Hans Fallada – Gesammelte Werke

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47. Der verhängnisvolle Montag

An die­sem Mon­tag, der den Quan­gels so ver­häng­nis­voll wer­den soll­te;

an die­sem Mon­tag, acht Wo­chen nach­dem Esche­rich wie­der in sein Amt ein­ge­setzt war;

an die­sem Mon­tag, an dem Emil Bark­hau­sen zu zwei Jah­ren Ge­fäng­nis, die Rat­te Klebs zu ei­nem Jahr ver­ur­teilt wur­de;

an die­sem Mon­tag, da Bal­dur Per­si­cke end­lich aus sei­ner Na­po­la in Ber­lin ein­traf und sei­nen Va­ter in der Trin­ker­heil­stät­te be­such­te;

an die­sem Mon­tag, da Tru­del Her­ge­sell auf dem Bahn­hof Erkner die Trep­pe hin­un­ter­fiel und da­durch eine Fehl­ge­burt hat­te;

an die­sem schick­sals­rei­chen Mon­tag also lag Anna Quan­gel mit ei­ner schwe­ren Grip­pe im Bett. Sie fie­ber­te stark. An ih­rer Sei­te saß Otto Quan­gel, der Dok­tor war ge­gan­gen. Sie strit­ten sich dar­über, ob er heu­te die Kar­ten aus­tra­gen soll­te oder nicht.

»Du gehst nicht mehr, wir ha­ben das fest aus­ge­macht, Otto! Die Kar­ten ha­ben auch bis mor­gen oder über­mor­gen Zeit, da bin ich wie­der auf den Bei­nen!«

»Ich will die Din­ger aus dem Hau­se ha­ben, Anna!«

»Dann gehe ich eben!« Und Anna rich­te­te sich in ih­rem Bett auf.

»Du bleibst lie­gen!« Er drück­te sie in die Kis­sen zu­rück. »Anna, sei nicht tö­richt. Ich habe hun­dert, ich habe zwei­hun­dert Kar­ten ein­ge­steckt …«

In die­sem Au­gen­blick ging die Klin­gel.

Sie fuh­ren er­schro­cken zu­sam­men wie die er­tapp­ten Die­be. Quan­gel steck­te rasch die bei­den Kar­ten ein, die bis­her auf der Bett­de­cke ge­le­gen hat­ten.

»Wer kann das sein?«, frag­te Frau Anna ängst­lich.

Und auch er: »Um die­se Zeit? Mor­gens elf Uhr!«

Sie riet: »Vi­el­leicht ist bei Heff­kes was pas­siert? Oder der Dok­tor ist noch ein­mal zu­rück­ge­kom­men?«

Wie­der ging die Klin­gel.

»Ich wer­de mal nach­se­hen«, mur­mel­te er.

»Nein«, bat sie. »Bleib sit­zen. Wenn wir mit den Kar­ten un­ter­wegs ge­we­sen wä­ren, hät­te der auch um­sonst ge­klin­gelt!«

»Nur mal nach­se­hen, Anna!«

»Nein, mach nicht auf, Otto! Ich bit­te dich! Ich habe ein Vor­ge­fühl: Wenn du die Tür auf­machst, kommt Un­glück ins Haus!«

»Ich gehe ganz lei­se und sage dir erst Be­scheid.«

Er ging.

Sie lag in zor­ni­ger Un­ge­duld. Dass er doch nie und nie nach­gab, ihr nie­mals eine Bit­te er­fül­len konn­te! Es war falsch, was er tat; Un­glück lau­er­te drau­ßen, aber jetzt fühl­te er es nicht, wo es wirk­lich da war. Und nun hält er nicht ein­mal sein Wort! Sie hört, er hat die Tür ge­öff­net und spricht mit ei­nem Mann. Und er hat ihr doch fest ver­spro­chen, ihr erst Be­scheid zu sa­gen.

»Nun, was ist? Rede doch, Otto! Du siehst, ich ver­ge­he vor Un­ge­duld! Was ist das für ein Mann? Er ist noch nicht aus der Woh­nung!«

»Es ist nichts Auf­re­gen­des, Anna. Bloß ein Bote aus der Fa­brik. Der Werk­meis­ter von der Vor­mit­tags­schicht ist ver­un­glückt – ich muss so­fort für ihn ein­sprin­gen.«

Sie legt sich, nun doch ein we­nig be­ru­higt, in die Kis­sen zu­rück. »Und du gehst?«

»Na­tür­lich!«

»Du hast noch kein Mit­ta­ges­sen!«

»Ich wer­de schon was in der Kan­ti­ne krie­gen!«

»Ste­cke dir we­nigs­tens Brot ein!«

»Ja, ja, Anna, sor­ge dich um nichts. Es ist schlimm, dass ich dich hier so lan­ge al­lein lie­gen­las­sen muss.«

