt, im Jahre des Unheils 1942, war Trudel im fünften Monat schwanger.
Mit der Heirat hatten die beiden auch ihre Arbeit in der Uniformfabrik aufgegeben – nach dem bedrückenden Erlebnis mit Grigoleit und dem Säugling hatten sie sich dort nie mehr wohl gefühlt. Er arbeitete jetzt bei einer chemischen Fabrik in Erkner, während Trudel als Hausschneiderin ein paar Mark dazuverdiente. Mit leiser Scham dachten sie an die Zeit ihrer illegalen Betätigung zurück. Beide waren sie sich völlig klar darüber, dass sie versagt hatten; beide aber wussten sie jetzt auch, dass sie sich für eine derartige Tätigkeit, die eine völlige Zurückstellung des eigenen Ichs erforderte, nicht eigneten. Jetzt lebten sie nur noch für ihr häusliches Glück und genossen die Vorfreude auf das zu erwartende Kind.
Als sie Berlin verließen und nach Erkner hinauszogen, hatten sie gemeint, dort in völliger Ruhe, fern der Partei und ihren Forderungen, leben zu können. Wie viele Großstädter hatten sie sich dem sehr irrigen Glauben hingegeben, die Bespitzelung sei nur in Berlin so schlimm, auf dem Lande, in einer kleinen Stadt herrsche noch Anstand. Und wie viele Großstädter hatten sie erfahren müssen, dass grade das Denunziantentum, das Aushorchen und Bespitzeln, in einer kleinen Stadt noch zehnmal schlimmer war als in der Großstadt. In der Kleinstadt konnte man nie untertauchen in der Masse, jeder war klar übersichtlich, seine persönlichen Verhältnisse wurden rasch bekannt, Gesprächen mit Nachbarn war kaum aus dem Wege zu gehen, und wie solche Gespräche entstellt werden konnten, das hatten sie schon ein paarmal mit Kummer erfahren müssen.
Da sie beide der Partei nicht angehörten, da sie beide sich bei allen Sammlungen nur mit dem geringstmöglichen Betrage beteiligten, da sie beide die Neigung zeigten, ganz allein für sich statt für die Gemeinschaft zu leben, da sie beide lieber lasen, als dass sie in eine Versammlung gingen, da Hergesell mit seinen dunklen, langen, immer verwirrten Haaren und seinen glühenden schwarzen Augen wie ein richtiger Sozialist und Pazifist aussah (nach Ansicht der Pgs)1 da Trudel in einer leichtsinnigen Minute einmal gesagt hatte, die Juden könnten einem auch leidtun – galten sie in kurzer Zeit für politisch verdächtig, und jeder ihrer Schritte wurde überwacht, jedes ihrer Worte überbracht.
Hergesells litten unter der Atmosphäre von Hass, in der sie in Erkner leben mussten, sehr stark. Aber sie redeten sich ein, dass sie sich nichts daraus machten und dass ihnen nichts passieren könnte, da sie ja gegen diesen Staat nichts taten. »Die Gedanken sind frei«, sagten sie, aber eigentlich hätten sie wissen müssen, dass in diesem Staat nicht einmal die Gedanken frei waren.
So flüchteten sie immer stärker in ihr Liebesglück. Sie waren wie zwei Liebende, die sich in einer Sturmflut, in den Wogen, im Zusammenbruch der Häuser, zwischen ertrinkendem Vieh, aneinandergeklammert haben und glauben, kraft ihrer Gemeinsamkeit, ihrer Liebe dem allgemeinen Untergang entgehen zu können. Sie hatten noch nicht begriffen, dass es in diesem Kriegs-Deutschland ein privates Leben überhaupt nicht mehr gab. Kein Sichzurückziehen rettete davor, dass jeder Deutsche zur Allgemeinheit der Deutschen gehörte und das deutsche Schicksal miterleiden musste – so wie ja auch die immer zahlreicher werdenden Bomben wahllos auf Gerechte wie Ungerechte fielen.
