Aber dann bei den Heffkes vergaßen sie ganz ihre schlimmen Vorahnungen. Es zeigte sich, dass sie dort wirklich erwartet worden waren. Auch die dunkle, schweigsame Schwägerin hatte Kuchen gebacken, und nachdem die beiden Kuchen zum Muckefuck gegessen waren, brachte Ulrich Heffke eine Flasche Schnaps zum Vorschein, die ihm die Kollegen im Betrieb geschenkt hatten.
Sie tranken langsam und mit Genuss in kleinen Gläsern das ihnen allen ungewohnte Getränk, und es bewirkte, dass sie lebhafter als sonst wurden, gesprächiger. Schließlich – nun war die Flasche schon leer – fing der kleine Buckel mit den sanften Augen an zu singen. Er sang Kirchenlieder, Choräle: »Es kostet viel, ein Christ zu sein« und »Zeuch ein zu deinen Toren, sei meines Herzens Gast« – durch alle dreizehn Strophen.
Er sang sie in einem ganz hohen Falsett, es klang klar und fromm, und sogar Otto Quangel fühlte sich in seine Kindertage zurückversetzt, als solche Lieder ihm noch etwas bedeutet hatten, da er schlicht gläubig gewesen war. Damals war das Leben noch einfach gewesen, er hatte nicht nur an Gott geglaubt, sondern auch an die Menschen. Er hatte geglaubt, dass Sprüche wie »Liebe deine Feinde« und »Gesegnet seien die Friedfertigen«, dass solche Sprüche auf der Erde Gültigkeit besaßen. Es war sehr anders seitdem geworden und bestimmt nicht besser. An Gott konnte niemand mehr glauben; es war unmöglich, dass ein gütiger Gott solche Schande, wie sie heute auf der Welt war, zuließ, und was die Menschen anging, diese Schweine …
Der bucklige Ulrich Heffke sang ganz hoch und rein: »Du bist ein Mensch, das weißt du wohl, was strebst du denn nach Dingen …«
Aber zum Abendessen zu bleiben, lehnten Quangels schlichtweg ab. Ja, es sei sehr schön gewesen, aber nun müssten sie unbedingt nach Haus. Otto habe noch etwas zu erledigen. Und es gehe ja schon nicht wegen der Lebensmittelkarten, sie wüssten doch auch, wie das wäre. Allen Versicherungen der Heffkes zum Trotz, einmal gehe das schon, man feiere ja nicht jeden Sonntag Geburtstag und es sei wirklich alles vorbereitet, sie sollten nur selbst in die Küche sehen – all diesen Versicherungen zum Trotz blieben die Quangels dabei, sie müssten gehen.
Und sie gingen auch wirklich, obwohl die Heffkes entschieden gekränkt waren.
Auf der Straße sagte Anna: »Hast du gesehen, der Ulrich ist eingeschnappt und seine Frau auch …«
»Lass sie ruhig eingeschnappt sein! Dies war ja sowieso unser letzter Besuch!«
»Aber es war diesmal sehr nett, das findest du doch auch, Otto?«
»Sicher. Bestimmt. Der Schnaps hat viel dazu getan …«
»Und Ulrich hat so schön gesungen – fandest du es nicht auch schön?«
»Ja, sehr schön. Ein komischer Peter. Ich bin sicher, er betet jeden Abend im Bett noch zum lieben Gott.«
»Lass ihn doch, Otto! Solche Frommen haben es heutzutage leichter. Sie haben doch einen, an den sie sich mit ihren Sorgen wenden können. Und sie glauben, dass all dieses Morden einen Sinn hat.«
»Danke!«, sagte Quangel plötzlich böse. »Sinn! Das ist doch alles Unsinn! Weil die an den Himmel glauben, wollen sie auf der Erde nichts ändern. Immer nur kriechen und sich drücken! Im Himmel wird ja alles wieder gut. Gott weiß ja, warum es geschieht. Am Jüngsten Tag werden wir das alles schon erfahren! Nein, danke.«
Quangel hatte hastig und sehr böse gesprochen. Der ungewohnte Alkohol tat seine Wirkung in ihm. Plötzlich blieb Quangel stehen. »Das ist das Haus!«, sagte er plötzlich. »Da will ich rein! Gib mir eine Karte, Anna!«
»O nein, Otto. Tu das nicht! Wir hatten doch abgemacht, heute wollten wir nichts mehr tun. Es ist doch ein schlechter Tag heute!«
»Nicht mehr, jetzt nicht mehr. Gib die Karte, Anna!«
Sie gab sie ihm zögernd. »Wenn es nur nicht schiefgeht, Otto. Ich habe solche Angst …«
Aber er achtete nicht auf ihre Worte, er war schon gegangen.
