An diesem Montag, der den Quangels so verhängnisvoll werden sollte;
an diesem Montag, acht Wochen nachdem Escherich wieder in sein Amt eingesetzt war;
an diesem Montag, an dem Emil Barkhausen zu zwei Jahren Gefängnis, die Ratte Klebs zu einem Jahr verurteilt wurde;
an diesem Montag, da Baldur Persicke endlich aus seiner Napola in Berlin eintraf und seinen Vater in der Trinkerheilstätte besuchte;
an diesem Montag, da Trudel Hergesell auf dem Bahnhof Erkner die Treppe hinunterfiel und dadurch eine Fehlgeburt hatte;
an diesem schicksalsreichen Montag also lag Anna Quangel mit einer schweren Grippe im Bett. Sie fieberte stark. An ihrer Seite saß Otto Quangel, der Doktor war gegangen. Sie stritten sich darüber, ob er heute die Karten austragen sollte oder nicht.
»Du gehst nicht mehr, wir haben das fest ausgemacht, Otto! Die Karten haben auch bis morgen oder übermorgen Zeit, da bin ich wieder auf den Beinen!«
»Ich will die Dinger aus dem Hause haben, Anna!«
»Dann gehe ich eben!« Und Anna richtete sich in ihrem Bett auf.
»Du bleibst liegen!« Er drückte sie in die Kissen zurück. »Anna, sei nicht töricht. Ich habe hundert, ich habe zweihundert Karten eingesteckt …«
In diesem Augenblick ging die Klingel.
Sie fuhren erschrocken zusammen wie die ertappten Diebe. Quangel steckte rasch die beiden Karten ein, die bisher auf der Bettdecke gelegen hatten.
»Wer kann das sein?«, fragte Frau Anna ängstlich.
Und auch er: »Um diese Zeit? Morgens elf Uhr!«
Sie riet: »Vielleicht ist bei Heffkes was passiert? Oder der Doktor ist noch einmal zurückgekommen?«
Wieder ging die Klingel.
»Ich werde mal nachsehen«, murmelte er.
»Nein«, bat sie. »Bleib sitzen. Wenn wir mit den Karten unterwegs gewesen wären, hätte der auch umsonst geklingelt!«
»Nur mal nachsehen, Anna!«
»Nein, mach nicht auf, Otto! Ich bitte dich! Ich habe ein Vorgefühl: Wenn du die Tür aufmachst, kommt Unglück ins Haus!«
»Ich gehe ganz leise und sage dir erst Bescheid.«
Er ging.
Sie lag in zorniger Ungeduld. Dass er doch nie und nie nachgab, ihr niemals eine Bitte erfüllen konnte! Es war falsch, was er tat; Unglück lauerte draußen, aber jetzt fühlte er es nicht, wo es wirklich da war. Und nun hält er nicht einmal sein Wort! Sie hört, er hat die Tür geöffnet und spricht mit einem Mann. Und er hat ihr doch fest versprochen, ihr erst Bescheid zu sagen.
»Nun, was ist? Rede doch, Otto! Du siehst, ich vergehe vor Ungeduld! Was ist das für ein Mann? Er ist noch nicht aus der Wohnung!«
»Es ist nichts Aufregendes, Anna. Bloß ein Bote aus der Fabrik. Der Werkmeister von der Vormittagsschicht ist verunglückt – ich muss sofort für ihn einspringen.«
Sie legt sich, nun doch ein wenig beruhigt, in die Kissen zurück. »Und du gehst?«
»Natürlich!«
»Du hast noch kein Mittagessen!«
»Ich werde schon was in der Kantine kriegen!«
»Stecke dir wenigstens Brot ein!«
»Ja, ja, Anna, sorge dich um nichts. Es ist schlimm, dass ich dich hier so lange allein liegenlassen muss.«
»Um eins hättest du doch gehen müssen.«
»Ich werde meine eigene Schicht gleich hinterher abreißen.«
»Der Mann wartet?«
»Ja, ich fahre gleich mit ihm zurück.«
»Also komm schnell wieder, Otto. Nimm heut mal die Elektrische!«
»Versteht sich, Anna. Gute Besserung!«
Er war schon im Gehen, da rief sie: »Ach, bitte, Otto, gib mir doch noch einen Kuss!«
Er kam zurück, ein wenig verwundert, ein wenig verlegen wegen dieses bei ihnen so ungewohnten Zärtlichkeitsbedürfnisses. Er drückte seine Lippen auf ihren Mund.
