Hans Fallada – Gesammelte Werke

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43. Barkhausen zum dritten Mal geprellt

Die bei­den Her­ren hat­ten in dem ver­wüs­te­ten Wohn­zim­mer Platz ge­nom­men; jetzt saß der »Haus­ver­wal­ter« auf dem Platz der Rat­te, und Klebs saß auf dem Stuhl Per­sickes. Nein, der alte Per­si­cke hat­te nicht ein­mal eine Aus­kunft ge­ben kön­nen, aber die Si­cher­heit, mit der sich Klebs in der Woh­nung be­weg­te, die Ruhe, in der er mit Per­si­cke sprach und ihm zu trin­ken gab, hat­te den »Haus­ver­wal­ter« doch zu ei­ni­ger Vor­sicht ge­mahnt.

Jetzt zog Klebs wie­der sei­ne ab­ge­grif­fe­ne Brief­ta­sche aus ei­nem Kunst­stoff, der ein­mal schwarz ge­we­sen war und nun an den Kan­ten rostrot schim­mer­te, her­vor. Er sag­te: »Wenn ich dem Herrn Haus­ver­wal­ter viel­leicht mei­ne Pa­pie­re zei­gen darf? Es ist al­les in Ord­nung, ich bin von der Par­tei be­auf­tragt …«

Aber sein Ge­gen­über wies die Pa­pie­re zu­rück, er lehn­te auch den Schnaps ab, nur eine Zi­ga­ret­te nahm er. Nein, jetzt trank er kei­nen Schnaps, er er­in­ner­te sich zu gut, wie da­mals bei der Ro­sen­thal oben der Enno ihm ein glän­zen­des Ge­schäft mit Ko­gnak­trin­ken ver­mas­selt hat­te. Das soll­te ihm nicht noch ein­mal pas­sie­ren. Bark­hau­sen, denn nie­mand an­ders als Bark­hau­sen ist es, der dort als »Haus­ver­wal­ter« sitzt, denkt nach, wie er sei­nem Ge­gen­über bei­kom­men kann. Er hat die­sen Bru­der so­fort durch­schaut: ob der nun tat­säch­lich ein Be­kann­ter vom al­ten Per­si­cke ist oder nicht, ob er im Auf­trag der Par­tei hier sitzt oder nicht – ganz egal: der Kerl hat klau­en wol­len! Was er in den Kof­fern hat­te, war ge­klau­te Ware – sonst wäre er nicht so er­schro­cken ge­we­sen bei Bark­hau­sens An­blick, sonst wäre er jetzt nicht so ängst­lich und be­tu­lich. Nie­mand, der was Rech­tes vor­hat, kriecht so vor ei­nem an­de­ren, das weiß Bark­hau­sen aus ei­gens­ter Er­fah­rung.

»Vi­el­leicht jetzt ein Schnäps­chen ge­fäl­lig, Herr Haus­ver­wal­ter?«

»Nein!« Bark­hau­sen brüllt das fast. »Hal­ten Sie den Mund, ich muss noch was über­le­gen …«

Die Rat­te ist zu­sam­men­ge­zuckt und schweigt.

Bark­hau­sen hat ein sehr schlech­tes Jahr hin­ter sich. Nein, die da­mals von Frau Hä­ber­le ge­sand­ten zwei­tau­send Mark hat er auch nicht be­kom­men. Die Post hat ihm auf sei­nen Nach­sen­dungs­an­trag hin mit­ge­teilt, dass die Ge­sta­po das Geld für sich, als aus ei­nem Ver­bre­chen stam­mend, an­ge­for­dert habe, er möge sich mit der Ge­sta­po in Ver­bin­dung set­zen. Nein, Bark­hau­sen hat­te das nicht ge­tan. Er woll­te nie wie­der et­was mit die­sem wort­brü­chi­gen Esche­rich zu tun ha­ben, und Esche­rich schick­te auch nie wie­der nach Bark­hau­sen.

Das war also ein Rein­fall ge­we­sen; viel schlim­mer aber war es noch, dass der Kuno-Die­ter nicht wie­der nach Haus ge­kom­men war. Zu­erst hat­te Bark­hau­sen noch ge­dacht: Na, war­te du! Wenn du erst wie­der zu Hau­se bist! Hat­te sich mit der Aus­ma­lung von Prü­gels­ze­nen er­götzt und die angst­vol­len Fra­gen Ot­tis nach dem Aus­blei­ben ih­res Lieb­lings mit Grob­heit ab­ge­wim­melt.

Aber als dann Wo­che um Wo­che ver­ging, war die Lage ohne Kuno-Die­ter doch ziem­lich un­er­träg­lich ge­wor­den. Die Otti wur­de zu ei­ner wah­ren Gift­schlan­ge und mach­te ihm das Le­ben zur Höl­le. Ihm war es schließ­lich egal, moch­te der Ben­gel ganz weg­blei­ben, umso bes­ser: ein un­nüt­zer Fres­ser we­ni­ger im Haus! Aber Otti stell­te sich da rei­ne­weg toll an we­gen ih­res Lieb­lings, es war, als könn­te sie kei­nen Tag mehr ohne Kuno-Die­ter le­ben, und frü­her hat­te sie doch auch bei ihm nie mit Schel­te und Prü­gel ge­spart.