»Um eins hät­test du doch ge­hen müs­sen.«

»Ich wer­de mei­ne ei­ge­ne Schicht gleich hin­ter­her ab­rei­ßen.«

»Der Mann war­tet?«

»Ja, ich fah­re gleich mit ihm zu­rück.«

»Also komm schnell wie­der, Otto. Nimm heut mal die Elek­tri­sche!«

»Ver­steht sich, Anna. Gute Bes­se­rung!«

Er war schon im Ge­hen, da rief sie: »Ach, bit­te, Otto, gib mir doch noch einen Kuss!«

Er kam zu­rück, ein we­nig ver­wun­dert, ein we­nig ver­le­gen we­gen die­ses bei ih­nen so un­ge­wohn­ten Zärt­lich­keits­be­dürf­nis­ses. Er drück­te sei­ne Lip­pen auf ih­ren Mund.

Sie zog sei­nen Kopf fest an sich und küss­te ihn herz­haft.

»Ich bin dumm, Otto«, sag­te sie. »Ich habe noch im­mer Angst. Das macht wohl das Fie­ber. Aber jetzt geh!«

So trenn­ten sie sich. Als freie Men­schen soll­ten sie sich nie wie­der­se­hen. An die Post­kar­ten in sei­ner Ta­sche hat­ten sie bei­de im ei­li­gen Auf­bruch nicht mehr ge­dacht.

Aber dem al­ten Werk­meis­ter fal­len die Kar­ten so­fort wie­der ein, als er mit sei­nem Beglei­ter in der Elek­tri­schen sitzt. Er fasst in die Ta­sche – da sind sie! Er ist un­zu­frie­den mit sich, dar­an hät­te er den­ken müs­sen! Lie­ber hät­te er die Din­ger zu Haus ge­las­sen, lie­ber wäre er noch jetzt aus der Bahn ge­stie­gen, um sie in ir­gend­ei­nem Hau­se ab­zu­le­gen. Aber er fin­det kei­nen Vor­wand, den er sei­nem Beglei­ter plau­si­bel ma­chen kann. So muss er die Kar­ten in den Be­trieb mit­neh­men, et­was, das er noch nie ge­tan hat, das er nie hät­te tun dür­fen – aber jetzt ist es zu spät.

Er steht auf dem Klo­sett. Er hat die Kar­ten schon in den Hän­den, er will sie zer­rei­ßen, fort­spü­len – und sein Blick fällt auf das mit so vie­ler Mühe, in so vie­len Stun­den Ge­schrie­be­ne: es scheint ihm stark, wir­kungs­voll. Es wäre scha­de dar­um, eine sol­che Waf­fe zu ver­nich­ten. Sei­ne Spar­sam­keit, sein »schmut­zi­ger Geiz« hin­dern ihn an der Ver­nich­tung, aber auch sein Re­spekt vor der Ar­beit; al­les, was Ar­beit ge­schaf­fen hat, ist hei­lig. Es ist eine Sün­de, Ar­beit nutz­los zu zer­stö­ren.

Aber in der Ja­cke, die er auch in der Werk­statt trägt, kann er die Kar­ten nicht las­sen. So legt er sie in die Ak­ten­ta­sche zu dem Brot, zu der Ther­mos­fla­sche mit Kaf­fee. Otto Quan­gel weiß sehr wohl, dass an der Sei­te der Ak­ten­ta­sche eine Naht of­fen ist, schon seit Wo­chen soll­te sie zum Satt­ler. Aber der ist über­las­tet mit Ar­beit und hat ge­knurrt, zwei Wo­chen wer­de die Re­pa­ra­tur we­nigs­tens dau­ern. So lan­ge hat Quan­gel die Ta­sche nicht ent­beh­ren wol­len, und es ist ihm ja auch noch nie et­was her­aus­ge­fal­len. Also legt er die Kar­ten un­be­sorgt hin­ein.

Er geht durch die Werk­statt zu den An­klei­de­schrän­ken, lang­sam, schon dort­hin und da­hin schau­end. Es ist eine frem­de Be­leg­schaft, er sieht kaum ein be­kann­tes Ge­sicht, manch­mal nickt er. Ein­mal legt er auch Hand an. Die Leu­te se­hen ihn neu­gie­rig an, ihn ken­nen vie­le: Ach ja, das ist der olle Quan­gel, ein ko­mi­scher Vo­gel, aber sei­ne Be­leg­schaft schimpft nie auf ihn, ge­recht ist er, das muss man ihm las­sen. I wo, ein An­trei­ber ist er, das Letz­te holt er aus sei­nen Leu­ten her­aus. Aber nein, nie schimpft je­mand aus sei­ner Be­leg­schaft auf ihn. Wie der ko­misch aus­sieht, der hat wohl Schar­nie­re am Kopf, der nickt da­mit so ko­misch. Still, jetzt kommt er zu­rück, der kann Quas­seln auf den Tod nicht aus­ste­hen, der kiekt je­den, der quas­selt, in Grund und Bo­den.

