Hans Fallada – Gesammelte Werke

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49. Die Verhaftung Anna Quangels

Nach­dem Otto Quan­gel ge­gan­gen war, ver­fiel Anna Quan­gel in einen Zu­stand be­nom­me­nen Vor­sich­hin­brü­tens, aus dem sie aber bald wie­der hoch­schreck­te. Sie tas­te­te die Bett­de­cke nach den bei­den Post­kar­ten ab, fand sie aber nicht. Sie über­leg­te und konn­te sich nicht er­in­nern, dass Otto die Kar­ten mit­ge­nom­men hat­te. Nein, im Ge­gen­teil, jetzt wuss­te sie wie­der ge­nau, dass sie selbst mor­gen oder über­mor­gen die Kar­ten weg­brin­gen woll­te – so war es aus­ge­macht.

Die Post­kar­ten muss­ten also in der Woh­nung sein. Und sie be­ginnt, ei­sig oder durch­glüht vom Fie­ber, die Nach­su­che. Sie dreht die Woh­nung um, sie sucht zwi­schen der Wä­sche, sie kriecht un­ter das Bett. Sie at­met nur müh­sam, manch­mal setzt sie sich auf die Bett­kan­te, weil sie ein­fach nicht wei­ter­kann. Sie zieht die De­cke um sich und starrt vor sich hin, jetzt hat sie die Post­kar­ten ganz ver­ges­sen. Aber gleich schreckt sie wie­der hoch und be­ginnt von Neu­em mit der Nach­su­che.

So ver­bringt sie die Stun­den, bis die Klin­gel an­schlägt. Sie stutzt. Es hat also ge­klin­gelt? Wer kann ge­klin­gelt ha­ben? Wer will et­was von ihr?

Und sie ver­fällt in ein neu­es fie­be­ri­sches Däm­mern, aus dem sie das zwei­te Klin­gel­zei­chen hoch­schreckt. Dies­mal geht die Klin­gel lan­ge, schrill for­dert sie Ein­lass. Und nun wird so­gar mit den Fäus­ten ge­gen die Tür ge­schla­gen. Sie hört Rufe: »Auf­ma­chen! Po­li­zei! So­fort auf­ma­chen!«

Anna Quan­gel lä­chelt, und lä­chelnd legt sie sich wie­der ins Bett, die De­cke fest um sich stop­fend. Mö­gen die nur klin­geln und ru­fen! Sie ist krank, sie ist nicht ver­pflich­tet zu öff­nen. Mö­gen die ein an­der­mal wie­der­kom­men oder dann, wenn Otto da ist. Sie macht nicht auf.

Und wei­ter Klin­geln, Ru­fen, Bum­mern …

Sol­che Af­fen, die! Als wenn ich des­we­gen auf­mach­te! Die kön­nen mir alle den Bu­ckel langrut­schen!

In dem Fie­ber­zu­stand, in dem sie jetzt ist, kommt ihr we­der der Ge­dan­ke an die ver­miss­ten Kar­ten noch an die Ge­fahr, die die­ser po­li­zei­li­che Be­such be­deu­tet. Sie freut sich nur, dass sie krank ist und dar­um nicht auf­zu­ma­chen braucht.

Dann sind die na­tür­lich doch in der Stu­be, fünf oder sechs Män­ner – ha­ben sich einen Schlos­ser ge­holt oder mit ei­nem Diet­rich die Türe auf­ge­macht. Die Ket­te hat ja nicht vor­ge­le­gen, we­gen ih­rer Krank­heit hat sie nach Ot­tos Fort­gang nicht über­ge­ket­tet. Gra­de heu­te – sonst liegt die Ket­te im­mer vor.

»Sie hei­ßen Anna Quan­gel? Sie sind die Frau des Werk­meis­ters Otto Quan­gel?«

»Ja, lie­ber Herr. Schon acht­und­zwan­zig Jah­re.«

»Wa­rum ha­ben Sie nicht auf­ge­macht auf un­ser Klin­geln und Klop­fen?«

»Weil ich krank bin, lie­ber Herr. Ich hab die Grip­pe!«

»Spie­len Sie uns hier kein Thea­ter vor!«, schreit ein Di­cker in schwar­zer Uni­form da­zwi­schen. »Sie sind so we­nig krank wie mein Arsch! Sie si­mu­lie­ren bloß!«

Kom­missar Esche­rich winkt sei­nem Vor­ge­setz­ten be­ru­hi­gend zu. Dass die­se Frau wirk­lich krank ist, kann selbst ein Kind se­hen. Und viel­leicht ist es gut, dass sie krank ist: vie­le Leu­te schwat­zen im Fie­ber. Wäh­rend sei­ne Leu­te die Woh­nung zu durch­su­chen be­gin­nen, wen­det sich der Kom­missar wie­der zu der Frau. Er nimmt ihre hei­ße Hand und sagt teil­nahms­voll: »Frau Quan­gel, ich muss Ih­nen lei­der eine schlech­te Nach­richt brin­gen …«

Er macht eine Pau­se.

»Na?«, fragt die Frau, aber gar nicht ängst­lich.