Auf dem Alexanderplatz trennten sich die Hergesells. Sie hatte eine Schneiderarbeit in der Kleinen Alexanderstraße abzuliefern, während er einen zum Tausch inserierten Kinderwagen besichtigen wollte. Sie verabredeten, sich um die Mittagsstunde wieder auf dem Bahnhof zu treffen, und jedes ging seinen Weg. Trudel Hergesell, der, nach anfänglichen Beschwerden, jetzt im fünften Monat die Schwangerschaft nur ein nie gekanntes Gefühl von Stärke, Selbstvertrauen und Glück verliehen hatte, kam rasch in die Kleine Alexanderstraße und trat in das Treppenhaus.
Vor ihr stieg ein Mann die Treppe hinauf. Sie sah ihn nur von hinten, aber sie erkannte ihn sofort an der charakteristischen Kopfhaltung, dem steifen Nacken, an der langen Gestalt, an den hochgezogenen Schultern: es war Otto Quangel, der Vater ihres früheren Verlobten, jener Mann, dem sie einmal das Geheimnis ihrer illegalen Organisation verraten hatte.
Unwillkürlich hielt sie sich zurück. Es war klar, dass Quangel von ihrer Anwesenheit noch nichts gemerkt hatte. Er stieg ohne Hast, aber gleichmäßig schnell die Treppen hoch. Sie folgte ihm mit einer halben Treppe Abstand, immer bereit, sofort stehenzubleiben, sobald Quangel an einer der vielen Türen dieses Bürohauses klingelte.
Aber er klingelte nicht, sondern sie sah, wie er an einem Treppenfenster stehenblieb, eine Karte aus der Tasche zog und sie auf der Fensterbank niederlegte. Als er so tat, begegnete sein Blick dem der Beobachterin. Aber ob Quangel sie nun erkannt hatte oder nicht, war ihm nicht anzumerken, er ging an ihr vorbei, die Treppe hinunter, ohne sie anzusehen.
Kaum war er etwas tiefer, eilte sie zu dem Fenster und nahm die Karte in ihre Hand. Sie las nur die ersten Worte: »Habt ihr noch immer nicht begriffen, dass der Führer euch schändlich belogen hat, als er sagte, Russland habe zu einem Überfall auf Deutschland gerüstet?«
Dann lief sie Quangel nach.
Sie erreichte ihn, als er das Gebäude verließ, sie drängte sich an seine Seite und sagte: »Hast du mich eben nicht erkannt, Vater? Ich bin’s doch, die Trudel, Ottochens Trudel!«
Er drehte ihr den Kopf zu, der ihr noch nie so vogelhaft hart und böse vorgekommen war wie in diesem Augenblick. Einen Moment glaubte sie, er werde sie nicht wiedererkennen wollen, aber dann nickte er kurz und sagte: »Siehst wohl aus, Mädel!«
»Ja«, sagte sie, und ihre Augen strahlten. »Ich fühle mich auch so kräftig und glücklich wie noch nie. Ich erwarte ein Kindchen. Ich habe mich verheiratet. Bist nicht böse, Vater?«
»Warum soll ich dir böse sein? Wegen des Verheiratetseins? Sei nicht albern, Trudel, du bist jung, und Ottochen ist bald zwei Jahre tot. Nein, nicht einmal die Anna würde dir das Heiraten übelgenommen haben, und die denkt doch noch jeden Tag an ihr Ottochen.«
»Wie geht’s denn der Mutter?«
»Wie immer, Trudel, ganz wie immer. Bei uns alten Leuten ändert sich nichts mehr.«
»Doch!«, sagte sie und blieb stehen. »Doch!« Ihr Gesicht war jetzt sehr ernst geworden. »Doch, es hat sich viel bei euch geändert. Erinnerst du dich, wie wir einmal im Gang der Uniformfabrik standen, unter den Plakaten von den Hinrichtungen? Da hast du mich gewarnt …«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Trudel. Ein alter Mann vergisst vieles.«
»Heute warne ich dich, Vater«, fuhr sie leise, aber umso eindringlicher fort. »Ich habe dich gesehen, wie du die Karte im Treppenhaus hingelegt hast, diese schreckliche Karte, die jetzt in meiner Handtasche steckt.«
Er sah sie unverwandt an mit seinem kalten Auge, das jetzt böse zu leuchten schien.