Schließ­lich war die Otti ganz me­schug­ge ge­wor­den, sie war zur Po­li­zei ge­lau­fen und hat­te den ei­ge­nen Mann we­gen Mor­des am Soh­ne an­ge­zeigt. Mit sol­chen Leu­ten wie mit Bark­hau­sen mach­te man bei der Po­li­zei nicht viel Um­stän­de, er stand dort in gar kei­nem Ruf, weil er näm­lich im al­ler­schlech­tes­ten stand, sie setz­ten ihn so­fort auf dem Kri­mi­nal­ge­richt fest.

Elf Wo­chen hat­ten sie ihn dort be­hal­ten, er hat­te tüch­tig Tü­ten kle­ben und Tau­werk zup­fen müs­sen, sonst zo­gen sie ihm noch von dem Es­sen ab, von dem er so­wie­so nicht satt wur­de. Das Schlimms­te aber wa­ren die Näch­te ge­we­sen, wenn Flie­ger­an­grif­fe er­folg­ten. Bark­hau­sen hat­te eine ge­wal­ti­ge Angst vor Flie­ger­an­grif­fen. Er hat­te mal eine Frau in der Schön­hau­ser Al­lee ge­se­hen: eine Phos­phor­bom­be war in sie ge­fah­ren und in ihr ste­cken­ge­blie­ben – nie in die­sem Le­ben wür­de Bark­hau­sen den An­blick ver­ges­sen.

Er hat­te also Angst vor Flie­gern, und wenn die im­mer nä­her dröhn­ten, und die gan­ze Luft war voll von ih­rem Geräusch, und dann ka­men die ers­ten Ein­schlä­ge, und sei­ne Zel­len­wand war rot be­leuch­tet vom Flacker­schein fer­ner und na­her Brän­de … Nein, sie schlos­sen die Ge­fan­ge­nen nicht aus der Zel­le, sie lie­ßen sie nicht in dem Kel­ler, in dem sie si­cher ge­ses­sen hät­ten, die­se Speck­jä­ger, die! In sol­chen Näch­ten wur­de das gan­ze rie­si­ge Zel­len­ge­fäng­nis Moa­bit hys­te­risch, an den Fens­tern hin­gen sie und schri­en – oh, wie sie schri­en! Und Bark­hau­sen hat­te mit­ge­schri­en! Er hat­te ge­heult wie ein Tier, er hat­te den Kopf auf sei­ner Schlaf­prit­sche ver­bor­gen, und dann war er mit die­sem Kopf ge­gen die Zel­len­tür ge­rannt, im­mer mit dem Schä­del vor­an ge­gen die Zel­len­tür, bis er dann vor Be­täu­bung am Bo­den lie­gen­ge­blie­ben war … Das war sei­ne Art Nar­ko­se, durch die er die­se Näch­te über­stand!

Aber er war nach die­sen elf Wo­chen Un­ter­su­chungs­haft na­tür­lich nicht in sehr freund­li­cher Stim­mung nach Haus zu­rück­ge­kehrt. Selbst­ver­ständ­lich hat­ten sie ihm nicht das Ge­rings­te nach­wei­sen kön­nen, das wäre ja auch ge­lacht; aber die­se elf Wo­chen hät­te er sich er­spa­ren kön­nen, wenn Otti nicht so ein Aas ge­we­sen wäre! Und wie ein Aas be­han­del­te er sie nun auch, sie, die mit ih­ren Freun­den kein schlech­tes Le­ben in sei­ner Woh­nung ge­führt hat­te (de­ren Mie­te sie re­gel­mä­ßig be­zahl­te), wäh­rend er hat­te Taue zup­fen und vor Angst halb wahn­sin­nig wer­den müs­sen.

Von da an ha­gel­te es Schlä­ge in der Bark­hau­sen’­schen Woh­nung. Bei dem ge­rings­ten Mucks schlug der Mann zu, ganz gleich, was er in der Hand hat­te, er schmiss es ihr in die Fres­se, dem Aas, dem ver­damm­ten, das ihn so ins Un­glück ge­bracht hat­te.

Aber auch Otti setz­te sich zur Wehr. Nie war Es­sen für ihn da, nie Geld, nie was zu rau­chen. Sie schrie un­ter sei­nen Schlä­gen, dass die Haus­be­woh­ner zu­sam­men­lie­fen, und alle nah­men sie Par­tei ge­gen Bark­hau­sen, wo sie doch ge­nau wuss­ten, sie war nichts als eine ge­mei­ne Nut­te. Und dann ei­nes Ta­ges, als er ihr bü­schel­wei­se die Haa­re vom Kopf ge­ris­sen hat­te, tat sie das All­er­ge­meins­te: sie ver­schwand auf Nim­mer­wie­der­se­hen aus der Woh­nung und ließ ihn sit­zen mit den rest­li­chen vier Gö­ren, von de­nen bei kei­nem sei­ne Va­ter­schaft si­cher war. Ver­dammt noch mal, Bark­hau­sen hat­te rich­tig auf Ar­beit ge­hen müs­sen, sonst wä­ren sie alle ver­hun­gert, und die zehn­jäh­ri­ge Pau­la führ­te nun die Wirt­schaft.