»Ich hab Ihren Mann ver­haf­ten müs­sen.«

Die Frau lä­chelt. Anna Quan­gel lä­chelt nur. Lä­chelnd schüt­telt sie den Kopf und sagt: »Nee, lie­ber Herr, so was kön­nen Sie mir nicht er­zäh­len! Den Otto ver­haf­tet kei­ner, der ist ein an­stän­di­ger Mensch.« Sie neigt sich zu dem Kom­missar hin­über und flüs­tert: »Wis­sen Sie, lie­ber Herr, was ich glau­be? Ich träu­me das al­les nur. Ich habe näm­lich Fie­ber. Grip­pe, hat der Dok­tor ge­sagt, und im Fie­ber träumt man so was. Ich träu­me das al­les: Sie und den schwar­zen Di­cken und den Herrn dort an der Kom­mo­de, der in mei­ner Wä­sche rum­wühlt. Nee, mein lie­ber Herr, den Otto ha­ben Sie nicht ver­haf­tet, das träu­me ich nur.«

Der Kom­missar Esche­rich sagt eben­so flüs­ternd: »Frau Quan­gel, jetzt träu­men Sie auch von den Post­kar­ten. Sie wis­sen doch von den Kar­ten, die Ihr Mann im­mer ge­schrie­ben hat?«

Aber so sehr hat das Fie­ber Anna Quan­gels Sin­ne nicht ver­wirrt, dass sie nicht bei dem Wort »Post­kar­ten« auf­merk­te. Sie schreckt zu­sam­men. Ei­nen Au­gen­blick ist das Auge, das auf den Kom­missar ge­rich­tet ist, ganz klar und wach. Aber dann sagt sie, wie­der lä­chelnd, mit dem Kopf schüt­telnd: »Was denn für Kar­ten? Mein Mann schreibt doch kei­ne Kar­ten! Wenn was ge­schrie­ben wird hier bei uns, so tu ich das. Aber wir schrei­ben schon lan­ge nicht mehr. Seit mein Sohn ge­fal­len ist, schrei­ben wir nicht mehr. Das träu­men Sie bloß, lie­ber Herr, dass mein Otto Kar­ten ge­schrie­ben hat!«

Der Kom­missar hat das Zu­sam­men­schre­cken ge­se­hen, aber ein Zu­sam­men­schre­cken ist noch kein Be­weis. So sagt er: »Se­hen Sie, und seit Ihr Sohn ge­fal­len ist, schrei­ben Sie die Post­kar­ten, Sie bei­de. Erin­nern Sie sich nicht mehr an die ers­te Kar­te?«

Und er wie­der­holt mit ei­ner ge­wis­sen Fei­er­lich­keit: »Mut­ter! Der Füh­rer hat mir mei­nen Sohn er­mor­det! Der Füh­rer wird auch Dei­ne Söh­ne er­mor­den, er wird noch nicht auf­hö­ren, wenn er Trau­er in je­des Haus der Welt ge­bracht hat …«

Sie horcht. Sie lä­chelt. Sie sagt: »Das hat ’ne Mut­ter ge­schrie­ben! Das hat mein Otto nicht ge­schrie­ben, das träu­men Sie bloß!«

Und der Kom­missar: »Das hat Otto ge­schrie­ben, und du hast’s ihm dik­tiert! Sag’s!«

Aber sie schüt­telt den Kopf. »Nein, lie­ber Herr! So was kann ich ja gar nicht dik­tie­ren, da­für reicht mein Kopf nicht …«

Der Kom­missar steht auf und geht aus der Schlaf­stu­be. In der Wohn­stu­be fängt er an, mit sei­nen Leu­ten nach Schreib­zeug zu su­chen. Er fin­det ein Fäss­chen mit Tin­te, Fe­der­hal­ter und Fe­der, die er auf­merk­sam be­trach­tet, und eine Feld­post­kar­te. Er geht da­mit zu Anna Quan­gel zu­rück.

Die hat un­ter­des der Ober­grup­pen­füh­rer Prall ver­nom­men, auf sei­ne Art. Prall ist fest da­von über­zeugt, dass all dies Ge­tue von Grip­pe und Fie­ber nur »Fio­le« ist, dass die Frau si­mu­liert. Aber wenn sie auch wirk­lich krank wäre, wür­de das an sei­nen Ver­neh­mungs­me­tho­den nicht das Ge­rings­te än­dern. Er packt Anna Quan­gel bei den Schul­tern, doch so, dass es ihr wirk­lich weh tut, und fängt an, sie zu beu­teln. Der Kopf schlägt ge­gen die höl­zer­ne Bett­wand. Wäh­rend er sie so zwan­zig-, drei­ßig­mal hoch­reißt und wie­der in das Kis­sen drückt, schreit er ihr wü­tend ins Ge­sicht: »Willst du noch wei­ter lü­gen, du olle Kom­mu­nis­tensau? Du – sollst – nicht – lü­gen! Du – sollst – nicht – lü­gen!«

»Nicht!«, lallt die Frau. »Sie sol­len das nicht!«

»Sag, dass du die Kar­ten ge­schrie­ben hast! Sag – das – auf – der – Stel­le! Oder – ich – schla­ge – dir – dei­nen – Bre­gen – ka­putt, du rote Sau, du!«

Und bei je­dem Wort lässt er ih­ren Kopf ge­gen die Bett­wand kra­chen.

Der Kom­missar Esche­rich, das Schreib­zeug in der Hand, sieht von der Tür her mit ei­nem Lä­cheln zu. Das ist also eine Ver­neh­mung durch den Ober­grup­pen­füh­rer! Wenn er noch fünf Mi­nu­ten so wei­ter­macht, wird die Frau fünf Tage lang ver­neh­mungs­un­fä­hig sein. Kei­ne noch so raf­fi­niert aus­ge­dach­te Quä­le­rei wird ihr dann das Be­wusst­sein wie­der­ge­ben.

