Hans Fallada – Gesammelte Werke

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5. Enno Kluges Heimkehr

Um zwei Uhr nach­mit­tags war die Brief­trä­ge­rin Eva Klu­ge mit ih­rem Be­stell­gang fer­tig ge­wor­den. Bis ge­gen vier Uhr hat­te sie noch mit der Abrech­nung ih­rer Zahl­kar­ten und An­wei­sun­gen zu tun ge­habt: War sie sehr müde, ver­wirr­ten sich ihr die Zah­len, und sie ver­rech­ne­te sich im­mer wie­der. Mit bren­nen­den Fü­ßen und ei­ner schmer­zen­den Öde im Kopf mach­te sie sich auf den Heim­weg; sie moch­te gar nicht dar­an den­ken, was sie noch al­les zu tun hat­te, bis sie end­lich ins Bett ge­hen konn­te. Auf dem Heim­weg er­le­dig­te sie noch ihre Be­sor­gun­gen auf Kar­ten; beim Flei­scher muss­te sie ziem­lich lan­ge an­ste­hen, und so war es fast sechs Uhr ge­wor­den, als sie lang­sam die Stu­fen ih­rer Woh­nung am Fried­richs­hain em­por­stieg.

Auf der Trep­pen­stu­fe vor ih­rer Tür stand ein klei­ner Mann in hel­lem Man­tel und mit Sport­müt­ze auf. Er hat­te ein farb­lo­ses Ge­sicht ohne al­len Aus­druck, die Li­der wa­ren ein we­nig ent­zün­det, die Au­gen blass, solch ein Ge­sicht, das man so­fort wie­der ver­gisst.

»Du, Enno?«, rief sie er­schro­cken und nahm die Woh­nungs­schlüs­sel un­will­kür­lich fes­ter in die Hand. »Was willst du denn bei mir? Ich habe kein Geld und auch kein Es­sen, und in die Woh­nung las­se ich dich auch nicht!«

Der klei­ne Mann mach­te eine be­ru­hi­gen­de Be­we­gung. »Wa­rum denn gleich so auf­ge­regt, Eva? Wie­so denn gleich so bös­ar­tig? Ich will dir doch bloß mal gu­ten Tag sa­gen, Eva. Gu­ten Tag, Eva!«

»Gu­ten Tag, Enno!«, sag­te sie, aber nur wi­der­wil­lig, denn sie kann­te ih­ren Mann seit vie­len Jah­ren. Sie war­te­te eine Wei­le, dann lach­te sie kurz und böse auf. »Jetzt ha­ben wir uns gu­ten Tag ge­sagt, wie du woll­test, Enno, und du kannst ge­hen. Aber wie ich seh, gehst du nicht, was willst du also wirk­lich?«

»Siehs­te, Ev­chen«, sag­te er, ihr im­mer gut zu­re­dend. »Du bist ’ne ver­nünf­ti­ge Frau, und mit dir kann man ’n Wort re­den …« Er fing an, ihr um­ständ­lich aus­ein­an­der­zu­set­zen, dass die Kran­ken­kas­se nicht mehr län­ger zahl­te, weil er sei­ne sechs­und­zwan­zig Wo­chen Krank­sein rum hat­te. Er muss­te wie­der ar­bei­ten ge­hen, sonst schick­ten sie ihn zu­rück zur Wehr­macht, die ihn sei­ner Fa­brik zur Ver­fü­gung ge­stellt hat­te, weil er Fein­me­cha­ni­ker war, und die wa­ren knapp. »Die Sa­che ist nun die und der Um­stand der«, schloss er sei­ne Er­klä­run­gen, »dass ich die nächs­ten Tage einen fes­ten Wohn­sitz ha­ben muss. Und da habe ich ge­dacht …«

Sie schüt­tel­te ener­gisch den Kopf. Sie war zum Um­sin­ken müde und sehn­te sich da­nach, in die Woh­nung zu kom­men, wo so viel Ar­beit auf sie war­te­te. Aber sie ließ ihn nicht ein, ihn nicht, und wenn sie die hal­be Nacht hier ste­hen muss­te.

Er sag­te ei­lig, aber es klang im­mer gleich farb­los: »Sag noch nicht nein, Ev­chen, ich bin noch nicht zu Ende mit mei­nen Wor­ten. Ich schwö­re dir, ich will gar nichts von dir, kein Geld, kein Es­sen. Lass mich bloß auf dem Kana­pee schla­fen. Ich brauch auch kei­ne Bett­wä­sche. Du sollst nicht Ar­beit von mir ha­ben.«

Wie­der schüt­tel­te sie den Kopf. Wenn er bloß auf­hö­ren woll­te mit re­den, er soll­te doch wis­sen, dass sie ihm nicht ein Wort glaub­te. Er hat­te noch nie ge­hal­ten, was er ver­spro­chen hat­te.

Sie frag­te: »Wa­rum machst du das nicht bei ei­ner von dei­nen Freun­din­nen ab? Die sind dir doch sonst gut ge­nug für so was!«

Er schüt­tel­te den Kopf: »Mit den Wei­bern bin ich durch, Ev­chen, mit de­nen be­fass ich mich nicht mehr, mit de­nen hat’s mir ge­reicht. Wenn ich al­les be­den­ke, du warst doch im­mer die Bes­te von al­len, Ev­chen. Gute Jah­re ha­ben wir ge­habt, da­mals, als die Jun­gen noch klein wa­ren.«

Un­will­kür­lich hat­te sich ihr Ge­sicht bei der Erin­ne­rung an ihre ers­ten Ehe­jah­re auf­ge­hellt. Die wa­ren wirk­lich gut ge­we­sen, da­mals, als er noch als Fein­me­cha­ni­ker ar­bei­te­te und jede Wo­che sei­ne sech­zig Mark nach Haus brach­te und von Ar­beits­scheu nichts wuss­te.

