Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Nein, nicht noch ein­mal wür­de er sich aus der be­harr­li­chen Ge­duld her­aus­lo­cken las­sen – auch nicht von höchs­ten Vor­ge­setz­ten. Was konn­te ihm viel ge­sche­hen? Sie brauch­ten ih­ren Esche­rich, für vie­le Din­ge war er ih­nen ein­fach un­er­setz­lich. Sie wür­den schimp­fen und to­ben, aber sie wür­den schließ­lich doch tun, was das ein­zig Rich­ti­ge war: ge­dul­dig war­ten. Nein, Esche­rich hat­te kei­ne Vor­schlä­ge zu ma­chen …

Es war eine denk­wür­di­ge Sit­zung. Dies­mal fand sie nicht in Esche­richs Zim­mer, sie fand im Saal un­ter dem Vor­sitz ei­nes der höchs­ten Füh­rer statt. Na­tür­lich wur­de nicht nur der Fall Kla­bau­ter­mann ver­han­delt, es wur­den auch vie­le Fäl­le aus an­de­ren Ab­tei­lun­gen be­spro­chen. Es wur­de ge­ta­delt, ge­brüllt, ver­ächt­lich ge­spot­tet. Und dann kam der nächs­te Fall.

»Kom­missar Esche­rich, wol­len Sie uns jetzt vor­tra­gen, was Sie uns über den Fall des Post­kar­ten­schrei­bers zu sa­gen ha­ben?«

Der Kom­missar woll­te es vor­tra­gen. Er gab einen klei­nen Be­richt über das Ge­sche­he­ne und das bis­her Er­mit­tel­te. Er mach­te das aus­ge­zeich­net, kurz, ge­nau, nicht ohne Witz, wo­bei er ge­dan­ken­voll sei­nen Schnurr­bart strei­chel­te.

Dann kam die Fra­ge des Vor­sit­zen­den: »Und was für Vor­schlä­ge ha­ben Sie nun zur Er­le­di­gung die­ses seit zwei Jah­ren an­ste­hen­den Fal­les zu ma­chen? Zwei Jah­re, Kom­missar Esche­rich!«

»Ich kann nur wei­ter ge­dul­di­ges War­ten emp­feh­len, et­was an­de­res gibt es nicht. Aber viel­leicht könn­te man den Fall Herrn Kri­mi­nal­rat Zott zur Nach­prü­fung über­ge­ben?«

Ei­nen Au­gen­blick herrsch­te To­ten­stil­le.

Dann brach hier und da spöt­ti­sches Ge­läch­ter aus. Eine Stim­me rief: »Drücke­ber­ger!«

Eine an­de­re: »Erst ver­pfu­schen, dann an­de­re da­mit be­las­ten!«

Ober­grup­pen­füh­rer Prall ließ don­nernd die Faust auf den Tisch fal­len: »Ich wer­de mit dir Schlit­ten fah­ren, du Aas!«

»Ich bit­te um voll­kom­me­ne Ruhe!«

Die Stim­me des Vor­sit­zen­den klang leicht an­ge­wi­dert. Es wur­de still.

»Wir ha­ben hier eben ein Ver­hal­ten er­lebt, mei­ne Her­ren, das fast ei­ner – Fah­nen­flucht gleich­zu­set­zen ist. Fei­ges Aus­rei­ßen vor den Schwie­rig­kei­ten, die je­der Kampf un­ver­meid­lich bringt. Ich be­dau­re das. Esche­rich, Sie sind von der wei­te­ren Teil­nah­me an die­ser Sit­zung ent­bun­den. War­ten Sie in Ihrem Dienst­zim­mer mei­ne Be­feh­le ab!«

Der Kom­missar, völ­lig fahl (denn nichts der Art hat­te er er­war­tet), ver­beug­te sich. Dann ging er zur Tür, dort knall­te er die Ab­sät­ze zu­sam­men und brüll­te mit aus­ge­streck­tem Arm: »Heil Hit­ler!«

Nie­mand be­ach­te­te ihn. Der Kom­missar ging auf sein Zim­mer.