Aber für einen Au­gen­blick ist das viel­leicht nicht ein­mal so schlecht. Soll die ru­hig ein biss­chen Angst krie­gen und Schmer­zen ha­ben, umso eher wird sie sich an ihn, den höf­li­chen Mann, klam­mern!

Als der Ober­grup­pen­füh­rer den Kom­missar am Bett auf­tau­chen sieht, hört er mit sei­ner Beu­te­lei auf und sagt halb ent­schul­di­gend und halb vor­wurfs­voll: »Sie sind viel zu sanft mit sol­chen Wei­bern, Esche­rich! Die muss man schlei­fen, bis sie quie­ken!«

»Ge­wiss, Herr Ober­grup­pen­füh­rer, si­cher! Aber darf ich der Frau erst ein­mal et­was zei­gen?«

Er wen­det sich an die Kran­ke, die jetzt müh­sam keu­chend und mit ge­schlos­se­nen Au­gen im Bett liegt: »Frau Quan­gel, hö­ren Sie mal her!«

Sie scheint nicht zu hö­ren.

Der Kom­missar fasst sie an und setzt sie vor­sich­tig auf. »So«, sagt er, sanft zu­re­dend. »Nun ma­chen Sie mal die Au­gen auf!«

Sie tut es. Esche­rich hat ganz rich­tig ge­rech­net: nach dem Schüt­teln und Dro­hen eben klingt ihr die freund­lich-höf­li­che Stim­me an­ge­nehm.

»Sie ha­ben mir doch eben ge­sagt, dass bei Ih­nen hier schon lan­ge kei­ner ge­schrie­ben hat? Nun, se­hen Sie sich mal die­se Fe­der an. Mit der ist gra­de erst ge­schrie­ben, viel­leicht heu­te oder ges­tern, die Tin­te sitzt noch ganz frisch dran! Se­hen Sie, ich kann sie mit dem Na­gel ab­krat­zen!«

»Da­von ver­steh ich nichts!«, sagt Frau Quan­gel ab­wei­send. »Da müs­sen Sie mei­nen Mann nach fra­gen, von so was ver­steh ich nichts.«

Kom­missar Esche­rich sieht sie auf­merk­sam an. »Sie ver­ste­hen ganz gut, Frau Quan­gel!«, sagt er et­was schär­fer. »Bloß, Sie wol­len nicht ver­ste­hen, weil Sie wis­sen, Sie ha­ben sich schon ver­ra­ten!«

»Bei uns schreibt kei­ner«, wie­der­holt Frau Quan­gel hart­nä­ckig.

»Und Ihren Mann brau­che ich nicht mehr zu be­fra­gen«, fährt der Kom­missar fort. »Weil er näm­lich schon al­les ge­stan­den hat. Er hat die Kar­ten ge­schrie­ben, und Sie ha­ben sie ihm dik­tiert …«

 

»Na, denn ist’s ja gut, wenn Otto das ge­stan­den hat«, sagt Anna Quan­gel.

»Hau das fre­che Aas doch in die Fres­se, Esche­rich!«, schreit der Ober­grup­pen­füh­rer plötz­lich da­zwi­schen. »So ’ne Frech­heit, uns hier an­zu­soh­len!«

Aber der Kom­missar haut das fre­che Aas nicht in die Fres­se, son­dern er sagt: »Wir ha­ben Ihren Mann ge­schnappt mit zwei Post­kar­ten in der Ta­sche. Er konn­te ja gar nicht leug­nen!«

Als Frau Quan­gel das mit den bei­den Post­kar­ten hört, die sie so lan­ge im Fie­ber ge­sucht hat, fährt wie­der ein Er­schre­cken durch sie. Also hat er sie doch mit­ge­nom­men, und sie hat­ten doch fest aus­ge­macht, dass sie die Kar­ten mor­gen oder über­mor­gen ein­ste­cken soll­te. Das war nicht recht von Otto.

Ir­gend­was muss pas­siert sein mit den Kar­ten, über­legt sie müh­sam. Aber ge­stan­den hat Otto nichts, sonst wür­den sie hier nicht so her­um­su­chen und mich aus­fra­gen. Son­dern sie wür­den …

Und laut fragt sie: »Wa­rum brin­gen Sie denn den Otto nicht her? Ich weiß nicht, was das sein soll mit Post­kar­ten. Wa­rum soll er denn Post­kar­ten schrei­ben?«

Weit legt sie sich wie­der zu­rück, den Mund und die Au­gen ge­schlos­sen, fest ent­schlos­sen, kein Wort mehr zu sa­gen.

Kom­missar Esche­rich sieht einen Au­gen­blick nach­denk­lich auf die Frau hin­un­ter. Sie ist sehr er­schöpft, das sieht er. Im Au­gen­blick ist nichts mit ihr an­zu­fan­gen. Er wen­det sich kurz um, ruft zwei sei­ner Leu­te und be­fiehlt: »Le­gen Sie die Frau in das an­de­re Bett da rü­ber, und dann durch­su­chen Sie die­ses Bett ge­nau! Bit­te, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

Er will sei­nen Vor­ge­setz­ten aus dem Zim­mer ha­ben, er will nicht noch eine Prall’­sche Ver­neh­mung. Es ist sehr mög­lich, dass er die­se Frau in den nächs­ten Ta­gen not­wen­dig braucht, dann muss sie ein biss­chen bei Kräf­ten und bei kla­rem Ver­stand sein. Au­ßer­dem scheint sie zu den nicht gra­de häu­fi­gen Men­schen zu ge­hö­ren, die kör­per­li­che Be­dro­hung nur noch bock­bei­ni­ger macht. Mit Schlä­gen ist aus der be­stimmt nichts raus­zu­krie­gen.