Ein be­schei­de­nes Jahr, ein wahr­haft be­schis­se­nes Jahr war das ge­we­sen! Und dazu die­ser im­mer wei­ter­boh­ren­de Hass auf die Per­sickes, de­nen er nichts aus­wi­schen konn­te noch durf­te, die ohn­mäch­ti­ge Wut und Ei­fer­sucht, als im Hau­se be­kannt wur­de, der Bal­dur käme auf eine Na­po­la, und schließ­lich das klei­ne, dün­ne Wie­der­auf­glim­men von Hoff­nung, als er den Suff des al­ten Per­si­cke be­ob­ach­te­te – viel­leicht – viel­leicht doch …

Und nun saß er in der Woh­nung der Per­sickes, da auf dem Tisch­chen un­ter dem Fens­ter stand der Ra­dio­ap­pa­rat, den Bal­dur der al­ten Ro­sen­thal ge­klaut hat­te. Bark­hau­sen war nahe am Ziel, und nun kam es nur noch dar­auf an, wie er die­se Wan­ze da un­ver­däch­tig weg­krieg­te …

Bark­hau­sens Au­gen leuch­ten auf, wenn er dar­an denkt, wie Bal­dur to­ben wür­de, wenn er den Bark­hau­sen da am Tisch sit­zen sähe. Die­ser schlaue Fuchs, der Bal­dur, aber im­mer noch nicht schlau ge­nug. Ge­duld ist manch­mal mehr wert als Schlau­heit. Und plötz­lich fällt Bark­hau­sen ein, wie es der Bal­dur mit ihm und dem Enno Klu­ge ei­gent­lich hat­te trei­ben wol­len, da­mals als sie in die Woh­nung der Ro­sen­thal ein­ge­bro­chen wa­ren, das heißt, ein rich­ti­ger Ein­bruch war es ja gar nicht ge­we­sen, son­dern eine be­stell­te Sa­che …

Bark­hau­sen schiebt die Un­ter­lip­pe vor, er be­trach­tet sein wäh­rend des lan­gen Schwei­gens sehr zap­pe­lig ge­wor­de­nes Ge­gen­über nach­denk­lich und sagt: »Na, dann zei­gen Sie mir mal, was Sie in den Kof­fern ha­ben!«

»Hö­ren Sie mal«, die Rat­te ver­sucht sich zu wi­der­set­zen, »ich glau­be, das ist ein biss­chen viel ver­langt. Wenn mir mein Freund, der Herr Per­si­cke, er­laubt hat – das über­schrei­tet doch Ihre Rech­te als Haus­ver­wal­ter …«

»Ach, quas­seln Sie nicht!«, sagt Bark­hau­sen. »Ent­we­der zei­gen Sie mir hier, was Sie in den Kof­fern ha­ben, oder wir bei­de ge­hen ge­mein­sam zur Po­li­zei.«

»Ich brau­che es nicht«, stellt die Rat­te quie­kend fest, »aber ich zei­ge es Ih­nen frei­wil­lig. Mit der Po­li­zei hat man im­mer bloß Sche­re­rei­en, und wo jetzt mein Par­t­ei­ge­nos­se Per­si­cke so krank ge­wor­den ist, kann es viel­leicht noch Tage dau­ern, bis er mei­ne An­ga­ben be­stä­tigt.«

»Los! Los! Auf­ma­chen!«, sagt Bark­hau­sen plötz­lich wild und hat nun doch einen Schluck aus der Fla­sche ge­nom­men.

Die Rat­te Klebs sieht ihn an, plötz­lich kommt ein hä­mi­sches Lä­cheln in das Ge­sicht des Spit­zels. »Los! Los! Auf­ma­chen!« Durch die­sen Ruf hat Bark­hau­sen sei­ne Gier ver­ra­ten. Er hat auch ver­ra­ten, dass er nicht der Haus­ver­wal­ter ist, und wenn er es doch sein soll­te, so ist er ein Haus­ver­wal­ter, der die Ab­sicht hat, un­ge­treu zu sein.

 

»Na, Kum­pel?«, sagt die Rat­te plötz­lich in ei­nem ganz an­de­ren Ton. »Wol­len wir nicht hal­be-hal­be ma­chen?«

Und ein Faust­schlag schickt ihn zu Bo­den. Der Si­cher­heit hal­ber gibt Bark­hau­sen dem Klebs noch zwei, drei Schlä­ge mit ei­nem Stuhl­bein nach. So, der wird nicht muck­sen die nächs­te Stun­de!

Und dann fängt Bark­hau­sen an ein­zu­pa­cken, um­zu­pa­cken. Wie­der wech­selt die ehe­mals Ro­sent­hal’­sche Wä­sche den Be­sit­zer. Bark­hau­sen ar­bei­tet rasch und völ­lig ru­hig. Dies­mal soll kei­ner zwi­schen ihn und den Er­folg tre­ten. Lie­ber macht er alle hin, und wenn er die Kohl­rü­be da­für her­ge­ben muss! Er lässt sich nicht noch ein­mal nep­pen.

Und es war dann, eine Vier­tel­stun­de spä­ter, doch nur ein ganz kur­z­er Kampf mit den bei­den Schu­pos, als Bark­hau­sen aus der Woh­nung trat. Ein biss­chen Ge­tram­pel und Ge­zer­re nur, dann war Bark­hau­sen ge­bän­digt und ge­fes­selt.