Enno Klu­ge sah so­fort sei­nen Vor­teil. »Siehs­te, Ev­chen, ein biss­chen hast du mich doch noch ger­ne, und dar­um lässt du mich auch auf dem Kana­pee schla­fen. Ich ver­sprech dir, ich mach’s ganz schnell ab mit dem Ar­bei­ten, mir liegt doch auch nichts an dem Kohl. Bloß so lan­ge, dass ich wie­der Kran­ken­geld krie­ge und nicht zu den Preu­ßen muss. In zehn Ta­gen schaff ich’s, dass sie mich wie­der krank­schrei­ben!«

Er mach­te eine Pau­se und sah sie ab­war­tend an. Dies­mal schüt­tel­te sie nicht den Kopf, aber ihr Ge­sicht sah un­durch­dring­lich aus. So fuhr er fort: »Ich will’s dies­mal nicht mit Ma­gen­blu­tun­gen ma­chen, da ge­ben sie ei­nem nichts zu fres­sen in den Kran­ken­häu­sern. Ich rei­se dies­mal auf Gal­len­ko­li­ken. Da kön­nen sie ei­nem auch nichts nach­wei­sen, bloß mal rönt­gen, und man muss kei­ne Stei­ne ha­ben für die Ko­li­ken. Man kann bloß. Ich habe mir al­les ge­nau er­klä­ren las­sen. Das klappt schon. Bloß dass ich erst die­se zehn Tage ar­bei­ten muss.«

Sie ant­wor­te­te wie­der mit kei­nem Wort, und er fuhr fort, denn er glaub­te dar­an, dass man den Leu­ten ein Loch in den Bauch re­den kann, dass sie schließ­lich doch nach­ge­ben, wenn man nur be­harr­lich ge­nug ist. »Ich habe auch die Adres­se von ’nem jü­di­schen Arzt in der Frank­fur­ter Al­lee, der schreibt je­den krank, wenn man will, bloß dass er kei­ne Schwie­rig­kei­ten hat mit den Leu­ten. Mit dem schaff ich’s: in zehn Ta­gen bin ich wie­der im Kran­ken­haus, und du bist mich los, Ev­chen!«

Sie sag­te, müde all die­ses Ge­schwät­zes: »Und wenn du bis Mit­ter­nacht hier stehst und re­dest, ich neh­me dich doch nicht wie­der auf, Enno. Ich tu’s nie wie­der, du kannst sa­gen, was du willst, und du kannst tun, was du willst. Ich lass mir nicht wie­der al­les ka­putt­ma­chen von dir und dei­ner Ar­beits­scheu und dei­ner Renn­wet­te­rei und dei­nen ge­mei­nen Wei­bern. Ich hab’s drei­mal er­lebt und das vier­te Mal und noch mal und noch mal, und nun hat’s ge­schnappt bei mir, nun ist es alle! Ich set­ze mich hier auf die Trep­pe, ich bin näm­lich müde, seit sechs bin ich auf den Bei­nen. Wenn du willst, setz dich dazu. Wenn du magst, rede, wenn du nicht magst, halt den Mund, mir ist al­les egal. Aber in die Woh­nung kommst du mir nicht!«

Sie hat­te sich wirk­lich auf die Trep­pen­stu­fe ge­setzt, auf die glei­che Stu­fe, die vor­her sein War­te­platz ge­we­sen war. Und ihre Wor­te hat­ten so ent­schlos­sen ge­klun­gen, dass er fühl­te, dies­mal half auch al­les Re­den nichts. So rück­te er denn sei­ne Jockey­müt­ze ein we­nig schief und sag­te: »Na denn, Ev­chen, wenn du durch­aus nicht willst, wenn du mir nicht mal so ’nen klei­nen Ge­fal­len tun willst, wo du weißt, dein Mann ist in Not, mit dem du fünf Kin­der ge­habt hast, und drei lie­gen auf dem Kirch­hof, und die zwei Jun­gen kämp­fen für Füh­rer und Volk …« Er brach ab, er hat­te ganz ma­schi­nen­mä­ßig so vor sich hin ge­re­det, weil er das Im­mer­wei­ter­re­den aus den Knei­pen ge­wohnt war, ob­wohl er doch be­grif­fen hat­te, hier war je­des Re­den zweck­los. »Also, ich geh denn jetzt, Ev­chen. Und dass du’s weißt, ich nehm dir nichts übel, das weißt du, ich mag sein, wie ich will, übel­neh­men tu ich nichts.«

»Weil dir al­les gleich­gül­tig ist bis auf dei­ne Renn­wet­te­rei«, ant­wor­te­te sie nun doch. »Weil dich sonst nichts auf der Welt in­ter­es­siert, weil du nichts und kei­nen gern­ha­ben kannst, nicht ein­mal dich selbst, Enno.« Aber sie brach so­fort wie­der ab, es war so nutz­los, mit die­sem Mann zu spre­chen. Sie war­te­te eine Wei­le, dann sag­te sie: »Aber ich den­ke, du woll­test ge­hen, Enno?«

»Jetzt geh ich, Ev­chen«, sag­te er ganz über­ra­schend. »Mach’s gut. Ich nehm dir nichts übel. Heil Hit­ler, Ev­chen!«

»Heil Hit­ler!«, ant­wor­te­te sie ganz me­cha­nisch, im­mer noch fest da­von über­zeugt, dass die­ses Ab­schied­neh­men nur eine Fin­te von ihm war, bloß die Ein­lei­tung zu neu­em, end­lo­sem Ge­re­de. Aber zu ih­rer gren­zen­lo­sen Über­ra­schung sag­te er wirk­lich nichts mehr, son­dern fing an, die Trep­pe hin­ab­zu­stei­gen.

