Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Er ist nur er­füllt von dem Ge­dan­ken, dass der Tä­ter et­was mit der Stra­ßen­bahn zu tun hat. Er ist so stolz auf die­se Ent­de­ckung. Er wäre maß­los ent­täuscht, wenn sie ihm jetzt den Quan­gel als Tä­ter her­ein­bräch­ten, die­sen Werk­meis­ter aus ei­ner Mö­bel­fa­brik. Es wäre ihm ganz egal, dass der Tä­ter nun end­lich ge­fasst ist, son­dern es wür­de ihn nur schmer­zen, dass sei­ne schö­ne Theo­rie falsch ist.

Und dar­um, als ein oder zwei Tage spä­ter die Such­ak­ti­on so­wohl in den Häu­sern wie auf den Stra­ßen­bahn­hö­fen in vol­lem Gan­ge ist, als da der Re­vier­vor­ste­her dem Kri­mi­nal­rat mit­teilt, sie ha­ben viel­leicht den Tä­ter, dar­um fragt er nur nach dem Be­ruf. Er hört Tisch­ler, und der Mann ist für ihn er­le­digt. Stra­ßen­bah­ner muss er sein!

An­ge­hängt und er­le­digt! So voll­kom­men er­le­digt, dass der Kri­mi­nal­rat sich nicht ein­mal klar­macht, dass die­ses Re­vier am Nol­len­dorf­platz liegt, dass es Sonn­tag ge­gen Abend ist und dass am Nol­len­dorf­platz gra­de wie­der ein­mal eine Kar­te fäl­lig ist! Nicht ein­mal die Num­mer des Re­viers merkt sich der Kri­mi­nal­rat. Die­se Idio­ten, ma­chen nichts als Dumm­hei­ten – er­le­digt!

Mei­ne Leu­te wer­den mir schon Be­scheid brin­gen, mor­gen, spä­tes­tens über­mor­gen. Was die Schu­po macht, das ist doch meist Mist, das sind eben kei­ne Kri­mi­na­lis­ten!

Und so kom­men die schon ge­fass­ten Quan­gels wie­der frei …

1 Ber­li­ner Ver­kehrs­be­trie­be <<<

41. Otto Quangel wird unsicher

Die bei­den Quan­gels sind an die­sem Sonn­tag­abend ohne ein Wort nach Haus ge­fah­ren, ohne ein Wort ha­ben sie zu Abend ge­ges­sen. Frau Anna, die, als es dar­auf an­kam, so mu­tig und ent­schlos­sen ge­we­sen war, hat­te in der Kü­che rasch ei­ni­ge heim­li­che Trä­nen ge­weint, von de­nen Otto nichts wis­sen durf­te. Jetzt, hin­ter­her, da al­les aus­ge­stan­den war, ha­ben Schre­cken und Angst sie er­fasst. Bei­na­he wäre es schief­ge­gan­gen, um ein Klei­nes, und es wäre zu Ende mit ih­nen bei­den ge­we­sen. Wenn die­ser Mil­lek nicht so ein be­kann­ter Que­ru­lant ge­we­sen wäre. Wenn sie die Kar­te nicht hät­te los­wer­den kön­nen. Wenn der Vor­ste­her im Re­vier ein an­de­rer Mann ge­we­sen wäre – man sah es ihm ja an, dass er die­sen De­nun­zi­an­ten nicht aus­ste­hen konn­te! Ja, ein­mal ist es noch wie­der gut­ge­gan­gen, aber nie, nie darf sich Otto wie­der in eine sol­che Ge­fahr be­ge­ben.

Sie kommt in die Stu­be, wo ihr Mann rast­los auf und ab geht. Sie bren­nen kein Licht, aber er hat die Ver­dunk­lung hoch­ge­zo­gen, es ist Mond­schein.

Otto geht auf und ab, im­mer noch wort­los.

»Otto!«

»Ja?«

Er bleibt mit ei­nem Ruck ste­hen und sieht zu der Frau hin­über, die sich in die So­fae­cke ge­setzt hat, kaum sicht­bar in dem fah­len, schwa­chen Mond­licht, das in die Stu­be si­ckert.