Sie flüsterte: »Vater, es geht um deinen Kopf. Wie ich können dich andere beobachtet haben. Weiß die Mutter davon, dass du so was tust? Tust du es öfters?«
Er schwieg so lange, dass sie schon meinte, er wolle ihr gar nicht antworten. Aber dann sagte er: »Du weißt doch, Trudel, ich tu nichts ohne die Mutter.«
»Oh!«, stöhnte sie, und Tränen traten in ihre Augen. »Das habe ich gefürchtet. Du reißt auch Mutter herein.«
»Mutter hat ihren Sohn verloren. Das hat sie noch nicht verschmerzt – vergiss das nicht, Trudel!«
Ihre Wangen färbten sich rot, als habe er ihr einen Vorwurf gemacht. »Ich glaub nicht«, murmelte sie, »dass Ottochen einverstanden wäre, wenn er seine Mutter bei so was sähe.«
»Jeder geht seinen Weg, Trudel«, antwortete Otto Quangel kalt. »Du deinen, wir unsern. Ja, wir gehen unsern Weg.« Er warf den Kopf ruckartig zurück und wieder vor, es war, als hackte der Vogel. »Und jetzt müssen wir uns trennen. Mach es gut, Trudel, mit deinem Kindchen. Ich werde die Mutter grüßen von dir – vielleicht.«
Er war schon gegangen.
Dann kam er noch einmal zurück. »Die Karte da«, sagte er, »die behältst du nicht in der Tasche, verstehst du? Die legst du irgendwohin, wie ich es gemacht habe. Und deinem Mann sagst du kein Wort davon, versprichst du mir das, Trudel?«
Sie nickte leise, sie sah ihn nur angstvoll an.
»Und dann vergisst du uns. Du vergisst alles von den Quangels; wenn du mich wieder einmal siehst, kennst du mich nicht, verstanden?«
Wieder konnte sie nur nicken.
»Also, mach’s gut«, sagte er noch einmal und war nun wirklich gegangen, und sie hätte ihm doch noch so viel zu sagen gehabt.
Als Trudel die Karte Otto Quangels ablegte, empfand sie alle Ängste eines Verbrechers, der fürchtet, ertappt zu werden. Sie hatte sich nicht entschließen können, die Karte weiterzulesen. Tragisches Schicksal auch dieser Karte Otto Quangels, von einem befreundeten Menschen aufgefunden, auch sie verfehlte ihre Wirkung. Auch sie war umsonst geschrieben, auch bei ihr hatte die Empfängerin nur den einen Wunsch, sie möglichst schnell wieder loszuwerden.
Als Trudel die Karte auf genau dem gleichen Fensterbrett abgelegt hatte, wo es Otto Quangel getan (es wäre ihr überhaupt nicht der Gedanke gekommen, dass ein anderer Platz dafür in Frage kam), eilte sie rasch die letzten Stufen hinauf und klingelte bei jenem Anwaltsbüro, für dessen Sekretärin sie ein Kleid gearbeitet hatte – aus einem in Frankreich gestohlenen Stoff, der von einem Freunde beim SD2 der Sekretärin geschickt worden war.
Beim Anprobieren wurde der Trudel heiß und kalt, plötzlich war ihr schwarz vor den Augen. Sie musste sich im Zimmer des Anwalts – er war auf einem Termin – hinlegen und später einen Kaffee trinken, richtigen, guten Bohnenkaffee (in Holland von einem anderen Freunde bei der SS gestohlen).
Aber während das gesamte Büropersonal sich rührend um sie bemühte – ihr Zustand war unschwer zu erkennen, weil sie die ganze Last »vorne« trug –, währenddem dachte Trudel Hergesell: Er hat recht, ich darf Karl nie etwas davon sagen. Wenn es nur dem Kindchen nichts schadet, es hat mich doch schrecklich aufgeregt. Ach, Vater sollte so etwas nicht machen! Denkt er denn gar nicht daran, in wie viel Not und Angst er die Leute damit stürzt? Das Leben ist doch so schon schwer genug!
Als sie endlich wieder die Treppen hinabstieg, war die Karte verschwunden. Sie atmete erleichtert auf, aber diese Erleichterung hielt nicht an. Sondern sie konnte es nicht lassen, sie musste darüber nachdenken, wer jetzt wohl die Karte gefunden haben mochte, ob der auch solchen Schreck wie sie darüber bekommen hatte, was er mit der Karte anfing. Immerzu kreisten ihre Gedanken darum.