Eine, zwei Mi­nu­ten saß sie noch wie be­täubt auf der Stu­fe, sie konn­te noch nicht an ih­ren Sieg glau­ben. Dann sprang sie auf und lausch­te ins Trep­pen­haus. Sie hör­te deut­lich sei­nen Schritt auf der un­ters­ten Trep­pe, er hat­te sich nicht ver­steckt, er ging wirk­lich! Nun klapp­te die Haus­tür. Mit zit­tern­der Hand schloss sie die Tür auf; sie war so er­regt, dass sie zu­erst das Schlüs­sel­loch nicht fin­den konn­te. Als sie drin­nen war, leg­te sie die Ket­te vor und sank auf einen Kü­chen­stuhl. Die Glie­der hin­gen ihr run­ter, die­ser Kampf eben hat­te die letz­te Kraft aus ihr ge­pumpt. Sie hat­te kein Mark mehr in den Kno­chen, jetzt hät­te sie ei­ner nur mit ei­nem Fin­ger an­sto­ßen müs­sen, sie wäre glatt vom Kü­chen­stuhl ge­rutscht.

Aber all­mäh­lich, wie sie dort hock­te, kehr­ten wie­der Kraft und Le­ben in sie zu­rück. So hat­te sie es denn auch ein­mal ge­schafft, ihr Wil­le hat­te sei­ne sture Hart­nä­ckig­keit be­zwun­gen. Sie hat­te ihr Heim für sich be­hal­ten, für sich ganz al­lein. Er wür­de da nicht wie­der rum­sit­zen, end­los von sei­nen Pfer­den re­den und ihr jede Mark und je­den Kan­ten Brot steh­len, den er nur er­wi­schen konn­te.

Sie sprang auf, von neu­em Le­bens­mut er­füllt. Die­ses Stück­chen Le­ben war ihr ver­blie­ben. Nach dem end­lo­sen Dienst auf der Post brauch­te sie die­se paar Stun­den hier für sich al­lein. Der Be­stell­gang fiel ihr schwer, sehr schwer, im­mer schwe­rer. Sie hat­te schon frü­her mit dem Un­ter­leib zu tun ge­habt, nicht um­sonst la­gen die drei Jüngs­ten auf dem Fried­hof: al­les Früh­ge­bur­ten. Die Bei­ne woll­ten auch nicht mehr so. Sie war eben kei­ne Frau für das Er­werbs­le­ben, sie war ei­gent­lich eine rich­ti­ge Haus­frau. Aber sie hat­te ver­die­nen müs­sen, als der Mann plötz­lich auf­ge­hört hat­te zu ar­bei­ten. Da­mals wa­ren die bei­den Jun­gen noch klein ge­we­sen. Sie hat­te sie hoch­ge­bracht, sie hat­te sich die­ses Heim ge­schaf­fen: Wohn­kü­che und Kam­mer. Und da­bei hat­te sie noch den Mann mit durch­ge­schleppt, wenn er nicht ge­ra­de bei ei­ner sei­ner Ge­lieb­ten un­ter­ge­kro­chen war.

 

Selbst­ver­ständ­lich hät­te sie sich längst von ihm schei­den las­sen kön­nen, er mach­te ja gar kein Hehl aus sei­nen Ehe­brü­chen. Aber eine Schei­dung hät­te nichts ge­än­dert, ob ge­schie­den oder nicht, Enno hät­te sich wei­ter an sie ge­klam­mert. Dem war al­les egal, der hat­te kei­nen Fun­ken Ehre im Lei­be.

Dass sie ihn ganz aus der Woh­nung ge­setzt hat­te, das war erst ge­sche­hen, als die bei­den Jun­gen in den Krieg ge­zo­gen wa­ren. Bis da­hin hat­te sie im­mer noch ge­glaubt, we­nigs­tens den Schein ei­nes Fa­mi­li­en­le­bens auf­recht­er­hal­ten zu müs­sen, trotz­dem die großen Ben­gels ge­nau Be­scheid wuss­ten. Sie hat­te über­haupt eine Scheu, von die­sem Zer­würf­nis an­de­re et­was mer­ken zu las­sen. Wur­de sie nach ih­rem Man­ne ge­fragt, so ant­wor­te­te sie im­mer, er sei auf Mon­ta­ge. Sie ging so­gar jetzt noch manch­mal zu En­nos El­tern, brach­te ih­nen was zu es­sen oder ein paar Mark, ge­wis­ser­ma­ßen als Ent­schä­di­gung für das Geld, das der Sohn sich dann und wann von der küm­mer­li­chen Ren­te der El­tern er­schlich.