Otto Quan­gel hat sei­ne Ak­ten­ta­sche in den Schrank ge­stellt, die Schlüs­sel sind in sei­ner Ta­sche. Gut, noch elf Stun­den, und die Kar­ten wer­den aus der Fa­brik fort sein, und wenn es dann auch Nacht ist, er wird sie schon los­wer­den, er kann sie nicht noch ein­mal mit nach Haus neh­men. Anna ist im­stan­de und steht auf, bloß um die Kar­ten weg­zu­brin­gen.

Bei die­ser neu­en Be­leg­schaft kann Quan­gel nicht sei­nen ge­wohn­ten Beo­b­ach­ter­pos­ten in der Mit­te des Rau­mes ein­neh­men – wie das ratscht und tratscht! Er muss von ei­ner Grup­pe zur an­de­ren ge­hen, und hier wis­sen sie das noch nicht alle, was sein Schwei­gen und Star­ren be­deu­ten soll; man­che ha­ben ja so­gar die Un­ver­fro­ren­heit, sie wol­len den Meis­ter ins Ge­spräch zie­hen. Es dau­ert eine gan­ze Wei­le, bis die Ar­beit so schnurrt, wie er es ge­wohnt ist, bis sie stil­ler sind und be­grif­fen ha­ben, dass es hier nichts gibt als ar­bei­ten.

Quan­gel will sich ge­ra­de an sei­nen Auf­sichts­pos­ten be­ge­ben, da stockt sein Fuß. Sein Blick wei­tet sich, ein Ruck geht durch ihn: vor ihm auf der Erde, auf dem mit Sä­ge­mehl und Ho­bel­spä­nen be­deck­ten Fuß­bo­den der Werk­statt liegt die eine sei­ner bei­den Kar­ten.

Es zuckt ihm in den Fin­gern, er will die Kar­te so­fort heim­lich auf­he­ben und sieht, dass zwei Schrit­te wei­ter die an­de­re liegt. Un­mög­lich, sie un­ge­se­hen auf­zu­he­ben. Im­mer wie­der rich­tet sich der Blick ei­nes Ar­bei­ters auf den neu­en Meis­ter, und was die Wei­ber sind, so kön­nen sie es nicht las­sen, ihn an­zu­star­ren, als hät­ten sie noch nie einen Mann ge­se­hen.

Ach was, ich hebe sie ein­fach auf, ob sie es nun se­hen oder nicht! Was geht das die an! Nein, ich kann es nicht tun, die Kar­te muss hier schon eine Vier­tel­stun­de lie­gen, ein Wun­der, dass sie nicht schon ei­ner auf­ge­ho­ben hat! Vi­el­leicht hat sie aber schon ei­ner ge­se­hen und rasch wie­der hin­ge­wor­fen, als er den In­halt las. Wenn der mich die Kar­te auf­he­ben und ein­ste­cken sieht!

Ge­fahr! Ge­fahr!, schreit es in Quan­gel. Äu­ßers­te Ge­fahr! Lass die Kar­te lie­gen! Tu, als hät­test du sie nicht ge­se­hen, lass einen an­de­ren sie fin­den! Stell dich auf dei­nen Platz!

Aber plötz­lich geht et­was Selt­sa­mes in Otto Quan­gel vor. So lan­ge nun schon, zwei Jah­re nun schon hat er Post­kar­ten ge­schrie­ben, ver­teilt – aber nie hat er ihre Wir­kung ge­se­hen. Im­mer nur hat er in sei­ner dunklen Höh­le ge­lebt; was mit den Kar­ten wur­de, der Wir­bel, den sie er­zeu­gen muss­ten – er hat ihn sich hun­dert­mal vor­ge­stellt, aber er hat ihn nicht er­lebt.

Ich möch­te das doch ein­mal se­hen, ein ein­zi­ges Mal! Was kann mir denn ge­sche­hen? Ich bin hier ei­ner von acht­zig Ar­bei­tern, alle sind eben­so in Ver­dacht wie ich, ja mehr noch, weil mich je­der als al­tes Ar­beit­s­tier kennt, fern von al­ler Po­li­tik. Ich ris­kie­re es, ich muss es ein­mal er­le­ben.