»So!«, sag­te der klei­ne Herr Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm zu­frie­den. »Und da­mit, glau­be ich, ist es mit Ih­rer Wirk­sam­keit in die­sem Hau­se für im­mer vor­bei, Herr Bark­hau­sen. Ich wer­de nicht ver­ges­sen, Ihre Kin­der der Für­sor­ge zu über­ge­ben. Aber das in­ter­es­siert Sie wohl we­ni­ger. So, mei­ne Her­ren, und nun müs­sen wir noch in die Woh­nung. Ich will hof­fen, Herr Bark­hau­sen, dass Sie mit dem klei­nen Herrn, der vor Ih­nen die Trep­pe hin­auf­ging, nichts gar zu Schlim­mes an­ge­stellt ha­ben. Und dann wer­den wir ja wohl auch noch den Herrn Per­si­cke fin­den, Herr Wacht­meis­ter, letz­te Nacht hat­te der einen An­fall von De­li­ri­um tre­mens.«

44. Zwischenspiel: Ein Idyll auf dem Lande

Die Ex-Brief­trä­ge­rin Eva Klu­ge ar­bei­tet auf dem Kar­tof­fela­cker, ge­nau wie sie es ein­mal ge­träumt hat. Es ist ein schö­ner, für die Ar­beit ziem­lich hei­ßer Früh­som­mer­tag, der Him­mel ist strah­lend blau, und es ist, be­son­ders hier in der ge­schütz­ten Ecke nahe am Wal­de, fast wind­still. Wäh­rend des Ha­ckens hat Frau Eva ein Klei­dungs­stück nach dem an­de­ren ab­ge­legt; nun trägt sie nur noch Blu­se und Rock. Ihre kräf­ti­gen, nack­ten Bei­ne wie ihr Ge­sicht, wie ihre Arme sind gol­dig­braun.

Ihre Ha­cke trifft Mel­de, He­de­rich, Dis­teln, Que­cken – sie kommt nur lang­sam vor­wärts, der Acker ist sehr ver­un­krau­tet. Oft trifft ihre Ha­cke auch einen Stein, dann klingt es sil­bern sin­gend – das hört sich gut an. Nun ge­rät Frau Eva nahe dem Wald­rand in ein Nest des ro­ten Wei­de­rich – die­se Sen­ke ist feucht, die Kar­tof­feln küm­mern, aber der rote Wei­de­rich tri­um­phiert. Ei­gent­lich hat sie jetzt früh­stücken wol­len, und nach dem Stand der Son­ne zu ur­tei­len, wäre es auch Zeit da­für, aber nun will sie doch lie­ber erst die­se Wei­de­rich­pest ver­nich­ten, ehe sie pau­siert. Sie hackt an­ge­strengt, ihre Lip­pen sind fest ge­schlos­sen. Sie hat es hier auf dem Lan­de ge­lernt, das Un­kraut zu ver­ach­ten, die­ses Un­ge­zie­fer, er­bar­mungs­los hackt sie dar­auf los.

Aber wenn Frau Evas Mund auch fest ge­schlos­sen ist, ihr Auge blickt klar und ru­hig. Der Blick hat nicht mehr den stren­gen, stets ver­sorg­ten Aus­druck wie vor zwei Jah­ren in ih­rer Ber­li­ner Zeit. Sie ist ru­hig ge­wor­den, sie hat über­wun­den. Sie weiß, dass der klei­ne Enno tot ist, Frau Gesch hat es ihr aus Ber­lin ge­schrie­ben. Sie weiß, dass sie bei­de Söh­ne ver­lo­ren hat – Max ist in Russ­land ge­fal­len, und Kar­le­mann ist ihr ver­lo­ren. Sie ist noch nicht ganz fünf­und­vier­zig Jah­re alt, sie hat noch ein gu­tes Stück Le­ben vor sich, sie ver­zwei­felt nicht, sie ar­bei­tet. Sie will die ihr noch ver­blei­ben­den Jah­re nicht ein­fach ver­war­ten, sie will et­was schaf­fen.

Sie hat auch et­was, auf das sie sich alle Tage freu­en kann: das ist das all­täg­li­che abend­li­che Zu­sam­men­sein mit dem Aus­hilfs­schul­meis­ter des Dor­fes. Der »rich­ti­ge« Leh­rer Schwoch, ein wü­ten­des Par­tei­mit­glied, ein klei­ner, fei­ger Kläf­fer und De­nun­zi­ant, der hun­dert Mal mit Trä­nen in den Au­gen ver­si­chert hat, wie leid es ihm tue, dass er nicht an die Front dür­fe, son­dern nach dem Be­fehl des Füh­rers auf sei­nem länd­li­chen Pos­ten aus­har­ren müs­se – der »rich­ti­ge« Leh­rer Schwoch also ist nun doch trotz al­ler ärzt­li­chen At­tes­te zur Wehr­macht ein­ge­zo­gen wor­den. Das ist nun fast ein hal­b­es Jahr her. Aber der Weg zur Front muss für die­sen Kampf­be­geis­ter­ten schwie­rig sein: vor­läu­fig sitzt der Leh­rer Schwoch noch im­mer als Schrei­ber auf ei­ner Zahl­meis­ter­stu­be. Öf­ter fährt Frau Schwoch mit Speck und Schin­ken zu ih­rem Mann, aber der Mann isst wohl nicht al­lei­ne die­se köst­li­chen Fet­tig­kei­ten: Es habe ge­klappt, jetzt wür­de ihr gu­ter Wal­ter Un­ter­of­fi­zier, hat Frau Schwoch nach ih­rer letz­ten Speck­rei­se ver­kün­det. Un­ter­of­fi­zier – wo doch nach ei­nem Be­fehl des Füh­rers Be­för­de­run­gen nur bei der kämp­fen­den Trup­pe er­fol­gen durf­ten. Aber für glü­hen­de Par­t­ei­ge­nos­sen mit Schin­ken und Speck gel­ten sol­che Führ­er­be­feh­le na­tür­lich nicht.