Aber in­ner­lich war sie ganz fer­tig mit dem Mann. Er hät­te sich so­gar än­dern und wie­der ar­bei­ten und sein kön­nen wie in den ers­ten Jah­ren ih­rer Ehe, sie hät­te ihn nicht wie­der auf­ge­nom­men. Sie hass­te ihn nicht etwa, er war so ein rei­ner Gar­nichts, dass man nicht ein­mal Hass ge­gen ihn auf­brin­gen konn­te, er war ihr ein­fach wi­der­lich, wie ihr Spin­nen und Schlan­gen wi­der­lich wa­ren. Er soll­te sie bloß in Ruhe las­sen, nur nicht se­hen woll­te sie ihn, dann war sie schon zu­frie­den!

Wäh­rend Eva Klu­ge so vor sich hin dach­te, hat­te sie ihr Es­sen auf die Gas­flam­me ge­setzt und die Wohn­kü­che auf­ge­räumt – die Kam­mer mit ih­rem Bett mach­te sie schon im­mer am frü­hen Mor­gen zu­recht. Wäh­rend sie nun die Brü­he schön bro­deln hör­te und ihr Duft sich durch die gan­ze Kü­che zu ver­brei­ten an­fing, mach­te sie sich an den Stopf­korb – mit den St­rümp­fen war es ein ewi­ges Elend, sie zer­riss am Tage oft mehr, als sie stop­fen konn­te. Aber sie war der Ar­beit dar­um nicht böse, sie lieb­te die­se stil­le hal­be Stun­de vor dem Es­sen, wenn sie be­hag­lich in wei­chen Filz­schu­hen auf dem Korb­stuhl sit­zen konn­te, die schmer­zen­den Füße weit von sich ge­streckt und ein we­nig ein­wärts ge­dreht – so ruh­ten sie am bes­ten aus.

Nach dem Es­sen woll­te sie an ih­ren Lieb­ling, den Äl­tes­ten, an Kar­le­mann woll­te sie schrei­ben, der in Po­len war. Sie war ganz und gar nicht mit ihm ein­ver­stan­den, be­son­ders nicht, seit er in die SS ein­ge­tre­ten war. Man hör­te in der letz­ten Zeit sehr viel Schlech­tes von der SS, be­son­ders ge­gen die Ju­den soll­te sie so ge­mein sein. Aber das trau­te sie ihm doch nicht zu, dass ihr Jun­ge, den sie ein­mal un­ter dem Her­zen ge­tra­gen hat­te, Ju­den­mäd­chen erst schän­de­te und dann gleich hin­ter­her er­schoss. So was tat Kar­le­mann nicht! Wo­her soll­te er es auch ha­ben? Sie hat­te nie hart oder gar roh sein kön­nen, und der Va­ter war ein­fach ein Wasch­lap­pen. Aber sie wür­de doch ver­su­chen, im Brief eine An­deu­tung zu ma­chen, dass er an­stän­dig blei­ben müs­se. Na­tür­lich muss­te die­se An­deu­tung ganz vor­sich­tig ge­macht wer­den, dass nur Kar­le­mann sie ver­stand. Sonst be­kam er Schwie­rig­kei­ten, wenn der Brief dem Zen­sor in die Fin­ger ge­riet. Nun, sie wür­de schon auf ir­gend­was kom­men, viel­leicht wür­de sie ihn an ein Kind­heits­er­leb­nis er­in­nern, wie er ihr da­mals zwei Mark ge­stoh­len und Bon­bons da­für ge­kauft hat­te oder, bes­ser noch, als er sich schon mit drei­zehn an die Wal­li ran­ge­macht hat­te, die nichts war wie eine ge­mei­ne Nut­te. Was das da­mals für Schwie­rig­kei­ten ge­macht hat­te, ihn von dem Wei­be wie­der los­zu­krie­gen – er war solch ein Wut­kopf manch­mal, der Kar­le­mann!

Aber sie lä­chelt, als sie an die­se Schwie­rig­kei­ten denkt. Al­les kommt ihr heu­te schön vor, was mit der Kind­heit der Jun­gens zu­sam­men­hängt. Da­mals hat­te sie noch Kraft in sich, sie hät­te ihre Ben­gels ge­gen die gan­ze Welt ver­tei­digt und ge­ar­bei­tet bei Tag und ge­ar­bei­tet bei Nacht, bloß um ih­nen nichts ab­ge­hen zu las­sen, was an­de­re Kin­der mit ei­nem an­stän­di­gen Va­ter be­ka­men. Aber in den letz­ten Jah­ren ist sie im­mer kraft­lo­ser ge­wor­den, ganz be­son­ders, seit die bei­den in den Krieg zie­hen muss­ten. Nein, die­ser Krieg hät­te nicht kom­men dür­fen; war der Füh­rer wirk­lich ein so großer Mann, hät­te er ihn ver­mei­den müs­sen. Das biss­chen Dan­zig und der schma­le Kor­ri­dor – und dar­um Mil­lio­nen Men­schen in täg­li­che Le­bens­ge­fahr ge­bracht – so was tat kein wirk­lich großer Mann!

Aber frei­lich, die Leu­te er­zähl­ten ja, dass er so was wie un­ehe­lich sei. Da hat­te er wohl nie eine Mut­ter ge­habt, die sich rich­tig um ihn küm­mer­te. Und so wuss­te er auch nichts da­von, wie Müt­tern zu­mu­te sein kann in die­ser ewi­gen, nie ab­rei­ßen­den Angst. Nach ei­nem Feld­post­brief war es ein, zwei Tage bes­ser, dann rech­ne­te man, wie lan­ge es her war, seit er ab­ge­schickt wor­den war, und die Angst be­gann von Neu­em.