 

Und ehe er sich noch recht be­son­nen hat, ruft er einen Ar­bei­ter an: »Du da! Heb das mal auf! Die Din­ger muss ei­ner ver­lo­ren ha­ben. Was ist das? Was glotzt du?«

Er nimmt dem Ar­bei­ter die eine Kar­te aus der Hand, er tut, als läse er sie. Aber er kann jetzt nicht le­sen, sei­ne ei­ge­ne große Schrift in Block­buch­sta­ben kann er nicht le­sen. Es ist ihm nicht mög­lich, den Blick vom Ge­sicht des Ar­bei­ters ab­zu­wen­den, der auf die Kar­te starrt. Der Mann liest auch nicht mehr, aber sei­ne Hand zit­tert, in sei­nem Blick ist Angst.

Quan­gel starrt ihn an. Also Angst, nichts wie Angst. Der Mann hat die Kar­te nicht ein­mal zu Ende ge­le­sen, er ist kaum über die ers­te Zei­le hin­aus­ge­kom­men, da über­wäl­tigt ihn schon die Angst.

Ki­chern lässt Quan­gel auf­mer­ken. Er blickt auf und sieht, dass die hal­be Werk­statt auf die­se bei­den Män­ner starrt, die da in der Ar­beits­zeit her­um­ste­hen, Post­kar­ten le­send … Oder füh­len sie schon, dass et­was Schreck­li­ches ge­sche­hen ist?

Quan­gel nimmt dem an­de­ren die Kar­te aus der Hand. Die­ses Spiel muss er jetzt al­lein wei­ter­spie­len, der Mann ist so ver­schüch­tert, dass er zu nichts mehr im­stan­de ist.

»Wo ist hier der Ob­mann von der Ar­beits­front? Der in den Man­che­s­ter­ho­sen an dem Sä­ge­gat­ter? Gut! Geh an dei­ne Ar­beit, und dass du mir nicht schwatzt, sonst er­geht es dir schlecht!«

»Höre!«, sagt Quan­gel zu dem Mann am Sä­ge­gat­ter. »Komm mal einen Au­gen­blick auf den Gang. Ich will dir was ge­ben.« Und als die bei­den drau­ßen ste­hen: »Hier die­se bei­den Kar­ten! Der Mann da­hin­ten hat sie auf­ge­ho­ben. Ich sah sie. Ich glau­be, du musst sie der Ge­schäfts­füh­rung brin­gen. Oder?«

Der an­de­re liest. Auch er liest nur ein paar Sät­ze. »Was ist das?«, fragt er er­schro­cken. »Die ha­ben hier bei uns in der Werk­statt ge­le­gen? O Gott, das kann uns Kopf und Kra­gen kos­ten! Wer, sagst du, hat die Din­ger auf­ge­ho­ben? Hast du ge­se­hen, wie er sie auf­hob?«

»Ich sage, ich habe ihm ge­sagt, er soll sie auf­he­ben! Ich habe sie viel­leicht zu­erst ge­se­hen. Vi­el­leicht!«

»O Gott, was soll ich nur tun mit den Din­gern? Ver­fluch­te Schei­ße! Ich schmei­ße sie ein­fach in den Ab­tritt!«

»Du musst sie auf der Di­rek­ti­on ab­lie­fern, sonst wirst du für schul­dig an­ge­se­hen. Der Mann, der sie fand, wird nicht im­mer den Mund hal­ten. Lauf gleich, ich gehe un­ter­des für dich ans Gat­ter.«

Der Mann geht zö­gernd. Er hält die Kar­ten so in der Hand, als ver­seng­ten sie ihm die Fin­ger.

Quan­gel kehrt in die Werk­statt zu­rück. Aber er kann sich nicht so­fort ans Sä­ge­gat­ter stel­len: die gan­ze Werk­statt ist voll Un­ru­he. Noch weiß nie­mand et­was Be­stimm­tes, aber dass et­was ge­sche­hen ist, das wis­sen sie alle. Sie ste­cken die Köp­fe zu­sam­men, sie wis­pern, und dies­mal hilft nicht vo­gel­haft star­res Bli­cken und Schwei­gen des Werk­meis­ters, um Ruhe zu schaf­fen. Er muss, was er seit Jah­ren nicht mehr ge­tan hat, laut schimp­fen, er muss Stra­fen an­dro­hen, den Zor­ni­gen spie­len.