Nun, Frau Eva Klu­ge ist das gleich­gül­tig. Sie weiß jetzt ge­nau, wie das al­les ist, seit sie aus der Par­tei aus­ge­tre­ten ist. Ja­wohl, sie war in Ber­lin; als sie wie­der die nö­ti­ge in­ne­re Ruhe ge­won­nen hat­te, fuhr sie nach Ber­lin und stell­te sich dem Par­t­ei­ge­richt und dem Post­amt. Es wa­ren kei­ne an­ge­neh­men Tage ge­we­sen, bei Wei­tem nicht, sie war an­ge­brüllt, be­droht und wäh­rend ih­rer fünf­tä­gi­gen Haft auch ein­mal ver­prü­gelt wor­den, das KZ war ihr nahe ge­we­sen – aber schließ­lich hat­te man sie lau­fen­las­sen. Staats­fein­din – nun, sie wür­de es ja ei­nes Ta­ges noch er­le­ben, was sie da­von hat­te.

Eva Klu­ge hat­te ih­ren Haus­stand auf­ge­löst. Vie­les hat­te sie ver­kau­fen müs­sen, denn im Dorf hat­te man ihr nur eine Stu­be be­wil­ligt, aber sie wohn­te jetzt für sich al­lein. Sie ar­bei­te­te auch nicht mehr bloß für den Schwa­ger, der ihr am liebs­ten nur die Kost und nie Geld ge­ge­ben hät­te, sie sprang über­all bei den Bau­ern ein. Sie mach­te nicht nur Feld- und Ho­f­ar­beit, son­dern be­tä­tig­te sich auch als Kran­ken­pfle­ge­rin, als Nä­he­rin, als Gärt­ne­rin, als Schaf­sche­re­rin. Sie hat­te ge­schick­te Hän­de, ei­gent­lich war es nie so, als wenn sie et­was Neu­es lern­te, son­dern als er­in­ne­re sie sich nur ei­ner lan­ge nicht aus­ge­üb­ten Ar­beit. Die steck­te ihr im Blut, die Land­ar­beit.

Aber die­ses gan­ze klei­ne, nun fried­vol­le Le­ben, das sie sich da in all dem Zu­sam­men­bruch auf­ge­rich­tet hat­te, be­kam erst sein rech­tes Licht und sei­ne Freu­de durch den stell­ver­tre­ten­den Leh­rer Kien­schä­per. Kien­schä­per war ein lan­ger, im­mer et­was vorn­über­ge­beugt ge­hen­der Mann aus­gangs der Fünf­zi­ger, mit wei­ßen, flat­tern­den Haa­ren und ei­nem sehr brau­nen Ge­sicht, in dem jun­ge blaue Au­gen lä­chel­ten. So wie Kien­schä­per die Kin­der des klei­nen Dor­fes mit die­sen lä­cheln­den blau­en Au­gen bän­dig­te und sie aus der za­cki­gen Er­zie­hung sei­nes Vor­gän­gers in et­was mensch­li­che­re Ge­fil­de führ­te, so wie er, mit ei­ner Baum­sche­re be­waff­net, durch die Bau­ern­gär­ten ging und die wild­wach­sen­den Obst­bäu­me von Was­ser­schos­sen und to­tem Holz be­frei­te, Krebs­wun­den aus­schnitt und mit Kar­bo­li­ne­um ver­strich – so hat­te er auch die Wun­den Evas ge­heilt, Bit­ter­keit auf­ge­löst, ihr Frie­den ge­bracht.

Nicht gra­de, dass er viel dar­über ge­spro­chen hät­te, Kien­schä­per war kein großer Red­ner. Aber wenn er mit ihr auf sei­nem Bie­nen­stand war und von dem Le­ben der Bie­nen er­zähl­te, die er lei­den­schaft­lich lieb­te, wenn er mit ihr abends durch die Fel­der ging und ihr zeig­te, wie lie­der­lich die­ser Acker be­stellt war und mit wie we­nig Ar­beit er wie­der er­trag­rei­cher zu ma­chen wäre, wenn Kien­schä­per ei­ner Kuh beim Kal­ben half, einen um­ge­fal­le­nen Zaun, ohne ge­be­ten zu sein, wie­der auf­rich­te­te, wenn er an der Or­gel saß und sach­te nur für sie und sich spiel­te, wenn al­les hin­ter sei­nen Schrit­ten ge­ord­net und fried­lich er­schi­en – so tat das für Evas Be­frie­dung mehr als alle trös­ten­den Wor­te. Ein sich nei­gen­des Le­ben in ei­ner Zeit vol­ler Hass, Trä­nen und Blut, aber frie­de­voll, Frie­den at­mend.

Die Leh­rers­frau Schwoch, die noch na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher war als ihr kriegs­be­geis­ter­ter Mann, hass­te na­tür­lich so­fort die­sen Kien­schä­per und tat ihm al­les zum Tort, was ih­rem ge­häs­si­gen Hirn nur ein­fiel. Sie hat­te den Stell­ver­tre­ter ih­res Man­nes zu be­hau­sen und zu be­kö­s­ti­gen, aber sie tat es mit solch ge­nau­er Be­rech­nung, dass Kien­schä­per vor dem Schul­an­fang nie ein Früh­stück be­kam, dass sein Es­sen stets an­ge­brannt war, sei­ne Stu­be aber nie ge­säu­bert.