»Otto, ich glau­be, jetzt ma­chen wir am bes­ten erst ein­mal eine Pau­se. Im Au­gen­blick ha­ben wir kein Glück.«

»Geht nicht«, ant­wor­tet er. »Geht nicht, Anna. Das wür­de auf­fal­len, wenn plötz­lich kei­ne Kar­ten mehr kom­men. Jetzt gra­de, wo sie uns bei­na­he er­wi­scht ha­ben, wür­de es be­son­ders auf­fal­len. So dumm sind die auch nicht – die wür­den mer­ken, dass da ein Zu­sam­men­hang be­steht zwi­schen uns und den Kar­ten, die plötz­lich nicht mehr kom­men. Wir müs­sen schon wei­ter­ma­chen, ob wir wol­len oder nicht.«

Er setz­te hart hin­zu: »Und ich will!«

Sie seufz­te schwer. Sie hat­te nicht den Mut, ihm laut bei­zu­stim­men, ob­wohl sie ein­sah, er hat­te recht. Dies war kein Weg, auf dem man ein­hal­ten konn­te, wenn man woll­te. Es gab kein Zu­rück, kei­ne Ruhe. Man muss­te im­mer wei­ter.

Nach ei­ner Wei­le Nach­den­kens sag­te sie: »Dann lass mich von jetzt an die Kar­ten fort­brin­gen, Otto. Du hast jetzt kein Glück da­mit.«

Grol­lend sag­te er: »Ich kann nichts da­für, wenn solch ein An­ge­ber drei Stun­den hin­ter dem Guck­loch sitzt. Ich habe mich über­all ge­nau um­ge­se­hen, ich war vor­sich­tig!«

»Ich habe nicht ge­sagt, Otto, dass du un­vor­sich­tig warst. Ich hab ge­sagt, du hast jetzt kein Glück. Da­für kannst du nichts.«

Wie­der lenkt er ab. »Wo bist du ei­gent­lich mit der zwei­ten Kar­te ge­blie­ben? Am Lei­be ver­steckt?«

»Das ging nicht, weil doch im­mer Leu­te da­bei wa­ren. Nein, Otto, ich habe sie in einen Brief­kas­ten am Nol­len­dorf­platz ge­steckt, gleich in der ers­ten Auf­re­gung.«

»Brief­kas­ten? Sehr gut. Hast du gut ge­macht, Anna. Wir wer­den in den nächs­ten Wo­chen über­all, wo wir gra­de sind, Kar­ten in die Brief­käs­ten ste­cken, da­mit die­se eine nicht so auf­fällt. Brief­käs­ten sind gar nicht so schlecht, auch bei der Post wer­den nicht nur Na­zis sein. Und das Ri­si­ko ist auch ge­rin­ger.«

»Bit­te, Otto, lass mich die Kar­ten von nun an ver­tei­len«, bat sie noch ein­mal.

»Du musst nicht glau­ben, Mut­ter, dass ich einen Feh­ler ge­macht habe, den du hät­test ver­mei­den kön­nen. Das sind die Zu­fäl­le, vor de­nen ich mich im­mer ge­fürch­tet habe, ge­gen die es kei­ne Vor­sicht gibt, weil man sie nicht vor­aus­se­hen kann. Was kann ich ge­gen einen Spi­on tun, der drei Stun­den hin­ter ei­nem Guck­loch sitzt? Und du kannst plötz­lich krank wer­den, du fällst nur hin und brichst dir ein Bein – gleich su­chen sie dei­ne Ta­schen nach und fin­den solch eine Kar­te! Nein, Anna, ge­gen die Zu­fäl­le gibt es kei­nen Schutz!«

»Es wür­de mich so sehr be­ru­hi­gen, wenn du mir die Ver­tei­lung über­las­sen wür­dest!«, fing sie wie­der an.

»Ich sage nicht nein, Anna. Ich will dir die Wahr­heit ge­ste­hen, plötz­lich füh­le ich mich un­si­cher. Es ist mir, als könn­te ich stets nur auf einen Fleck star­ren, auf dem der Geg­ner nicht sitzt. Und als sä­ßen Fein­de über­all in mei­ner Nähe, und ich kann sie nicht se­hen.«

»Du bist ner­vös ge­wor­den, Otto. Das geht schon zu lan­ge. Wenn man nur ein paar Wo­chen da­mit auf­hö­ren könn­te! Aber du hast recht, das geht nicht. Aber von jetzt an wer­de ich die Kar­ten weg­brin­gen.«

»Ich sage nicht nein. Tu’s! Ich habe kei­ne Angst, aber du hast recht, ich bin jetzt ner­vös. Das ma­chen die­se Zu­fäl­le, mit de­nen ich nie ge­rech­net habe. Ich habe ge­glaubt, es ge­nügt, wenn man sei­ne Sa­che nur or­dent­lich macht. Aber es ist nichts da­mit, man muss auch Glück ha­ben, Anna. Wir ha­ben lan­ge Glück ge­habt, jetzt scheint es ein biss­chen an­ders zu kom­men …«

»Es ist ja noch ein­mal gut­ge­gan­gen«, sag­te sie be­ru­hi­gend. »Es ist nichts ge­sche­hen.«