Und wenn es in der einen Ecke der Werk­statt ru­hig ge­wor­den ist, so ist es in der an­de­ren umso lau­ter, und läuft wie­der al­les so ei­ni­ger­ma­ßen, ent­deckt er, dass zwei, drei Ma­schi­nen nicht voll be­setzt sind: auf dem Ab­tritt steckt die Ban­de! Er jagt sie dort auf, ei­ner hat die Frech­heit, ihn zu fra­gen: »Was ha­ben Sie da vor­hin ei­gent­lich ge­le­sen, Meis­ter? War’s wirk­lich ein Flug­blatt vom Eng­län­der?«

»Tu dei­ne Ar­beit!«, knurrt Quan­gel und treibt die Bur­schen vor sich her in die Werk­statt.

Dort schwat­zen sie schon wie­der. Sie ha­ben sich zu Trüpp­chen ver­sam­melt, eine nie da­ge­we­se­ne Un­ru­he herrscht. Quan­gel muss hin und her, muss schimp­fen, dro­hen, schel­ten – der Schweiß steht auf sei­ner Stir­ne …

Und da­bei denkt es im­mer wei­ter in ihm: Das also ist die ers­te Wir­kung. Nur Angst. So viel Angst, dass sie nicht ein­mal wei­ter­le­sen! Aber das hat nichts zu sa­gen. Sie füh­len sich hier be­ob­ach­tet. Mei­ne Kar­ten hat meist ei­ner al­lein ge­fun­den. Der konn­te sie in Ruhe le­sen, über­den­ken, da ta­ten sie ganz an­de­re Wir­kung. Ich habe ein blö­des Ex­pe­ri­ment ge­macht. Mal se­hen, wie es ab­läuft. Ei­gent­lich ist es gut, dass ich als Meis­ter die Kar­ten ge­fun­den und ab­ge­lie­fert habe, das wird mich ent­las­ten. Nein, ich habe nichts ris­kiert. Und selbst wenn sie Haus­su­chung bei mir ma­chen, sie fin­den nichts. Anna wird frei­lich einen Schreck krie­gen – aber nein, ehe sie Haus­su­chung ma­chen, bin ich schon wie­der dort und be­rei­te Anna vor … 14 Uhr 2 Mi­nu­ten – es müss­te doch Schicht­wech­sel sein, jetzt kommt mei­ne Schicht dran.

Aber nichts von Schicht­wech­sel. Das Glo­cken­zei­chen er­tönt nicht in der Werk­statt, die ab­lö­sen­de Be­leg­schaft (Quan­gels ei­gent­li­che Be­leg­schaft) er­scheint nicht, die Ma­schi­nen sur­ren wei­ter. Jetzt wer­den die Leu­te wirk­lich un­ru­hig, im­mer häu­fi­ger ste­cken sie die Köp­fe zu­sam­men, se­hen auf die Uhren.

Quan­gel muss es auf­ge­ben, ih­rem Schwat­zen Ein­halt zu ge­bie­ten, er ist nur ei­ner ge­gen acht­zig Mann, er schafft es nicht mehr.

Dann plötz­lich er­scheint ein Herr aus den Bü­ros, ein fei­ner Herr mit scharf­ge­bü­gel­ten Ho­sen und mit dem Par­tei­ab­zei­chen. Er stellt sich ne­ben Quan­gel und ruft in den Ma­schi­nen­lärm: »Be­leg­schaft! Her­hö­ren!«

Alle Ge­sich­ter wen­den sich ihm zu, bloß neu­gie­ri­ge, er­war­tungs­vol­le, fins­te­re, ab­leh­nen­de, gleich­gül­ti­ge.

»Die Be­leg­schaft ar­bei­tet aus be­son­de­ren Grün­den vor­läu­fig wei­ter. Über­stun­den­lohn wird be­zahlt!«

Er macht eine Pau­se, alle se­hen ihn starr an. Ist das al­les? Aus be­son­de­ren Grün­den! Sie er­war­ten mehr!

Aber er schreit nur: »Wei­ter­ar­bei­ten die Be­leg­schaft!«

Und zu Quan­gel ge­wen­det: »Sie sor­gen für ab­so­lu­te Ruhe und Fleiß, Meis­ter! Wer ist der Mann, der die­se Kar­ten auf­ge­ho­ben hat?«

»Ich habe sie zu­erst ge­se­hen, glau­be ich.«

»Ich weiß schon. Also der da? Schön, Na­men wis­sen Sie doch?«

»Nein. Dies ist nicht mei­ne Be­leg­schaft.«

»Ich weiß schon. Ach, sa­gen Sie der Be­leg­schaft doch noch, dass das Be­tre­ten der Ab­or­te vor­läu­fig nicht mög­lich ist, je­des Ver­las­sen des Ar­beits­rau­mes ist ver­bo­ten. An je­der Tür ste­hen zwei Pos­ten – drau­ßen!«

Und der scharf­ge­bü­gel­te Herr nickt Quan­gel flüch­tig zu und geht.