Sie wartete. Aber diesmal brauchte sie sich nicht lange zu ängstigen, Otto kam schnell wieder.
»So«, sagte er und hakte sie unter. »Das wäre erledigt. Siehst du, wie einfach das ging? Man soll auf diese Vorahnungen nichts geben.«
»Gottlob!«, sagte Anna.
Aber sie hatten kaum die paar Schritte zum Nollendorfplatz hin gemacht, da stürzte ein Herr auf sie zu. In der Hand hielt er die Quangel’sche Karte.
»Sie! Sie!«, schrie er wahnsinnig aufgeregt. »Sie haben da eben diese Karte bei mir auf den Flur gelegt! Ich hab Sie genau gesehn! Genau gesehn! Polizei! Hallo! Schutzmann!«
Und er schrie immer lauter. Die Menschen liefen um sie zusammen, ein Schupo kam eilig über den Damm.
Es war kein Zweifel: Das Spiel stand plötzlich gegen die Quangels. Nachdem der Werkmeister über zwei Jahre lang erfolgreich gearbeitet hatte, war plötzlich das Glück gegen ihn. Ein Misserfolg nach dem anderen. Hierin behielt der ehemalige Kommissar Escherich recht: man kann nicht immer mit Glück spielen, man muss auch das Unglück einkalkulieren. Das hatte Otto Quangel vergessen. Er hatte nie an all die kleinen, widrigen Zufälle gedacht, die das Leben stets bereithält, die man nicht voraussehen kann und mit denen man doch rechnen muss.
In diesem Fall war der Zufall in der Gestalt eines kleinen, rachsüchtigen Beamten aufgetreten, der seinen freien Sonntag dazu benutzt hatte, die Mieterin über ihm zu bespitzeln. Er hatte einen Zorn auf sie, weil sie morgens lange schlief, stets in Männerhosen herumlief und abends bis lange nach Mitternacht das Radio laufen ließ. Er hatte sie im Verdacht, »Kerle« in ihre Wohnung mitzunehmen. Wenn das stimmte, würde er sie im ganzen Hause unmöglich machen. Er würde zum Wirt gehen und ihm sagen, dass solche Nutte unmöglich weiter in einem anständigen Hause wohnen könne.
Er hatte schon über drei Stunden geduldig hinter dem Guckloch der Tür gelauert, als statt seiner Obermieterin Otto Quangel die Treppe hinaufgekommen war. Er hatte gesehen, mit seinen eigenen Augen hatte er es gesehen, wie Quangel die Karte auf einer Treppenstufe niederlegte – er tat das manchmal, wenn die Treppenfenster keine Fensterbänke hatten.
»Ich habe es gesehen, mit meinen eigenen Augen habe ich es gesehen!«, schrie der Aufgeregte den Wachtmeister an und schwenkte die Karte. »Lesen Sie hier bloß mal, Herr Wachtmeister! Das ist ja Hochverrat! Der Kerl gehört an den Galgen!«
»Schreien Sie doch bloß nicht so!«, sagte der Schupo missbilligend. »Sie sehen doch, der andere Herr ist ganz ruhig. Der läuft schon nicht weg. Nun, war es so, wie der Herr sagt?«
»Blödsinn!«, antwortete Otto Quangel böse. »Er hat mich verwechselt. Ich habe eben meinen Schwager zum Geburtstag besucht, in der Goltzstraße. Hier in der Maaßenstraße habe ich kein Haus betreten. Fragen Sie mal meine Frau …«
Er sah sich suchend um. Eben drängte sich Anna wieder durch den dichten Kreis der Neugierigen. Sie hatte sofort an die zweite Karte in ihrer Handtasche gedacht. Sie musste sie auf der Stelle loswerden, das war das Wichtigste. Sie hatte sich durch die Leute geschoben, hatte einen Briefkasten gesehen und ganz unauffällig – alle sahen nur auf den schreienden Ankläger – die Karte in den Kasten gesteckt.
