Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Sie aber steht am Fens­ter und starrt in das abend­li­che Dun­kel hin­aus. Schön. Schlimm. Auch Kar­le­mann ist ver­lo­ren. Sie wird es noch mit Max ver­su­chen, dem jün­ge­ren Sohn. Max war im­mer farb­lo­ser, mehr der Va­ter als sein glän­zen­der Bru­der. Vi­el­leicht kann sie sich in Max einen Sohn ge­win­nen. Und wenn nicht, nun gut, dann wird sie eben für sich al­lein le­ben. Aber sie wird an­stän­dig blei­ben. Dann hat sie eben das im Le­ben er­reicht, dass sie an­stän­dig ge­blie­ben ist. Gleich mor­gen wird sie hor­chen, wie man es an­fängt, aus der Par­tei her­aus­zu­kom­men, ohne dass die sie ins KZ ste­cken. Es wird schwer fal­len, aber viel­leicht schafft sie es. Und wenn es eben gar nicht an­ders sein kann, geht sie ins KZ. Das ist dann ge­wis­ser­ma­ßen ein klein biss­chen Süh­ne für das, was Kar­le­mann ge­tan hat.

Sie zer­knüllt den an­ge­fan­ge­nen, ver­wein­ten Brief an den Äl­te­ren. Sie legt ein neu­es Brief­blatt hin und be­ginnt zu schrei­ben:

»Lie­ber Sohn Max!

Ich will Dir wie­der mal ein Brief­lein schrei­ben. Mir geht es noch gut, was ich auch von Dir hof­fe. Va­ter war eben hier, aber ich habe ihm die Tür ge­wie­sen, er woll­te doch nur von mir zie­hen. Auch von Dei­nem Bru­der Karl habe ich mich los­ge­sagt, we­gen der Scheuß­lich­kei­ten, die er be­gan­gen hat. Jetzt bist Du mein ein­zi­ger Sohn. Ich bit­te Dich, blei­be im­mer an­stän­dig. Ich will auch al­les tun, was ich für Dich kann. Schrei­be mir bald auch ein­mal ein Brief­lein. Es grüßt und küsst Dich

Dei­ne Mut­ter.«

6. Otto Quangel gibt sein Amt auf

Die mit etwa acht­zig Ar­bei­tern und Ar­bei­te­rin­nen be­setz­te Werk­statt der Mö­bel­fa­brik, der Otto Quan­gel als Werk­meis­ter vor­stand, hat­te bis zum Kriegs­aus­bruch nur Ein­zel­mö­bel nach Zeich­nun­gen her­ge­stellt, wäh­rend die Fa­brik sonst in al­len ih­ren an­de­ren Ab­tei­lun­gen nur Mas­sen­mö­bel an­fer­tig­te. Mit dem Kriegs­be­ginn war der gan­ze Be­trieb auf die Her­stel­lung von Hee­res­gut um­ge­stellt wor­den, und der Quan­gel’­schen Werk­statt war da­bei die Auf­ga­be zu­ge­fal­len, ge­wis­se, sehr schwe­re und große Kis­ten her­zu­stel­len, von de­nen be­haup­tet wur­de, sie dienten zum Trans­port schwe­rer Bom­ben.

Was Otto Quan­gel an­ging, so war es ihm ganz egal, wozu die Kis­ten dienten; er fand die­se neue, geist­lo­se Ar­beit sei­ner un­wür­dig und ver­ächt­lich. Er war ein rich­ti­ger Kunst­tisch­ler ge­we­sen, den die Ma­se­rung ei­nes Hol­zes, die An­fer­ti­gung ei­nes schön ge­schnitz­ten Schran­kes mit ei­nem Ge­fühl tiefer Be­frie­di­gung er­fül­len konn­te. Er hat­te bei sol­cher Ar­beit so viel Glück emp­fun­den, wie ein Mensch sei­ner küh­len Ver­an­la­gung nur emp­fin­den kann. Jetzt war er zu ei­nem blo­ßen An­trei­ber und Auf­pas­ser hin­ab­ge­sun­ken, der nur noch dar­auf zu ach­ten hat­te, dass sei­ne Werk­statt ihr Soll und mög­lichst mehr als die­ses Soll er­füll­te. Sei­ner Art nach hat­te er aber nie ein Wort über die­se Ge­füh­le ver­lo­ren, und sein schar­fes, vo­gel­haf­tes Ge­sicht hat­te nie et­was von der Ver­ach­tung, die er für die­se er­bärm­li­che Fich­ten­holz­ar­beit emp­fand, ver­ra­ten. Hät­te ihn je­mand ge­nau­er be­ob­ach­tet, so hät­te er be­merkt, dass der we­nig re­den­de Quan­gel nun über­haupt nichts mehr sprach und dass er un­ter die­sem Zu­trei­ber­sys­tem eher ge­neigt war, die Sie­ben gra­de sein zu las­sen.