Sie hat­te längst den Stopf­strumpf sin­ken las­sen und nur so vor sich hin ge­träumt. Nun steht sie ganz me­cha­nisch auf, rückt die Brü­he von der bes­ser bren­nen­den Flam­me auf die schwä­che­re und setzt den Kar­tof­fel­topf auf die bes­se­re auf. Sie ist noch da­bei, als bei ihr die Klin­gel geht. So­fort steht sie wie er­starrt. Enno! denkt es in ihr, Enno!

Sie setzt den Topf lei­se hin und schleicht auf ih­ren Filz­soh­len laut­los zur Tür. Ihr Herz geht wie­der leich­ter: vor der Tür, ein biss­chen ab, so­dass sie gut ge­se­hen wer­den kann, steht ihre Nach­ba­rin, Frau Gesch. Si­cher will sie wie­der was bor­gen, Mehl oder ein biss­chen Fett, das sie stets wie­der­zu­brin­gen ver­gisst. Aber Eva Klu­ge bleibt trotz­dem miss­trau­isch. Sie sucht, so­weit es das Guck­loch in der Tür er­laubt, den gan­zen Trep­pen­flur ab und lauscht auf je­des Geräusch. Aber al­les ist in Ord­nung, nur die Gesch scharrt manch­mal un­ge­dul­dig mit den Fü­ßen oder sieht nach dem Guck­loch hin.

Eva Klu­ge ent­schließt sich. Sie macht die Tür auf, aber nur so weit die Ket­te es zu­lässt, und fragt: »Na, was soll’s denn sein, Frau Gesch?«

So­fort über­stürzt Frau Gesch, eine ab­ge­mer­gel­te, halb zu Tode ge­ar­bei­te­te Frau, de­ren Töch­ter auf Kos­ten der Mut­ter einen gu­ten Tag le­ben, sie mit ei­ner Flut von Kla­gen über die end­lo­se Wa­sche­rei, im­mer an­de­rer Leu­te dre­cki­ge Wä­sche wa­schen und nie satt zu es­sen, und die Emmi und die Lil­li tun rein gar nichts. Nach dem Abendes­sen ge­hen sie ein­fach weg und las­sen der Mut­ter den gan­zen Ab­wasch. »Ja, und Frau Klu­ge, was ich Sie bit­ten woll­te, ich habe da im Rücken was, ich glau­be, ’nen Fu­run­kel oder doch was Eit­ri­ges. Wir ha­ben bloß einen Spie­gel, und mei­ne Au­gen sind so schlecht. Wenn Sie sich das mal an­se­hen woll­ten – ich kann doch we­gen so was nicht zum Dok­tor, wann habe ich denn Zeit für ’nen Dok­tor? Aber viel­leicht kön­nen Sie es so­gar aus­drücken, wenn’s Ih­nen nicht ek­lig ist, man­che sind in so was ek­lig …«

Wäh­rend Frau Gesch kla­gend im­mer so wei­ter­re­det, hat Eva Klu­ge ganz me­cha­nisch die Ket­te los­ge­macht, und die Frau ist in die Wohn­kü­che hin­ein­ge­kom­men. Eva Klu­ge hat die Tür wie­der zu­zie­hen wol­len, da hat sich ein Fuß da­zwi­schen­ge­zwängt, und schon ist auch Enno Klu­ge in ih­rer Woh­nung. Sein Ge­sicht ist aus­drucks­los wie im­mer; dass er doch et­was er­regt ist, merkt sie nur dar­an, dass sei­ne fast haar­lo­sen Li­der stark zit­tern.

Eva Klu­ge steht mit hän­gen­den Ar­men da, ihre Knie be­ben so sehr, dass sie sich am liebs­ten zu Bo­den sin­ken lie­ße. Der Re­de­strom von Frau Gesch ist ganz plötz­lich ver­siegt, schwei­gend sieht sie in die bei­den Ge­sich­ter. Es ist ganz still in der Kü­che, nur der Brü­hen­topf bro­delt lei­se.

Schließ­lich sagt Frau Gesch: »Na, nun habe ich Ih­nen den Ge­fal­len ge­tan, Herr Klu­ge. Aber ich sage Ih­nen: ein­mal und nicht wie­der. Und wenn Sie Ihr Ver­spre­chen nicht hal­ten und fan­gen das wie­der an mit der Nichts­tue­rei und dem Knei­pen­lau­fen und dem Pfer­de­wet­ten …« Sie un­ter­bricht sich, sie hat in das Ge­sicht von Frau Klu­ge ge­se­hen, sie sagt: »Und wenn ich Mist ge­macht habe, ich hel­fe Ih­nen auf der Stel­le, das Män­ne­ken raus­zu­schmei­ßen, Frau Klu­ge. Wir bei­de schaf­fen das doch wie nischt!«

Eva Klu­ge macht eine ab­weh­ren­de Be­we­gung. »Ach, las­sen Sie schon, Frau Gesch, es ist ja doch al­les egal!«

Sie geht lang­sam und vor­sich­tig zum Korb­stuhl und lässt sich in ihn sin­ken. Sie nimmt auch wie­der den Stopf­strumpf zur Hand, aber sie starrt ihn an, als wüss­te sie nicht, was das ist.