Die ihm in Aus­sicht ge­stell­ten Be­feh­le er­schie­nen zu­erst in der Ge­stalt von zwei SS-Män­nern, die ihn fins­ter an­starr­ten und von de­nen der eine dann dro­hend sag­te: »Sie ha­ben hier nischt mehr an­zu­rüh­ren, ver­ste­hen Sie!«

Esche­rich wand­te den Kopf lang­sam zu dem Mann hin, der so mit ihm sprach. Das war ein neu­er Ton. Nicht, dass Esche­rich ihn noch nicht kann­te, aber ihm ge­gen­über war er noch nie an­ge­wen­det wor­den. Ein ein­fa­cher SS-Mann, der Kerl – es muss­te schlimm um Esche­rich ste­hen, wenn der einen sol­chen Ton dem Kom­missar ge­gen­über an­schlug.

Ein bru­ta­les Ge­sicht, ein­ge­drück­te Nase, stark ent­wi­ckel­te Kinn­par­tie, neigt zu Roh­heits­ak­ten, In­tel­li­genz man­gel­haft ent­wi­ckelt, in be­trun­ke­nem Zu­stan­de ge­fähr­lich, re­sü­mier­te Esche­rich. Wie hat­te das hohe Tier oben ge­sagt? Fah­nen­flucht? Lä­cher­lich! Kom­missar Esche­rich und fah­nen­flüch­tig! Aber das sah die­sen Brü­dern ähn­lich, im­mer hat­ten sie große Wor­te im Mund, und nach­her pas­sier­te gar nichts!

Ober­grup­pen­füh­rer Prall und Kri­mi­nal­rat Zott tra­ten ein.

Na also, ha­ben sie mei­nen Vor­schlag doch an­ge­nom­men! Das Ver­nünf­tigs­te, was sie tun konn­ten, trotz­dem ich nicht glau­be, dass selbst die­ser schlaue Tüf­tel­kopf et­was Neu­es aus dem Ma­te­ri­al her­aus­schin­den kann!

Esche­rich will gra­de den Kri­mi­nal­rat Zott freund­lich-freu­dig be­grü­ßen, schon um ihm zu zei­gen, dass er über die Ab­ga­be des Fal­les kein biss­chen ge­kränkt ist, da fühlt er sich von den bei­den SS-Leu­ten rau zur Sei­te ge­ris­sen, und der mit dem Tot­schlä­ger­ge­sicht schreit: »Mel­de SS-Män­ner Do­bat und Ja­co­by mit ei­nem Häft­ling!«

Häft­ling – der soll ich wohl sein?, denkt Esche­rich ver­wun­dert.

Und laut: »Herr Ober­grup­pen­füh­rer, darf ich noch sa­gen, dass …«

»Mach, dass das Aas die Schnau­ze hält!«, brüllt Prall, der wahr­schein­lich auch was auf den De­ckel ge­kriegt hat, wü­tend.

Der SS-Mann Do­bat schlägt Esche­rich mit der ge­ball­ten Faust ge­gen den Mund. Der fühlt einen wü­ten­den Schmerz, wi­der­lich war­men Blut­ge­schmack im Mun­de. Dann beugt er sich vorn­über und spuckt ein paar Zäh­ne auf den Tep­pich.

Und wäh­rend er das al­les tut, ganz me­cha­nisch tut, nicht ein­mal der Schmerz tut rich­tig weh, denkt er: Ich muss das so­fort auf­klä­ren. Na­tür­lich bin ich zu al­lem be­reit. Haus­su­chun­gen durch ganz Ber­lin. Spio­ne in je­dem Haus, wo meh­re­re Rechts­an­wäl­te und Ärz­te woh­nen. Ich tu al­les, was ihr wollt, aber ihr könnt mir hier doch nicht ein­fach in die Fres­se schla­gen, mir, ei­nem al­ten Kri­mi­nal­be­am­ten und In­ha­ber des Kriegs­ver­dienst­kreu­zes!

In­dem er fie­ber­haft so denkt, ganz me­cha­nisch von den Grif­fen der SS-Män­ner frei­zu­kom­men sucht und da­bei im­mer wie­der zum Spre­chen an­setzt – aber er kann doch we­gen der zer­ris­se­nen Ober­lip­pe und des blu­ten­den Mun­des gar nicht spre­chen –, wäh­rend­dem ist Ober­grup­pen­füh­rer Prall vor ihn ge­sprun­gen, hat ihn mit bei­den Hän­den vor der Brust ge­fasst und ge­schri­en: »Na, ha­ben wir dich end­lich so weit, dich hoch­nä­si­gen Klug­schei­ßer! Bist dir ja im­mer mäch­tig schlau vor­ge­kom­men, wenn du mir dei­ne scheiß­klu­gen Vor­trä­ge hieltst, was? Denkst du viel­leicht, ich hab das nicht ge­merkt, für wie dumm du mich hieltst, und du warst ober­schlau, he? Na, nun ha­ben wir dich, und nun wer­den wir mit dir Schlit­ten fah­ren, das sollst du er­le­ben!«

Ei­nen Au­gen­blick starr­te Prall, fast be­sin­nungs­los vor Zorn, den blu­ten­den Mann an.