So leicht ging sie nicht wieder zum Alexanderplatz zurück, wie sie hergegangen war. Sie hatte eigentlich noch einige Besorgungen machen wollen, aber sie fühlte sich dazu nicht imstande. Sie setzte sich ganz still in den Wartesaal und hoffte nur, dass Karl bald kommen möge. Wenn erst Karl da war, würde der Schreck, der ihr immer noch in den Gliedern saß, vergehen – auch wenn sie ihm nichts sagte. Schon sein Da-Sein würde das bewirken …
Sie lächelte und schloss die Augen.
Guter Karl! dachte sie. Mein einziger …!
Sie schlief ein.
1 Parteigenossen, Mitglied der NSDAP <<<
2 Der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS war ein Teil des nationalsozialistischen Machtapparates in der Zeit des Nationalsozialismus im Deutschen Reich und während des Krieges im besetzten Europa. <<<
Karl Hergesell hatte das Tauschgeschäft mit dem Kinderwagen nicht machen können, nein, er hatte sich lebhaft darüber geärgert. Der Kinderwagen war zwanzig, fünfundzwanzig Jahre alt, ein vorsintflutliches Modell, vermutlich hatte Noah seinen Jüngsten damit in die Arche geschoben. Und die alte Frau hatte dafür ein Pfund Butter und ein Pfund Speck verlangt. Mit einer unbegreiflichen Hartnäckigkeit war sie dabei geblieben, dass »ihr da auf dem Lande doch alles habt! Ihr sitzt doch mittendrin in den Fettigkeiten!«
Es war eine glatte Unverschämtheit, was die Leute einem alles zumuteten. Dagegen versicherte Hergesell, dass Erkner alles andere als Land sei und dass sie dort nicht ein einziges Gramm Fett mehr bekämen als in Berlin. Er sei außerdem ein einfacher Arbeiter und nicht in der Lage, Hamsterpreise zu zahlen.
»Ja, glauben Sie denn«, hatte die Frau gesagt, »ich würde mich von so ’nem Stück trennen, wo ich meine beiden Kinder drin liegen gehabt, wenn ich nicht was Schönes dafür kriege? Sie wollen mir wohl ein paar lumpige Mark auf den Tisch legen? Nee, danke, lieber Herr, für so was müssen Sie sich eine Dümmere suchen!«
Hergesell, der den Wagen um fünfzig Mark nicht genommen hätte, dieses hochrädrige, in seinen Federn schwankende Biest, blieb dabei, es sei eine Unverschämtheit. Außerdem mache sie sich strafbar, es sei verboten, Fett im Austausch gegen Ware zu fordern.
»Strafbar!« Die alte Frau pfiff verächtlich durch die Nase. »Strafbar! Versuchen Sie es doch mal mit einer Anzeige, junger Mann! Mein Mann ist Hauptwachtmeister bei der Polizei, für uns gibt’s nichts Strafbares. Und nu machen Sie nur schnell, dass Sie aus meiner Wohnung kommen. Ich lasse mich nicht in meiner eigenen Wohnung anschreien! Ich zähle bis drei, und wenn Sie dann nicht raus sind, ist es Hausfriedensbruch, und ich zeige Sie an!«
Nun, Karl Hergesell hatte ihr noch ordentlich seine Meinung gesagt, ehe er gegangen war. Er hatte ihr genau auseinandergesetzt, was er von solchen Ausbeutern, die sich an der Notlage vieler Deutscher mästen wollten, dachte. Dann war er gegangen, aber er hatte sich immer noch weiter geärgert.
Und in diesen frischen Ärger war sein Zusammentreffen mit Grigoleit gefallen, mit einem Mann aus jener Zeit, da sie noch kämpften für eine bessere Zukunft.
