Hans Fallada – Gesammelte Werke

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39. Die dritte Warnung

Aber dann bei den Heff­kes ver­ga­ßen sie ganz ihre schlim­men Vorah­nun­gen. Es zeig­te sich, dass sie dort wirk­lich er­war­tet wor­den wa­ren. Auch die dunkle, schweig­sa­me Schwä­ge­rin hat­te Ku­chen ge­ba­cken, und nach­dem die bei­den Ku­chen zum Mucke­fuck ge­ges­sen wa­ren, brach­te Ul­rich Heff­ke eine Fla­sche Schnaps zum Vor­schein, die ihm die Kol­le­gen im Be­trieb ge­schenkt hat­ten.

Sie tran­ken lang­sam und mit Ge­nuss in klei­nen Glä­sern das ih­nen al­len un­ge­wohn­te Ge­tränk, und es be­wirk­te, dass sie leb­haf­ter als sonst wur­den, ge­sprä­chi­ger. Schließ­lich – nun war die Fla­sche schon leer – fing der klei­ne Bu­ckel mit den sanf­ten Au­gen an zu sin­gen. Er sang Kir­chen­lie­der, Cho­rä­le: »Es kos­tet viel, ein Christ zu sein« und »Zeuch ein zu dei­nen To­ren, sei mei­nes Her­zens Gast« – durch alle drei­zehn Stro­phen.

Er sang sie in ei­nem ganz ho­hen Fal­sett, es klang klar und fromm, und so­gar Otto Quan­gel fühl­te sich in sei­ne Kin­der­ta­ge zu­rück­ver­setzt, als sol­che Lie­der ihm noch et­was be­deu­tet hat­ten, da er schlicht gläu­big ge­we­sen war. Da­mals war das Le­ben noch ein­fach ge­we­sen, er hat­te nicht nur an Gott ge­glaubt, son­dern auch an die Men­schen. Er hat­te ge­glaubt, dass Sprü­che wie »Lie­be dei­ne Fein­de« und »Ge­seg­net sei­en die Fried­fer­ti­gen«, dass sol­che Sprü­che auf der Erde Gül­tig­keit be­sa­ßen. Es war sehr an­ders seit­dem ge­wor­den und be­stimmt nicht bes­ser. An Gott konn­te nie­mand mehr glau­ben; es war un­mög­lich, dass ein gü­ti­ger Gott sol­che Schan­de, wie sie heu­te auf der Welt war, zuließ, und was die Men­schen an­ging, die­se Schwei­ne …

Der buck­li­ge Ul­rich Heff­ke sang ganz hoch und rein: »Du bist ein Mensch, das weißt du wohl, was strebst du denn nach Din­gen …«

Aber zum Abendes­sen zu blei­ben, lehn­ten Quan­gels schlicht­weg ab. Ja, es sei sehr schön ge­we­sen, aber nun müss­ten sie un­be­dingt nach Haus. Otto habe noch et­was zu er­le­di­gen. Und es gehe ja schon nicht we­gen der Le­bens­mit­tel­kar­ten, sie wüss­ten doch auch, wie das wäre. Al­len Ver­si­che­run­gen der Heff­kes zum Trotz, ein­mal gehe das schon, man feie­re ja nicht je­den Sonn­tag Ge­burts­tag und es sei wirk­lich al­les vor­be­rei­tet, sie soll­ten nur selbst in die Kü­che se­hen – all die­sen Ver­si­che­run­gen zum Trotz blie­ben die Quan­gels da­bei, sie müss­ten ge­hen.

Und sie gin­gen auch wirk­lich, ob­wohl die Heff­kes ent­schie­den ge­kränkt wa­ren.

Auf der Stra­ße sag­te Anna: »Hast du ge­se­hen, der Ul­rich ist ein­ge­schnappt und sei­ne Frau auch …«

»Lass sie ru­hig ein­ge­schnappt sein! Dies war ja so­wie­so un­ser letz­ter Be­such!«

»Aber es war dies­mal sehr nett, das fin­dest du doch auch, Otto?«

»Si­cher. Be­stimmt. Der Schnaps hat viel dazu ge­tan …«

»Und Ul­rich hat so schön ge­sun­gen – fan­dest du es nicht auch schön?«

»Ja, sehr schön. Ein ko­mi­scher Pe­ter. Ich bin si­cher, er be­tet je­den Abend im Bett noch zum lie­ben Gott.«

»Lass ihn doch, Otto! Sol­che From­men ha­ben es heut­zu­ta­ge leich­ter. Sie ha­ben doch einen, an den sie sich mit ih­ren Sor­gen wen­den kön­nen. Und sie glau­ben, dass all die­ses Mor­den einen Sinn hat.«

»Dan­ke!«, sag­te Quan­gel plötz­lich böse. »Sinn! Das ist doch al­les Un­sinn! Weil die an den Him­mel glau­ben, wol­len sie auf der Erde nichts än­dern. Im­mer nur krie­chen und sich drücken! Im Him­mel wird ja al­les wie­der gut. Gott weiß ja, warum es ge­schieht. Am Jüngs­ten Tag wer­den wir das al­les schon er­fah­ren! Nein, dan­ke.«

Quan­gel hat­te has­tig und sehr böse ge­spro­chen. Der un­ge­wohn­te Al­ko­hol tat sei­ne Wir­kung in ihm. Plötz­lich blieb Quan­gel ste­hen. »Das ist das Haus!«, sag­te er plötz­lich. »Da will ich rein! Gib mir eine Kar­te, Anna!«

»O nein, Otto. Tu das nicht! Wir hat­ten doch ab­ge­macht, heu­te woll­ten wir nichts mehr tun. Es ist doch ein schlech­ter Tag heu­te!«

»Nicht mehr, jetzt nicht mehr. Gib die Kar­te, Anna!«

Sie gab sie ihm zö­gernd. »Wenn es nur nicht schief­geht, Otto. Ich habe sol­che Angst …«

Aber er ach­te­te nicht auf ihre Wor­te, er war schon ge­gan­gen.