Er schrie: »Spuckst mir hier den Tep­pich voll, mit dei­nem dre­cki­gen Hun­de­blut, was? Schluckst du das Blut run­ter, du Hund, oder ich schla­ge dir gleich sel­ber eins in die Schnau­ze!«

Und der Kom­missar Esche­rich – nein, das jäm­mer­li­che, angst­vol­le Männ­lein Esche­rich, das noch vor ei­ner Stun­de ein mäch­ti­ger Kom­missar der Ge­sta­po ge­we­sen war, müh­te sich, To­des­schweiß auf der Stirn, den wi­der­lich war­men Blutstrom hin­un­ter­zu­schlu­cken, nicht den Tep­pich zu be­schmut­zen, sei­nen ei­ge­nen, nein, jetzt den Tep­pich von Herrn Kri­mi­nal­rat Zott …

Mit gie­ri­gen Au­gen hat­te der Ober­grup­pen­füh­rer die­ses kläg­li­che Be­neh­men des Kom­missars be­ob­ach­tet. Nun wand­te er sich von Esche­rich mit ei­nem är­ger­li­chen »Ach was!« ab und frag­te den Kri­mi­nal­rat: »Brau­chen Sie den Mann noch zu ir­gend­ei­ner Auf­klä­rung, Herr Zott?«

Es war ein un­ge­schrie­be­nes Ge­setz, dass all die al­ten, zum Dienst bei der Ge­sta­po kom­man­dier­ten Kri­mi­na­lis­ten auf Ge­deih und Ver­derb zu­sam­men­hiel­ten, wie ja auch die SS un­ter­ein­an­der zu­sam­men­hielt – oft ge­gen die Kri­mi­nal­be­am­ten. Nie wäre es Esche­rich ein­ge­fal­len, einen auch noch so schuld­be­la­de­nen Kol­le­gen der SS aus­zu­lie­fern; er hät­te sich eher be­müht, vor de­nen auch die größ­te Schand­tat zu ver­ste­cken. Und nun muss­te er er­le­ben, wie der Kri­mi­nal­rat nach ei­nem kur­z­en Blick auf Esche­rich kalt sag­te: »Den Mann? Zu ei­ner Auf­klä­rung? Dan­ke, Herr Ober­grup­pen­füh­rer. Ich klä­re mich lie­ber selbst auf!«

»Ab­füh­ren den Mann«, schrie der Ober­grup­pen­füh­rer. »Und macht ihm ein biss­chen Bei­ne, Kerls!«

Und im Eil­tem­po wur­de zwi­schen den bei­den SS-Män­nern der Esche­rich den Gang ent­lang­ge­ris­sen, den­sel­ben Gang, den er vor rund ei­nem Jahr den Bark­hau­sen mit ei­nem Tritt hin­ab­ge­schickt hat­te, la­chend über den treff­li­chen Witz. Und über die­sel­ben Stein­trep­pen wur­de er hin­un­ter­ge­wor­fen, auf der­sel­ben Stel­le blieb er blu­tend lie­gen, auf der Bark­hau­sen blu­tend ge­le­gen hat­te. Wur­de mit Trit­ten hoch­ge­jagt, die Kel­ler­trep­pe zum Bun­ker hin­un­ter­ge­wor­fen …

Je­des Glied schmerz­te ihn, und dann kam es, Schlag auf Schlag: raus aus dem Zi­vil, rein in die Ze­brakluft, die scham­los of­fe­ne Ver­tei­lung sei­nes Be­sit­zes un­ter die SS-Män­ner. Und im­mer­zu Hie­be, Püf­fe, Dro­hun­gen …