Nun stand sie wieder bei ihrem Mann und lächelte ihm ermutigend zu.
Der Schupo hatte unterdes die Karte gelesen. Sehr ernst geworden, schob er sie unter den Ärmelaufschlag. Er wusste von diesen Karten; jedes Revier war nicht einmal, es war zehnmal auf sie aufmerksam gemacht worden. Die Verfolgung auch der kleinsten Spur war Pflicht.
»Sie kommen alle beide zur Wache mit!«, entschied er.
»Und ich?«, rief Anna Quangel empört und schob ihren Arm in den ihres Mannes. »Ich gehe auch mit! Ich lasse meinen Mann nicht alleine gehen!«
»Haste recht, Mutta!«, sagte eine tiefe Stimme aus dem Zuschauerkreis. »Bei die Brüder weeß man nie – pass man uff uff den Juten!«
»Ruhe!«, schrie der Wachtmeister. »Ruhe! Zurücktreten! Auseinandergehen! Hier gibt’s gar nichts zu sehen!«
Aber das Publikum war anderer Ansicht, und der Schupo, der einsah, dass er unmöglich auf drei Menschen aufpassen und eine Menge von annähernd fünfzig Passanten zerstreuen konnte, gab es auf, die Leute zum Auseinandergehen aufzufordern.
»Irren Sie sich wirklich nicht?«, fragte er den aufgeregten Angeber. »War denn auch die Frau dabei auf der Treppe?«
»Nein, die war nicht dabei. Aber ich irre mich bestimmt nicht, Herr Wachtmeister!« Er fing wieder an zu schreien. »Mit meinen eigenen Augen habe ich ihn gesehen, schon drei Stunden hatte ich am Guckloch in meiner Tür gesessen …«
Eine schrille Stimme rief missbilligend: »So ein verdammter Achtgroschenjunge!«
»Also kommen Sie alle drei mit!«, entschied der Wachtmeister. »Gehen Sie doch auseinander! Sie sehen doch, die Herrschaften wollen durchgehen! So ’ne blöde Neugierde! Ja, bitte, da lang, mein Herr!«
Auf dem Revier mussten sie fünf Minuten warten, ehe sie in das Zimmer des Vorstehers gerufen wurden, eines großen Mannes mit einem gebräunten, offenen Gesicht. Die Karte Quangels lag auf seinem Schreibtisch.
Der Ankläger wiederholte seine Beschuldigungen.
Otto Quangel widersprach. Er hatte nur seinen Schwager in der Goltzstraße besucht, nie hatte er ein Haus in der Maaßenstraße betreten. Er sprach ohne jede Erregung, dieser alte Werkmeister, als der er sich auch auswies, er war ein auch dem Vorsteher wohltuender Gegensatz zu dem schreienden, stets aufgeregten, spuckenden Ankläger.
»Sagen Sie mal«, sagte der Vorsteher langsam zu dem, »wieso haben Sie eigentlich drei Stunden hinter dem Guckloch gestanden? Sie konnten doch gar nicht wissen, dass jemand mit solcher Karte kam. Oder?«
»Ach, da wohnt doch solche Nutte in unserm Haus, Herr Vorsteher! Läuft immer in Hosen rum, lässt die ganze Nacht das Radio laufen – da wollte ich aufpassen, was die für Kerle in die Wohnung schleppt. Und da kam dieser Mann …«
»Bin nie in dem Haus gewesen«, wiederholte Quangel hartnäckig.
»Wie soll denn mein Mann dazu kommen, solche Sachen zu machen? Glauben Sie, ich würde das zugeben?«, rief Anna dazwischen. »Wo wir über fünfundzwanzig Jahre verheiratet sind, und nie hat was gegen meinen Mann vorgelegen!«
Der Vorsteher warf einen flüchtigen Blick auf das starre Vogelgesicht. Zuzutrauen ist dem schon allerhand!, schoss es ihm flüchtig durch den Kopf. Aber dass er solche Karten schreibt?