Sie war­te­te. Aber dies­mal brauch­te sie sich nicht lan­ge zu ängs­ti­gen, Otto kam schnell wie­der.

»So«, sag­te er und hak­te sie un­ter. »Das wäre er­le­digt. Siehst du, wie ein­fach das ging? Man soll auf die­se Vorah­nun­gen nichts ge­ben.«

»Gott­lob!«, sag­te Anna.

Aber sie hat­ten kaum die paar Schrit­te zum Nol­len­dorf­platz hin ge­macht, da stürz­te ein Herr auf sie zu. In der Hand hielt er die Quan­gel’­sche Kar­te.

»Sie! Sie!«, schrie er wahn­sin­nig auf­ge­regt. »Sie ha­ben da eben die­se Kar­te bei mir auf den Flur ge­legt! Ich hab Sie ge­nau ge­sehn! Genau ge­sehn! Po­li­zei! Hal­lo! Schutz­mann!«

Und er schrie im­mer lau­ter. Die Men­schen lie­fen um sie zu­sam­men, ein Schu­po kam ei­lig über den Damm.

Es war kein Zwei­fel: Das Spiel stand plötz­lich ge­gen die Quan­gels. Nach­dem der Werk­meis­ter über zwei Jah­re lang er­folg­reich ge­ar­bei­tet hat­te, war plötz­lich das Glück ge­gen ihn. Ein Mis­ser­folg nach dem an­de­ren. Hie­rin be­hielt der ehe­ma­li­ge Kom­missar Esche­rich recht: man kann nicht im­mer mit Glück spie­len, man muss auch das Un­glück ein­kal­ku­lie­ren. Das hat­te Otto Quan­gel ver­ges­sen. Er hat­te nie an all die klei­nen, wid­ri­gen Zu­fäl­le ge­dacht, die das Le­ben stets be­reithält, die man nicht vor­aus­se­hen kann und mit de­nen man doch rech­nen muss.

In die­sem Fall war der Zu­fall in der Ge­stalt ei­nes klei­nen, rach­süch­ti­gen Be­am­ten auf­ge­tre­ten, der sei­nen frei­en Sonn­tag dazu be­nutzt hat­te, die Mie­te­rin über ihm zu be­spit­zeln. Er hat­te einen Zorn auf sie, weil sie mor­gens lan­ge schlief, stets in Män­ner­ho­sen her­um­lief und abends bis lan­ge nach Mit­ter­nacht das Ra­dio lau­fen ließ. Er hat­te sie im Ver­dacht, »Ker­le« in ihre Woh­nung mit­zu­neh­men. Wenn das stimm­te, wür­de er sie im gan­zen Hau­se un­mög­lich ma­chen. Er wür­de zum Wirt ge­hen und ihm sa­gen, dass sol­che Nut­te un­mög­lich wei­ter in ei­nem an­stän­di­gen Hau­se woh­nen kön­ne.

Er hat­te schon über drei Stun­den ge­dul­dig hin­ter dem Guck­loch der Tür ge­lau­ert, als statt sei­ner Ober­mie­te­rin Otto Quan­gel die Trep­pe hin­auf­ge­kom­men war. Er hat­te ge­se­hen, mit sei­nen ei­ge­nen Au­gen hat­te er es ge­se­hen, wie Quan­gel die Kar­te auf ei­ner Trep­pen­stu­fe nie­der­leg­te – er tat das manch­mal, wenn die Trep­pen­fens­ter kei­ne Fens­ter­bän­ke hat­ten.

»Ich habe es ge­se­hen, mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen habe ich es ge­se­hen!«, schrie der Auf­ge­reg­te den Wacht­meis­ter an und schwenk­te die Kar­te. »Le­sen Sie hier bloß mal, Herr Wacht­meis­ter! Das ist ja Hoch­ver­rat! Der Kerl ge­hört an den Gal­gen!«

»Schrei­en Sie doch bloß nicht so!«, sag­te der Schu­po miss­bil­li­gend. »Sie se­hen doch, der an­de­re Herr ist ganz ru­hig. Der läuft schon nicht weg. Nun, war es so, wie der Herr sagt?«

»Blöd­sinn!«, ant­wor­te­te Otto Quan­gel böse. »Er hat mich ver­wech­selt. Ich habe eben mei­nen Schwa­ger zum Ge­burts­tag be­sucht, in der Goltz­stra­ße. Hier in der Maa­ßen­stra­ße habe ich kein Haus be­tre­ten. Fra­gen Sie mal mei­ne Frau …«

Er sah sich su­chend um. Eben dräng­te sich Anna wie­der durch den dich­ten Kreis der Neu­gie­ri­gen. Sie hat­te so­fort an die zwei­te Kar­te in ih­rer Hand­ta­sche ge­dacht. Sie muss­te sie auf der Stel­le los­wer­den, das war das Wich­tigs­te. Sie hat­te sich durch die Leu­te ge­scho­ben, hat­te einen Brief­kas­ten ge­se­hen und ganz un­auf­fäl­lig – alle sa­hen nur auf den schrei­en­den An­klä­ger – die Kar­te in den Kas­ten ge­steckt.