Sie zog seinen Kopf fest an sich und küsste ihn herzhaft.
»Ich bin dumm, Otto«, sagte sie. »Ich habe noch immer Angst. Das macht wohl das Fieber. Aber jetzt geh!«
So trennten sie sich. Als freie Menschen sollten sie sich nie wiedersehen. An die Postkarten in seiner Tasche hatten sie beide im eiligen Aufbruch nicht mehr gedacht.
Aber dem alten Werkmeister fallen die Karten sofort wieder ein, als er mit seinem Begleiter in der Elektrischen sitzt. Er fasst in die Tasche – da sind sie! Er ist unzufrieden mit sich, daran hätte er denken müssen! Lieber hätte er die Dinger zu Haus gelassen, lieber wäre er noch jetzt aus der Bahn gestiegen, um sie in irgendeinem Hause abzulegen. Aber er findet keinen Vorwand, den er seinem Begleiter plausibel machen kann. So muss er die Karten in den Betrieb mitnehmen, etwas, das er noch nie getan hat, das er nie hätte tun dürfen – aber jetzt ist es zu spät.
Er steht auf dem Klosett. Er hat die Karten schon in den Händen, er will sie zerreißen, fortspülen – und sein Blick fällt auf das mit so vieler Mühe, in so vielen Stunden Geschriebene: es scheint ihm stark, wirkungsvoll. Es wäre schade darum, eine solche Waffe zu vernichten. Seine Sparsamkeit, sein »schmutziger Geiz« hindern ihn an der Vernichtung, aber auch sein Respekt vor der Arbeit; alles, was Arbeit geschaffen hat, ist heilig. Es ist eine Sünde, Arbeit nutzlos zu zerstören.
Aber in der Jacke, die er auch in der Werkstatt trägt, kann er die Karten nicht lassen. So legt er sie in die Aktentasche zu dem Brot, zu der Thermosflasche mit Kaffee. Otto Quangel weiß sehr wohl, dass an der Seite der Aktentasche eine Naht offen ist, schon seit Wochen sollte sie zum Sattler. Aber der ist überlastet mit Arbeit und hat geknurrt, zwei Wochen werde die Reparatur wenigstens dauern. So lange hat Quangel die Tasche nicht entbehren wollen, und es ist ihm ja auch noch nie etwas herausgefallen. Also legt er die Karten unbesorgt hinein.
Er geht durch die Werkstatt zu den Ankleideschränken, langsam, schon dorthin und dahin schauend. Es ist eine fremde Belegschaft, er sieht kaum ein bekanntes Gesicht, manchmal nickt er. Einmal legt er auch Hand an. Die Leute sehen ihn neugierig an, ihn kennen viele: Ach ja, das ist der olle Quangel, ein komischer Vogel, aber seine Belegschaft schimpft nie auf ihn, gerecht ist er, das muss man ihm lassen. I wo, ein Antreiber ist er, das Letzte holt er aus seinen Leuten heraus. Aber nein, nie schimpft jemand aus seiner Belegschaft auf ihn. Wie der komisch aussieht, der hat wohl Scharniere am Kopf, der nickt damit so komisch. Still, jetzt kommt er zurück, der kann Quasseln auf den Tod nicht ausstehen, der kiekt jeden, der quasselt, in Grund und Boden.
Otto Quangel hat seine Aktentasche in den Schrank gestellt, die Schlüssel sind in seiner Tasche. Gut, noch elf Stunden, und die Karten werden aus der Fabrik fort sein, und wenn es dann auch Nacht ist, er wird sie schon loswerden, er kann sie nicht noch einmal mit nach Haus nehmen. Anna ist imstande und steht auf, bloß um die Karten wegzubringen.