»Na, Grigoleit«, hatte Hergesell gesagt, als die lange Gestalt mit der hohen, zurückfliehenden Stirn, beladen mit zwei Handkoffern und einer Aktentasche, ihm da in den Weg lief. »Na, Grigoleit, auch mal wieder in Berlin?« Er packte einen Handkoffer. »Donnerwetter, ist das Dings aber schwer! Du willst doch zum Alex? Da will ich auch hin, ich trag dir den Koffer solange.«
Grigoleit lächelte dünn. »Na schön, Hergesell, ist nett von dir. Ich sehe, du bist noch immer der alte, hilfreiche Genosse. Was machst du denn? Und was macht das kleine, hübsche Mädchen von damals – wie hieß sie doch?«
»Trudel – Trudel Baumann. Ich habe das kleine, hübsche Mädchen von damals übrigens geheiratet, und wir erwarten jetzt ein Kind.«
»Das war ja wohl nicht anders zu erwarten. Besten Glückwunsch.« Die veränderten Lebensumstände der Hergesells schienen Grigoleit nicht sonderlich zu interessieren – und für Karl Hergesell waren sie doch eine ständig sprudelnde Quelle immer neuen Glücks.
»Und was machst du, Hergesell?«, fragte Grigoleit weiter.
»Ich? Du meinst, was ich arbeite? Wieder als Elektrotechniker bei einer chemischen Fabrik in Erkner.«
»Nein, ich meine, was du wirklich tust, Hergesell – für unsere Zukunft.«
»Nichts, Grigoleit«, antwortete Hergesell und fühlte plötzlich so etwas wie Schuld. Er sagte erklärend: »Sieh mal, Grigoleit, wir sind jung verheiratet und leben nur für uns. Was geht uns die Welt draußen an, die mit ihrem Scheißkrieg? Jetzt sind wir glücklich, dass wir ein Kleines haben werden. Sieh mal, Grigoleit, das ist doch auch etwas. Wenn wir uns bemühen, anständig zu bleiben und unser Kind zu einem anständigen Menschen zu erziehen …«
»Wird euch verdammt schwerfallen in dieser Welt, die uns die braunen Herren zurichten! Na, lass man, Hergesell, von euch war nie was anderes zu erwarten. Ihr habt immer mehr mit dem Unterleib als mit dem Kopf gedacht!«
Hergesell lief vor Zorn rot an. Die Verachtung, mit der Grigoleit sprach, war nicht mehr zu überbieten. Und dabei schien er sich nicht einmal etwas Beleidigendes gedacht zu haben, denn er fuhr, ohne die Erregung des anderen zu bemerken, ganz gleichmütig fort: »Ich mach weiter, und der Säugling macht auch weiter. Nein, nicht hier in Berlin. Jetzt sitzen wir sehr viel weiter westlich, das heißt, ich sitze nie, ich bin dauernd unterwegs, gebe so eine Art Kurier ab …«
»Und versprecht ihr euch wirklich etwas davon? Ihr paar Männekens und diese Riesenmaschine …?«
»Erstens sind wir nicht nur ein paar Männekens. Jeder anständige Deutsche, und zwei, drei Millionen gibt’s von denen doch noch, wird mit uns mitmachen. Sie müssen nur erst mal mit ihrer Angst fertig werden. Jetzt ist ihre Angst vor der Zukunft, die uns die braunen Bonzen bescheren werden, noch kleiner als die Angst vor den Drohungen der Gegenwart. Aber das wird sich bald ändern. Eine Weile mag der Hitler noch siegen, aber dann kommen die Rückschläge, er siegt sich einfach tot. Und die Fliegerangriffe werden auch immer massiver werden …«
»Und zweitens?«, fragte Hergesell, den diese Kriegsprognosen, in die sich Grigoleit verlor, herzlich langweilten. »Zweitens …«
»Zweitens, mein lieber Spitz, solltest du wissen, dass es gar nicht darauf ankommt, dass man zu wenigen gegen viele kämpft. Sondern, wenn man erst einmal eine Sache für wahrhaftig erkannt hat, so muss man eben für sie kämpfen. Ob du den Erfolg erlebst oder derjenige, der an deine Stelle getreten ist, das ist ganz egal. Ich kann nicht die Hände in den Schoß legen und sagen: Die sind zwar Schweine, aber was geht es mich an?«
»Ja«, sagte Hergesell. »Aber du bist auch nicht verheiratet, hast nicht für Frau und Kind zu sorgen …«