Nun stand sie wie­der bei ih­rem Mann und lä­chel­te ihm er­mu­ti­gend zu.

Der Schu­po hat­te un­ter­des die Kar­te ge­le­sen. Sehr ernst ge­wor­den, schob er sie un­ter den Är­me­lauf­schlag. Er wuss­te von die­sen Kar­ten; je­des Re­vier war nicht ein­mal, es war zehn­mal auf sie auf­merk­sam ge­macht wor­den. Die Ver­fol­gung auch der kleins­ten Spur war Pf­licht.

»Sie kom­men alle bei­de zur Wa­che mit!«, ent­schied er.

»Und ich?«, rief Anna Quan­gel em­pört und schob ih­ren Arm in den ih­res Man­nes. »Ich gehe auch mit! Ich las­se mei­nen Mann nicht al­lei­ne ge­hen!«

»Has­te recht, Mut­ta!«, sag­te eine tie­fe Stim­me aus dem Zuschau­er­kreis. »Bei die Brü­der weeß man nie – pass man uff uff den Ju­ten!«

»Ruhe!«, schrie der Wacht­meis­ter. »Ruhe! Zu­rück­tre­ten! Aus­ein­an­der­ge­hen! Hier gib­t’s gar nichts zu se­hen!«

Aber das Pub­li­kum war an­de­rer An­sicht, und der Schu­po, der ein­sah, dass er un­mög­lich auf drei Men­schen auf­pas­sen und eine Men­ge von an­nä­hernd fünf­zig Passan­ten zer­streu­en konn­te, gab es auf, die Leu­te zum Aus­ein­an­der­ge­hen auf­zu­for­dern.

»Ir­ren Sie sich wirk­lich nicht?«, frag­te er den auf­ge­reg­ten An­ge­ber. »War denn auch die Frau da­bei auf der Trep­pe?«

»Nein, die war nicht da­bei. Aber ich irre mich be­stimmt nicht, Herr Wacht­meis­ter!« Er fing wie­der an zu schrei­en. »Mit mei­nen ei­ge­nen Au­gen habe ich ihn ge­se­hen, schon drei Stun­den hat­te ich am Guck­loch in mei­ner Tür ge­ses­sen …«

Eine schril­le Stim­me rief miss­bil­li­gend: »So ein ver­damm­ter Acht­gro­schen­jun­ge!«

»Also kom­men Sie alle drei mit!«, ent­schied der Wacht­meis­ter. »Ge­hen Sie doch aus­ein­an­der! Sie se­hen doch, die Herr­schaf­ten wol­len durch­ge­hen! So ’ne blö­de Neu­gier­de! Ja, bit­te, da lang, mein Herr!«

Auf dem Re­vier muss­ten sie fünf Mi­nu­ten war­ten, ehe sie in das Zim­mer des Vor­ste­hers ge­ru­fen wur­den, ei­nes großen Man­nes mit ei­nem ge­bräun­ten, of­fe­nen Ge­sicht. Die Kar­te Quan­gels lag auf sei­nem Schreib­tisch.

 

Der An­klä­ger wie­der­hol­te sei­ne Be­schul­di­gun­gen.

Otto Quan­gel wi­der­sprach. Er hat­te nur sei­nen Schwa­ger in der Goltz­stra­ße be­sucht, nie hat­te er ein Haus in der Maa­ßen­stra­ße be­tre­ten. Er sprach ohne jede Er­re­gung, die­ser alte Werk­meis­ter, als der er sich auch aus­wies, er war ein auch dem Vor­ste­her wohl­tu­en­der Ge­gen­satz zu dem schrei­en­den, stets auf­ge­reg­ten, spu­cken­den An­klä­ger.

»Sa­gen Sie mal«, sag­te der Vor­ste­her lang­sam zu dem, »wie­so ha­ben Sie ei­gent­lich drei Stun­den hin­ter dem Guck­loch ge­stan­den? Sie konn­ten doch gar nicht wis­sen, dass je­mand mit sol­cher Kar­te kam. Oder?«

»Ach, da wohnt doch sol­che Nut­te in un­serm Haus, Herr Vor­ste­her! Läuft im­mer in Ho­sen rum, lässt die gan­ze Nacht das Ra­dio lau­fen – da woll­te ich auf­pas­sen, was die für Ker­le in die Woh­nung schleppt. Und da kam die­ser Mann …«

»Bin nie in dem Haus ge­we­sen«, wie­der­hol­te Quan­gel hart­nä­ckig.

»Wie soll denn mein Mann dazu kom­men, sol­che Sa­chen zu ma­chen? Glau­ben Sie, ich wür­de das zu­ge­ben?«, rief Anna da­zwi­schen. »Wo wir über fünf­und­zwan­zig Jah­re ver­hei­ra­tet sind, und nie hat was ge­gen mei­nen Mann vor­ge­le­gen!«

Der Vor­ste­her warf einen flüch­ti­gen Blick auf das star­re Vo­gel­ge­sicht. Zu­zu­trau­en ist dem schon al­ler­hand!, schoss es ihm flüch­tig durch den Kopf. Aber dass er sol­che Kar­ten schreibt?