Frau Gesch sagt ein we­nig ge­kränkt: »Na, denn gu­ten Abend oder Heil Hit­ler – ganz wie den Herr­schaf­ten das lie­ber ist!«

Has­tig sagt Enno Klu­ge: »Heil Hit­ler!«

Und lang­sam, als er­wa­che sie aus ei­nem Schlaf, ant­wor­tet Eva Klu­ge: »Gute Nacht, Frau Gesch.« Sie be­sinnt sich. »Und wenn wirk­lich was mit Ihrem Rücken ist«, setzt sie hin­zu.

»Nee, nee«, ant­wor­tet Frau Gesch, schon vor der Tür, has­tig. »Mit dem Rücken ist nichts, das habe ich nur so ge­sagt. Aber ich misch mich ge­wiss nicht wie­der in die Sa­chen von an­de­ren Leu­ten. Ich seh’s ja doch: ich habe nie Dank da­von.«

Da­mit hat sie sich aus der Tür ge­re­det; sie ist froh, von die­sen bei­den schwei­gen­den Ge­stal­ten fort­zu­kom­men, ihr Ge­wis­sen zwickt sie ein we­nig.

Kaum ist die Tür hin­ter ihr zu, kommt Be­we­gung in den klei­nen Mann. Ganz selbst­ver­ständ­lich öff­net er den Schrank, macht da­durch einen Bü­gel frei, dass er zwei Klei­der sei­ner Frau über­ein­an­der hängt, und hängt da­für sei­nen Man­tel auf den Bü­gel. Die Sport­müt­ze legt er oben auf den Schrank. Er geht stets sehr sorg­fäl­tig mit sei­nen Sa­chen um, er hasst es, schlecht ge­klei­det zu sein, und er weiß, er kann sich nichts Neu­es kau­fen.

Nun reibt er die Hän­de mit ei­nem be­hag­li­chen »Soso!« an­ein­an­der, geht zum Gas­herd und schnup­pert in den Töp­fen. »Fein!«, sagt er. »Brüh­kar­tof­feln mit Rind­fleisch – fein­fein!«

Er macht eine Pau­se, die Frau sitzt be­we­gungs­los, dreht ihm den Rücken. Er legt lei­se wie­der den De­ckel auf den Topf, stellt sich ne­ben sie, so­dass er auf sie hin­un­ter re­det: »Nun sitz bloß nicht so da, Eva, als wenn du so ’ne Mar­mor­fi­gur wärst! Was ist denn schon los? Du hast für ein paar Tage wie­der ’nen Mann in der Woh­nung, ich werd dir schon kei­ne Sche­re­rei­en ma­chen. Und was ich dir ver­spro­chen habe, das hal­te ich. Ich will auch nichts von den Brüh­kar­tof­feln – höchs­tens, wenn ein klei­ner Rest bleibt. Und auch den nur, wenn du ihn mir frei­wil­lig gibst – ich bit­te dich nicht dar­um.«

Die Frau ant­wor­tet ihm mit kei­nem Wort. Sie stellt den Stopf­korb in den Schrank zu­rück, setzt einen tie­fen Tel­ler auf den Tisch, füllt sich aus den Töp­fen auf und fängt lang­sam zu es­sen an. Der Mann hat sich an das an­de­re Ende des Ti­sches ge­setzt, ein paar Sport­zei­tun­gen aus der Ta­sche ge­zo­gen und macht sich No­ti­zen in ein dickes, schmie­ri­ges No­tiz­buch. Da­bei wirft er von Zeit zu Zeit einen ra­schen Blick auf die es­sen­de Frau. Sie isst sehr lang­sam, aber sie hat sich schon zwei­mal nach­ge­füllt, viel wird be­stimmt nicht über­blei­ben für ihn, und er hat Hun­ger wie ein Wolf. Den gan­zen Tag, nein, seit dem Abend vor­her hat er nichts ge­ges­sen. Der Mann von der Lot­te, der auf Ur­laub aus dem Fel­de kam, hat ihn ohne jede Rück­sicht auf sein Früh­stück mit Schlä­gen aus dem Bet­te ge­jagt.

Aber er wagt es nicht, Eva von sei­nem Hun­ger zu spre­chen, er hat Angst vor der schwei­gen­den Frau. Ehe er sich hier erst rich­tig wie­der zu Hau­se füh­len kann, muss noch al­ler­lei ge­sche­hen. Dass die­ser Mo­ment kom­men wird, dar­an zwei­felt er nicht einen Au­gen­blick: man kriegt jede Frau rum, nur be­harr­lich muss man sein und sich viel ge­fal­len las­sen. Schließ­lich, ganz plötz­lich meist, ge­ben sie nach, ein­fach weil ih­nen das Weh­ren über ist.

Eva Klu­ge kratzt die Res­te aus den Töp­fen aus. Sie hat es ge­schafft, sie hat das Es­sen für zwei Tage an ei­nem Abend ge­schafft, aber nun kann er sie doch nicht um die Res­te an­bet­teln! Dann er­le­digt sie rasch das biss­chen Ab­wasch, und nun fängt sie eine große Um­räu­me­rei an. Di­rekt vor sei­nen Au­gen bringt sie al­les, was ihr ein biss­chen wert ist, in die Kam­mer. Die Kam­mer hat ein fes­tes Schloss, in die Kam­mer ist er noch nie rein­ge­kom­men. Sie schleppt die Ess­vor­rä­te, ihre gu­ten Klei­der und Män­tel, das Schuh­werk, die Kis­sen vom Kana­pee, ja, so­gar das Bild mit den bei­den Jun­gen in die Kam­mer – al­les vor sei­nen Au­gen. Es ist ihr ganz egal, was er denkt oder sagt. In die Woh­nung ist er mit List ge­kom­men, aber viel soll er da­von nicht ha­ben.