Er wandte sich dem Ankläger zu: »Wie heißen Sie? Millek? Sie sind doch irgendwas bei der Post, stimmt’s?«
»Oberpostsekretär, Herr Vorsteher. Es stimmt.«
»Und Sie sind doch der Millek, von dem wir in der Woche durchschnittlich zwei Anzeigen bekommen, dass die Kaufleute schlecht wiegen, dass am Donnerstag Teppiche geklopft worden sind, dass jemand sein Geschäft vor Ihrer Tür gemacht hat und so weiter und so weiter. Das sind Sie doch?«
»Die Menschen sind ja so schlecht, Herr Vorsteher! Alles tun sie mir zum Tort! Glauben Sie mir, Herr Vorsteher …«
»Und heute Nachmittag haben Sie also auf eine Frau aufgepasst, die Sie als Nutte bezeichnen, und jetzt zeigen Sie diesen Herrn an …«
Herr Oberpostsekretär versicherte, dass er nur seine Pflicht tue. Er habe diesen Mann die Postkarte ablegen sehen, und da ihn ein Blick auf das Geschriebene belehrte, dass hier Hochverrat vorliege, sei er dem Manne sofort nachgeeilt.
»Soso!«, sagte der Vorsteher. »Einen Augenblick mal …«
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und tat, als lese er die Karte noch einmal, die er doch schon dreimal gelesen hatte. Er dachte nach. Er war der Überzeugung, dass dieser Quangel ein alter Arbeiter war, dessen Angaben stimmten, der Millek dagegen ein Querulant, dessen Denunziationen sich noch nie bewahrheitet hatten. Am liebsten hätte er die drei nach Haus geschickt.
Aber immerhin war da diese Karte gefunden worden, darum war nicht herumzukommen, und es lag nun einmal der strenge Befehl vor, auch der kleinsten Spur nachzugehen. Der Vorsteher wollte sich keine Läuse in den Pelz setzen. Sehr gut war er oben sowieso nicht angeschrieben. Er war der Gefühlsduselei verdächtig, im Geheimen sollte er mit Asozialen und Juden sympathisieren. Er musste sehr vorsichtig sein. Und im Grunde, was geschah dieser Frau und diesem Manne Übles, wenn er sie der Gestapo übergab? Waren sie unschuldig, würde man sie nach ein paar Stunden wieder laufenlassen; der falsche Angeber aber würde eins aufs Dach bekommen wegen der unnützen Arbeit, die er verursacht hatte.
Er wollte schon den Kommissar Escherich anrufen, da fiel ihm etwas ein. Er klingelte und sagte zu dem eintretenden Schupo: »Nehmen Sie die beiden Herren mal nach vorne und filzen Sie sie gründlich durch. Passen Sie aber auf, dass die Sachen nicht durcheinanderkommen. Und dann schicken Sie mir einen Mann rein, ich werde mal hier die Frau durchsuchen!«
Aber auch das Ergebnis dieser Durchsuchungen war fruchtlos, es wurde nichts Quangel Belastendes gefunden. Anna Quangel dachte mit einem erleichterten Aufatmen an die Karte im Postkasten. Otto Quangel, der von dieser eiligen, geistesgegenwärtigen Aktion seiner Frau noch nichts wusste, dachte: Die Anna ist aber tüchtig. Wo sie bloß mit der Karte geblieben ist? Ich war doch immer an ihrer Seite! Auch Quangels Papiere bestätigten seine sämtlichen Angaben.
Dagegen hatte man in der Tasche des Millek eine fertige, an das Revier gerichtete Anzeige gefunden gegen eine gewisse Frau von Tressow, Maaßenstraße 17 wohnhaft, die ihren bissigen Hund trotz Leinenzwangs frei herumlaufen lasse. Schon zwei Mal habe der Hund den Oberpostsekretär bösartig angeknurrt. Er fürchte für seine Hosen, die jetzt im Kriege unersetzbar seien.