Aber wer soll­te auf einen so tro­ckenen, un­aus­gie­bi­gen Mann wie Otto Quan­gel groß ach­ten? Er schi­en zeit sei­nes Le­bens nur ein Ar­beit­s­tier ge­we­sen zu sein, ohne ir­gend­ein an­de­res In­ter­es­se als das für die Ar­beit, die er zu ver­rich­ten hat­te. Er hat­te nie einen Freund hier be­ses­sen, nie zu je­man­dem ein freund­li­ches Wort ge­spro­chen. Ar­beit, nur Ar­beit, ganz gleich, ob Men­schen oder Ma­schi­nen, wenn sie nur ihre Ar­beit ta­ten!

Da­bei war er nicht ein­mal un­be­liebt, trotz­dem er die Auf­sicht über die Werk­statt hat­te und zur Ar­beit an­trei­ben muss­te. Aber er schimpf­te nie, und er schwärz­te nie je­man­den bei den Her­ren vor­ne an. Schi­en ihm ir­gend­wo die Ar­beit nicht rich­tig vor­an­zu­ge­hen, so ging er dort­hin und be­sei­tig­te wort­los mit sei­nen ge­schick­ten Hän­den das Ar­beits­hin­der­nis. Oder er stell­te sich zu ein paar Schwät­zern und blieb, die dunklen Au­gen fast blick­los auf die Spre­chen­den ge­hef­tet, so lan­ge bei ih­nen ste­hen, bis ih­nen die Lust zum Wei­ter­re­den ver­gan­gen war. Stän­dig ver­brei­te­te er ein Ge­fühl von Küh­le um sich. In den kur­z­en Ru­he­pau­sen such­ten die Ar­bei­ter mög­lichst ent­fernt von ihm zu sit­zen, und so ge­noss er eine ihm ganz selbst­ver­ständ­lich ge­zoll­te Ach­tung, die ein an­de­rer mit noch so viel Re­den und An­feu­ern sich nicht ver­schafft hät­te.

Auf der Fa­brik­lei­tung wuss­ten sie auch wohl, was sie an Otto Quan­gel hat­ten. Sei­ne Werk­statt er­ziel­te stets die höchs­ten Leis­tun­gen, es gab nie Schwie­rig­kei­ten mit den Leu­ten, und Quan­gel war wil­lig. Er wäre längst auf­ge­rückt, wenn er sich hät­te ent­schlie­ßen kön­nen, in die Par­tei ein­zu­tre­ten. Aber das lehn­te er stets ab. »Für so was habe ich kein Geld üb­rig«, sag­te er dann wohl. »Ich brauch jede Mark. Ich muss ’ne Fa­mi­lie er­näh­ren.«

Man grins­te im Ge­hei­men über das, was man sei­nen schmut­zi­gen Geiz nann­te. Die­ser Quan­gel schi­en ja in­ner­lich über je­den Gro­schen, den er zu ei­ner Samm­lung spen­den muss­te, vor Leid zu ver­ge­hen. Er be­dach­te gar nicht, dass er durch den Ein­tritt in die Par­tei viel mehr an Ge­halts­zu­la­ge ge­wann, als er durch den Par­tei­bei­trag ver­lor. Aber die­ser tüch­ti­ge Werk­meis­ter war eben po­li­tisch ein hoff­nungs­lo­ser Idi­ot, und so hat­te man denn auch kei­ne Be­den­ken, ihn in die­ser klei­nen lei­ten­den Stel­lung zu be­las­sen, ob­wohl er kein Par­tei­mit­glied war.