 

Dann schließt sie die Kam­mer­tür ab und holt sich das Schreib­zeug an den Tisch. Sie ist tod­mü­de, sie läge am liebs­ten im Bett, aber sie hat sich nun ein­mal vor­ge­nom­men, heu­te Abend an den Kar­le­mann zu schrei­ben, so tut sie’s. Sie kann nicht nur hart ge­gen ih­ren Mann, sie kann auch hart ge­gen sich sein.

Sie hat erst ein paar Sät­ze ge­schrie­ben, da beugt sich der Mann über den Tisch und fragt: »An wen schreibs­te denn, Ev­chen?«

Un­will­kür­lich ant­wor­tet sie ihm, trotz­dem sie sich fest vor­ge­nom­men hat, nicht mehr mit ihm zu spre­chen. »An Kar­le­mann …«

»So«, sagt er und legt die Zei­tun­gen aus der Hand. »So, also an den schreibs­te und schickst ihm wo­mög­lich auch noch Päck­chen, aber für sei­nen Va­ter has­te nicht mal ’ne Kar­tof­fel und ’n Hap­pen Fleisch üb­rig, hung­rig wie der ist!«

Sei­ne Stim­me hat et­was von ih­rem gleich­gül­ti­gen Klang ver­lo­ren, sie klingt, als sei der Mann jetzt ernst­lich be­lei­digt und in sei­nem Recht ge­kränkt, weil sie dem Soh­ne et­was gibt, das sie dem Va­ter vor­ent­hält.

»Lass man, Enno«, sagt sie ru­hig. »Das ist mei­ne Sa­che, der Kar­le­mann ist ein ganz gu­ter Jun­ge …«

»So!«, sagt er. »So! Und das hast du na­tür­lich ganz ver­ges­sen, wie er zu sei­nen El­tern war, als sie ihn erst zum Schar­füh­rer ge­macht hat­ten? Wie du ihm nichts mehr recht ma­chen konn­test und er uns als alte, dum­me Bür­ger aus­ge­lacht hat – al­les ver­ges­sen, wa, Ev­chen? Ein gu­ter Jun­ge, wahr­haf­tig, der Kar­le­mann!«

»Mich hat er nie aus­ge­lacht!«, ver­tei­digt sie ihn mit schwa­cher Stim­me.

»Nee, na­tür­lich nicht!«, spot­tet er. »Und das hast du na­tür­lich auch ver­ges­sen, dass er sei­ne ei­ge­ne Mut­ter nicht ge­kannt hat, wenn sie mit der schwe­ren Post­ta­sche die Prenz­lau­er Al­lee lang­kam? Wie er da mit sei­nem Mäd­chen weg­ge­guckt hat, der fei­ne Kno­chen, der!«

»So was kann man ’nem jun­gen Men­schen nicht übel­neh­men«, sagt sie. »Die wol­len alle mög­lichst fein vor ih­ren Da­men da­ste­hen, so sind sie alle. Das gibt sich spä­ter wie­der, der kommt zu­rück zu sei­ner Mut­ter, die ihn an der Brust ge­habt hat.«

Ei­nen Au­gen­blick sieht er sie zö­gernd an, ob er auch das noch sa­gen soll. Er ist sonst wirk­lich nicht nach­tra­gend, aber dies­mal hat sie ihn zu sehr ge­kränkt, erst, weil sie ihm kein Es­sen gab, dann, als sie vor sei­nen Au­gen of­fen­sicht­lich alle gu­ten Sa­chen in die Kam­mer trug. So sagt er denn: »Ich, wenn ich ’ne Mut­ter wäre, ich möch­te so ’nen Sohn nie wie­der in mei­ne Arme neh­men, solch Schwein, wie der ge­wor­den ist!« Er sieht in ihre von der Angst ver­grö­ßer­ten Au­gen, er sagt es ihr er­bar­mungs­los in das wäch­ser­ne Ge­sicht hin­ein. »Auf dem letz­ten Ur­laub, da hat er mir ein Foto von sich ge­zeigt, das hat ein Ka­me­rad von ihm auf­ge­nom­men. Noch ge­prahlt hat er mit dem Bild. Da ist dein Kar­le­mann drauf zu se­hen, wie er so ’n Ju­den­kind von viel­leicht drei Jah­ren beim Bein hält, und mit dem Kopf haut er’s ge­gen die Stoß­stan­ge vom Auto …«

»Nein! Nein!«, schreit sie. »Das hast du ge­lo­gen! Das hast du dir aus Ra­che aus­ge­dacht, weil ich dir kein Es­sen ge­ge­ben habe! So was tut Kar­le­mann nicht!«

»Wie kann ich mir das denn aus­ge­dacht ha­ben?«, fragt er, schon wie­der ru­hi­ger, nach­dem er ihr die­sen Stoß ver­setzt hat. »Mir so was aus­zu­den­ken, habe ich gar nicht den Kopf! Und üb­ri­gens, wenn du mir nicht glaubst, dann kannst du ja in die De­stil­le von Senf­ten­berg ge­hen, da hat er das Foto al­len ge­zeigt. Der di­cke Senf­ten­berg und dem sei­ne Olle, die ha­ben es auch ge­se­hen …«

Er hört auf zu re­den. Es ist sinn­los, jetzt mit die­ser Frau wei­ter­zu­re­den, sie sitzt da, den Kopf auf dem Tisch, und heult. Das hat sie da­von, und üb­ri­gens ist sie doch auch in der Par­tei und hat im­mer auf den Füh­rer und al­les, was er tat, ge­schwo­ren. Da kann sie sich doch nicht wun­dern, dass der Kar­le­mann so ge­wor­den ist.