Bei dieser neuen Belegschaft kann Quangel nicht seinen gewohnten Beobachterposten in der Mitte des Raumes einnehmen – wie das ratscht und tratscht! Er muss von einer Gruppe zur anderen gehen, und hier wissen sie das noch nicht alle, was sein Schweigen und Starren bedeuten soll; manche haben ja sogar die Unverfrorenheit, sie wollen den Meister ins Gespräch ziehen. Es dauert eine ganze Weile, bis die Arbeit so schnurrt, wie er es gewohnt ist, bis sie stiller sind und begriffen haben, dass es hier nichts gibt als arbeiten.
Quangel will sich gerade an seinen Aufsichtsposten begeben, da stockt sein Fuß. Sein Blick weitet sich, ein Ruck geht durch ihn: vor ihm auf der Erde, auf dem mit Sägemehl und Hobelspänen bedeckten Fußboden der Werkstatt liegt die eine seiner beiden Karten.
Es zuckt ihm in den Fingern, er will die Karte sofort heimlich aufheben und sieht, dass zwei Schritte weiter die andere liegt. Unmöglich, sie ungesehen aufzuheben. Immer wieder richtet sich der Blick eines Arbeiters auf den neuen Meister, und was die Weiber sind, so können sie es nicht lassen, ihn anzustarren, als hätten sie noch nie einen Mann gesehen.
Ach was, ich hebe sie einfach auf, ob sie es nun sehen oder nicht! Was geht das die an! Nein, ich kann es nicht tun, die Karte muss hier schon eine Viertelstunde liegen, ein Wunder, dass sie nicht schon einer aufgehoben hat! Vielleicht hat sie aber schon einer gesehen und rasch wieder hingeworfen, als er den Inhalt las. Wenn der mich die Karte aufheben und einstecken sieht!
Gefahr! Gefahr!, schreit es in Quangel. Äußerste Gefahr! Lass die Karte liegen! Tu, als hättest du sie nicht gesehen, lass einen anderen sie finden! Stell dich auf deinen Platz!
Aber plötzlich geht etwas Seltsames in Otto Quangel vor. So lange nun schon, zwei Jahre nun schon hat er Postkarten geschrieben, verteilt – aber nie hat er ihre Wirkung gesehen. Immer nur hat er in seiner dunklen Höhle gelebt; was mit den Karten wurde, der Wirbel, den sie erzeugen mussten – er hat ihn sich hundertmal vorgestellt, aber er hat ihn nicht erlebt.
Ich möchte das doch einmal sehen, ein einziges Mal! Was kann mir denn geschehen? Ich bin hier einer von achtzig Arbeitern, alle sind ebenso in Verdacht wie ich, ja mehr noch, weil mich jeder als altes Arbeitstier kennt, fern von aller Politik. Ich riskiere es, ich muss es einmal erleben.
Und ehe er sich noch recht besonnen hat, ruft er einen Arbeiter an: »Du da! Heb das mal auf! Die Dinger muss einer verloren haben. Was ist das? Was glotzt du?«
Er nimmt dem Arbeiter die eine Karte aus der Hand, er tut, als läse er sie. Aber er kann jetzt nicht lesen, seine eigene große Schrift in Blockbuchstaben kann er nicht lesen. Es ist ihm nicht möglich, den Blick vom Gesicht des Arbeiters abzuwenden, der auf die Karte starrt. Der Mann liest auch nicht mehr, aber seine Hand zittert, in seinem Blick ist Angst.
Quangel starrt ihn an. Also Angst, nichts wie Angst. Der Mann hat die Karte nicht einmal zu Ende gelesen, er ist kaum über die erste Zeile hinausgekommen, da überwältigt ihn schon die Angst.
Kichern lässt Quangel aufmerken. Er blickt auf und sieht, dass die halbe Werkstatt auf diese beiden Männer starrt, die da in der Arbeitszeit herumstehen, Postkarten lesend … Oder fühlen sie schon, dass etwas Schreckliches geschehen ist?
Quangel nimmt dem anderen die Karte aus der Hand. Dieses Spiel muss er jetzt allein weiterspielen, der Mann ist so verschüchtert, dass er zu nichts mehr imstande ist.