Oh, ja­wohl, der Kom­missar Esche­rich hat­te das al­les oft in den letz­ten Jah­ren ge­se­hen, und er hat­te nichts Ver­wun­der­li­ches oder Ver­werf­li­ches dar­in ge­fun­den, denn so ge­sch­ah es ja Ver­bre­chern. Es ge­sch­ah so mit Recht. Aber dass er, der Kri­mi­nal­kom­missar Esche­rich, jetzt zu die­sen recht­lo­sen Ver­bre­chern zäh­len soll­te, das woll­te ihm nicht in den Kopf. Er hat­te nichts ver­bro­chen. Er hat­te nur den Vor­schlag ge­macht, eine Sa­che ab­ge­ben zu dür­fen, in der auch sei­ne sämt­li­chen Vor­ge­setz­ten nicht einen brauch­ba­ren Vor­schlag hat­ten ma­chen kön­nen. Es wür­de sich auf­klä­ren, sie muss­ten ihn wie­der ho­len! Sie ka­men ja ein­fach nicht ohne ihn aus! Und bis da­hin muss­te er Hal­tung be­wah­ren, er durf­te kei­ne Furcht zei­gen, nicht ein­mal sei­ne Schmer­zen durf­te er sich mer­ken las­sen.

Sie brach­ten gra­de noch einen in den Bun­ker. Ei­nen klei­nen Ta­schen­dieb, wie man gleich hör­te, der das Un­glück ge­habt hat­te, die Dame ei­nes ho­hen SA-Füh­rers be­klau­en zu wol­len, und der da­bei er­wi­scht wor­den war.

 

Jetzt brach­ten sie ihn her, sie hat­ten ihn wohl schon un­ter­wegs in der Ma­che ge­habt, ein wim­mern­des Ge­schöpf, das nach sei­nem Kot stank und das im­mer wie­der, auf den Kni­en rut­schend, die Bei­ne der SS-Män­ner um­schlang: sie möch­ten ihm doch um der hei­li­gen Ma­ria wil­len nichts tun! Sie möch­ten doch Gna­de an ihm üben – der lie­be Herr Je­sus wür­de es ih­nen ver­gel­ten!

Die SS-Män­ner mach­ten sich den Scherz, den Klei­nen, der ihre Bei­ne um­klam­mert hielt, im schöns­ten Bet­teln mit den Kni­en ins Ge­sicht zu sto­ßen. Dann wälz­te sich der klei­ne Ta­schen­dieb schrei­end auf der Erde – bis er wie­der in die har­ten Ge­sich­ter späh­te, in ei­nem den Schim­mer von Gna­de zu ent­de­cken glaub­te und von neu­em mit sei­nen An­ru­fun­gen be­gann …

Und mit die­sem Ge­würm, mit die­sem kot­stin­ken­den Feig­ling, wur­de der all­mäch­ti­ge Kom­missar Esche­rich in eine Zel­le ge­sperrt.

38. Die zweite Warnung

An ei­nem Sonn­tag­mor­gen sag­te Frau Anna et­was zag­haft: »Ich glau­be, Otto, wir müs­sen mal wie­der nach mei­nem Bru­der Ul­rich se­hen. Du weißt, wir sind dran. Wir ha­ben uns acht Wo­chen nicht mehr bei Heff­kes se­hen las­sen.«

Otto Quan­gel sah von sei­ner Schrei­be­rei hoch. »Schön, Anna«, sag­te er. »Dann also nächs­ten Sonn­tag. Ist’s recht?«

»Es wäre mir lie­ber, wenn du es die­sen Sonn­tag ein­rich­ten könn­test, Otto. Ich glau­be, sie er­war­ten uns.«

»De­nen ist doch ein Sonn­tag wie der an­de­re. Die ha­ben kei­ne Ex­tra­ar­beit wie wir, die Lei­se­tre­ter!«

Und er lach­te spöt­tisch.

»Aber Ul­rich hat am Frei­tag Ge­burts­tag ge­habt«, wand­te Frau Quan­gel ein. »Ich habe ihm einen klei­nen Ku­chen ge­ba­cken, den ich ihm gern brin­gen möch­te. Be­stimmt er­war­ten sie uns heu­te.«

»Ich möch­te heu­te ei­gent­lich au­ßer die­ser Kar­te noch einen Brief schrei­ben«, sag­te Quan­gel ver­dros­sen. »Ich habe es mir nun ein­mal so vor­ge­nom­men. Ich schmei­ße nicht gern mein Pro­gramm um.«

»Bit­te, Otto!«

»Kannst du nicht al­lein ge­hen, Anna, und de­nen sa­gen, ich habe mein Rei­ßen? Du hast das doch schon ein­mal ge­tan!«

»Gra­de, weil ich’s schon ein­mal ge­tan habe, möch­te ich’s nicht schon wie­der tun«, bat Anna. »Jetzt, wo er Ge­burts­tag hat …«

Quan­gel sah in das bit­ten­de Ge­sicht sei­ner Frau. Er woll­te ihr ger­ne den Ge­fal­len tun, aber der Ge­dan­ke, heu­te sei­ne Stu­be zu ver­las­sen, mach­te ihn miss­mu­tig.