Quan­gel geht von Ar­beits­platz zu Ar­beits­platz. Ei­nen Au­gen­blick sieht er auf die Ar­beit, auf die Hän­de der Ar­bei­ten­den. Dann sagt er: »Das Ver­las­sen des Ar­beits­rau­mes und das Be­tre­ten der Ab­or­te ist vor­läu­fig ver­bo­ten. An je­der Tür ste­hen zwei Pos­ten – drau­ßen!«

Und ehe sie noch et­was ha­ben fra­gen kön­nen, ist er zum nächs­ten Ar­beits­platz ge­gan­gen, wie­der­holt sei­ne Bot­schaft.

Nein, jetzt hat er es nicht mehr nö­tig, ih­nen das Schwat­zen zu ver­bie­ten, sie an­zu­trei­ben. Alle ar­bei­ten sie stumm und ver­bis­sen vor sich hin. Alle emp­fin­den sie die Ge­fahr, die je­dem droht. Denn es ist un­ter die­sen acht­zig kei­ner, der sich nicht ir­gend­wie und ir­gend­wann ge­gen den heu­ti­gen Staat ver­gan­gen hat, und sei es nur mit ei­nem Wort! Je­der ist be­droht. Das Le­ben ei­nes je­den ist ge­fähr­det. Alle ha­ben sie Angst …

Aber un­ter­des bau­en sie Sär­ge. Sie häu­fen die Sär­ge, die nicht ab­trans­por­tiert wer­den kön­nen, in ei­ner Ecke der Werk­statt auf. Erst sind es nur ein paar, aber wie die Stun­den ge­hen, wer­den es mehr und mehr, sie tür­men sie über­ein­an­der, sie wach­sen auf, bis un­ter die De­cke, sie sta­peln neue da­ne­ben. Sär­ge über Sär­ge, für je­den in der Be­leg­schaft, für je­den im deut­schen Volk! Noch le­ben sie, aber sie zim­mern schon an ih­ren Sär­gen.

Quan­gel steht un­ter ih­nen. Er be­wegt den Kopf ruck­wei­se wei­ter und wei­ter. Er spürt auch die Ge­fahr, aber sie macht ihn la­chen. Ihn fan­gen sie nie. Er hat sich einen Spaß er­laubt, er hat den gan­zen Ap­pa­rat wild ge­macht, aber er ist nur der alte, duss­li­ge Quan­gel, von Geiz be­ses­sen. Ihn wer­den sie nie ver­däch­ti­gen. Er kämpft wei­ter, im­mer wei­ter.

Bis sich wie­der die Tür öff­net und der Herr mit den mes­ser­scharf ge­bü­gel­ten Ho­sen her­vor­kommt. Ihm folgt ein an­de­rer, ein lan­ger, schlenk­ri­ger Mann mit ei­nem sand­far­be­nen Schnurr­bart, den er zärt­lich strei­chelt.

So­fort hört an al­len Plät­zen die Ar­beit auf.

Und wäh­rend der Bü­ro­herr schreit: »Be­leg­schaft! Fei­er­abend!« – wäh­rend sie wie er­löst und doch un­gläu­big die Werk­zeu­ge aus der Hand le­gen – wäh­rend lang­sam in ihre stumpf ge­wor­de­nen Au­gen wie­der Licht tritt – wäh­rend­dem hat der lan­ge Mann mit dem hel­len Schnurr­bart ge­sagt: »Werk­meis­ter Quan­gel, ich ver­haf­te Sie we­gen des drin­gen­den Ver­dachts von Lan­des- und Hoch­ver­rat. Ge­hen Sie mir un­auf­fäl­lig vor­an!«

Arme Anna – dach­te Quan­gel und ging lang­sam, hoch er­ho­ben den Kopf mit dem Vo­gel­pro­fil, dem Kom­missar Esche­rich vor­an aus der Werk­statt.

48. Montag, der Tag des Kommissars Escherich

Dies­mal hat­te der Kom­missar Esche­rich rasch und feh­ler­frei ge­ar­bei­tet.

Kaum hat­te ihn die te­le­fo­ni­sche Nach­richt er­reicht, dass zwei Post­kar­ten in ei­ner mit acht­zig Mann be­setz­ten Werk­statt der Mö­bel­fa­brik Krau­se & Co. ge­fun­den sei­en, da hat­te er ge­wusst: dies war die Stun­de, auf die er so lan­ge ge­war­tet, jetzt hat­te der Kla­bau­ter­mann end­lich den so lan­ge er­war­te­ten Feh­ler ge­macht. Jetzt wür­de er ihn fas­sen!