Der Ober­grup­pen­füh­rer geht nicht ger­ne von die­sem Wei­be fort. Er hät­te es der ol­len Nut­te doch gar zu ger­ne ge­zeigt, was er von ihr hielt. Er hät­te sei­nen Zorn über die­se gan­ze ver­fah­re­ne Kla­bau­ter­mann­ge­schich­te am liebs­ten bei ihr aus­ge­las­sen. Aber wenn schon die­se bei­den Schnüff­ler im Zim­mer wa­ren – und au­ßer­dem: heu­te Abend steck­te das alte Biest doch im Bun­ker in der Prinz-Al­brecht-Stra­ße, dann konn­te er mit ihr ma­chen, was er woll­te.

»Sie wer­den die Olle doch fest­neh­men, Esche­rich?«, frag­te er in der Wohn­stu­be.

»Ge­wiss wer­de ich das«, ant­wor­te­te der Kom­missar und sah ge­dan­ken­los sei­nen Leu­ten zu, die mit pe­dan­ti­scher Gründ­lich­keit je­des Wä­sche­stück aus­ein­an­der­fal­te­ten und wie­der zu­sam­men­leg­ten, mit lan­gen Na­deln die Sofa­pols­ter durch­sta­chen und die Wän­de ab­klopf­ten. Er setz­te hin­zu: »Aber ich muss se­hen, dass ich sie erst in einen ver­neh­mungs­fä­hi­gen Zu­stand krie­ge. In die­sem Fie­ber be­greift sie al­les nur halb. Sie muss erst ver­ste­hen, dass sie in Le­bens­ge­fahr ist. Dann kriegt sie Angst …«

»Ich wer­de ihr schon Angst bei­brin­gen!«, knurr­te der Ober­grup­pen­füh­rer.

»Nicht auf die­se Art – je­den­falls muss sie da­für erst fie­ber­frei sein«, bat Esche­rich und un­ter­brach sich: »Was ha­ben wir denn da?«

Ei­ner sei­ner Leu­te hat­te sich mit den we­ni­gen Bü­chern be­schäf­tigt, die auf ei­nem klei­nen Re­gal auf­ge­reiht wa­ren. Er hat­te ein Buch ge­schüt­telt, und et­was Wei­ßes war auf die Erde ge­flat­tert.

Der Kom­missar war der Schnells­te. Er hob das Stück Pa­pier auf.

»Eine Kar­te!«, rief er. »Eine an­ge­fan­ge­ne und noch nicht zu Ende ge­schrie­be­ne Kar­te!«

Und er las vor: »Füh­rer be­fiehl, wir fol­gen! Ja, wir sind eine Her­de Scha­fe ge­wor­den, die un­ser Füh­rer auf jede Schlacht­bank trei­ben darf! Wir ha­ben das Den­ken auf­ge­ge­ben …«

Er ließ die Kar­te sin­ken, er sah sich um.

Alle blick­ten auf ihn.

»Wir ha­ben den Be­weis!«, sag­te Kom­missar Esche­rich fast stolz. »Wir ha­ben den Tä­ter. Er ist ein­wand­frei über­führt, kein ab­ge­press­tes Ge­ständ­nis, nein, ein kla­rer kri­mi­na­lis­ti­scher Be­weis. Es hat sich ge­lohnt, so lan­ge zu war­ten!«

Er sah sich um. Sei­ne blas­sen Au­gen glänz­ten jetzt. Dies war sei­ne Stun­de, die Stun­de, auf die er so lan­ge ge­war­tet hat­te. Ei­nen Au­gen­blick dach­te er an den lan­gen, lan­gen Weg zu­rück, den er bis hier­her ge­gan­gen war. Von der ers­ten Kar­te an, die er noch mit lä­cheln­der Gleich­gül­tig­keit auf­ge­nom­men hat­te, bis zu die­ser, die nun in sei­ner Hand war. Er dach­te an die an­schwel­len­de Flut der Kar­ten, die sich stän­dig ver­meh­ren­den ro­ten Fähn­chen, er dach­te auch an den klei­nen Enno Klu­ge.

Wie­der stand er in der Zel­le des Re­viers bei ihm, wie­der saß er mit ihm über dem dunklen Was­ser des Schlach­ten­sees. Dann fiel ein Schuss, und er glaub­te sich für sein Le­ben blind. Er sah sich selbst, zwei SD-Män­ner war­fen ihn die Trep­pe hin­un­ter, blu­tend, ver­nich­tet, wäh­rend ein klei­ner Ta­schen­dieb auf den Kni­en her­um­rutsch­te, sei­ne hei­li­ge Jung­frau Ma­ria an­ru­fend. Ganz flüch­tig dach­te er auch an den Kri­mi­nal­rat Zott – der Arme, auch sei­ne Theo­rie mit den Stra­ßen­bahn­hö­fen hat­te sich als falsch er­wie­sen.