»Wo ich heu­te den Brief schrei­ben woll­te, Anna! Der Brief ist wirk­lich wich­tig. Ich habe mir da was aus­ge­dacht … Er wird be­stimmt eine mäch­ti­ge Wir­kung tun. Und dann, Anna, ich ken­ne jetzt all eure Kin­der­ge­schich­ten, ich weiß sie aus­wen­dig. Es ist so lang­wei­lig bei Heff­kes. Ich hab nichts zu re­den mit ihm, und dei­ne Schwä­ge­rin sitzt auch im­mer bloß ein­ge­fro­ren da­bei. Wir hät­ten das nie mit der Ver­wandt­schaft an­fan­gen sol­len, Ver­wand­te sind ein Gräu­el. Wir bei­de sind voll­kom­men ge­nug!«

»Nun gut, Otto«, gab sie zum Teil nach, »so wol­len wir es heu­te un­sern letz­ten Be­such sein las­sen. Ich ver­sprech dir, dich nicht wie­der dar­um zu bit­ten. Aber nur heu­te, wo ich den Ku­chen ge­ba­cken habe und Ul­rich Ge­burts­tag fei­ert! Nur die­ses eine Mal noch! Bit­te, Otto!«

»Heu­te ist es mir gra­de be­son­ders zu­wi­der«, sag­te er.

Aber von ih­ren fle­hen­den Au­gen über­wun­den, brumm­te er schließ­lich doch: »Na schön, Anna, ich will mir’s über­le­gen. Wenn ich bis Mit­tag zwei Kar­ten schaf­fe …«

Er schaff­te bis Mit­tag zwei Kar­ten, und so gin­gen Quan­gels denn ge­gen drei Uhr aus der Woh­nung. Sie woll­ten mit der U-Bahn bis Nol­len­dorf­platz fah­ren, aber kurz vor der Bülow­stra­ße schlug Quan­gel sei­ner Frau vor, schon Bülow­stra­ße aus­zu­stei­gen, viel­leicht sei da et­was zu ma­chen.

Sie wuss­te, er hat­te die zwei Kar­ten in der Ta­sche, sie ver­stand ihn so­fort und nick­te.

Sie gin­gen ein Stück die Pots­da­mer Stra­ße hin­un­ter, ohne ein pas­sen­des Haus zu fin­den. Dann muss­ten sie rechts in die Win­ter­feldt­stra­ße ein­bie­gen, sonst wä­ren sie zu weit von der Woh­nung des Schwa­gers ab­ge­kom­men. Und wie­der such­ten sie.

»Das ist kei­ne so gute Ge­gend wie bei uns«, sag­te Quan­gel un­zu­frie­den.

»Und heu­te ist Sonn­tag«, setz­te sie hin­zu. »Sei bloß vor­sich­tig!«

»Ich bin schon vor­sich­tig«, er­wi­der­te er. Und: »Da wer­de ich rein­ge­hen!«

Schon, sie hat­te noch nichts sa­gen kön­nen, war er im Hau­se ver­schwun­den.

Für Anna be­gan­nen jetzt die Mi­nu­ten des War­tens, die­se im­mer neu qual­vol­len Mi­nu­ten, in de­nen sie Angst um Otto hat­te und doch nichts tun konn­te als war­ten.

O Gott! dach­te sie, das Haus be­trach­tend, das Haus sieht aber gar nicht gut aus! Wenn es nur glatt­geht! Ich hät­te ihm viel­leicht nicht so zu­re­den sol­len, heu­te hier­her­zu­fah­ren. Er woll­te doch durch­aus nicht, ich hab’s ihm ja an­ge­merkt. Und das war nicht nur we­gen des Brie­fes, den er schrei­ben woll­te. Wenn ihm heu­te was pas­siert, wer­de ich mir ewig Vor­wür­fe ma­chen! Da kommt Otto …

Aber es war nicht Otto, der aus dem Hau­se kam, es war eine Dame, die an Anna, sie scharf an­se­hend, vor­über­ging.