»Aber sie ha­ben un­se­re Adres­se, je­der­zeit kön­nen sie auf uns zu­rück­grei­fen! Die­se ver­damm­te Ver­wandt­schaft, ich habe im­mer ge­sagt, sie taugt nichts.«

»Sei jetzt nicht un­ge­recht, Otto. Was kann Ul­rich Heff­ke da­für?«

»Na­tür­lich kann er nichts da­für! Wer hat was an­de­res ge­sagt? Aber wenn er nicht wäre, hät­ten wir dort kei­nen Be­such ge­macht. Es taugt nichts, sich an Men­schen zu hän­gen, Anna. Das macht al­les nur schwe­rer. Nun sind wir in Ver­dacht.«

»Wenn wir wirk­lich in Ver­dacht wä­ren, hät­ten sie uns nicht lau­fen­ge­las­sen, Otto!«

»Die Tin­te!«, sag­te er, plötz­lich ste­hen­blei­bend. »Wir ha­ben die Tin­te noch im Haus! Die Tin­te, mit der ich die Kar­te ge­schrie­ben habe, und die glei­che Tin­te ist hier im Fläsch­chen!«

Er lief, goss die Tin­te in den Aus­guss. Hin­ter­her zog er sich an.

»Wo­hin willst du, Otto?«

»Die Fla­sche muss aus dem Haus! Wir be­sor­gen mor­gen eine an­de­re Sor­te. Ver­brenn un­ter­des den Fe­der­hal­ter, vor al­lem auch alte Kar­ten und al­tes Brief­pa­pier, das wir noch hier ha­ben. Al­les muss ver­brannt wer­den! Sieh je­des Schub­fach nach. Es darf nichts mehr von all dem Zeug im Haus sein!«

»Aber, Otto, wir sind doch nicht in Ver­dacht! Das al­les hat doch Zeit!«

»Nichts hat Zeit! Tu, was ich dir sage! Al­les durch­se­hen, al­les ver­bren­nen!«

Er ging.

Als er wie­der­kam, war er ru­hi­ger. »Ich habe das Fläsch­chen in den Fried­richs­hain ge­wor­fen. Hast du al­les ver­brannt?«

»Ja!«

»Wirk­lich al­les? Al­les durch­ge­se­hen und ver­brannt?«

»Wenn ich es dir doch sage, Otto!«

»Na­tür­lich, ist ja gut, Anna! Aber ko­misch, wie­der ist mir so, als könn­te ich den Feind nicht se­hen, wo er wirk­lich sitzt. Als hät­te ich was ver­ges­sen!«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, sah sie nach­denk­lich an.

»Be­ru­hi­ge dich, Otto, du hast be­stimmt nichts ver­ges­sen, nichts. In die­ser Woh­nung ist nichts mehr.«

»An mei­nen Fin­gern habe ich kei­ne Tin­te? Ver­stehst du, ich darf nicht den ge­rings­ten Tin­ten­fleck an mir ha­ben, jetzt, wo kei­ne Tin­te mehr im Hau­se ist.«

Sie sa­hen nach, und wirk­lich fan­den sie noch einen Tin­ten­fleck an sei­nem rech­ten Zei­ge­fin­ger. Sie rieb ihn mit der Hand fort.

»Siehst du, ich sage es ja, man fin­det im­mer noch was! Das sind die Fein­de, die ich nicht se­hen kann. Nun, viel­leicht war es die­ser Tin­ten­fleck, auf den ich nicht ge­ach­tet habe und der mich im­mer noch quäl­te!«

»Er ist fort, Otto, nun ist nichts mehr, das dich un­ru­hig ma­chen muss!«

»Gott sei Dank! Ver­steh, Anna, ich habe kei­ne Angst, aber ich möch­te doch nicht, dass wir zu früh ent­deckt wer­den. So lan­ge wie mög­lich möch­te ich noch mei­ne Ar­beit tun. Wenn es geht, will ich noch er­le­ben, wie dies al­les zu­sam­men­bricht. Ja, das möch­te ich noch er­le­ben. Ein we­nig ha­ben doch auch wir dazu ge­hol­fen!«

 

Und dies­mal ist es Anna, die ihm Trost zu­spricht: »Ja, du wirst es er­le­ben, wir wer­den es bei­de noch er­le­ben. Was ist denn ge­sche­hen? Ge­wiss, wir wa­ren in großer Ge­fahr, aber … du sagst, das Glück hat sich ge­gen uns ge­wen­det? Das Glück ist uns treu ge­blie­ben, die Ge­fahr ist vor­über. Wir sind hier.«