Er wand­te sich dem An­klä­ger zu: »Wie hei­ßen Sie? Mil­lek? Sie sind doch ir­gend­was bei der Post, stimm­t’s?«

»Ober­post­se­kre­tär, Herr Vor­ste­her. Es stimmt.«

»Und Sie sind doch der Mil­lek, von dem wir in der Wo­che durch­schnitt­lich zwei An­zei­gen be­kom­men, dass die Kauf­leu­te schlecht wie­gen, dass am Don­ners­tag Tep­pi­che ge­klopft wor­den sind, dass je­mand sein Ge­schäft vor Ih­rer Tür ge­macht hat und so wei­ter und so wei­ter. Das sind Sie doch?«

»Die Men­schen sind ja so schlecht, Herr Vor­ste­her! Al­les tun sie mir zum Tort! Glau­ben Sie mir, Herr Vor­ste­her …«

»Und heu­te Nach­mit­tag ha­ben Sie also auf eine Frau auf­ge­passt, die Sie als Nut­te be­zeich­nen, und jetzt zei­gen Sie die­sen Herrn an …«

Herr Ober­post­se­kre­tär ver­si­cher­te, dass er nur sei­ne Pf­licht tue. Er habe die­sen Mann die Post­kar­te ab­le­gen se­hen, und da ihn ein Blick auf das Ge­schrie­be­ne be­lehr­te, dass hier Hoch­ver­rat vor­lie­ge, sei er dem Man­ne so­fort nach­ge­eilt.

»Soso!«, sag­te der Vor­ste­her. »Ei­nen Au­gen­blick mal …«

Er setz­te sich an sei­nen Schreib­tisch und tat, als lese er die Kar­te noch ein­mal, die er doch schon drei­mal ge­le­sen hat­te. Er dach­te nach. Er war der Über­zeu­gung, dass die­ser Quan­gel ein al­ter Ar­bei­ter war, des­sen An­ga­ben stimm­ten, der Mil­lek da­ge­gen ein Que­ru­lant, des­sen De­nun­zia­tio­nen sich noch nie be­wahr­hei­tet hat­ten. Am liebs­ten hät­te er die drei nach Haus ge­schickt.

Aber im­mer­hin war da die­se Kar­te ge­fun­den wor­den, dar­um war nicht her­um­zu­kom­men, und es lag nun ein­mal der stren­ge Be­fehl vor, auch der kleins­ten Spur nach­zu­ge­hen. Der Vor­ste­her woll­te sich kei­ne Läu­se in den Pelz set­zen. Sehr gut war er oben so­wie­so nicht an­ge­schrie­ben. Er war der Ge­fühls­du­se­lei ver­däch­tig, im Ge­hei­men soll­te er mit Aso­zia­len und Ju­den sym­pa­thi­sie­ren. Er muss­te sehr vor­sich­tig sein. Und im Grun­de, was ge­sch­ah die­ser Frau und die­sem Man­ne Übles, wenn er sie der Ge­sta­po übergab? Wa­ren sie un­schul­dig, wür­de man sie nach ein paar Stun­den wie­der lau­fen­las­sen; der falsche An­ge­ber aber wür­de eins aufs Dach be­kom­men we­gen der un­nüt­zen Ar­beit, die er ver­ur­sacht hat­te.

Er woll­te schon den Kom­missar Esche­rich an­ru­fen, da fiel ihm et­was ein. Er klin­gel­te und sag­te zu dem ein­tre­ten­den Schu­po: »Neh­men Sie die bei­den Her­ren mal nach vor­ne und fil­zen Sie sie gründ­lich durch. Pas­sen Sie aber auf, dass die Sa­chen nicht durch­ein­an­der­kom­men. Und dann schi­cken Sie mir einen Mann rein, ich wer­de mal hier die Frau durch­su­chen!«

Aber auch das Er­geb­nis die­ser Durch­su­chun­gen war frucht­los, es wur­de nichts Quan­gel Be­las­ten­des ge­fun­den. Anna Quan­gel dach­te mit ei­nem er­leich­ter­ten Au­fat­men an die Kar­te im Post­kas­ten. Otto Quan­gel, der von die­ser ei­li­gen, geis­tes­ge­gen­wär­ti­gen Ak­ti­on sei­ner Frau noch nichts wuss­te, dach­te: Die Anna ist aber tüch­tig. Wo sie bloß mit der Kar­te ge­blie­ben ist? Ich war doch im­mer an ih­rer Sei­te! Auch Quan­gels Pa­pie­re be­stä­tig­ten sei­ne sämt­li­chen An­ga­ben.

Da­ge­gen hat­te man in der Ta­sche des Mil­lek eine fer­ti­ge, an das Re­vier ge­rich­te­te An­zei­ge ge­fun­den ge­gen eine ge­wis­se Frau von Tres­sow, Maa­ßen­stra­ße 17 wohn­haft, die ih­ren bis­si­gen Hund trotz Lei­nen­zwangs frei her­um­lau­fen las­se. Schon zwei Mal habe der Hund den Ober­post­se­kre­tär bös­ar­tig an­ge­knurrt. Er fürch­te für sei­ne Ho­sen, die jetzt im Krie­ge un­er­setz­bar sei­en.