Hat die mich eben arg­wöh­nisch an­ge­se­hen? Es kam mir bei­nah so vor. Ist was im Hau­se pas­siert? Otto ist schon so lan­ge drin, si­cher zehn Mi­nu­ten! Ach was, das weiß ich doch von vie­len Ma­len: Wenn man so war­tend vor ei­nem Hau­se steht, kommt ei­nem die Zeit im­mer end­los vor. Gott­lob, da ist Otto wirk­lich!

Sie woll­te auf ihn zu­ge­hen – und sie blieb ste­hen.

Denn Otto war nicht al­lein aus dem Hau­se ge­kom­men, son­dern er war be­glei­tet von ei­nem sehr großen Herrn, der einen schwar­zen Man­tel mit Samt­kra­gen trug und des­sen eine Ge­sichts­hälf­te von ei­nem rie­si­gen, großen Feu­er­mal mit wuls­ti­gen Nar­ben ent­stellt war. In der Hand trug die­ser Herr eine di­cke schwar­ze Ak­ten­ta­sche. Ohne ein Wort mit­ein­an­der zu spre­chen, gin­gen die bei­den an Anna, der das Herz vor Schreck ste­hen­ge­blie­ben war, vor­über, in der Rich­tung auf den Win­ter­feldt­platz zu. Sie folg­te ih­nen mit fast ver­sa­gen­den Fü­ßen.

Was ist da schon wie­der pas­siert?, frag­te sie sich angst­voll. Was ist das für ein Herr, der mit Otto geht? Kann das ei­ner von der Ge­sta­po sein? Er sieht schreck­lich aus mit die­sem Feu­er­mal! Sie spre­chen kein Wort mit­ein­an­der – o Gott, hät­te ich Otto nur nicht zu­ge­re­det. Er tat, als kenn­te er mich nicht, es muss also Ge­fahr sein! Die­se un­se­li­ge Kar­te!

Plötz­lich hielt es Anna nicht mehr aus. Sie er­trug die qual­vol­le Un­ge­wiss­heit nicht län­ger. Mit ei­ner bei ihr ganz sel­te­nen Ent­schlos­sen­heit über­hol­te sie die bei­den Her­ren und blieb ste­hen. »Herr Berndt!«, rief sie und reich­te Otto die Hand. »Das ist gut, dass ich Sie tref­fe! Sie müs­sen so­fort zu uns kom­men. Wir ha­ben einen Rohr­bruch in der Was­ser­lei­tung, die gan­ze Kü­che schwimmt schon …« Sie brach ab, sie fand, der Herr mit dem Feu­er­mal sah sie sehr son­der­bar an, so spöt­tisch, so ver­ächt­lich.

Aber Otto sag­te: »Ich kom­me dann gleich zu Ih­nen. Ich will nur den Herrn Dok­tor zu mei­ner Frau brin­gen.«

»Ich kann auch al­lein vor­an­ge­hen«, sag­te der Mann mit dem Feu­er­mal. »Von-Ei­nem-Stra­ße 17, sag­ten Sie? Schön. Ich hof­fe, Sie kom­men bald nach.«

»In ei­ner Vier­tel­stun­de, Herr Dok­tor, spä­tes­tens in ei­ner Vier­tel­stun­de bin ich auch da. Ich wer­de erst mal nur den Haup­t­hahn ab­stel­len.«

Und zehn Schrit­te wei­ter press­te er den Arm An­nas mit ei­ner ganz un­ge­wohn­ten Zärt­lich­keit ge­gen sei­ne Brust. »Das hast du groß­ar­tig ge­macht, Anna! Ich wuss­te doch nicht, wie ich den Kerl los­wer­den soll­te! Wie bist du denn auf die Idee ge­kom­men?«

»Wer war das? Ein Arzt? Ich dach­te, es wäre ei­ner von der Ge­sta­po, und konn­te die Un­ge­wiss­heit nicht län­ger er­tra­gen. Geh lang­sa­mer, Otto, mir zit­tern jetzt alle Glie­der. Vor­hin habe ich nicht ge­zit­tert, aber jetzt! Was ist denn ge­sche­hen? Weiß er was?«