»Ja«, sag­te Otto Quan­gel. »Wir sind hier, wir sind frei. Noch sind wir es. Und ich hof­fe, wir sind es noch lan­ge, lan­ge …«

42. Der alte Parteigenosse Persicke

Der Schnüff­ler des Kri­mi­nal­rats Zott, ein ge­wis­ser Klebs, hat­te die Ja­blons­ki­stra­ße nach dem al­ten, al­lein­le­ben­den Mann ab­zu­klap­pern, auf des­sen Fest­stel­lung man bei der Ge­sta­po so großen Wert leg­te. In der Ta­sche trug er eine Lis­te, in der für je­des Haus und mög­lichst auch für je­des Hin­ter­haus ein zu­ver­läs­si­ger Par­t­ei­ge­nos­se ge­nannt war, auch der Name Per­si­cke stand auf die­ser Lis­te.

Leg­te man in der Prinz-Al­brecht-Stra­ße großen Wert auf die Er­grei­fung des Ge­such­ten, für den Schnüff­ler Klebs war es ein blo­ßes Rou­ti­ne­ge­schäft. Klein, schlecht be­zahlt und schlecht er­nährt, mit schie­fen Bei­nen, ei­ner un­rei­nen Haut und ka­ri­ösen Zäh­nen er­in­ner­te Klebs an eine Rat­te, und er ver­rich­te­te sei­ne Ge­schäf­te, wie eine Rat­te in Ab­fall­ton­nen wühlt. Im­mer war er be­reit, eine Stul­le Brot an­zu­neh­men, um was zu trin­ken oder zu rau­chen zu bet­teln, und sei­ne kläg­li­che, quie­ken­de Stim­me be­kam bei die­sem Bet­teln et­was lei­se Pfei­fen­des, als gehe dem Un­se­li­gen der letz­te Atem aus.

Bei den Per­sickes öff­ne­te ihm der Alte. Er sah wüst aus, das graue Haar in Zot­teln, das Ge­sicht ge­dun­sen, die Au­gen rot, und der gan­ze Mann schwan­kend und rol­lend wie ein Schiff im schwe­ren Sturm.

»Wat wills­te denn?«

»Nur ’ne klei­ne Er­kun­di­gung ein­zie­hen, für die Par­tei.«

Es war die­sen Schnüff­lern näm­lich strengs­tens ver­bo­ten, sich bei ih­ren Er­kun­di­gun­gen auf die Ge­sta­po zu be­ru­fen. Die­se gan­ze Nach­fra­ge soll­te wie eine be­deu­tungs­lo­se Er­kun­di­gung nach ei­nem Par­tei­mit­glied aus­se­hen.

Aber auf den al­ten Per­si­cke wirk­te selbst die­se harm­lo­se Aus­kunft »Er­kun­di­gung für die Par­tei« wie ein Schlag auf den Ma­gen. Er stöhn­te und lehn­te sich ge­gen den Tür­pfos­ten. In sein blö­des, von Al­ko­hol­düns­ten um­ne­bel­tes Hirn kehr­te für einen Au­gen­blick et­was Be­sin­nung zu­rück und – mit der Be­sin­nung – Angst.

Dann raff­te er sich auf und sag­te: »Komm rein!«

Die Rat­te folg­te schwei­gend. Sie be­ob­ach­te­te den al­ten Mann mit spit­zen, flin­ken Au­gen. Nichts ent­ging ihr.

In der Stu­be sah es wüst aus. Um­ge­stürz­te Stüh­le, um­ge­fal­le­ne Fla­schen, vor de­ren Häl­sen Schnaps stin­kend am Bo­den ver­duns­te­te. Eine zu­sam­men­ge­knüll­te Schlaf­de­cke auf der Erde. Ein her­un­ter­ge­ris­se­nes Tisch­tuch. Un­ter dem Spie­gel, der von ei­nem Schlag ein Spin­nen­netz von Sprün­gen auf­wies, ein Hau­fen Glas­scher­ben. Eine zu­ge­zo­ge­ne Gar­di­ne und eine her­ab­ge­ris­se­ne Gar­di­ne. Und über­all Zi­ga­ret­ten­stum­mel, Zi­ga­ret­ten­stum­mel, halb an­ge­ris­se­ne Pa­ckun­gen mit Rauch­wa­ren.