Ei­nen Au­gen­blick steht Enno Klu­ge und sieht zwei­felnd nach dem Kana­pee hin­über – kei­ne De­cke und kei­ne Kis­sen! Das kann ’ne schö­ne Nacht wer­den! Aber viel­leicht ist das gra­de jetzt der rich­ti­ge Au­gen­blick, was zu ris­kie­ren? Er steht zwei­felnd, sieht nach der ver­schlos­se­nen Kam­mer­tür hin, dann ent­schließt er sich. Er greift ein­fach in die Schür­zen­ta­sche der hem­mungs­los wei­nen­den Frau und holt den Schlüs­sel raus. Er schließt die Tür auf und fängt an, in der Kam­mer rum­zu­su­chen, und das nicht ein­mal lei­se …

Eva Klu­ge, die ab­ge­hetz­te, über­mü­de­te Brief­be­stel­le­rin, hört das al­les auch; sie weiß, dass er sie jetzt bes­tiehlt, aber es ist ihr gleich. Ihre Welt ist doch ka­putt, ihre Welt kann nie wie­der heil wer­den. Wozu hat man denn ge­lebt auf die­ser Welt, wozu hat man Kin­dern das Le­ben ge­schenkt, sich an ih­rem Lä­cheln, ih­ren Spie­len er­freut, wenn dann Tie­re aus ih­nen wer­den? Ach, der Kar­le­mann – er war solch ein sü­ßer blon­der Jun­ge! Wie sie da­mals mit ihm im Zir­kus Busch war, und die Pfer­de muss­ten sich der Län­ge nach hin­le­gen im Sand, wie er da Mit­leid mit den ar­men Hot­tos hat­te – ob sie krank sei­en? Sie muss­te ihn be­ru­hi­gen, die Hot­tos schlie­fen nur.

Und nun ging er hin und tat den Kin­dern an­de­rer Müt­ter dies an! Nicht einen Au­gen­blick zwei­fel­te Frau Eva Klu­ge dar­an, dass das mit dem Bil­de stimm­te, Enno war wirk­lich nicht fä­hig, sich so was aus­zu­den­ken. Nein, sie hat­te nun auch den Sohn ver­lo­ren. Es war viel schlim­mer, als wenn er ge­stor­ben wäre, dann hät­te sie we­nigs­tens über ihn trau­ern kön­nen. Jetzt konn­te sie ihn nie mehr in die Arme neh­men, auch vor ihm muss­te sie ihr Heim ver­schlos­sen hal­ten.

Der su­chen­de Mann in der Kam­mer hat un­ter­des das ge­fun­den, was er längst im Be­sitz sei­ner Frau ver­mu­te­te: ein Post­spar­kas­sen­buch. 632 Mark drauf, ’ne tüch­ti­ge Frau, aber ei­gent­lich wozu so tüch­tig? Sie kriegt doch mal ei­nes Ta­ges ihre Ren­te, und was sie sonst ge­spart hat … Er wird mor­gen erst mal je­den­falls 20 Mark auf Ade­bar set­zen und viel­leicht 10 auf Ha­mil­kar … Er blät­tert wei­ter in dem Buch: nicht nur ’ne tüch­ti­ge Frau, auch ’ne or­dent­li­che. Al­les liegt bei­sam­men: hin­ten im Buch ist die Kon­troll­mar­ke, und die Aus­zah­lungs­zet­tel feh­len auch nicht …

Er will das Buch gra­de in die Ta­sche ste­cken, da ist die Frau bei ihm. Sie nimmt ihm das Buch ein­fach aus der Hand und legt es aufs Bett. »Raus!«, sagt sie nur. »Raus!«

Und er, der eben noch den gan­zen Sieg fest in sei­nen Hän­den glaub­te, geht vor ih­ren bö­sen Au­gen aus der Kam­mer. Mit zit­tern­den Hän­den, ohne auch nur ein Wort zu wa­gen, hol­te er Man­tel und Müt­ze aus dem Schrank, ohne ein Wort ging er durch die ge­öff­ne­te Tür an ihr vor­bei ins dunkle Trep­pen­haus. Die Tür wur­de ins Schloss ge­zo­gen, er knips­te die Trep­pen­be­leuch­tung an und stieg die Stu­fen hin­ab. Gott­lob hat­te je­mand die Haus­tür of­fen­ge­las­sen. Er wird in sei­ne Stamm­knei­pe ge­hen; zur Not, wenn er nie­man­den fin­det, lässt ihn der Bu­di­ker auf dem Sofa dort schla­fen. Er mar­schiert los, in sein Schick­sal er­ge­ben, ge­wohnt, Schlä­ge ein­zu­ste­cken. Die Frau oben hat er schon wie­der halb ver­ges­sen.