In Wahr­heit war es nicht der Geiz Otto Quan­gels, der ihn von ei­nem Ein­tritt in die Par­tei ab­hielt. Ge­wiss, er war in Geld­din­gen sehr ge­nau und konn­te sich über einen un­über­legt aus­ge­ge­be­nen Gro­schen noch wo­chen­lang hin­ter­her är­gern. Aber eben, weil er bei sich ge­nau war, war er es auch bei an­de­ren, und die­se Par­tei schi­en al­les an­de­re als ge­nau bei der Durch­füh­rung ih­rer Grund­sät­ze zu sein. Was er bei der Er­zie­hung sei­nes Soh­nes durch Schu­le und Hit­ler­ju­gend er­lebt, was er von Anna ge­hört hat­te, wie er selbst er­lebt hat­te, dass alle gut be­zahl­ten Pos­ten in der Fa­brik mit Par­t­ei­ge­nos­sen be­setzt wur­den, de­nen die tüch­tigs­ten Nicht­par­tei­ge­nos­sen stets zu wei­chen hat­ten – das al­les be­stärk­te ihn in sei­ner Über­zeu­gung, dass die Par­tei nicht ge­nau, das heißt nicht ge­recht war, und mit ei­ner sol­chen Sa­che woll­te er nichts zu tun ha­ben.

Da­rum hat­te ihn ja auch An­nas Ruf ›Du und dein Füh­rer‹ am Mor­gen so sehr ge­kränkt. Ge­wiss, er hat­te bis­her an den ehr­li­chen Wil­len des Füh­rers, an sei­ne Grö­ße und sei­ne gu­ten Ab­sich­ten ge­glaubt. Man brauch­te nur alle die­se Schmeiß­flie­gen und Speck­jä­ger, de­nen es nur um Gelds­chef­feln und Le­be­schön ging, aus sei­ner Um­ge­bung zu ent­fer­nen, und al­les wur­de bes­ser. Aber bis es so weit war, mach­te er nicht mit, er nicht, und das wuss­te Anna, die Ein­zi­ge, mit der er wirk­lich mal ein Wort sprach, auch ganz gut. Nun schön, sie hat­te es in ih­rer ers­ten Auf­re­gung ge­sagt, er wür­de es mit der Zeit schon ver­ges­sen, er konn­te ihr nie was nach­tra­gen.

Was es frei­lich mit dem Füh­rer und mit die­sem Krie­ge auf sich hat­te, das muss­te er sich erst noch ge­nau über­le­gen. All so et­was ging nur lang­sam bei ihm. An­de­re wa­ren von über­ra­schen­den Er­leb­nis­sen so­fort be­ein­druckt, sie re­de­ten los oder schri­en und ta­ten ir­gen­det­was, bei ihm wirk­te es lan­ge, lan­ge.

Wie er da so mit­ten im Sau­sen und Krei­schen sei­ner Werk­statt steht, den Kopf et­was er­ho­ben und den Blick lang­sam von der Dick­ten­ho­bel­ma­schi­ne zu der Band­sä­ge, zu den Nag­lern, Boh­rern, Bret­ter­trä­gern wan­dern lässt, merkt er, wie die­se Nach­richt von Ot­tos Tod und ganz be­son­ders An­nas und Tru­dels Ver­hal­ten im­mer wei­ter in ihm wir­ken. Er denkt nicht ei­gent­lich dar­über nach, er weiß viel­mehr ge­nau, dass die­ser Lie­der­lich, die­ser Tisch­ler Doll­fuß,1 schon vor sie­ben Mi­nu­ten die Werk­statt ver­las­sen hat und dass die Ar­beit in sei­ner Rei­he dar­um stockt, weil er auf dem Ab­tritt wie­der mal eine Zi­ga­ret­te rau­chen muss oder weil er dort Re­den schwingt. Er gibt ihm noch drei Mi­nu­ten, dann holt er ihn rein, er sel­ber!

Und wäh­rend sein Auge nun zu dem Zei­ger der Wand­uhr glei­tet und fest­stellt, dass Doll­fuß tat­säch­lich in drei Mi­nu­ten zehn Mi­nu­ten ge­schwänzt ha­ben wird, fällt ihm nicht nur die­ses has­sens­wer­te Pla­kat über Tru­dels Kopf ein, denkt er nicht nur dar­über nach, was das ei­gent­lich ge­nau ist: Lan­des- und Hoch­ver­rat und wo man so was wohl er­fährt, son­dern er denkt auch dar­an, dass er einen vom Pfört­ner ihm über­ge­be­nen Brief in der Jack­en­ta­sche trägt, durch den der Werk­meis­ter Quan­gel kurz und knapp auf­ge­for­dert wird, pünkt­lich fünf Uhr in der Be­am­ten­kan­ti­ne zu er­schei­nen.