Fünf Mi­nu­ten dar­auf hat­te er ge­nü­gend Mann­schaf­ten zur Abrie­ge­lung des gan­zen Fa­brik­ge­län­des an­ge­for­dert und saus­te in dem vom Ober­grup­pen­füh­rer selbst ge­steu­er­ten Mer­ce­des zur Fa­brik.

Aber wäh­rend Prall da­für war, so­fort die acht­zig Mann aus der Werk­statt zu ho­len und je­den Mann ein­zeln so lan­ge zu ver­neh­men, bis die Wahr­heit ans Ta­ges­licht ge­kom­men war, hat­te Esche­rich ge­sagt: »Ich brau­che so­fort eine Lis­te al­ler in der Werk­statt Ar­bei­ten­den mit ih­ren Woh­nun­gen. Wie rasch kann ich die ha­ben?«

»In fünf Mi­nu­ten. Was wird mit den Leu­ten? Sie ha­ben in fünf Mi­nu­ten Fei­er­abend.«

»Zum Schich­ten­de las­sen Sie ih­nen sa­gen, dass sie wei­ter­zu­ar­bei­ten ha­ben. Grün­de un­nö­tig. Jede Tür zur Werk­statt ist mit Dop­pel­pos­ten zu be­set­zen. Nie­mand ver­lässt den Raum. Sor­gen Sie da­für, dass dies al­les mög­lichst un­auf­fäl­lig ge­schieht, jede Beun­ru­hi­gung der Leu­te ist zu ver­mei­den!«

Und als der Kon­to­rist mit der Lis­te her­ein­kommt: »Der Kar­ten­schrei­ber muss in der Cho­do­wiecki- oder in der Ja­blon­ski- oder in der Christ­bur­ger Stra­ße woh­nen. Wer von den acht­zig wohnt dort?«

Sie se­hen die Lis­te durch: Kei­ner! Kein ein­zi­ger!

Noch ein­mal schi­en das Glück Otto Quan­gel ret­ten zu wol­len. Er ar­bei­te­te in ei­ner frem­den Be­leg­schaft, er stand nicht auf der Lis­te.

Der Kom­missar Esche­rich schob die Un­ter­lip­pe vor, zog sie rasch wie­der zu­rück und biss zwei-, drei­mal kräf­tig auf sei­nen Bart, den er eben noch ge­strei­chelt hat­te. Er war sei­ner Sa­che ganz si­cher ge­we­sen und war nun maß­los ent­täuscht.

Aber au­ßer der Miss­hand­lung des ge­lieb­ten Bar­tes ließ er sich von sei­ner Ent­täu­schung nichts mer­ken, son­dern er sag­te kühl: »Wir spre­chen jetzt die Per­so­nal­ver­hält­nis­se ei­nes je­den Ar­bei­ters durch. Wer von den Her­ren kann ge­naue An­ga­ben ma­chen? Sie sind der Per­so­nal­chef? Schön, also be­gin­nen wir, Abe­king, Her­mann … Was ist be­kannt über den Mann?«

Es ging un­end­lich lang­sam vor­an. Nach fünf Vier­tel­stun­den wa­ren sie erst beim Buch­sta­ben H.

Ober­grup­pen­füh­rer Prall rauch­te Zi­ga­ret­ten, die er gleich wie­der aus­drück­te. Er be­gann Flüs­ter­ge­sprä­che, die nach we­ni­gen Sät­zen wie­der ver­san­de­ten. Er trom­mel­te mit den Fin­gern Mär­sche auf die Fens­ter­schei­ben. Er fing plötz­lich scharf an: »Ich fin­de das al­les blöd! Viel ein­fa­cher wäre es doch …«

Kom­missar Esche­rich sah nicht ein­mal hoch. Jetzt hat­te ihn die Angst vor sei­nem Vor­ge­setz­ten end­lich ver­las­sen. Er muss­te den Mann fin­den, er gab sich aber zu, dass ihn der Mis­ser­folg mit den Stra­ßen stark stör­te. Prall konn­te noch so un­ge­dul­dig wer­den, auf eine Mas­sen­ver­neh­mung ließ er sich nicht ein.