»Sie haben Sorgen, Mann!«, sagte der Vorsteher. »Jetzt, im dritten Kriegsjahr! Denken Sie, wir haben nichts anderes zu tun? Warum gehen Sie nicht einmal selbst an die Dame heran und bitten sie höflich, den Hund an die Leine zu nehmen?«
»So was tu ich nicht, Herr Vorsteher! Eine Dame in der Nacht auf der Straße ansprechen – nein! Nachher werde ich von ihr wegen Unsittlichkeit angezeigt!«
»Also, Wachtmeister, bringen Sie die drei erst mal nach vorne. Ich möchte jetzt telefonieren.«
»Bin ich etwa auch verhaftet?«, rief der Oberpostsekretär Millek zornig. »Ich habe Ihnen eine wichtige Anzeige gemacht, und Sie verhaften mich! Ich werde eine Anzeige machen!«
»Hat denn ein Mensch ein Wort von Verhaften gesagt? Wachtmeister, nehmen Sie die drei mit nach vorne!«
»Sie haben mir die Taschen wie bei einem Verbrecher ausleeren lassen!«, schrie der Oberpostsekretär wieder. Da schlug die Tür hinter ihm zu.
Der Vorsteher nahm das Telefon, wählte und meldete sich. »Ich möchte den Kommissar Escherich sprechen«, sagte er. »Wegen der Postkartengeschichte.«
»Kommissar Escherich ist aus, ex, perdu!«, rief eine freche Stimme in sein Ohr. »Kriminalrat Zott bearbeitet jetzt diesen Fall!«
»Dann geben Sie mir Herrn Kriminalrat Zott – falls er heute am Sonntagnachmittag erreichbar ist.«
»Ach, der doch immer! Ich gebe Ihnen den Kriminalrat!«
»Hier Zott!«
»Hier Reviervorsteher Kraus. Herr Kriminalrat, bei uns ist eben ein Mann eingeliefert worden, der mit dieser Postkartenaffäre zu tun haben soll – Sie sind im Bilde?«
»Weiß schon! Der Fall Klabautermann. Was ist der Mann von Beruf?«
»Tischler. Werkmeister in einer Möbelfabrik!«
»Dann haben Sie den Falschen erwischt! Der Richtige ist bei der Straßenbahn! Lassen Sie den Mann laufen, Vorsteher! Schluss!«
So kamen Quangels wieder auf freien Fuß, sehr zu ihrer eigenen Überraschung, denn mit ein paar gründlichen Verhören und einer Haussuchung hatten sie doch gerechnet.
Der Herr Kriminalrat Zott, mit Spitzbart und Spitzbauch, ein Männchen wie aus einer Geschichte des Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, ein Geschöpf, wie zusammengebaut aus Papier, Aktenstaub, Tinte und viel Scharfsinn, war in früheren Zeiten eine recht lächerliche Figur unter den Kriminalisten Berlins gewesen. Er verschmähte die üblichen Methoden, er machte fast nie eine Vernehmung, und der Anblick eines Ermordeten machte ihn krank.
Am liebsten saß er über den Akten der anderen, verglich, schlug nach, machte seitenlange Exzerpte – und sein Steckenpferd war es, sich über alles Tabellen anzulegen, endlose, minutiös durchdachte Tabellen, aus denen er seine scharfsinnigen Schlüsse zog. Da Kriminalrat Zott mit seiner Methode, nur seinen Kopf arbeiten zu lassen, einige überraschende Erfolge erzielt hatte in Fällen, die ganz ohne Hoffnung schienen, hatte man sich daran gewöhnt, ihm alle aussichtslosen Sachen zuzuschanzen – wenn Zott nichts herausholte, fand keiner was.
An sich war also der Vorschlag Kommissar Escherichs, den Fall Klabautermann an den Kriminalrat Zott abzugeben, gar nicht so ungewöhnlich gewesen. Nur hätte Escherich diesen Vorschlag eben von seinen Vorgesetzten ausgehen lassen müssen, von ihm gemacht, war er einfach eine Frechheit, nein, Feigheit vor dem Feinde, Fahnenflucht …
Kriminalrat Zott hatte sich drei Tage lang mit den Akten Klabautermann eingeschlossen und dann erst den Obergruppenführer um eine Unterredung gebeten. Der Obergruppenführer, begierig, diesen Fall endlich erledigt zu sehen, war gleich zu Zott gekommen.