Dies war die stol­ze Stun­de des Kom­missars Esche­rich. Er fand, es hat­te sich ge­lohnt, ge­dul­dig zu sein und vie­les zu er­tra­gen. Er hat­te ihn, sei­nen Kla­bau­ter­mann, wie er ihn zu­erst im Scherz ge­nannt hat­te, aber er war ein rich­ti­ger Kla­bau­ter­mann ge­wor­den: er hat­te Esche­richs Le­bens­schiff fast zum Schei­tern ge­bracht. Aber nun war er ge­fasst, die Jagd war zu Ende, das Spiel aus­ge­spielt.

Kom­missar Esche­rich sah wie auf­wa­chend hoch. Er sag­te be­feh­lend: »Die Frau wird mit ei­nem Kran­ken­wa­gen fort­ge­bracht. Zwei Mann Beglei­tung. Sie ste­hen mir für sie, Kem­mel, kein Ver­hö­ren, über­haupt kei­ner­lei Spre­cher­laub­nis. Aber so­fort einen Arzt. Das Fie­ber muss in drei Ta­gen weg sein, sa­gen Sie ihm das, Kem­mel!«

»Be­fehl, Herr Kom­missar!«

»Die an­de­ren brin­gen die Woh­nung wie­der in Ord­nung, ta­del­los. In wel­chem Buch hat die­se Kar­te ge­le­gen? Ra­dio­bas­tel­buch? Schön! Wre­de, le­gen Sie die Kar­te ge­nau so hin­ein, wie sie lag. In ei­ner Stun­de muss hier al­les in Ord­nung sein, ich kom­me dann noch ein­mal mit dem Tä­ter hier­her. Kei­ner von Ih­nen bleibt hier. Kein Pos­ten, nichts! Ver­stan­den?«

»Be­fehl, Herr Kom­missar!«

»Also ge­hen wir, Herr Ober­grup­pen­füh­rer?«

»Wol­len Sie der Frau nicht noch die auf­ge­fun­de­ne Kar­te vor­hal­ten, Esche­rich?«

»Wozu? Jetzt im Fie­ber rea­giert sie doch nicht rich­tig, und mir kommt es nur auf den Mann an. Wre­de, ha­ben Sie ir­gend­wo Schlüs­sel für die En­tree­tür ge­se­hen?«

»In der Hand­ta­sche der Frau.«

»Ge­ben Sie her – dan­ke. Also ge­hen wir, Herr Ober­grup­pen­füh­rer!«

Dr­un­ten, an sei­nem Fens­ter, sah der Kam­mer­ge­richts­rat Fromm den Fort­fah­ren­den nach. Er wieg­te den Kopf hin und her. Spä­ter sah er, wie die Bah­re mit Frau Quan­gel in einen Kran­ken­wa­gen ge­ho­ben wur­de; aber an dem Aus­se­hen der Beglei­ter er­kann­te er, dass die Fahrt in kein üb­li­ches Kran­ken­haus ging.

»Ei­ner nach dem an­de­ren«, sag­te der Kam­mer­ge­richts­rat a.D. Fromm lei­se. »Ei­ner nach dem an­de­ren. Das Haus wird leer. Ro­sent­hals, Per­sickes, Bark­hau­sen, Quan­gel – ich woh­ne fast al­lein hier. Eine Hälf­te des Vol­kes sperrt die an­de­re ein, das kann nicht mehr lan­ge dau­ern. Nun, ich je­den­falls wer­de hier woh­nen blei­ben, mich wird man nicht ein­sper­ren …«

Er lä­chelt und nickt.

»Je schlim­mer, je bes­ser. Umso eher nimmt dies ein Ende!«

50. Das Gespräch mit Otto Quangel

Es war dem Kom­missar Esche­rich nicht ganz leicht ge­wor­den, Herrn Ober­grup­pen­füh­rer Prall zu be­stim­men, dass er ihn bei dem ers­ten Ver­hör mit Otto Quan­gel al­lein ließ. Aber schließ­lich war es ihm doch ge­lun­gen.

Als er mit dem Werk­meis­ter die Trep­pen zur Woh­nung hin­auf­stieg, war es schon dun­kel ge­wor­den. Licht brann­te auf den Trep­pen, Licht schal­te­te Quan­gel ein, als sie in die Stu­be ge­tre­ten wa­ren. Er wand­te sich zum Schlaf­zim­mer.

»Mei­ne Frau ist krank«, mur­mel­te er.

»Ihre Frau ist nicht mehr hier«, sag­te der Kom­missar. »Sie ist fort­ge­bracht. Set­zen Sie sich hier­her zu mir …«

»Mei­ne Frau hat viel Fie­ber – Grip­pe …«, mur­mel­te Quan­gel.

Es war ihm an­zu­se­hen, dass die Nach­richt von der Ab­we­sen­heit sei­ner Frau ihn stark er­schüt­tert hat­te. Die star­re Gleich­gül­tig­keit, die er bis­her zur Schau ge­tra­gen hat­te, war ge­wi­chen.