»Oh, verdammt noch mal!«, schrie Grigoleit angewidert. »Höre auf mit diesem verdammten sentimentalen Geschwätz! Du glaubst ja selbst kein Wort von dem, was du brabbelst! Frau und Kind! Ja, du Idiot, fällt dir gar nicht ein, dass ich schon zwanzigmal hätte verheiratet sein können, wenn es mir darauf angekommen wäre, eine Familie zu gründen?! Aber ich mache so etwas nicht. Ich sage mir, ich habe erst das Recht, privatim glücklich zu sein, wenn Raum für ein solches Glück auf dieser Erde ist!«
»Wir sind sehr weit auseinandergekommen!«, murmelte Karl Hergesell halb gelangweilt, halb bedrückt. »Ich nehm keinem was dadurch, dass ich glücklich bin.«
»Doch, du stiehlst! Du stiehlst Müttern ihre Söhne, Frauen ihre Männer, Mädchen ihren Freund, solange du duldest, dass die täglich zu Tausenden erschossen werden, und machst nicht einen Finger krumm, um dem Morden Einhalt zu tun. Das weißt du alles ganz gut, und ich frage mich, ob du nicht beinah schlimmer bist als jeder braun in der Wolle gefärbte Nazi. Die sind zu dumm, um zu wissen, was für ein Verbrechen sie begehen. Du aber weißt es und tust doch nichts dagegen! Ob du nicht schlimmer bist als die Nazis? Natürlich bist du schlimmer!«
»Gottlob sind wir hier am Bahnhof«, sagte Hergesell und setzte den schweren Koffer ab. »Ich brauch mich nicht länger von dir anpöbeln zu lassen. Wären wir noch weiter zusammen gewesen, du hättest entdeckt, dass nicht der Hitler, sondern ich, der Hergesell, eigentlich den ganzen Krieg angefangen hat.«
»Hast du auch! Im übertragenen Sinn natürlich. Wenn man es genau nimmt, hat deine Lauheit es erst möglich gemacht …«
Jetzt lachte Hergesell aber doch los, und auch der finstere Grigoleit verstieg sich zu einem Grinsen, als er in dieses lachende Gesicht sah.
»Na, lassen wir das also!«, sagte Grigoleit. »Wir werden uns nie verstehen.« Er strich mit der Hand über die hohe Stirn. »Aber eigentlich könntest du mir einen kleinen Gefallen tun, Hergesell.«
»Ja, gerne, Grigoleit.«
»Ich habe da diesen ollen schweren Koffer, den du eben geschleppt hast. In einer Stunde muss ich weiter nach Königsberg, dort brauch ich den Koffer gar nicht. Willst du ihn nicht solange bei dir in Verwahrung nehmen?«
»Ja, weißt du, Grigoleit«, meinte Hergesell und sah den schweren Koffer mit Abneigung an. »Ich habe dir ja schon gesagt, ich wohne jetzt in Erkner draußen. Das gibt eine ziemliche Schlepperei bis dahin. Warum gibst du den Koffer nicht einfach hier auf der Gepäckaufbewahrung auf?«
»Ja, warum? Warum ist die Banane krumm? Weil ich den Brüdern hier nicht traue. Ich habe alle meine Wäsche und die Schuhe und die besten Anzüge darin. Und hier wird so viel geklaut. Und außerdem die Bomben, die Tommys schmeißen doch besonders gern auf die Bahnhöfe – dann bin ich all mein Hab und Gut los.«
Er drängte: »Also sag schon ja, Hergesell!«
»Na, meinetwegen. Meiner Frau wird’s nicht recht sein. Aber weil du es bist. Aber weißt du, Grigoleit, ich möchte meiner Frau lieber gar nicht sagen, dass ich dich getroffen hab. Das regt sie auf, und das ist ihr und dem Kind nicht gut bei ihrem jetzigen Zustand, weißt du?«
»Schön, schön. Mach das, wie du willst. Die Hauptsache, du bewahrst ihn mir gut auf. In ungefähr einer Woche komme ich vorbei und hole mir den schweren Brocken. Sag mir mal deine Adresse. Schön, schön! Also denn auf baldiges Wiedersehen, Hergesell!«
»Auf Wiedersehen, Grigoleit!«
Karl Hergesell trat in den Wartesaal, um sich nach Trudel umzusehen. Er fand sie in eine dunkle Ecke gedrückt, den Kopf an die Rücklehne der Bank gelegt, fest schlafend. Einen Augenblick sah er sie an. Ihr Atem ging sachte. Sachte hob und senkte sich die volle Brust. Der Mund war leicht geöffnet, aber das Gesicht war sehr blass. Es sah sorgenvoll aus, und auf der Stirn standen kleine helle Schweißtropfen, als habe sie sich sehr angestrengt.