»Nun, Herr Kriminalrat, was haben Sie oller Sherlock Holmes denn nun wieder ausgeschnüffelt? Ich bin überzeugt, Sie haben den Mann schon beim Wickel. Dieser Esel von Escherich …«
Und nun folgte eine lange Schimpfkanonade auf den Escherich, der alles verbockt hatte. Der Kriminalrat Zott hörte sie, ohne eine Miene zu verziehen, an, nicht einmal durch Nicken oder Kopfschütteln tat er seine eigene Meinung kund.
Als das Feuer endlich verraucht war, sagte Zott: »Herr Obergruppenführer, da haben wir also diesen Kartenschreiber, einen einfachen, ziemlich ungebildeten Mann, der in seinem Leben nicht viel geschrieben hat und dem es auch ziemlich schwerfällt, sich schriftlich auszudrücken. Er muss Junggeselle oder Witwer sein und ganz allein in seiner Wohnung leben, sonst hätte ihn in diesen zwei Jahren schon längst einmal seine Frau oder Wirtin beim Schreiben ertappt, und es wäre etwas laut geworden. Dass nie etwas über seine Person laut geworden ist, trotzdem, wie anzunehmen, in der Gegend nördlich vom Alexanderplatz viel über diese Karten geschwatzt wird, das beweist, dass ihn nie jemand beim Schreiben gesehen hat. Er muss absolut allein leben. Er muss ein älterer Mann sein – einem jüngeren wäre dieses Schreiben ohne sichtbare Wirkung längst über geworden, und er hätte längst was anderes angefangen. Auch besitzt er keinen Radioapparat …«
»Schön, schön, Herr Kriminalrat!«, unterbrach ihn der Obergruppenführer Prall ungeduldig. »Das alles hat mir genau mit den gleichen Worten schon längst dieser Idiot, der Escherich, erzählt. Was ich brauche, sind neue Auswertungen, Ergebnisse, die mir die Inhaftnahme dieses Burschen ermöglichen. Ich sehe, Sie haben da eine Tabelle. Was ist mit dieser Tabelle?«
»Ich habe da eine Tabelle«, antwortete der Kriminalrat und ließ sich nicht anmerken, wie schwer Prall ihn eben gekränkt hatte, als er alle scharfsinnigen Deduktionen Zotts als schon von Escherich vorgetragen bezeichnet hatte, »ich habe da alle Fundzeiten der Karten aufgezeichnet. Es handelt sich bis heute um zweihundertdreiunddreißig Karten und acht Briefe. Wenn wir uns diese Fundzeiten genauer ansehen, so kommen wir zu folgenden Ergebnissen: Nach acht Uhr abends und vor neun Uhr morgens ist nie eine Karte abgelegt …«
»Aber das ist doch klar wie Kloßbrühe!«, rief der Obergruppenführer ungeduldig. »Weil da die Häuser abgeschlossen sind! Dazu brauche ich wahrhaftig keine Tabellen, um das zu wissen!«
»Einen Augenblick, bitte!«, sagte Zott, und seine Stimme klang jetzt recht ärgerlich. »Ich war mit meinen Feststellungen noch nicht fertig. Im Übrigen werden die Häuser nicht erst morgens um neun Uhr, sondern schon um sieben, oft bereits um sechs Uhr aufgeschlossen. Ich fahre fort: Weiter sind achtzig Prozent der Karten in der Zeit zwischen neun Uhr morgens und zwölf Uhr mittags abgelegt worden. Nie ist eine Karte zwischen zwölf und vierzehn Uhr abgelegt. Dann zwanzig Prozent wieder zwischen vierzehn und