Doch ge­gen sei­ne hei­te­re Ge­las­sen­heit war sie macht­los. Sie konn­te sich er­hit­zen, stür­men, gei­fern, Übles von ihm re­den, an der Tür des Klas­sen­zim­mers lau­schen und dann beim Schul­rat De­nun­zia­tio­nen vor­brin­gen – un­ver­än­dert sprach er mit ihr wie mit ei­nem un­ge­zo­ge­nen Kind, das sei­ne Un­ar­ten ei­nes Ta­ges schon von selbst ein­se­hen wird. Und schließ­lich gab sich Kien­schä­per bei Frau Eva Klu­ge in Kost, zog ins Dorf, und die fet­te, zor­ni­ge Schwoch konn­te ih­ren Krieg nur noch aus der Fer­ne ge­gen ihn füh­ren.

Wann Frau Eva Klu­ge und der weiß­haa­ri­ge Leh­rer Kien­schä­per zu­erst da­von ge­spro­chen hat­ten, dass sie ei­gent­lich hei­ra­ten könn­ten, wuss­ten bei­de nicht. Vi­el­leicht hat­ten sie auch nie da­von ge­spro­chen. Es hat­te sich ganz von selbst er­ge­ben. Sie hat­ten es auch nicht ei­lig da­mit – ei­nes Ta­ges, ir­gend­wann, wür­de es so weit sein. Zwei al­tern­de Leu­te, die kei­nen ein­sa­men Fei­er­abend ha­ben woll­ten. Nein, kei­ne Kin­der mehr, nie wie­der Kin­der – da­vor schau­der­te Frau Eva. Aber Ka­me­rad­schaft, ver­ste­hen­de Lie­be und vor al­lem Ver­trau­en. Sie, die in ih­rer gan­zen ers­ten Ehe nie hat­te ver­trau­en dür­fen, sie, die im­mer hat­te füh­ren müs­sen, sie will sich jetzt die letz­te Le­bens­stre­cke ver­trau­ens­voll füh­ren las­sen. Als es ganz dun­kel war, da, als sie völ­lig ver­zagt war, da trat noch ein­mal die Son­ne durch die Wol­ken.

Der rote Wei­de­rich liegt am Bo­den, fürs Ers­te ist er ein­mal aus­ge­rot­tet. Ge­wiss, er wird nach­wach­sen, das ist so ein Un­kraut, das muss man beim Pflü­gen aus der lo­cke­ren Erde sam­meln, je­des un­ter­ir­di­sche Wur­zel­stück­chen treibt im­mer wie­der neu aus. Aber Frau Eva kennt jetzt die­se Stel­le, sie wird sie nicht ver­ges­sen, sie wird so lan­ge hier­her­ge­hen, bis der Wei­de­rich völ­lig aus­ge­rot­tet ist.

Ei­gent­lich könn­te sie jetzt früh­stücken, es wäre Zeit da­für, ihr Ma­gen sagt es auch. Aber als sie zu den im Schat­ten des Wald­ran­des hin­ge­leg­ten Bro­ten und ih­rer Kaf­fee­fla­sche hin­blickt, sieht sie, dass sie nicht früh­stücken wird, heu­te nicht, ihr Ma­gen hat still zu sein. Denn da ist schon ei­ner am Werk, ein viel­leicht vier­zehn­jäh­ri­ger Jun­ge, un­glaub­lich ab­ge­ris­sen und ver­dreckt, und er schlingt an ih­ren Bro­ten, als sei er dem Ver­hun­gern nahe ge­we­sen.

So sehr ist die­ser Jun­ge mit sei­ner Sät­ti­gung be­schäf­tigt, dass er gar nicht dar­auf ach­tet, wie die Ha­cke im Un­kraut­a­cker still ge­wor­den ist. Er fährt erst zu­sam­men, als die Frau di­rekt vor ihm steht, und starrt sie mit großen blau­en Au­gen un­ter sei­nem ver­filz­ten Schopf blon­der Haa­re an. Ob­wohl er nun beim Steh­len er­wi­scht und die Flucht nicht mehr nö­tig ist, blickt der Ben­gel nicht angst­voll oder schuld­be­wusst, son­dern sein Auge sieht eher her­aus­for­dernd drein.

In den letz­ten Mo­na­ten hat das Dorf und in ihm Frau Klu­ge sich an die­se Kin­der ge­wöh­nen ge­lernt: die Flie­ger­an­grif­fe auf Ber­lin ha­ben sich stän­dig ge­stei­gert, und die Be­völ­ke­rung ist auf­ge­for­dert wor­den, ihre Kin­der aufs Land zu schi­cken. Die Pro­vinz ist mit Ber­li­ner Kin­dern über­schwemmt. Aber selt­sam, man­che die­ser Kin­der konn­ten sich durch­aus nicht an das stil­le Land­le­ben ge­wöh­nen. Hier hat­ten sie Ruhe, bes­se­res Es­sen, un­ge­stör­ten Nacht­schlaf, aber sie hiel­ten es nicht aus, es zog sie in die große Stadt zu­rück. Und sie mach­ten sich auf den Weg; bar­fuß, um ein biss­chen Es­sen bet­telnd, ohne Geld, von den Land­jä­gern be­droht, such­ten sie un­be­irrt ih­ren Weg in die fast all­nächt­lich bren­nen­de Stadt zu­rück. Auf­ge­grif­fen, in ihre länd­li­che Ge­mein­de zu­rück­ge­schickt, war­te­ten sie es kaum ab, dass sie wie­der ein biss­chen auf­ge­füt­tert wur­den, und sie lie­fen von Neu­em los.