Er sah nieder auf die Geliebte. Dann, mit einem plötzlichen Entschluss, fasste er den Koffer Grigoleits und ging mit ihm zur Gepäckaufbewahrung. Nein, für Karl Hergesell war es jetzt das Wichtigste auf der Welt, dass Trudel sich nicht trübe Gedanken machte und sich aufregte. Nahm er den Koffer nach Erkner mit, so musste er ihr von Grigoleit erzählen, und er wusste, dass jede Erinnerung an das »Todesurteil« damals sie sehr erregte.
Als Hergesell mit dem Gepäckaufbewahrungsschein in der Brieftasche zum Wartesaal zurückkommt, ist Trudel aufgewacht und malt sich grade das Mäulchen rot. Sie lächelt ihm, ein wenig blass, zu und fragt: »Was hast du dich denn eben mit so einem großmächtigen Koffer abgeschleppt? Da war bestimmt kein Kinderwagen drin, Karli!«
»Großmächtiger Koffer!«, tut er verwundert. »Ich habe doch keinen großmächtigen Koffer! Ich komme eben erst, und mit dem Kinderwagen war es Essig, Trudel.«
Sie sieht ihn staunend an. Ihr Mann belügt sie? Aber warum denn? Was hat er für Heimlichkeiten vor ihr? Sie hat ihn doch eben hier ganz deutlich hier am Tisch stehen sehen mit dem Koffer, und dann hat er kehrtgemacht und den Koffer aus dem Wartesaal geschleppt.
»Aber, Karli!«, sagt sie ein bisschen gekränkt. »Ich habe dich doch eben erst hier mit dem Koffer am Tisch stehen sehen!«
»Wie soll ich denn zu einem Koffer kommen?«, erwidert er ein bisschen gereizt. »Das hast du geträumt, Trudel!«
»Ich versteh nicht, warum du mich plötzlich anschwindelst! Das haben wir doch noch nie gemacht!«
»Ich schwindle dich nicht an, das verbitte ich mir!« Jetzt ist er ziemlich erregt, sein schlechtes Gewissen macht ihn so. Er besinnt sich und fährt etwas ruhiger fort: »Ich habe dir gesagt, ich bin eben erst gekommen. Von einem Koffer weiß ich nichts, das hast du geträumt, Trudel!«
»So, so«, sagt sie nur und sieht ihn unverwandt an. »So, so. Na schön, Karli. Dann habe ich eben geträumt. Reden wir nicht mehr davon.«
Sie senkt den Blick. Es schmerzt sie tief, dass er Heimlichkeiten vor ihr hat, und dieser Schmerz wird noch brennender dadurch, dass auch sie Heimlichkeiten vor ihm hat. Sie hat dem Otto Quangel versprochen, dass sie ihrem Mann nichts von dem Wiedersehen, geschweige denn von der Karte erzählen wird. Aber recht ist es nicht. Eheleute sollen keine Geheimnisse voreinander haben. Und nun hat auch er welche vor ihr.
Karl Hergesell schämt sich auch. Es ist schändlich, wie schamlos er die Geliebte belügt, und er hat sie sogar angeschnauzt, weil sie die Wahrheit sagt. Er kämpft mit sich, ob er ihr nicht doch lieber von dem Zusammentreffen mit Grigoleit berichtet. Aber er entscheidet: Nein, das würde sie noch mehr aufregen.
»Verzeih, Trudel«, sagt er und drückt rasch ihre Hand. »Verzeih, dass ich dich angeranzt habe. Aber ich habe mich so über die Geschichte mit dem Kinderwagen geärgert. Hör mal zu …«