zwanzig Uhr. Daraus folgt, dass der Kartenschreiber, der bestimmt mit dem Verteiler identisch ist, regelmäßig von zwölf bis vierzehn Uhr Mittag isst, dass er nachts arbeitet, jedenfalls nie am Vormittag, selten am Nachmittag. Nehme ich eine Fundstelle, sagen wir am Alex, stelle ich fest, dass die Karte um elf Uhr fünfzehn abgelegt worden ist, nehme ich nun die Entfernung, die ein Mann in fünfundvierzig Minuten gehen kann, nämlich bis zwölf Uhr, und schlage ich mit dem Zirkel einen Kreis um die Fundstelle, so treffe ich stets nördlich auf diesen Fleck, der frei von Fähnchen ist. Das trifft mit einigen Einschränkungen, die man darum machen muss, weil nicht jede Fundzeit mit der Ablegezeit identisch ist, auf alle Fundstellen zu. Daraus schließe ich erstens: der Mann ist sehr pünktlich. Zweitens: er liebt es nicht, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Er wohnt in jenem Dreieck, dessen Seiten von der Greifswalder, Danziger und Prenzlauer Straße begrenzt werden, und zwar in dem nördlichen Ende dieses Dreiecks, vermutlich in der Chodowiecki-, der Jablonski- oder der Christburger Straße.«
»Ganz ausgezeichnet, Herr Kriminalrat!«, sagte der Obergruppenführer immer enttäuschter. »Übrigens erinnere ich mich, dass schon Escherich diese Straßen genannt hat. Er meinte nur, eine Haussuchung sei nutzlos. Wie denken Sie über eine Haussuchung?«
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Zott und hob die kleine Hand, die von all dem Aktenpapier, auf dem sie gelegen, etwas Vergilbtes angenommen zu haben schien. Jetzt war er wirklich tief verletzt. »Ich möchte Ihnen meine Ergebnisse genau vortragen, damit Sie es selbst übersehen können, ob die von mir vorzuschlagenden Maßnahmen auch zweckmäßig sind …«
Will sich sichern, der kleine Schlaufuchs!, dachte Prall bei sich. Na warte, bei mir gibt’s keine Sicherungen, und wenn ich mit dir Schlitten fahren will, tu ich’s doch!
»Sehen wir diese Tabelle weiter an«, dozierte der Kriminalrat fort, »so finden wir, dass alle Karten an Wochentagen abgelegt sind. Daraus müssen wir schließen, dass der Mann an Sonntagen seine Wohnung nicht verlässt. Der Sonntag ist sein Schreibetag, was auch dadurch erhärtet wird, dass die meisten Karten am Montag oder Dienstag gefunden werden. Der Mann hat es immer eilig, dieses belastende Material aus dem Haus zu bekommen.«
Der kleine Spitzbauch hob den Finger. »Eine Ausnahme bilden allein die neun Karten, die südlich des Nollendorfplatzes gefunden worden sind. Sie sind alle an Sonntagen abgelegt worden, meist mit fast vierteljährlichem Abstand und stets am späten Nachmittag oder frühen Abend. Woraus zu schließen ist, dass der Schreiber dort einen Verwandten, vielleicht eine alte Mutter, zu wohnen hat, der er in regelmäßigen Abständen einen Pflichtbesuch macht.«
Der Kriminalrat Zott machte eine Pause und sah den Obergruppenführer durch seine goldgeränderte Brille an, als erwarte er ein Wort der Anerkennung.