»Sie ha­ben Sor­gen, Mann!«, sag­te der Vor­ste­her. »Jetzt, im drit­ten Kriegs­jahr! Den­ken Sie, wir ha­ben nichts an­de­res zu tun? Wa­rum ge­hen Sie nicht ein­mal selbst an die Dame her­an und bit­ten sie höf­lich, den Hund an die Lei­ne zu neh­men?«

»So was tu ich nicht, Herr Vor­ste­her! Eine Dame in der Nacht auf der Stra­ße an­spre­chen – nein! Nach­her wer­de ich von ihr we­gen Un­sitt­lich­keit an­ge­zeigt!«

»Also, Wacht­meis­ter, brin­gen Sie die drei erst mal nach vor­ne. Ich möch­te jetzt te­le­fo­nie­ren.«

»Bin ich etwa auch ver­haf­tet?«, rief der Ober­post­se­kre­tär Mil­lek zor­nig. »Ich habe Ih­nen eine wich­ti­ge An­zei­ge ge­macht, und Sie ver­haf­ten mich! Ich wer­de eine An­zei­ge ma­chen!«

»Hat denn ein Mensch ein Wort von Ver­haf­ten ge­sagt? Wacht­meis­ter, neh­men Sie die drei mit nach vor­ne!«

»Sie ha­ben mir die Ta­schen wie bei ei­nem Ver­bre­cher aus­lee­ren las­sen!«, schrie der Ober­post­se­kre­tär wie­der. Da schlug die Tür hin­ter ihm zu.

Der Vor­ste­her nahm das Te­le­fon, wähl­te und mel­de­te sich. »Ich möch­te den Kom­missar Esche­rich spre­chen«, sag­te er. »We­gen der Post­kar­ten­ge­schich­te.«

»Kom­missar Esche­rich ist aus, ex, per­du!«, rief eine fre­che Stim­me in sein Ohr. »Kri­mi­nal­rat Zott be­ar­bei­tet jetzt die­sen Fall!«

»Dann ge­ben Sie mir Herrn Kri­mi­nal­rat Zott – falls er heu­te am Sonn­tagnach­mit­tag er­reich­bar ist.«

»Ach, der doch im­mer! Ich gebe Ih­nen den Kri­mi­nal­rat!«

»Hier Zott!«

»Hier Re­vier­vor­ste­her Kraus. Herr Kri­mi­nal­rat, bei uns ist eben ein Mann ein­ge­lie­fert wor­den, der mit die­ser Post­kar­ten­af­fä­re zu tun ha­ben soll – Sie sind im Bil­de?«

»Weiß schon! Der Fall Kla­bau­ter­mann. Was ist der Mann von Be­ruf?«

»Tisch­ler. Werk­meis­ter in ei­ner Mö­bel­fa­brik!«

»Dann ha­ben Sie den Fal­schen er­wi­scht! Der Rich­ti­ge ist bei der Stra­ßen­bahn! Las­sen Sie den Mann lau­fen, Vor­ste­her! Schluss!«

So ka­men Quan­gels wie­der auf frei­en Fuß, sehr zu ih­rer ei­ge­nen Über­ra­schung, denn mit ein paar gründ­li­chen Ver­hö­ren und ei­ner Haus­su­chung hat­ten sie doch ge­rech­net.

40. Der Herr Kriminalrat Zott

Der Herr Kri­mi­nal­rat Zott, mit Spitz­bart und Spitz­bauch, ein Männ­chen wie aus ei­ner Ge­schich­te des Ernst Theo­dor Ama­de­us Hoff­mann, ein Ge­schöpf, wie zu­sam­men­ge­baut aus Pa­pier, Ak­ten­staub, Tin­te und viel Scharf­sinn, war in frü­he­ren Zei­ten eine recht lä­cher­li­che Fi­gur un­ter den Kri­mi­na­lis­ten Ber­lins ge­we­sen. Er ver­schmäh­te die üb­li­chen Metho­den, er mach­te fast nie eine Ver­neh­mung, und der An­blick ei­nes Er­mor­de­ten mach­te ihn krank.

Am liebs­ten saß er über den Ak­ten der an­de­ren, ver­glich, schlug nach, mach­te sei­ten­lan­ge Ex­zerp­te – und sein Ste­cken­pferd war es, sich über al­les Ta­bel­len an­zu­le­gen, end­lo­se, mi­nu­ti­ös durch­dach­te Ta­bel­len, aus de­nen er sei­ne scharf­sin­ni­gen Schlüs­se zog. Da Kri­mi­nal­rat Zott mit sei­ner Metho­de, nur sei­nen Kopf ar­bei­ten zu las­sen, ei­ni­ge über­ra­schen­de Er­fol­ge er­zielt hat­te in Fäl­len, die ganz ohne Hoff­nung schie­nen, hat­te man sich dar­an ge­wöhnt, ihm alle aus­sichts­lo­sen Sa­chen zu­zu­schan­zen – wenn Zott nichts her­aus­hol­te, fand kei­ner was.

An sich war also der Vor­schlag Kom­missar Esche­richs, den Fall Kla­bau­ter­mann an den Kri­mi­nal­rat Zott ab­zu­ge­ben, gar nicht so un­ge­wöhn­lich ge­we­sen. Nur hät­te Esche­rich die­sen Vor­schlag eben von sei­nen Vor­ge­setz­ten aus­ge­hen las­sen müs­sen, von ihm ge­macht, war er ein­fach eine Frech­heit, nein, Feig­heit vor dem Fein­de, Fah­nen­flucht …

Kri­mi­nal­rat Zott hat­te sich drei Tage lang mit den Ak­ten Kla­bau­ter­mann ein­ge­schlos­sen und dann erst den Ober­grup­pen­füh­rer um eine Un­ter­re­dung ge­be­ten. Der Ober­grup­pen­füh­rer, be­gie­rig, die­sen Fall end­lich er­le­digt zu se­hen, war gleich zu Zott ge­kom­men.