»Wo ist hier der Obmann von der Arbeitsfront? Der in den Manchesterhosen an dem Sägegatter? Gut! Geh an deine Arbeit, und dass du mir nicht schwatzt, sonst ergeht es dir schlecht!«
»Höre!«, sagt Quangel zu dem Mann am Sägegatter. »Komm mal einen Augenblick auf den Gang. Ich will dir was geben.« Und als die beiden draußen stehen: »Hier diese beiden Karten! Der Mann dahinten hat sie aufgehoben. Ich sah sie. Ich glaube, du musst sie der Geschäftsführung bringen. Oder?«
Der andere liest. Auch er liest nur ein paar Sätze. »Was ist das?«, fragt er erschrocken. »Die haben hier bei uns in der Werkstatt gelegen? O Gott, das kann uns Kopf und Kragen kosten! Wer, sagst du, hat die Dinger aufgehoben? Hast du gesehen, wie er sie aufhob?«
»Ich sage, ich habe ihm gesagt, er soll sie aufheben! Ich habe sie vielleicht zuerst gesehen. Vielleicht!«
»O Gott, was soll ich nur tun mit den Dingern? Verfluchte Scheiße! Ich schmeiße sie einfach in den Abtritt!«
»Du musst sie auf der Direktion abliefern, sonst wirst du für schuldig angesehen. Der Mann, der sie fand, wird nicht immer den Mund halten. Lauf gleich, ich gehe unterdes für dich ans Gatter.«
Der Mann geht zögernd. Er hält die Karten so in der Hand, als versengten sie ihm die Finger.
Quangel kehrt in die Werkstatt zurück. Aber er kann sich nicht sofort ans Sägegatter stellen: die ganze Werkstatt ist voll Unruhe. Noch weiß niemand etwas Bestimmtes, aber dass etwas geschehen ist, das wissen sie alle. Sie stecken die Köpfe zusammen, sie wispern, und diesmal hilft nicht vogelhaft starres Blicken und Schweigen des Werkmeisters, um Ruhe zu schaffen. Er muss, was er seit Jahren nicht mehr getan hat, laut schimpfen, er muss Strafen androhen, den Zornigen spielen.
Und wenn es in der einen Ecke der Werkstatt ruhig geworden ist, so ist es in der anderen umso lauter, und läuft wieder alles so einigermaßen, entdeckt er, dass zwei, drei Maschinen nicht voll besetzt sind: auf dem Abtritt steckt die Bande! Er jagt sie dort auf, einer hat die Frechheit, ihn zu fragen: »Was haben Sie da vorhin eigentlich gelesen, Meister? War’s wirklich ein Flugblatt vom Engländer?«
»Tu deine Arbeit!«, knurrt Quangel und treibt die Burschen vor sich her in die Werkstatt.
Dort schwatzen sie schon wieder. Sie haben sich zu Trüppchen versammelt, eine nie dagewesene Unruhe herrscht. Quangel muss hin und her, muss schimpfen, drohen, schelten – der Schweiß steht auf seiner Stirne …
Und dabei denkt es immer weiter in ihm: Das also ist die erste Wirkung. Nur Angst. So viel Angst, dass sie nicht einmal weiterlesen! Aber das hat nichts zu sagen. Sie fühlen sich hier beobachtet. Meine Karten hat meist einer allein gefunden. Der konnte sie in Ruhe lesen, überdenken, da taten sie ganz andere Wirkung. Ich habe ein blödes Experiment gemacht. Mal sehen, wie es abläuft. Eigentlich ist es gut, dass ich als Meister die Karten gefunden und abgeliefert habe, das wird mich entlasten. Nein, ich habe nichts riskiert. Und selbst wenn sie Haussuchung bei mir machen, sie finden nichts. Anna wird freilich einen Schreck kriegen – aber nein, ehe sie Haussuchung machen, bin ich schon wieder dort und bereite Anna vor … 14 Uhr 2 Minuten – es müsste doch Schichtwechsel sein, jetzt kommt meine Schicht dran.