»Ein Arzt sorgt für Ihre Frau«, sag­te der Kom­missar be­ru­hi­gend. »Ich den­ke, in zwei, drei Ta­gen wer­den wir das Fie­ber fort ha­ben. Ich habe für den Ab­trans­port einen Kran­ken­wa­gen be­or­dert.«

Zum ers­ten Mal sah Quan­gel den Mann da vor sich ge­nau­er an. Lan­ge ruh­te sein star­res Vo­gel­au­ge auf dem Kom­missar. Dann nick­te Quan­gel. »Kran­ken­wa­gen«, sag­te er. »Dok­tor – das ist gut. Ich dan­ke Ih­nen. Das ist rich­tig. Sie sind kein schlech­ter Mann.«

Der Kom­missar nütz­te sei­ne Ge­le­gen­heit. »Wir sind nicht so schlimm, Herr Quan­gel«, sag­te er, »wie wir oft ge­macht wer­den. Wir tun al­les, um den Ver­haf­te­ten die Lage zu er­leich­tern. Wir wol­len ja nur fest­stel­len, ob eine Schuld vor­liegt. Das ist un­ser Ge­schäft, wie es Ihr Ge­schäft ist, Sär­ge zu tisch­lern …«

»Ja«, sag­te Quan­gel mit har­ter Stim­me. »Ja, Sarg­tisch­ler und Sarglie­fe­rant, so ist das!«

»Sie mei­nen«, ant­wor­te­te Esche­rich leicht spöt­tisch, »ich lie­fe­re den In­halt der Sär­ge? Se­hen Sie Ihren Fall denn so schwarz an?«

»Ich habe kei­nen Fall!«

»Oh, doch schon, ein biss­chen. Se­hen Sie zum Bei­spiel ein­mal die­se Fe­der an, Quan­gel. Ja, es ist Ihre Fe­der. Die Tin­te dar­an ist noch ganz frisch. Was ha­ben Sie heu­te oder ges­tern mit die­ser Fe­der ge­schrie­ben?«

»Ich muss­te was un­ter­schrei­ben.«

»Und was muss­ten Sie denn un­ter­schrei­ben, Herr Quan­gel?«

»Ich habe einen Kran­ken­schein aus­ge­schrie­ben, für mei­ne Frau. Mei­ne Frau ist näm­lich krank, Grip­pe …«

»Und Ihre Frau hat mir ge­sagt, Sie schrei­ben nie. Al­les, was bei Ih­nen ge­schrie­ben wird, schreibt sie, hat sie ge­sagt.«

»Das ist auch ganz rich­tig, was mei­ne Frau ge­sagt hat. Die schreibt al­les. Aber ges­tern muss­te ich, weil sie Fie­ber hat­te. Sie weiß da­von nichts.«

»Und se­hen Sie ein­mal, Herr Quan­gel«, fuhr der Kom­missar fort, »wie die Fe­der spießt! Es ist eine ganz neue Fe­der, aber schon spießt sie. Das macht, weil Sie solch schwe­re Hand ha­ben, Herr Quan­gel.« Er leg­te die bei­den in der Werk­statt ge­fun­de­nen Kar­ten auf den Tisch. »Se­hen Sie, die ers­te Kar­te ist noch ganz glatt ge­schrie­ben. Aber bei der zwei­ten, se­hen Sie – hier – und hier – und da das B auch –, da hat die Fe­der ge­spießt. Nun, Herr Quan­gel?«

»Das sind die Kar­ten«, sag­te Quan­gel gleich­gül­tig, »die ha­ben in der Werk­statt auf dem Bo­den ge­le­gen. Ich habe dem mit der blau­en Ja­cke ge­sagt, er soll sie auf­he­ben. Da hat er’s ge­tan. Ich habe einen Blick auf die Kar­ten ge­wor­fen, dann habe ich sie gleich dem Ver­trau­ens­mann von der Ar­beits­front ge­ge­ben. Der ist mit den Kar­ten weg­ge­gan­gen. Und wei­ter weiß ich von den Din­gern nichts.«

Das al­les hat­te Quan­gel ein­tö­nig und lang­sam ge­sagt, mit ei­ner schwer­fäl­li­gen Zun­ge, wie ein al­ter, et­was be­schränk­ter Mann.

Der Kom­missar frag­te: »Aber das se­hen Sie doch, Herr Quan­gel, dass die­se zwei­te Kar­te zum Schluss mit ei­ner ge­spal­te­nen Fe­der ge­schrie­ben ist?«

»Da­von ver­ste­he ich nichts. Ich bin ge­wis­ser­ma­ßen kein Schrift­ge­lehr­ter, wie es in der Bi­bel heißt.«

Eine Wei­le war es ganz still in dem Zim­mer. Quan­gel sah vor sich hin auf den Tisch, mit ei­nem fast aus­drucks­lo­sen Ge­sicht.

Der Kom­missar sah den Mann an. Er war fest da­von über­zeugt, dass die­ser Mann nicht so lang­sam und schwer­fäl­lig war, wie er jetzt tat, son­dern so scharf wie sein Ge­sicht und so rasch wie sein Auge. Der Kom­missar sah es als sei­ne ers­te Auf­ga­be an, die­se Schär­fe aus dem Mann her­vor­zu­lo­cken. Er woll­te mit dem schlau­en Kar­ten­schrei­ber re­den, nicht mit die­sem al­ten, von Ar­beit tö­richt ge­wor­de­nen Werk­meis­ter.

 

Nach ei­ner Wei­le frag­te Esche­rich: »Was sind denn das da für Bü­cher auf dem Re­gal?«

Lang­sam hob Quan­gel den Blick, sah einen Au­gen­blick den an­de­ren an und dreh­te dann den Kopf ruck­wei­se, bis das Bü­cher­re­gal ihm in Sicht kam.