»Nun, Herr Kri­mi­nal­rat, was ha­ben Sie ol­ler Sher­lock Hol­mes denn nun wie­der aus­ge­schnüf­felt? Ich bin über­zeugt, Sie ha­ben den Mann schon beim Wi­ckel. Die­ser Esel von Esche­rich …«

Und nun folg­te eine lan­ge Schimpf­ka­no­na­de auf den Esche­rich, der al­les ver­bockt hat­te. Der Kri­mi­nal­rat Zott hör­te sie, ohne eine Mie­ne zu ver­zie­hen, an, nicht ein­mal durch Ni­cken oder Kopf­schüt­teln tat er sei­ne ei­ge­ne Mei­nung kund.

Als das Feu­er end­lich ver­raucht war, sag­te Zott: »Herr Ober­grup­pen­füh­rer, da ha­ben wir also die­sen Kar­ten­schrei­ber, einen ein­fa­chen, ziem­lich un­ge­bil­de­ten Mann, der in sei­nem Le­ben nicht viel ge­schrie­ben hat und dem es auch ziem­lich schwer­fällt, sich schrift­lich aus­zu­drücken. Er muss Jung­ge­sel­le oder Wit­wer sein und ganz al­lein in sei­ner Woh­nung le­ben, sonst hät­te ihn in die­sen zwei Jah­ren schon längst ein­mal sei­ne Frau oder Wir­tin beim Schrei­ben er­tappt, und es wäre et­was laut ge­wor­den. Dass nie et­was über sei­ne Per­son laut ge­wor­den ist, trotz­dem, wie an­zu­neh­men, in der Ge­gend nörd­lich vom Alex­an­der­platz viel über die­se Kar­ten ge­schwatzt wird, das be­weist, dass ihn nie je­mand beim Schrei­ben ge­se­hen hat. Er muss ab­so­lut al­lein le­ben. Er muss ein äl­te­rer Mann sein – ei­nem jün­ge­ren wäre die­ses Schrei­ben ohne sicht­ba­re Wir­kung längst über ge­wor­den, und er hät­te längst was an­de­res an­ge­fan­gen. Auch be­sitzt er kei­nen Ra­dio­ap­pa­rat …«

»Schön, schön, Herr Kri­mi­nal­rat!«, un­ter­brach ihn der Ober­grup­pen­füh­rer Prall un­ge­dul­dig. »Das al­les hat mir ge­nau mit den glei­chen Wor­ten schon längst die­ser Idi­ot, der Esche­rich, er­zählt. Was ich brau­che, sind neue Aus­wer­tun­gen, Er­geb­nis­se, die mir die In­haft­nah­me die­ses Bur­schen er­mög­li­chen. Ich sehe, Sie ha­ben da eine Ta­bel­le. Was ist mit die­ser Ta­bel­le?«

»Ich habe da eine Ta­bel­le«, ant­wor­te­te der Kri­mi­nal­rat und ließ sich nicht an­mer­ken, wie schwer Prall ihn eben ge­kränkt hat­te, als er alle scharf­sin­ni­gen De­duk­tio­nen Zotts als schon von Esche­rich vor­ge­tra­gen be­zeich­net hat­te, »ich habe da alle Fund­zei­ten der Kar­ten auf­ge­zeich­net. Es han­delt sich bis heu­te um zwei­hun­dert­drei­und­drei­ßig Kar­ten und acht Brie­fe. Wenn wir uns die­se Fund­zei­ten ge­nau­er an­se­hen, so kom­men wir zu fol­gen­den Er­geb­nis­sen: Nach acht Uhr abends und vor neun Uhr mor­gens ist nie eine Kar­te ab­ge­legt …«

»Aber das ist doch klar wie Kloß­brü­he!«, rief der Ober­grup­pen­füh­rer un­ge­dul­dig. »Weil da die Häu­ser ab­ge­schlos­sen sind! Dazu brau­che ich wahr­haf­tig kei­ne Ta­bel­len, um das zu wis­sen!«

»Ei­nen Au­gen­blick, bit­te!«, sag­te Zott, und sei­ne Stim­me klang jetzt recht är­ger­lich. »Ich war mit mei­nen Fest­stel­lun­gen noch nicht fer­tig. Im Üb­ri­gen wer­den die Häu­ser nicht erst mor­gens um neun Uhr, son­dern schon um sie­ben, oft be­reits um sechs Uhr auf­ge­schlos­sen. Ich fah­re fort: Wei­ter sind acht­zig Pro­zent der Kar­ten in der Zeit zwi­schen neun Uhr mor­gens und zwölf Uhr mit­tags ab­ge­legt wor­den. Nie ist eine Kar­te zwi­schen zwölf und vier­zehn Uhr ab­ge­legt. Dann zwan­zig Pro­zent wie­der zwi­schen vier­zehn und zwan­zig Uhr. Daraus folgt, dass der Kar­ten­schrei­ber, der be­stimmt mit dem Ver­tei­ler iden­tisch ist, re­gel­mä­ßig von zwölf bis vier­zehn Uhr Mit­tag isst, dass er nachts ar­bei­tet, je­den­falls nie am Vor­mit­tag, sel­ten am Nach­mit­tag. Neh­me ich eine Fund­stel­le, sa­gen wir am Alex, stel­le ich fest, dass die Kar­te um elf Uhr fünf­zehn ab­ge­legt wor­den ist, neh­me ich nun die Ent­fer­nung, die ein Mann in fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten ge­hen kann, näm­lich bis zwölf Uhr, und schla­ge ich mit dem Zir­kel einen Kreis um die Fund­stel­le, so tref­fe ich stets nörd­lich auf die­sen Fleck, der frei von Fähn­chen ist. Das trifft mit ei­ni­gen Ein­schrän­kun­gen, die man dar­um ma­chen muss, weil nicht jede Fund­zeit mit der Ab­le­ge­zeit iden­tisch ist, auf alle Fund­stel­len zu. Daraus schlie­ße ich ers­tens: der Mann ist sehr pünkt­lich. Zwei­tens: er liebt es nicht, öf­fent­li­che Ver­kehrs­mit­tel zu be­nut­zen. Er wohnt in je­nem Drei­eck, des­sen Sei­ten von der Greifs­wal­der, Dan­zi­ger und Prenz­lau­er Stra­ße be­grenzt wer­den, und zwar in dem nörd­li­chen Ende die­ses Drei­ecks, ver­mut­lich in der Cho­do­wiecki-, der Ja­blon­ski- oder der Christ­bur­ger Stra­ße.«