Aber nichts von Schichtwechsel. Das Glockenzeichen ertönt nicht in der Werkstatt, die ablösende Belegschaft (Quangels eigentliche Belegschaft) erscheint nicht, die Maschinen surren weiter. Jetzt werden die Leute wirklich unruhig, immer häufiger stecken sie die Köpfe zusammen, sehen auf die Uhren.
Quangel muss es aufgeben, ihrem Schwatzen Einhalt zu gebieten, er ist nur einer gegen achtzig Mann, er schafft es nicht mehr.
Dann plötzlich erscheint ein Herr aus den Büros, ein feiner Herr mit scharfgebügelten Hosen und mit dem Parteiabzeichen. Er stellt sich neben Quangel und ruft in den Maschinenlärm: »Belegschaft! Herhören!«
Alle Gesichter wenden sich ihm zu, bloß neugierige, erwartungsvolle, finstere, ablehnende, gleichgültige.
»Die Belegschaft arbeitet aus besonderen Gründen vorläufig weiter. Überstundenlohn wird bezahlt!«
Er macht eine Pause, alle sehen ihn starr an. Ist das alles? Aus besonderen Gründen! Sie erwarten mehr!
Aber er schreit nur: »Weiterarbeiten die Belegschaft!«
Und zu Quangel gewendet: »Sie sorgen für absolute Ruhe und Fleiß, Meister! Wer ist der Mann, der diese Karten aufgehoben hat?«
»Ich habe sie zuerst gesehen, glaube ich.«
»Ich weiß schon. Also der da? Schön, Namen wissen Sie doch?«
»Nein. Dies ist nicht meine Belegschaft.«
»Ich weiß schon. Ach, sagen Sie der Belegschaft doch noch, dass das Betreten der Aborte vorläufig nicht möglich ist, jedes Verlassen des Arbeitsraumes ist verboten. An jeder Tür stehen zwei Posten – draußen!«
Und der scharfgebügelte Herr nickt Quangel flüchtig zu und geht.
Quangel geht von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz. Einen Augenblick sieht er auf die Arbeit, auf die Hände der Arbeitenden. Dann sagt er: »Das Verlassen des Arbeitsraumes und das Betreten der Aborte ist vorläufig verboten. An jeder Tür stehen zwei Posten – draußen!«
Und ehe sie noch etwas haben fragen können, ist er zum nächsten Arbeitsplatz gegangen, wiederholt seine Botschaft.
Nein, jetzt hat er es nicht mehr nötig, ihnen das Schwatzen zu verbieten, sie anzutreiben. Alle arbeiten sie stumm und verbissen vor sich hin. Alle empfinden sie die Gefahr, die jedem droht. Denn es ist unter diesen achtzig keiner, der sich nicht irgendwie und irgendwann gegen den heutigen Staat vergangen hat, und sei es nur mit einem Wort! Jeder ist bedroht. Das Leben eines jeden ist gefährdet. Alle haben sie Angst …
Aber unterdes bauen sie Särge. Sie häufen die Särge, die nicht abtransportiert werden können, in einer Ecke der Werkstatt auf. Erst sind es nur ein paar, aber wie die Stunden gehen, werden es mehr und mehr, sie türmen sie übereinander, sie wachsen auf, bis unter die Decke, sie stapeln neue daneben. Särge über Särge, für jeden in der Belegschaft, für jeden im deutschen Volk! Noch leben sie, aber sie zimmern schon an ihren Särgen.
Quangel steht unter ihnen. Er bewegt den Kopf ruckweise weiter und weiter. Er spürt auch die Gefahr, aber sie macht ihn lachen. Ihn fangen sie nie. Er hat sich einen Spaß erlaubt, er hat den ganzen Apparat wild gemacht, aber er ist nur der alte, dusslige Quangel, von Geiz besessen. Ihn werden sie nie verdächtigen. Er kämpft weiter, immer weiter.
Bis sich wieder die Tür öffnet und der Herr mit den messerscharf gebügelten Hosen hervorkommt. Ihm folgt ein anderer, ein langer, schlenkriger Mann mit einem sandfarbenen Schnurrbart, den er zärtlich streichelt.
Sofort hört an allen Plätzen die Arbeit auf.