»Was das für Bü­cher sind? Da steht das Ge­sang­buch von mei­ner Frau und ihre Bi­bel. Und das an­de­re sind wohl al­les Bü­cher von mei­nem Sohn, der ge­fal­len ist. Ich lese kei­ne Bü­cher, ich be­sit­ze kei­ne. Ich habe nie gut le­sen kön­nen …«

»Ge­ben Sie mir doch mal das vier­te Buch von links, Herr Quan­gel, das mit dem ro­ten Ein­band.«

Lang­sam und vor­sich­tig nahm Quan­gel das Buch aus der Rei­he, trug es be­hut­sam, als sei es ein ro­hes Ei, an den Tisch und leg­te es vor den Kom­missar.

»Otto Run­ges Ra­dio­bas­tel­buch«, las der Kom­missar laut vom De­ckel vor. »Na, Quan­gel, fällt Ih­nen nichts ein, wenn Sie dies Buch se­hen?«

»Ein Buch von mei­nem Sohn Otto, der ge­fal­len ist«, ant­wor­te­te Quan­gel lang­sam. »Der hat­te es mit den Ra­di­os. Der war be­kannt, um den ha­ben sich die Werk­stät­ten ge­ris­sen, der kann­te jede Schal­tung …«

»Und sonst fällt Ih­nen nichts ein, Herr Quan­gel, wenn Sie dies Buch se­hen?«

»Nee!« Quan­gel schüt­tel­te den Kopf. »Ich weiß von nichts. Ich les nicht in so Bü­chern.«

»Aber viel­leicht le­gen Sie was rein? Schla­gen Sie das Buch mal auf, Herr Quan­gel!«

Das Buch öff­ne­te sich ge­nau an der Stel­le, wo die Kar­te lag.

Quan­gel starr­te auf die Wor­te: »Füh­rer be­fiehl, wir fol­gen …«

Wann hat­te er das ge­schrie­ben? Lan­ge, lan­ge muss­te es her sein. Ganz im An­fang. Aber warum hat­te er es nicht zu Ende ge­schrie­ben? Wie­so lag die Kar­te hier im Buch von Ot­to­chen?

Und lang­sam däm­mer­te ihm eine Erin­ne­rung an den ers­ten Be­such sei­nes Schwa­gers Ul­rich Heff­ke. Da­mals war die Kar­te rasch fort­ge­steckt wor­den, und er hat­te an Ot­to­chens Kopf wei­ter­ge­schnitzt. Weg­ge­steckt und ver­ges­sen, von ihm wie von Anna!

Das war die Ge­fahr, die er im­mer ge­fühlt hat­te! Das war der Feind im Dun­keln, den er nicht hat­te se­hen kön­nen, den er aber im­mer ge­ahnt hat­te. Das war der Feh­ler, den er ge­macht hat­te, der nicht zu be­rech­nen ge­we­sen war …

Sie ha­ben dich!, sprach es in ihm. Jetzt hast du dich um dei­nen Kopf ge­spielt – durch dei­ne ei­ge­ne Schuld. Jetzt bist du ge­lie­fert.

Und: Ob Anna ir­gen­det­was ge­stan­den hat? Si­cher ha­ben sie ihr die Kar­te ge­zeigt. Aber Anna hat trotz­dem ge­leug­net, ich ken­ne sie doch schon, und so wer­de ich es auch ma­chen. Frei­lich, Anna hat Fie­ber ge­habt …

Der Kom­missar frag­te: »Nun, Quan­gel, Sie sa­gen ja gar nichts? Wann ha­ben Sie denn die Kar­te ge­schrie­ben?«

»Ich weiß von der Kar­te nichts«, ant­wor­te­te er. »Ich kann so was gar nicht schrei­ben, da­für bin ich zu dumm!«

»Aber wie­so kommt die Kar­te jetzt in das Buch Ihres Jun­gen? Wer hat sie denn da rein­ge­legt?«

»Wie soll ich denn das wis­sen?«, ant­wor­te­te Quan­gel fast grob. »Vi­el­leicht ha­ben Sie die Kar­te sel­ber rein­ge­legt oder ei­ner von Ihren Leu­ten! Das hat man schon öf­ter ge­hört, dass Be­wei­se ge­macht wer­den, wo kei­ne da sind!«

»Die Kar­te ist in Ge­gen­wart von meh­re­ren ein­wand­frei­en Zeu­gen in die­sem Buch ge­fun­den. Auch Ihre Frau war da­bei.«

»Na, und was hat mei­ne Frau ge­sagt?«

»Als die Kar­te ge­fun­den wur­de, hat sie so­fort ein­ge­stan­den, dass Sie der Schrei­ber sind, und sie hat dik­tiert. Se­hen Sie, Quan­gel, sei­en Sie jetzt nicht bock­bei­nig. Ge­ste­hen Sie ein­fach. Wenn Sie jetzt ge­ste­hen, sa­gen Sie mir nichts, was ich nicht schon weiß. Sie er­leich­tern aber Ihre Lage und die Lage Ih­rer Frau. Wenn Sie nicht ge­ste­hen, muss ich Sie zu uns auf die Ge­sta­po neh­men, und in un­serm Kel­ler ist es nicht sehr hübsch …«

In der Erin­ne­rung, was er selbst in die­sem Kel­ler er­lebt hat­te, zit­ter­te die Stim­me des Kom­missars et­was.