In den Diebs­fin­gern des Schnüff­lers Klebs zuck­te es. Am liebs­ten hät­te er jetzt ge­rafft und ge­grapscht: Schnaps, Rauch­wa­ren, Kip­pen, auch die Ta­schen­uhr dort aus der Wes­te, die über ei­nem Stuhl hing. Aber er war jetzt nur ein Bote der Ge­sta­po oder der Par­tei. So setz­te er sich brav auf ein Stühl­chen und pieps­te fröh­lich: »Ach, hier gib­t’s zu trin­ken und zu rau­chen! Du hast’s gut, Per­si­cke!«

Der Alte sah ihn mit ei­nem schwe­ren, trü­ben Blick an. Dann schob er dem Be­su­cher mit ei­nem Ruck eine halb­vol­le Fla­sche Schnaps über den Tisch – Klebs konn­te sie gra­de noch fas­sen, ehe sie kipp­te.

»Such dir was zu rau­chen!«, mur­mel­te Per­si­cke und sah sich in der Stu­be um. »Hier muss ir­gend­was zu rau­chen rum­lie­gen.« Und er setz­te mit schwe­rer Zun­ge hin­zu: »Aber Feu­er habe ich kei­nes!«

»Mach dir kei­ne Sor­gen, Per­si­cke!«, pfiff Klebs be­ru­hi­gend. »Ich fin­de schon, was ich brau­che. Du wirst ja in der Kü­che Gas ha­ben und einen Ga­san­zün­der.«

Er tat so, als kenn­ten sie sich schon seit lan­gem. Als sei­en sie die äl­tes­ten Freun­de. Ganz selbst­ver­ständ­lich schlich er auf sei­nen schie­fen Bei­nen in die Kü­che – dort sah es mit zer­trüm­mer­tem Ge­schirr und um­ge­stürz­ten Mö­beln noch schlim­mer aus als in der Stu­be –, fand wirk­lich den Ga­san­zün­der in all dem Durchein­an­der und mach­te sich Feu­er.

Er hat­te sich gleich drei an­ge­bro­che­ne Zi­ga­ret­ten­pa­ckun­gen ein­ge­steckt. Eine da­von hat­te zwar in Schnaps ge­ba­det, aber das konn­te man trock­nen. Auf dem Rück­weg sah Klebs noch in die bei­den an­de­ren Stu­ben, al­les sah völ­lig ver­wüs­tet und ver­kom­men aus. Wie Klebs gleich ver­mu­tet hat­te, war der alte Mann al­lein in der Woh­nung. Der Schnüff­ler rieb sich zu­frie­den die Hän­de, wo­bei sei­ne gelb­schwar­zen Zäh­ne sicht­bar wur­den. Bei dem wür­de wohl noch mehr zu ho­len sein als ein biss­chen Schnaps und ein paar Zi­ga­ret­ten.

Der alte Per­si­cke saß noch im­mer auf dem­sel­ben Stuhl am Tisch, ge­nau, wie ihn Klebs ver­las­sen hat­te. Aber der lis­ti­ge Klebs merk­te doch, dass der Alte zwi­schen­durch auf den Bei­nen ge­we­sen sein muss­te, denn vor ihm stand jetzt eine vol­le Schnaps­fla­sche, die vor­her nicht zu se­hen ge­we­sen war.

Hat also ir­gend­wo noch mehr lie­gen. Das wer­den wir schon noch raus­krie­gen!

Klebs ließ sich mit ei­nem be­hag­li­chen Fie­pen auf sei­nem Stuhl nie­der, blies sei­nem Ge­gen­über einen Schwa­den Ta­ba­krauch ins Ge­sicht, nahm einen Schluck aus der Fla­sche und frag­te harm­los: »Na, was hast du nu auf dem Her­zen, Per­si­cke? Im­mer raus, al­ter Jun­ge, frei die Brust! Und frisch ge­wa­schen, sonst wirst du er­schos­sen!«

Der alte Mann zit­ter­te bei den letz­ten Wor­ten. Er hat­te nicht er­fas­sen kön­nen, in wel­chem Zu­sam­men­hang sie ge­spro­chen wa­ren. Nur dass von Er­schie­ßen die Rede war, hat­te er be­grif­fen.

»Nein, nein!«, mur­mel­te er ängst­lich. »Nicht schie­ßen, nur nicht schie­ßen. Bal­dur kommt, Bal­dur macht al­les wie­der gut!«

Die Rat­te ließ es erst ein­mal un­er­ör­tert, wer Bal­dur war, der al­les wie­der­gut­ma­chen­de Bal­dur. »Ja, wenn du’s nur wie­der­gut­ma­chen kannst, Per­si­cke!«, sag­te er vor­sich­tig.

Er warf einen Blick auf das Ge­sicht des an­de­ren, das, wie es ihm schi­en, fins­ter und arg­wöh­nisch auf ihn starr­te. »Aber frei­lich, wenn erst Bal­dur kommt …«, mein­te er ver­söhn­lich.