Aber der sagte nur: »Alles ganz schön und gut. Sicher sehr scharfsinnig. Stimmt sicher alles. Aber ich sehe nicht, wie uns das weiterführt …«
»Ein wenig doch, Herr Obergruppenführer!«, widersprach der Kriminalrat. »Ich werde natürlich in den Häusern der genannten Straßen vertraulich und sehr behutsam nachforschen lassen, ob dort ein Mann wohnt, auf den meine Folgerungen zutreffen.«
»Das wäre doch was!«, rief der Obergruppenführer erleichtert. »Sonst noch was?«
»Ich habe nun«, sagte der Kriminalrat in stillem Triumph und zog eine zweite Karte hervor, »ich habe nun noch eine zweite Tabelle angefertigt, auf der ich mit Kreisen, die einen Durchmesser von einem Kilometer haben, die Hauptfundstellen rot eingekreist habe. Dabei sind die beiden Fundstellen Nollendorfplatz und mutmaßliche Wohnung außer Ansatz geblieben. Sehe ich mir diese elf Hauptfundstellen – es sind elf, Herr Obergruppenführer – genauer an, so mache ich die überraschende Entdeckung, dass sie alle, ausnahmslos alle, an oder in der Nähe von Straßenbahnhöfen liegen. Sehen Sie selbst, Herr Obergruppenführer! Hier! Und hier! Und dort! Da liegt der Bahnhof hier – etwas rechts, fast außerhalb des Kreises, aber immerhin auf seinem Radius. Und nun wieder hier – schön in der Mitte …«
Zott sah den Obergruppenführer fast flehend an. »Das kann kein Zufall sein!«, sagte er. »Solche Zufälle gibt’s in der Kriminalistik nicht! Herr Obergruppenführer, der Mann muss irgendwas mit der elektrischen Straßenbahn zu tun haben. Es ist gar nicht anders möglich. Er muss dort nachts arbeiten, gelegentlich auch mal nachmittags. Er wird aber keine Uniform tragen, das wissen wir aus den Berichten der beiden Zeuginnen, die ihn beim Ablegen gesehen haben. Herr Obergruppenführer, ich erbitte Ihre Erlaubnis, auf jedem dieser Bahnhöfe einen sehr guten Mann einsetzen zu dürfen. Ich verspreche mir von dieser Aktion eigentlich noch mehr als von der Nachfrage in den Häusern. Aber beide zusammen und gründlich durchgeführt, dann werden wir bestimmt einen Erfolg erzielen!«
»Sie schlauer Fuchs, Sie!«, rief jetzt der Obergruppenführer, auch ganz aufgeräumt, und schlug den Kriminalrat auf die Schulter, dass das Männchen in die Knie sackte. »Sie alter schlauer Verbrecher! Das mit den Straßenbahnhöfen ist großartig. Der Escherich ist ein Hornvieh! Darauf musste er kommen. Natürlich haben Sie meine Erlaubnis! Machen Sie ein bisschen schnell, und in zwei, drei Tagen melden Sie mir, dass der Mann geschnappt ist! Ich will’s dem Kamel, dem Escherich, noch selbst in die Schnauze brüllen können, was für ein Kamel er ist!«
Der Obergruppenführer ging, vergnügt lächelnd, aus dem Zimmer.
Der Kriminalrat Zott, allein gelassen, hüstelte. Er setzte sich hinter seine Tabellen auf dem Schreibtisch, sah schief durch die Brille nach der Tür und hüstelte noch einmal. Er hasste alle diese lauten, hirnlosen Kerle, die nur brüllen konnten. Und diesen da, der eben aus dem Zimmer gegangen war, hasste er noch ganz besonders, diesen blöden Affen, der ihm immer den Escherich vorgehalten hatte. »Das hat der Escherich gesagt«, und »Das weiß ich schon vom Escherich, dem Kamel!«
Und dann hatte er ihn scherzhaft auf die Schulter geschlagen, und dem Kriminalrat war jede körperliche Berührung verhasst. Nein, dieser Kerl – nun, man musste die Zeit abwarten. Ganz so sicher saßen auch diese Herren nicht im Sattel, nur schlecht verbargen sie unter ihrem Gebrüll die Angst, eines Tages gestürzt zu werden. So sicher und zackig sie auch auftraten, im Innern wussten sie recht gut, dass sie nichts konnten und nichts waren. Einem solchen Flachkopf hatte er seine große Entdeckung von den Straßenbahnhöfen mitteilen müssen, einem Mann, der den Scharfsinn gar nicht würdigen konnte, der dazugehörte, so etwas herauszufinden! Perlen vor die Säue – immer das alte Lied!
Dann aber wendet sich der Kriminalrat wieder seinen Akten, seinen Tabellen, den Plänen zu. Er hat einen wohlgeordneten Kopf; er schiebt eine Lade zu und weiß von ihrem Inhalt nichts mehr. Er zieht die Lade Straßenbahnhöfe auf und beginnt, darüber nachzudenken, was der Kartenschreiber wohl für einen Posten bekleiden kann. Er ruft bei der Direktion der Verkehrsbetriebe, Abteilung Personalamt, an und lässt sich eine endlose Liste aller bei der BVG1 Beschäftigten geben. Ab und zu macht er sich Notizen.