»Nichts. Sei ganz ru­hig. Er weiß gar nichts. Nichts ist ge­sche­hen, Anna. Aber seit heu­te früh, seit du mir ge­sagt hast, wir soll­ten zu dei­nem Bru­der ge­hen, bin ich ein schlech­tes Ge­fühl nicht los­ge­wor­den. Ich hab ge­dacht, es sei we­gen des Brie­fes, den ich mir doch ein­mal vor­ge­nom­men hat­te. Und we­gen der Lan­gen­wei­le bei den Heff­kes. Aber jetzt weiß ich, es war, weil ich im­mer das Ge­fühl hat­te, heu­te pas­siert noch was. Heu­te gehe ich lie­ber nicht aus dem Bau …«

»Es ist also doch was pas­siert, Otto?«

»Nein, gar nichts. Ich sag­te dir doch schon, dass nichts pas­siert ist, Anna. Ich kom­me also die Trep­pe hoch und will gra­de mei­ne Kar­te ab­le­gen, habe sie in der Hand, da kommt die­ser Mann aus sei­ner Woh­nung ge­rannt. Ich sage dir, Anna, er lief so, er hät­te mich fast über den Hau­fen ge­rannt. Ich hat­te kei­ne Zeit, die Kar­te wie­der weg­zu­ste­cken. ›Was ma­chen Sie denn hier im Haus?‹, rief er mich gleich an. Nun, du weißt ja, ich habe die An­ge­wohn­heit, mir im­mer den Na­men von je­mand im Hau­se nach den Schil­dern am Ein­gang zu mer­ken. ›Ich will zu Dr. Boll‹, sage ich. ›Der bin ich!‹, sagt er wie­der. ›Was ist? Ist je­mand krank zu Hau­se?‹ Nun, was blieb mir da wei­ter üb­rig, als zu schwin­deln? Ich sag­te ihm, du sei­est krank, und er sol­le doch bei uns vor­bei­kom­men. Gott­lob er­in­ner­te ich mich an den Na­men Von-Ei­nem-Stra­ße. Ich dach­te, er wür­de sa­gen, er kommt abends oder mor­gen Vor­mit­tag, aber er rief gleich: ›Passt groß­ar­tig! Liegt gra­de auf mei­nem Weg! Kom­men Sie mit, Herr Schmidt!‹ – Ich habe mich Schmidt ge­nannt, ver­stehst du, vie­le Leu­te hei­ßen ja wirk­lich Schmidt.«

»Ja, und ich habe dich vor ihm ›Herr Berndt‹ an­ge­re­det«, rief Anna er­schro­cken. »Das muss dem doch auf­ge­fal­len sein.«

Quan­gel blieb be­trof­fen ste­hen. »Wahr­haf­tig«, sag­te er, »dar­an habe ich noch gar nicht ge­dacht! Aber es scheint ihm doch nicht auf­ge­fal­len zu sein. Die Stra­ße ist leer. Kei­ner geht hin­ter uns her. In der Von-Ei­nem-Stra­ße wird er na­tür­lich um­sonst su­chen, aber dann sit­zen wir längst bei Heff­kes.«

Anna blieb ste­hen. »Weißt du, Otto«, sag­te sie, »jetzt bin ich es, die sagt: Ge­hen wir lie­ber heu­te nicht zu Ul­rich. Jetzt habe ich das Ge­fühl, es ist heu­te ein schlech­ter Tag. Lass uns nach Haus fah­ren. Die Kar­ten brin­ge ich mor­gen fort.«

Aber er schüt­tel­te lä­chelnd den Kopf. »Nein, nein, Anna, wo wir ein­mal so weit sind, wol­len wir den Be­such auch hin­ter uns brin­gen. Wir ha­ben doch aus­ge­macht, es soll un­ser letz­ter sein. Und au­ßer­dem möch­te ich nicht gra­de jetzt auf den Nol­len­dorf­platz ge­hen. Wo­mög­lich tref­fen wir wie­der den Arzt.«

»Dann gib mir we­nigs­tens die Kar­ten! Ich mag nicht, dass du jetzt mit die­sen Kar­ten in der Ta­sche her­um­läufst!«

Nach an­fäng­li­chem Wi­der­stre­ben hän­dig­te er ihr die bei­den Post­kar­ten aus.

»Es ist wirk­lich kein gu­ter Sonn­tag, Otto …«