Der alte Mann starr­te ihn im­mer wei­ter schwei­gend an. Plötz­lich sag­te er, in ei­nem je­ner lich­ten Mo­men­te, wie sie gra­de dau­ernd Be­trun­ke­ne dann und wann ha­ben, mit gar nicht mehr lal­len­der Zun­ge: »Wer sind Sie ei­gent­lich? Was wol­len Sie von mir? Ich kenn Sie doch gar nicht!«

Die Rat­te sah den plötz­lich so klar Ge­wor­de­nen vor­sich­tig an. In sol­chen Sta­di­en wur­den die Be­trun­ke­nen oft streit- und prü­gel­süch­tig, und Klebs war bloß ein Männ­chen (und ein Feig­ling dazu), wäh­rend man es dem al­ten Per­si­cke selbst jetzt im schlimms­ten Ver­fall an­sah, dass er sei­nem Füh­rer zwei statt­li­che SS-Män­ner und einen Schü­ler der Na­po­la ge­schenkt hat­te.

Klebs sag­te ein­len­kend: »Hab’s Ih­nen schon ge­sagt, Herr Per­si­cke. Sie ha­ben’s viel­leicht nicht ganz er­fasst. Mein Name ist Klebs, kom­me von der Par­tei, um ein paar Er­kun­di­gun­gen ein­zu­zie­hen …«

Die Faust Per­sickes don­ner­te auf den Tisch. Die bei­den Fla­schen ge­rie­ten ins Schwan­ken – rasch ret­te­te sie Klebs.

»Wie kommst du Hund dazu«, schrie Per­si­cke, »zu sa­gen, ich hät­te was nicht er­fasst? Bist du klü­ger als ich, du Stink­tier? Sagst mir in mei­nem ei­ge­nen Hau­se an mei­nem ei­ge­nen Tisch, ich kann nicht er­fas­sen, was du sagst. Stink­tier, elen­di­ges!«

»Nein, nein, nein, Herr Per­si­cke!«, säu­sel­te die Rat­te be­ru­hi­gend. »Ich hab’s nicht so ge­meint. Klei­nes Miss­ver­ständ­nis. Al­les in Frie­de und Freund­schaft. Im­mer mit der Ruhe – alte Par­t­ei­ge­nos­sen wie wir!«

»Wo hast du dei­nen Aus­weis? Wie­so kommst du in mei­ne Bude und zeigst kei­nen Aus­weis? Du weißt, das ist von Par­tei we­gen ver­bo­ten!«

Aber in die­sem Punkt war Klebs nicht zu schre­cken: die Ge­sta­po hat­te für voll­gül­ti­ge, aus­ge­zeich­ne­te, lücken­lo­se Aus­wei­se ge­sorgt.

»Da, Herr Per­si­cke, se­hen Sie sich al­les in Ruhe an. Stimmt al­les. Bin be­rech­tigt, Er­kun­di­gun­gen ein­zu­zie­hen, und Sie sol­len mir hel­fen, wenn Sie kön­nen!«

Der alte Mann sah mit trü­ben Au­gen auf die Aus­wei­se, die ihm vor­ge­hal­ten wur­den – Klebs hü­te­te sich wohl, sie aus der Hand zu ge­ben. Die Schrift ver­schwamm vor sei­nen Au­gen, er tipp­te schwer­fäl­lig mit dem Fin­ger dar­auf: »Sind Sie das?«

»Aber das se­hen Sie doch, Herr Per­si­cke! Alle sa­gen, das Bild ist mir mäch­tig ähn­lich!« Und ei­tel: »Nur soll ich in Wirk­lich­keit zehn Jah­re jün­ger aus­se­hen. Ich weiß das nicht, ich bin nicht ei­tel. Ich sehe nie in den Spie­gel!«

»Nimm das Zeugs weg!«, knurr­te der Ex-Bu­di­ker. »Mag jetzt nicht le­sen. Setz dich hin, trink Schnaps, rauch, aber sei ru­hig. Ich muss erst mal nach­den­ken.«

Die Rat­te Klebs tat, wie ihr be­foh­len, und be­ob­ach­te­te da­bei auf­merk­sam ihr Ge­gen­über, das wie­der in sei­nen Rausch zu ver­sin­ken schi­en.

Ja, der alte Per­si­cke, der auch einen großen Schluck aus sei­ner Fla­sche ge­nom­men hat­te, war wie­der von sei­ner Klar­heit ver­las­sen, un­wi­der­steh­lich zog es ihn zu­rück in den Stru­del sei­ner Be­trun­ken­heit, und was er Nach­den­ken nann­te, das war ein hilflo­ses Grü­beln, das Su­chen nach et­was, das ihm längst ent­fal­len war. Er wuss­te nicht ein­mal, was er such­te.