Und während der Büroherr schreit: »Belegschaft! Feierabend!« – während sie wie erlöst und doch ungläubig die Werkzeuge aus der Hand legen – während langsam in ihre stumpf gewordenen Augen wieder Licht tritt – währenddem hat der lange Mann mit dem hellen Schnurrbart gesagt: »Werkmeister Quangel, ich verhafte Sie wegen des dringenden Verdachts von Landes- und Hochverrat. Gehen Sie mir unauffällig voran!«
Arme Anna – dachte Quangel und ging langsam, hoch erhoben den Kopf mit dem Vogelprofil, dem Kommissar Escherich voran aus der Werkstatt.
Diesmal hatte der Kommissar Escherich rasch und fehlerfrei gearbeitet.
Kaum hatte ihn die telefonische Nachricht erreicht, dass zwei Postkarten in einer mit achtzig Mann besetzten Werkstatt der Möbelfabrik Krause & Co. gefunden seien, da hatte er gewusst: dies war die Stunde, auf die er so lange gewartet, jetzt hatte der Klabautermann endlich den so lange erwarteten Fehler gemacht. Jetzt würde er ihn fassen!
Fünf Minuten darauf hatte er genügend Mannschaften zur Abriegelung des ganzen Fabrikgeländes angefordert und sauste in dem vom Obergruppenführer selbst gesteuerten Mercedes zur Fabrik.
Aber während Prall dafür war, sofort die achtzig Mann aus der Werkstatt zu holen und jeden Mann einzeln so lange zu vernehmen, bis die Wahrheit ans Tageslicht gekommen war, hatte Escherich gesagt: »Ich brauche sofort eine Liste aller in der Werkstatt Arbeitenden mit ihren Wohnungen. Wie rasch kann ich die haben?«
»In fünf Minuten. Was wird mit den Leuten? Sie haben in fünf Minuten Feierabend.«
»Zum Schichtende lassen Sie ihnen sagen, dass sie weiterzuarbeiten haben. Gründe unnötig. Jede Tür zur Werkstatt ist mit Doppelposten zu besetzen. Niemand verlässt den Raum. Sorgen Sie dafür, dass dies alles möglichst unauffällig geschieht, jede Beunruhigung der Leute ist zu vermeiden!«
Und als der Kontorist mit der Liste hereinkommt: »Der Kartenschreiber muss in der Chodowiecki- oder in der Jablonski- oder in der Christburger Straße wohnen. Wer von den achtzig wohnt dort?«
Sie sehen die Liste durch: Keiner! Kein einziger!
Noch einmal schien das Glück Otto Quangel retten zu wollen. Er arbeitete in einer fremden Belegschaft, er stand nicht auf der Liste.
Der Kommissar Escherich schob die Unterlippe vor, zog sie rasch wieder zurück und biss zwei-, dreimal kräftig auf seinen Bart, den er eben noch gestreichelt hatte. Er war seiner Sache ganz sicher gewesen und war nun maßlos enttäuscht.
Aber außer der Misshandlung des geliebten Bartes ließ er sich von seiner Enttäuschung nichts merken, sondern er sagte kühl: »Wir sprechen jetzt die Personalverhältnisse eines jeden Arbeiters durch. Wer von den Herren kann genaue Angaben machen? Sie sind der Personalchef? Schön, also beginnen wir, Abeking, Hermann … Was ist bekannt über den Mann?«
Es ging unendlich langsam voran. Nach fünf Viertelstunden waren sie erst beim Buchstaben H.
Obergruppenführer Prall rauchte Zigaretten, die er gleich wieder ausdrückte. Er begann Flüstergespräche, die nach wenigen Sätzen wieder versandeten. Er trommelte mit den Fingern Märsche auf die Fensterscheiben. Er fing plötzlich scharf an: »Ich finde das alles blöd! Viel einfacher wäre es doch …«
Kommissar Escherich sah nicht einmal hoch. Jetzt hatte ihn die Angst vor seinem Vorgesetzten endlich verlassen. Er musste den Mann finden, er gab sich aber zu, dass ihn der Misserfolg mit den Straßen stark störte. Prall konnte noch so ungeduldig werden, auf eine Massenvernehmung ließ er sich nicht ein.