 

»Ganz aus­ge­zeich­net, Herr Kri­mi­nal­rat!«, sag­te der Ober­grup­pen­füh­rer im­mer ent­täusch­ter. »Üb­ri­gens er­in­ne­re ich mich, dass schon Esche­rich die­se Stra­ßen ge­nannt hat. Er mein­te nur, eine Haus­su­chung sei nutz­los. Wie den­ken Sie über eine Haus­su­chung?«

»Ei­nen Au­gen­blick, bit­te«, sag­te Zott und hob die klei­ne Hand, die von all dem Ak­ten­pa­pier, auf dem sie ge­le­gen, et­was Ver­gilb­tes an­ge­nom­men zu ha­ben schi­en. Jetzt war er wirk­lich tief ver­letzt. »Ich möch­te Ih­nen mei­ne Er­geb­nis­se ge­nau vor­tra­gen, da­mit Sie es selbst über­se­hen kön­nen, ob die von mir vor­zu­schla­gen­den Maß­nah­men auch zweck­mä­ßig sind …«

Will sich si­chern, der klei­ne Schlau­fuchs!, dach­te Prall bei sich. Na war­te, bei mir gib­t’s kei­ne Si­che­run­gen, und wenn ich mit dir Schlit­ten fah­ren will, tu ich’s doch!

»Se­hen wir die­se Ta­bel­le wei­ter an«, do­zier­te der Kri­mi­nal­rat fort, »so fin­den wir, dass alle Kar­ten an Wo­chen­ta­gen ab­ge­legt sind. Daraus müs­sen wir schlie­ßen, dass der Mann an Sonn­ta­gen sei­ne Woh­nung nicht ver­lässt. Der Sonn­tag ist sein Schrei­be­tag, was auch da­durch er­här­tet wird, dass die meis­ten Kar­ten am Mon­tag oder Diens­tag ge­fun­den wer­den. Der Mann hat es im­mer ei­lig, die­ses be­las­ten­de Ma­te­ri­al aus dem Haus zu be­kom­men.«

Der klei­ne Spitz­bauch hob den Fin­ger. »Eine Aus­nah­me bil­den al­lein die neun Kar­ten, die süd­lich des Nol­len­dorf­plat­zes ge­fun­den wor­den sind. Sie sind alle an Sonn­ta­gen ab­ge­legt wor­den, meist mit fast vier­tel­jähr­li­chem Ab­stand und stets am spä­ten Nach­mit­tag oder frü­hen Abend. Woraus zu schlie­ßen ist, dass der Schrei­ber dort einen Ver­wand­ten, viel­leicht eine alte Mut­ter, zu woh­nen hat, der er in re­gel­mä­ßi­gen Ab­stän­den einen Pf­licht­be­such macht.«

Der Kri­mi­nal­rat Zott mach­te eine Pau­se und sah den Ober­grup­pen­füh­rer durch sei­ne gold­ge­rän­der­te Bril­le an, als er­war­te er ein Wort der Aner­ken­nung.

Aber der sag­te nur: »Al­les ganz schön und gut. Si­cher sehr scharf­sin­nig. Stimmt si­cher al­les. Aber ich sehe nicht, wie uns das wei­ter­führt …«

»Ein we­nig doch, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«, wi­der­sprach der Kri­mi­nal­rat. »Ich wer­de na­tür­lich in den Häu­sern der ge­nann­ten Stra­ßen ver­trau­lich und sehr be­hut­sam nach­for­schen las­sen, ob dort ein Mann wohnt, auf den mei­ne Fol­ge­run­gen zu­tref­fen.«

»Das wäre doch was!«, rief der Ober­grup­pen­füh­rer er­leich­tert. »Sonst noch was?«

»Ich habe nun«, sag­te der Kri­mi­nal­rat in stil­lem Tri­umph und zog eine zwei­te Kar­te her­vor, »ich habe nun noch eine zwei­te Ta­bel­le an­ge­fer­tigt, auf der ich mit Krei­sen, die einen Durch­mes­ser von ei­nem Ki­lo­me­ter ha­ben, die Haupt­fund­stel­len rot ein­ge­kreist habe. Da­bei sind die bei­den Fund­stel­len Nol­len­dorf­platz und mut­maß­li­che Woh­nung au­ßer An­satz ge­blie­ben. Sehe ich mir die­se elf Haupt­fund­stel­len – es sind elf, Herr Ober­grup­pen­füh­rer – ge­nau­er an, so ma­che ich die über­ra­schen­de Ent­de­ckung, dass sie alle, aus­nahms­los alle, an oder in der Nähe von Stra­ßen­bahn­hö­fen lie­gen. Se­hen Sie selbst, Herr Ober­grup­pen­füh­rer! Hier! Und hier! Und dort! Da liegt der Bahn­hof hier – et­was rechts, fast au­ßer­halb des Krei­ses, aber im­mer­hin auf sei­nem Ra­di­us. Und nun wie­der hier – schön in der Mit­te …«