Er war in ei­ner schlim­men Lage, der alte Mann. Erst war der eine Sohn nach Hol­land ge­kom­men, dann der an­de­re nach Po­len. Bal­dur war auf eine Na­po­la ge­schickt wor­den, der ehr­gei­zi­ge Ben­gel hat­te sein ers­tes Ziel er­reicht: er war un­ter die Ers­ten der deut­schen Na­ti­on auf­ge­nom­men wor­den, ein Son­der­schü­ler des Füh­rers selbst! Er lern­te wei­ter, er lern­te be­herr­schen, nicht gra­de sich selbst, aber alle an­de­ren Men­schen, die es nicht so weit ge­bracht hat­ten wie er.

Der Va­ter war mit Frau und Toch­ter al­lein ge­blie­ben. Er hat­te im­mer schon zu ger­ne ge­trun­ken, der alte Per­si­cke war schon in der ver­krach­ten Bu­di­ke sein bes­ter Gast ge­we­sen. Als die Söh­ne fort wa­ren, als vor al­lem Bal­durs Auf­sicht fehl­te, hat­te Per­si­cke zu trin­ken an­ge­fan­gen, mit Sau­fen war er fort­ge­fah­ren. Der Frau war es zu­erst un­heim­lich ge­wor­den; klein, ängst­lich, wei­ner­lich in die­sem Män­ner­haus­halt, in dem sie nie mehr als ein un­be­zahl­tes und sehr schlecht be­han­del­tes Dienst­mäd­chen ge­we­sen war, hat­te sie die Angst ge­packt, wo­her denn der Mann wohl all das Geld für den vie­len Schnaps nahm. Dazu kam die Angst vor den Dro­hun­gen, den Miss­hand­lun­gen durch den Be­trun­ke­nen – und sie war heim­lich zu Ver­wand­ten ge­flo­hen, den Va­ter der Toch­ter über­las­send.

Die Toch­ter, ein wüs­tes Ding, durch den BDM ge­gan­gen, so­gar Füh­re­rin im BDM ge­we­sen, hat­te nicht die ge­rings­te Nei­gung ge­habt, dem Al­ten sei­nen Dreck nach­zuräu­men und sich da­für noch schlecht be­han­deln zu las­sen. Sie ver­schaff­te sich durch ihre Ver­bin­dun­gen eine Stel­lung als Auf­se­he­rin im Frau­en-KZ Ra­vens­brück und zog es vor, dort alte Frau­en, die nie in ih­rem Le­ben kör­per­li­che Ar­beit ge­leis­tet hat­ten, mit schar­fen Schä­fer­hun­den und schwip­per Reit­peit­sche da­hin zu brin­gen, dass sie mehr Ar­beit ta­ten, als ihr Kör­per leis­ten konn­te.

Der al­lein ge­blie­be­ne Va­ter ver­sank im­mer mehr. Auf sei­nem Büro hat­te er sich krank­mel­den las­sen, nie­mand sorg­te für sein Es­sen, er leb­te fast nur noch von Al­ko­hol. In den ers­ten Ta­gen hat­te er sich auf sei­ne Mar­ken we­nigs­tens noch ab und zu Brot ge­holt, aber die Mar­ken wa­ren ihm ab­han­den­ge­kom­men, oder man hat­te sie ihm auch ge­stoh­len, seit Ta­gen hat­te Per­si­cke nicht mehr ge­ges­sen.

In der ver­gan­ge­nen Nacht war er sehr krank ge­we­sen, das wuss­te er noch. Er wuss­te nicht mehr, dass er ge­tobt hat­te, Ge­schirr zer­schla­gen, Schrän­ke um­ge­stürzt, dass er in grau­en­vol­ler Angst über­all Ver­fol­ger ge­se­hen hat­te. Quan­gels und der alte Kam­mer­ge­richts­rat Fromm hat­ten an sei­ner Tür ge­stan­den und hat­ten ge­klin­gelt und ge­klin­gelt. Aber er hat­te sich nicht ge­rührt, er hat­te sich ge­hü­tet, sei­nen Ver­fol­gern auf­zu­ma­chen. Dort drau­ßen stan­den nur die Bo­ten der Par­tei, die von ihm die Abrech­nung über sei­ne Kas­se ha­ben woll­ten, und es fehl­ten doch über drei­tau­send Mark (es konn­ten auch sechs­tau­send sein, selbst in sei­nen lich­tes­ten Mo­men­ten konn­te er das so ge­nau nicht sa­gen).