»Weiter bitte!«
»Kämpfer, Eugen – das ist der Werkmeister!«
»Kommt nicht in Frage, bitte um Entschuldigung. Hat sich bereits heute Morgen um neun Uhr die Hand in der Hobelmaschine verletzt. Statt seiner macht Werkmeister Quangel heute Dienst …«
»Also weiter: Krull, Otto …«
»Ich bitte nochmals um Entschuldigung: Werkmeister Quangel steht nicht auf der Liste des Herrn Kommissars …«
»Stören Sie doch nicht ewig! Wie lange sollen wir denn hier noch sitzen? Quangel, dieses alte Riesenross, kommt doch nie in Frage!«
Aber Escherich, ein Fünkchen Hoffnung glimmt wieder in ihm, fragt: »Wo wohnt dieser Quangel?«
»Wir müssen erst mal nachsehen, weil er nicht zu dieser Belegschaft gehört.«
»Also lassen Sie doch nachsehen! Bisschen schnell, was? Ich hatte um eine vollständige Liste gebeten!«
»Natürlich wird nachgesehen. Aber ich sage Ihnen, Herr Kommissar, bei diesem Quangel handelt es sich um einen fast völlig vertrottelten alten Mann, der übrigens schon viele Jahre in unserm Betrieb arbeitet. Wir kennen den Mann durch und durch …«
Der Kommissar winkte ab. Er wusste, wie viel Irrtümern sich Menschen hingeben, die ihre Mitmenschen durch und durch zu kennen glauben.
»Nun?«, fragte er gespannt den wieder eintretenden Bürojüngling. »Nun!«
Nicht ohne Feierlichkeit sagte der junge Mann: »Werkmeister Quangel wohnt in der Jablonskistraße Nummer …«
Escherich sprang auf. Mit einer bei ihm ganz ungewohnten Erregung rief er: »Das ist er! Ich habe den Klabautermann!«
Und Obergruppenführer Prall schrie: »Nichts wie her mit dem Schwein! Und dann schleifen, schleifen, nichts wie schleifen!«
Die Erregung war allgemein.
»Der Quangel! Wer hätte das gedacht – der Quangel? Dieser alte Dussel – unmöglich! Aber er hat als Erster die Karten gefunden! Kunststück, wo er sie selbst hingelegt hat! Aber wer ist denn solch ein Idiot und stellt sich selbst eine Falle? Quangel – unmöglich!«
Und über allen die schreiende Stimme Pralls: »Nichts wie her mit dem Schwein! Und schleifen, schleifen!«
Als Erster war der Kommissar Escherich wieder ruhig geworden.
»Auf ein Wort, bitte, Herr Obergruppenführer! Ich bitte, vorschlagen zu dürfen, dass wir erst einmal in der Wohnung dieses Quangel eine kleine Haussuchung machen.«
»Aber wozu diese Umstände, Escherich? Nachher läuft uns der Kerl womöglich fort!«
»Aus diesem Bau kommt jetzt keiner mehr raus! Aber wenn wir was in der Wohnung finden, das ihn ohne Weiteres überführt, das jedes Leugnen unmöglich macht? Das würde uns viel Arbeit sparen! Jetzt ist dafür der richtige Zeitpunkt! Jetzt, wo der Mann und seine Familie noch nicht weiß, dass wir ihn in Verdacht haben …«
»Viel einfacher ist es doch, dem Mann die Eingeweide langsam aus dem Leibe zu leiern, bis er gesteht. Aber meinethalben: fassen wir gleich die Frau auch! Aber das sage ich Ihnen, Escherich, wenn der Kerl hier unterdes Schweinereien macht, sich in ’ne Maschine schmeißt und so was, dann fahre ich wieder mit Ihnen Schlitten! Ich will den Kerl baumeln sehen!«
»Das werden Sie auch! Ich werde diesen Quangel ununterbrochen durch die Tür beobachten lassen. Die Arbeit geht weiter, meine Herren, bis wir zurück sind – ich denke, in etwa einer Stunde …«