Er fass­te sich aber und fuhr fort: »Wenn Sie aber ge­ste­hen, so kann ich Sie gleich dem Un­ter­su­chungs­rich­ter über­ge­ben. Dann kom­men Sie nach Moa­bit, da wer­den Sie gut ge­hal­ten, ge­nau wie alle an­de­ren Ge­fan­ge­nen.«

Aber der Kom­missar konn­te sa­gen, was er woll­te, Quan­gel blieb bei sei­nen Lü­gen. Esche­rich hat­te eben doch einen Feh­ler be­gan­gen, den der scharf­sin­ni­ge Quan­gel so­fort be­merkt hat­te. So weit war Esche­rich eben doch durch das schwer­fäl­li­ge We­sen Quan­gels und durch die Mit­tei­lun­gen sei­ner Vor­ge­setz­ten über ihn be­ein­druckt, dass er Quan­gel nicht für den Ver­fas­ser der Kar­ten hielt. Er war nur der Schrei­ber, die Frau hat­te sie dik­tiert …

Dass er das aber wie­der­hol­te, be­wies Quan­gel, dass Anna nichts ge­stan­den hat­te. Das hat­te die­ser Bru­der sich nur aus­ge­dacht.

Er leug­ne­te im­mer wei­ter.

Schließ­lich brach Kom­missar Esche­rich das er­folg­lo­se Ver­hör in der Woh­nung ab und fuhr mit Quan­gel in die Prinz-Al­brecht-Stra­ße. Er hoff­te jetzt, dass die an­de­re Um­ge­bung, der Auf­marsch der SS-Män­ner, die­ser gan­ze dro­hen­de Ap­pa­rat den ein­fa­chen Mann ein­schüch­tern, ihn sei­ner Über­re­dung zu­gäng­li­cher ma­chen wür­de.

Sie wa­ren im Zim­mer des Kom­missars, und Esche­rich führ­te Quan­gel vor den Stadt­plan von Ber­lin mit sei­nen ro­ten Fähn­chen.

»Se­hen Sie das mal an, Herr Quan­gel«, sag­te er. »Je­des Fähn­chen be­deu­tet eine auf­ge­fun­de­ne Kar­te. Es steckt ge­nau an der Stel­le, wo sie ge­fun­den wur­de. Und wenn Sie sich nun ein­mal die­se Stel­len an­se­hen«, er tipp­te mit dem Fin­ger, »da se­hen Sie rings­her­um Fähn­chen über Fähn­chen, aber hier gar kei­ne. Das ist näm­lich die Ja­blons­ki­stra­ße, in der Sie woh­nen. Da ha­ben Sie na­tür­lich kei­ne Kar­ten ab­ge­legt, da sind Sie zu be­kannt …«

Aber Esche­rich sah, dass Quan­gel gar nicht hin­hör­te. Eine selt­sa­me, un­ver­ständ­li­che Er­re­gung war über den Mann ge­kom­men beim An­blick des Stadt­pla­nes. Sein Blick fla­cker­te, sei­ne Hän­de zit­ter­ten. Fast schüch­tern frag­te er: »Das sind aber ’ne Men­ge Fähn­chen, wie vie­le mö­gen das wohl sein?«

»Das kann ich Ih­nen ge­nau sa­gen«, ant­wor­te­te der Kom­missar, der jetzt be­grif­fen hat­te, was den Mann so er­schüt­ter­te. »Es sind 267 Fähn­chen, 259 Kar­ten und 8 Brie­fe. Und wie viel ha­ben Sie ge­schrie­ben, Quan­gel?«

Der Mann schwieg, aber es war jetzt kein Schwei­gen des Trot­zes mehr, son­dern der Er­schüt­te­rung.

»Und be­den­ken Sie noch ei­nes, Herr Quan­gel«, fuhr der Kom­missar, sei­nen Vor­teil wahr­neh­mend, fort, »alle die­se Brie­fe und Kar­ten sind frei­wil­lig bei uns ab­ge­lie­fert. Wir ha­ben kei­ne von uns aus ge­fun­den. Die Leu­te sind da­mit förm­lich ge­lau­fen ge­kom­men, als brenn­te es. Sie konn­ten sie nicht schnell ge­nug los­wer­den, die meis­ten ha­ben die Kar­ten nicht ein­mal ge­le­sen …«

Noch im­mer schwieg Quan­gel, aber in sei­nem Ge­sicht zuck­te es. Es ar­bei­te­te ge­wal­tig in ihm; der Blick des star­ren, schar­fen Au­ges, jetzt fla­cker­te er, irr­te ab, senk­te sich zur Erde und hob sich wie­der wie ge­bannt zu den Fähn­chen.

»Und noch ei­nes, Quan­gel: Ha­ben Sie je ein­mal dar­über nach­ge­dacht, wie viel Angst und Not Sie mit die­sen Kar­ten über die Men­schen ge­bracht ha­ben? Die Leu­te sind ja vor Angst ver­gan­gen, man­che sind ver­haf­tet wor­den, und von ei­nem weiß ich be­stimmt, dass er we­gen die­ser Kar­ten Selbst­mord ver­übt hat …«

»Nein! Nein!«, schrie Quan­gel. »Das habe ich nie ge­wollt! Das habe ich nie ge­ahnt! Ich hab’s ge­wollt, dass es bes­ser wird, dass die Leu­te die Wahr­heit ken­nen­ler­nen, dass der Krieg schnel­ler zu Ende geht, dass dies Mor­den end­lich auf­hört – das habe ich ge­wollt! Aber ich habe doch nicht Angst und Schre­cken säen wol­len, ich hab’s doch nicht noch schlim­mer ma­chen wol­len! Die ar­men Men­schen – und ich habe sie noch är­mer ge­macht! Wer war’s denn, der Selbst­mord ver­übt hat?«