Zott sah den Ober­grup­pen­füh­rer fast fle­hend an. »Das kann kein Zu­fall sein!«, sag­te er. »Sol­che Zu­fäl­le gib­t’s in der Kri­mi­na­lis­tik nicht! Herr Ober­grup­pen­füh­rer, der Mann muss ir­gend­was mit der elek­tri­schen Stra­ßen­bahn zu tun ha­ben. Es ist gar nicht an­ders mög­lich. Er muss dort nachts ar­bei­ten, ge­le­gent­lich auch mal nach­mit­tags. Er wird aber kei­ne Uni­form tra­gen, das wis­sen wir aus den Be­rich­ten der bei­den Zeu­gin­nen, die ihn beim Ab­le­gen ge­se­hen ha­ben. Herr Ober­grup­pen­füh­rer, ich er­bit­te Ihre Er­laub­nis, auf je­dem die­ser Bahn­hö­fe einen sehr gu­ten Mann ein­set­zen zu dür­fen. Ich ver­spre­che mir von die­ser Ak­ti­on ei­gent­lich noch mehr als von der Nach­fra­ge in den Häu­sern. Aber bei­de zu­sam­men und gründ­lich durch­ge­führt, dann wer­den wir be­stimmt einen Er­folg er­zie­len!«

»Sie schlau­er Fuchs, Sie!«, rief jetzt der Ober­grup­pen­füh­rer, auch ganz auf­ge­räumt, und schlug den Kri­mi­nal­rat auf die Schul­ter, dass das Männ­chen in die Knie sack­te. »Sie al­ter schlau­er Ver­bre­cher! Das mit den Stra­ßen­bahn­hö­fen ist groß­ar­tig. Der Esche­rich ist ein Horn­vieh! Da­rauf muss­te er kom­men. Na­tür­lich ha­ben Sie mei­ne Er­laub­nis! Ma­chen Sie ein biss­chen schnell, und in zwei, drei Ta­gen mel­den Sie mir, dass der Mann ge­schnappt ist! Ich will’s dem Ka­mel, dem Esche­rich, noch selbst in die Schnau­ze brül­len kön­nen, was für ein Ka­mel er ist!«

Der Ober­grup­pen­füh­rer ging, ver­gnügt lä­chelnd, aus dem Zim­mer.

Der Kri­mi­nal­rat Zott, al­lein ge­las­sen, hüs­tel­te. Er setz­te sich hin­ter sei­ne Ta­bel­len auf dem Schreib­tisch, sah schief durch die Bril­le nach der Tür und hüs­tel­te noch ein­mal. Er hass­te alle die­se lau­ten, hirn­lo­sen Ker­le, die nur brül­len konn­ten. Und die­sen da, der eben aus dem Zim­mer ge­gan­gen war, hass­te er noch ganz be­son­ders, die­sen blö­den Af­fen, der ihm im­mer den Esche­rich vor­ge­hal­ten hat­te. »Das hat der Esche­rich ge­sagt«, und »Das weiß ich schon vom Esche­rich, dem Ka­mel!«

Und dann hat­te er ihn scherz­haft auf die Schul­ter ge­schla­gen, und dem Kri­mi­nal­rat war jede kör­per­li­che Berüh­rung ver­hasst. Nein, die­ser Kerl – nun, man muss­te die Zeit ab­war­ten. Ganz so si­cher sa­ßen auch die­se Her­ren nicht im Sat­tel, nur schlecht ver­bar­gen sie un­ter ih­rem Ge­brüll die Angst, ei­nes Ta­ges ge­stürzt zu wer­den. So si­cher und za­ckig sie auch auf­tra­ten, im In­nern wuss­ten sie recht gut, dass sie nichts konn­ten und nichts wa­ren. Ei­nem sol­chen Flach­kopf hat­te er sei­ne große Ent­de­ckung von den Stra­ßen­bahn­hö­fen mit­tei­len müs­sen, ei­nem Mann, der den Scharf­sinn gar nicht wür­di­gen konn­te, der da­zu­ge­hör­te, so et­was her­aus­zu­fin­den! Per­len vor die Säue – im­mer das alte Lied!

Dann aber wen­det sich der Kri­mi­nal­rat wie­der sei­nen Ak­ten, sei­nen Ta­bel­len, den Plä­nen zu. Er hat einen wohl­ge­ord­ne­ten Kopf; er schiebt eine Lade zu und weiß von ih­rem In­halt nichts mehr. Er zieht die Lade Stra­ßen­bahn­hö­fe auf und be­ginnt, dar­über nach­zu­den­ken, was der Kar­ten­schrei­ber wohl für einen Pos­ten be­klei­den kann. Er ruft bei der Di­rek­ti­on der Ver­kehrs­be­trie­be, Ab­tei­lung Per­so­nal­amt, an und lässt sich eine end­lo­se Lis­te al­ler bei der BVG1 Be­schäf­tig­ten ge­ben. Ab und zu macht er sich No­ti­zen.