 

Die­ser da mit dem her­aus­for­dern­den Blick, der Frau Evas Früh­stücks­brot aß, war wohl schon lan­ge un­ter­wegs. Die Frau konn­te sich nicht er­in­nern, je eine so zer­lump­te, ver­dreck­te Ge­stalt ge­se­hen zu ha­ben. Im Haar hin­gen ihm Stroh­hal­me, und in den Ohren hät­te man Mohr­rü­ben säen kön­nen.

»Na, schmeck­t’s?«, frag­te Frau Klu­ge.

»Klar!«, sag­te er, und schon dies eine Wort ver­riet sei­ne Ber­li­ner Her­kunft.

Er sah sie an. »Wills­te mir va­haun?«, frag­te er.

»Nein«, sag­te sie. »Iss nur ru­hig wei­ter. Bei mir geht’s auch mal ohne Früh­stück, und du hast Hun­ger.«

»Klar!«, sag­te er wie­der nur. Und dann: »Wills­te mir nach­her lau­fen­las­sen?«

»Vi­el­leicht«, ant­wor­te­te sie. »Aber viel­leicht bist du ein­ver­stan­den, dass ich dich vor­her wa­sche und dei­ne Klei­der ein biss­chen in Ord­nung brin­ge. Vi­el­leicht fin­de ich auch noch eine pas­sen­de hei­le Hose für dich.«

»Det lass man!«, sag­te er ab­wei­send. »Die ver­scheu­er ick bloß, wenn ick Kohldampf habe. Wat denks­te, wat ick al­les schon ver­scheu­ert habe in dem Jahr, wo ick uff de Wal­ze bin! Min­des­tens fuff­zehn Ho­sen! Und zehn Paar Schu­he!«

Er sah sie tri­um­phie­rend an.

»Und warum er­zählst du mir das?«, frag­te sie. »Für dich wäre es doch vor­teil­haf­ter ge­we­sen, du hät­test die Hose ge­nom­men und mir nichts ge­sagt.«

»Weeß ick nich«, sag­te er ab­wei­send. »Va­leicht weil de mir nich aus­ge­schimpft hast, weil ick dein Früh­stück je­klaut habe. Ick fin­de Schimp­fen blö­de.«

»Also ein Jahr bist du schon un­ter­wegs?«

»Det is ’n biss­ken je­prahlt. Den Win­ter über bin ick un­ter­je­kro­chen. Bei so ’nem Knei­pier in ’nem Kaff. Hab die Schwei­ne je­füt­tert und Bier­jlä­ser je­wa­schen, ick hab al­let je­macht. Det war ’ne janz jute Zeit«, sag­te er nach­denk­lich. »’ne ul­ki­ge Kru­ke, der Jast­wirt. Imma be­sof­fen, aber mit mir hat er je­re­det, als wär ick detsel­be wie er, eben­so alt und so. Da ha’ck Schnapstrin­ken und Rau­chen je­lernt. Mags­te ooch Schnaps?«

Frau Klu­ge ver­schob die Er­ör­te­rung der Fra­ge, ob Schnapstrin­ken für vier­zehn­jäh­ri­ge Jun­gens ge­ra­de rät­lich sei, auf spä­ter.

»Aber du bist dann da doch wie­der fort­ge­lau­fen? Willst du zu­rück nach Ber­lin?«

»Nee«, sag­te der Jun­ge. »Bei mei­ne Leu­te jeh ick nich mehr. Die sind mir zu je­wöhn­lich.«

»Aber dei­ne El­tern wer­den sich Sor­gen um dich ma­chen; sie wis­sen doch gar nicht, wo du steckst!«

»Die un Sor­jen! Die sind froh, det se mir los sind!«

»Was ist denn dein Va­ter?«

»Der? Ach, der is so ’n biss­ken von al­let: Louis un Spit­zel, und klau­en tut der ooch. Wenn a wat zu klau­en findt. Bloß, er is duss­lig, er findt nie wat Rechts.«

»So«, sag­te Frau Klu­ge, und nach die­sen Er­öff­nun­gen klang ihre Stim­me doch et­was schär­fer. »Und was sagt dei­ne Mut­ter dazu?«

»Mei­ne Mut­ta? Wat soll die sagn? Die is doch ooch bloß Nut­te!«

Batsch! Nun hat­te er doch, trotz ih­res Ver­spre­chens, sei­ne Ohr­fei­ge weg.

»Schämst du dich denn gar nicht, so von dei­ner Mut­ter zu re­den? Pfui Dei­bel!«

Der Ben­gel rieb sich, ohne die Mie­ne zu ver­zie­hen, die Ba­cke.

»Die hat je­ses­sen«, stell­te er fest. »Von die Sor­te möch­te ick nich mehr.«

»Du sollst nicht so von dei­ner Mut­ter spre­chen! Ver­stehst du?«, sag­te sie zor­nig.