 

Der alte Kam­mer­ge­richts­rat mein­te kühl: »Also las­sen wir ihn wei­ter­to­ben. Ich habe kein In­ter­es­se …«

Das sonst so lie­bens­wür­di­ge, meist leicht iro­ni­sche Ge­sicht hat­te sehr kalt aus­ge­se­hen. Der alte Herr war die Trep­pe wie­der hin­un­ter­ge­gan­gen.

Und Otto Quan­gel, mit sei­ner tie­fen Ab­nei­gung, in et­was hin­ein­ge­zo­gen zu wer­den, hat­te auch ge­sagt: »Was sol­len wir uns da ein­mi­schen? Wir ha­ben nur Sche­re­rei­en da­von! Du hörst doch, Anna, er ist be­sof­fen! Er wird schon wie­der nüch­tern wer­den.«

Aber Per­si­cke, der von all die­sen Din­gen am nächs­ten Tage kaum noch et­was wuss­te, Per­si­cke war nicht nüch­tern ge­wor­den. Am Mor­gen war es ihm schlimm ge­gan­gen, er hat­te so sehr an al­len Glie­dern ge­zit­tert, dass er kaum noch den Fla­schen­hals an den Mund brin­gen konn­te. Aber je mehr Schnaps er trank, umso ge­rin­ger wur­de das Zit­tern, die Angst, die ihn noch im­mer ruck­wei­se über­fiel. Nur noch das dunkle Ge­fühl, er habe et­was ver­ges­sen, das ihm un­be­dingt ein­fal­len müs­se, quäl­te ihn noch.

Und nun saß ihm die Rat­te ge­gen­über, ge­dul­dig, lis­tig, gie­rig. Die Rat­te hat­te es nicht ei­lig, sie hat­te ihre Ge­le­gen­heit ge­se­hen und war ent­schlos­sen, sie zu nüt­zen. Die Rat­te Klebs hat­te es nicht ei­lig mit ih­rem Be­richt an den Herrn Kri­mi­nal­rat Zott. Dem konn­te man noch im­mer was vor­soh­len, warum man noch nicht wei­ter­ge­kom­men war. Dies war eine ein­zig­ar­ti­ge Ge­le­gen­heit, die man sich nicht ent­ge­hen las­sen konn­te.

Er ließ sie sich wirk­lich nicht ent­ge­hen, der Klebs! Der alte Per­si­cke ver­sank im­mer tiefer in sei­ne Be­trun­ken­heit, und wenn er auch nur noch müh­sam lal­len konn­te, auch eine gel­all­te Aus­kunft ist et­was wert.

Nach ei­ner Stun­de wuss­te Klebs al­les, was zu wis­sen not­tat, von den Ver­un­treu­un­gen des Al­ten; er wuss­te auch, wo die Schnaps­fla­schen la­gen und die Rauch­wa­ren – da steck­te der Rest des Gel­des schon in sei­ner Ta­sche.

Jetzt ist die Rat­te längst der bes­te Freund des Al­ten. Sie hat ihn in sein Bett ge­packt; und wenn Per­si­cke brüllt, läuft Klebs zu ihm und gibt ihm so viel Schnaps zu trin­ken, dass er wie­der mit Brül­len auf­hört. Da­zwi­schen packt die Rat­te ei­lig in zwei Kof­fer, was ihr mit­neh­mens­wert er­scheint. Die schö­ne Da­mast­wä­sche der to­ten Ro­sen­thal wech­selt schon wie­der den Be­sit­zer, wie­der­um nicht völ­lig le­gal.

Dann gibt Klebs dem Al­ten noch ein­mal tüch­tig zu trin­ken, nun nimmt er die Kof­fer und schleicht aus der Woh­nung.

Als er die Fl­ur­tür öff­net, tritt dicht vor ihn ein großer, kno­chi­ger Mann mit ei­nem fins­te­ren Ge­sicht und sagt: »Was ma­chen Sie denn hier in der Woh­nung von Per­sickes? Was schlep­pen Sie denn hier raus? Sie sind doch ohne Kof­fer ge­kom­men! He, wird’s bald? Oder wol­len Sie lie­ber mit mir auf die Po­li­zei kom­men?«

»Bit­te, tre­ten Sie doch nä­her«, pfeift die Rat­te de­mü­tig. »Ich bin ein al­ter Freund und Par­t­ei­ge­nos­se des Herrn Per­si­cke. Er wird es Ih­nen be­stä­ti­gen. Sie sind der Haus­ver­wal­ter, nicht wahr? Herr Haus­ver­wal­ter, mein Freund Per­si­cke ist näm­lich sehr krank …«