 

»Wei­ter bit­te!«

»Kämp­fer, Eu­gen – das ist der Werk­meis­ter!«

»Kommt nicht in Fra­ge, bit­te um Ent­schul­di­gung. Hat sich be­reits heu­te Mor­gen um neun Uhr die Hand in der Ho­bel­ma­schi­ne ver­letzt. Statt sei­ner macht Werk­meis­ter Quan­gel heu­te Dienst …«

»Also wei­ter: Krull, Otto …«

»Ich bit­te noch­mals um Ent­schul­di­gung: Werk­meis­ter Quan­gel steht nicht auf der Lis­te des Herrn Kom­missars …«

»Stö­ren Sie doch nicht ewig! Wie lan­ge sol­len wir denn hier noch sit­zen? Quan­gel, die­ses alte Rie­sen­ross, kommt doch nie in Fra­ge!«

Aber Esche­rich, ein Fünk­chen Hoff­nung glimmt wie­der in ihm, fragt: »Wo wohnt die­ser Quan­gel?«

»Wir müs­sen erst mal nach­se­hen, weil er nicht zu die­ser Be­leg­schaft ge­hört.«

»Also las­sen Sie doch nach­se­hen! Biss­chen schnell, was? Ich hat­te um eine voll­stän­di­ge Lis­te ge­be­ten!«

»Na­tür­lich wird nach­ge­se­hen. Aber ich sage Ih­nen, Herr Kom­missar, bei die­sem Quan­gel han­delt es sich um einen fast völ­lig ver­trot­tel­ten al­ten Mann, der üb­ri­gens schon vie­le Jah­re in un­serm Be­trieb ar­bei­tet. Wir ken­nen den Mann durch und durch …«

Der Kom­missar wink­te ab. Er wuss­te, wie viel Irr­tü­mern sich Men­schen hin­ge­ben, die ihre Mit­menschen durch und durch zu ken­nen glau­ben.

»Nun?«, frag­te er ge­spannt den wie­der ein­tre­ten­den Bü­ro­jüng­ling. »Nun!«

Nicht ohne Fei­er­lich­keit sag­te der jun­ge Mann: »Werk­meis­ter Quan­gel wohnt in der Ja­blons­ki­stra­ße Num­mer …«

Esche­rich sprang auf. Mit ei­ner bei ihm ganz un­ge­wohn­ten Er­re­gung rief er: »Das ist er! Ich habe den Kla­bau­ter­mann!«

Und Ober­grup­pen­füh­rer Prall schrie: »Nichts wie her mit dem Schwein! Und dann schlei­fen, schlei­fen, nichts wie schlei­fen!«

Die Er­re­gung war all­ge­mein.

»Der Quan­gel! Wer hät­te das ge­dacht – der Quan­gel? Die­ser alte Dus­sel – un­mög­lich! Aber er hat als Ers­ter die Kar­ten ge­fun­den! Kunst­stück, wo er sie selbst hin­ge­legt hat! Aber wer ist denn solch ein Idi­ot und stellt sich selbst eine Fal­le? Quan­gel – un­mög­lich!«

Und über al­len die schrei­en­de Stim­me Pralls: »Nichts wie her mit dem Schwein! Und schlei­fen, schlei­fen!«

Als Ers­ter war der Kom­missar Esche­rich wie­der ru­hig ge­wor­den.

»Auf ein Wort, bit­te, Herr Ober­grup­pen­füh­rer! Ich bit­te, vor­schla­gen zu dür­fen, dass wir erst ein­mal in der Woh­nung die­ses Quan­gel eine klei­ne Haus­su­chung ma­chen.«

»Aber wozu die­se Um­stän­de, Esche­rich? Nach­her läuft uns der Kerl wo­mög­lich fort!«

»Aus die­sem Bau kommt jetzt kei­ner mehr raus! Aber wenn wir was in der Woh­nung fin­den, das ihn ohne Wei­te­res über­führt, das je­des Leug­nen un­mög­lich macht? Das wür­de uns viel Ar­beit spa­ren! Jetzt ist da­für der rich­ti­ge Zeit­punkt! Jetzt, wo der Mann und sei­ne Fa­mi­lie noch nicht weiß, dass wir ihn in Ver­dacht ha­ben …«

»Viel ein­fa­cher ist es doch, dem Mann die Ein­ge­wei­de lang­sam aus dem Lei­be zu lei­ern, bis er ge­steht. Aber mei­net­hal­ben: fas­sen wir gleich die Frau auch! Aber das sage ich Ih­nen, Esche­rich, wenn der Kerl hier un­ter­des Schwei­ne­rei­en macht, sich in ’ne Ma­schi­ne schmeißt und so was, dann fah­re ich wie­der mit Ih­nen Schlit­ten! Ich will den Kerl bau­meln se­hen!«

»Das wer­den Sie auch! Ich wer­de die­sen Quan­gel un­un­ter­bro­chen durch die Tür be­ob­ach­ten las­sen. Die Ar­beit geht wei­ter, mei­ne Her­ren, bis wir zu­rück sind – ich den­ke, in etwa ei­ner Stun­de …«