»Wa­rum denn nich?«, frag­te er und lehn­te sich zu­rück. Er blin­zel­te, jetzt völ­lig ge­sät­tigt, be­hag­lich auf sei­ne Gast­ge­be­rin. »Wa­rum denn nich! Wo se doch mal ’ne Nut­te is. Sie sag­t’s doch sel­ber. ›Wenn ick nich uff ’n Strich gin­ge‹, hat se oft je­sacht, ›müss­tet ihr alle va­hun­gern!‹ Wa sind nem­lich fümf Je­schwis­ter, aba alle mit ’n an­de­ren Vata. Mei­ner soll ’n Rit­ta­jut in Pom­mern habn. Ick wollt ’n ei­jent­lich su­chen jehn un ihn ma be­kie­ken. Muss ’ne ul­ki­ge Pflau­me sein, Kuno-Die­ter heiß­ta mit Vor­na­men. Es kann nich ville mit so ’n duss­li­gen Vor­na­men jebn, fin­den müsst ick ihn ei­jent­lich …«

»Kuno-Die­ter«, sag­te Frau Klu­ge. »Du heißt also auch Kuno-Die­ter?«

»Sach man lie­ber Kuno, den Die­ter kanns­te dir an ’n Hut ste­cken!«

»Also, Kuno, sag mal, in wel­che Ge­mein­de bist du denn eva­ku­iert? Wie heißt das Dorf, wo­hin du mit der Bahn ge­fah­ren bist?«

»Ick bin doch nich eva­ku­iert! Ick bin doch von mei­ne Ol­len je­türmt!«

Er lag jetzt auf der Sei­te, die schmut­zi­ge Ba­cke ruh­te auf dem eben­so schmut­zi­gen Un­ter­arm. Er blin­zel­te sie trä­ge an, völ­lig be­reit zu ei­nem klei­nen Quatsch. »Ick will dir er­zäh­len, wie al­let je­kom­men is. Also, wat mein so­je­nann­ter Vata is, der hat mich da­mals, det is schon über ’n Jahr her, um fuff­zig Emm be­schis­sen, und dazu hat a mir noch va­kloppt. Na, da ha’ck mir ’n paar Freun­de je­holt, det heeßt, Freun­de wa­ren’s ei­jent­lich ooch nich, so Halb­star­ke, weeß­te, un denn sind wa alle über Va­tan her und ha­ben nu ma ihn vat­rimmt. Det war den Mann janz je­sund, hat a doch mal je­lernt, det det nich imma so jeht: die Jro­ßen uff de Klee­nen! Und denn ham wa ihn noch sein Jeld aus die Ta­sche je­klaut. Ick weeß nich, wie viels je­we­sen ist, die Jro­ßen von uns ham’s je­teilt. Ick hab bloß zwan­zich Emm je­kricht, und denn ham se mir je­sacht: Hau du bloß ab, dein Olla schlächt dir tot oder steckt dir in Für­sor­ge. Mach uff ’t Land bei de Bau­ern. Und da bin ick denn uff ’t Land bei de Bau­ern je­macht. Un een janz schö­net Le­ben ha’ck seit­dem je­führt, det kann ick wohl be­haup­ten!«

Er schwieg und sah sie wie­der an.

Sie sah still auf ihn hin­un­ter, sie dach­te an Kar­le­mann. Die­ser war nur noch drei Jah­re spä­ter auch ein Kar­le­mann, ohne Lie­be, ohne Glau­ben, ohne Stre­ben, nur auf sich selbst be­dacht.

Sie frag­te: »Und was, denkst du, soll ein­mal aus dir wer­den, Kuno?« Und sie setz­te hin­zu: »Du willst wohl spä­ter mal zu der SA oder zu der SS?«

Lang ge­dehnt: »Bei die Brü­der? So blau! Die sind ja noch schlim­ma wie Vata! Imma bloß schimp­fen un kom­man­die­ren! Nee, dan­ke für Back­obst, det is nischt für mich!«

»Aber viel­leicht wür­de es dir Spaß ma­chen, wenn du erst an­de­re kom­man­die­ren kannst?«

»Wie­so denn det? Nee, ich bin for so wat nich. Weeß­te – wie heiß­te ei­jent­lich?«

»Eva – Eva Klu­ge.«

»Weeß­te, Eva, wat mir rich­tig Spaß ma­chen wür­de, det wäre Auto. Von’t Auto möcht ick jer­ne al­let wis­sen, woso der Mo­tor funk­tio­niert und wie det is mit Va­ja­ser un Zün­dung – nee, nich, wie det is, det weeß ick schon hal­we­je, aba warum det so is … Aba det möcht ick schon ma wis­sen, bloß, for so wat bin ick zu doof. Mir ham se in mei­ne Ju­gend zu ville uff de Bir­ne ge­kloppt, seit­dem is die weech. Nich ma rich­tich schrei­ben kann ick!«

»Aber so dumm siehst du gar nicht aus! Ich bin si­cher, du lernst das, das Schrei­ben und spä­ter auch das mit den Mo­to­ren.«

»Ler­nen? Noch­ma in de Schu­le jehn? Knif, kommt nicht in Fra­ge, für so wat bin ick schon zu alt. Ick hab doch schon zwei Je­lieb­te je­habt.«

Ei­nen Au­gen­blick schau­der­te ihr. Aber dann sag­te sie mu­tig: »Glaubst du denn, so ein In­ge­nieur oder Tech­ni­ker hat je aus­ge­lernt? Die müs­sen doch im­mer wei­ter­ler­nen, auf der Hoch­schu­le oder in Abend­kur­sen.«