Nicht, dass die­ser Brief ihn ir­gend­wie auf­regt oder stört. Er hat frü­her, als die Mö­bel­her­stel­lung noch im Gan­ge war, oft auf die Fa­brik­lei­tung ge­musst, um die Her­stel­lung ei­nes Mö­bel­stückes zu be­spre­chen. Be­am­ten­kan­ti­ne ist et­was Neu­es, aber das ist ihm gleich, bis fünf Uhr sind es aber nur noch sechs Mi­nu­ten, und bis da­hin möch­te er den Tisch­ler Doll­fuß ger­ne an sei­ner Säge ha­ben. So geht er eine Mi­nu­te frü­her, als er be­ab­sich­tigt hat, los, um den Doll­fuß zu su­chen.

Aber er fin­det ihn we­der auf den Ab­trit­ten noch auf den Gän­gen, noch in den an­lie­gen­den Werk­stät­ten, und als er in die ei­ge­ne Werk­statt zu­rück­kehrt, zeigt die Uhr eine Mi­nu­te vor fünf Uhr, und es wird höchs­te Zeit für ihn, wenn er nicht un­pünkt­lich sein will. Er klopft sich schnell den gröbs­ten Sä­ge­staub von der Ja­cke und geht dann ei­lig hin­über in das Ver­wal­tungs­ge­bäu­de, in des­sen Erd­ge­schoss sich die Be­am­ten­kan­ti­ne be­fin­det.

 

Sie ist er­sicht­lich für einen Vor­trag vor­be­rei­tet, eine Red­ner­tri­bü­ne ist er­rich­tet, ein lan­ger Tisch für die Vor­sit­zen­den, und der gan­ze Saal ist mit Stuhl­rei­hen aus­ge­füllt. Er kennt das al­les von den Ver­samm­lun­gen der Ar­beits­front, an de­nen er oft hat teil­neh­men müs­sen, nur dass die­se Ver­samm­lun­gen stets drü­ben in der Werk­kan­ti­ne statt­fan­den. Der ein­zi­ge Un­ter­schied ist der, dass dort rohe Holz­bän­ke stan­den statt der Rohr­stüh­le hier, und dann sa­ßen die meis­ten dort wie er in Ar­beits­kluft, wäh­rend es hier mehr brau­ne und auch graue Uni­for­men gibt, die Be­am­ten in Zi­vil ver­schwin­den da­zwi­schen.

Quan­gel hat sich auf einen Stuhl ganz nahe an der Tür ge­setzt, um beim Schluss der Rede mög­lichst rasch wie­der in sei­ne Werk­statt zu kom­men. Der Saal ist schon ziem­lich ge­füllt, als Quan­gel ge­kom­men ist, zum Teil sit­zen die Her­ren schon auf den Stüh­len, ein an­de­rer Teil steht noch auf den Gän­gen und an der Wand in Grüpp­chen, sie re­den mit­ein­an­der.

Sie alle aber, die hier ver­sam­melt sind, tra­gen das Ha­ken­kreuz. Quan­gel scheint der Ein­zi­ge ohne das Par­tei­ab­zei­chen zu sein (von den Wehr­machts­uni­for­men na­tür­lich ab­ge­se­hen, aber die tra­gen da­für das Ho­heits­zei­chen). Es ist wohl ein Irr­tum, dass sie ihn hier­her ein­ge­la­den ha­ben. Quan­gel wen­det den Kopf auf­merk­sam hin und her. Ein paar Ge­sich­ter kennt er. Der di­cke Blei­che dort, der schon am Vor­stand­s­tisch sitzt, das ist der Herr Ge­ne­ral­di­rek­tor Schrö­der, den kennt er vom Se­hen. Und der klei­ne Spitz­na­si­ge mit dem Klem­mer, das ist der Herr Kas­sie­rer, von dem er je­den Sonn­abend sei­ne Lohn­tü­te in Empfang nimmt und mit dem er sich schon ein paar­mal we­gen der ho­hen Ab­zü­ge kräf­tig ge­strit­ten hat. Ko­misch, wenn der an sei­ner Kas­se steht, hat er nie das Par­tei­ab­zei­chen ge­tra­gen!, denkt Quan­gel flüch­tig.

Aber die meis­ten Ge­sich­ter, die er sieht, sind ihm völ­lig un­be­kannt, es sind wohl fast nur Her­ren aus den Bü­ros, die hier sit­zen. Plötz­lich wird Quan­gels Blick scharf und ste­chend, in ei­ner Grup­pe hat er den Mann ent­deckt, den er vor­hin ver­geb­lich auf dem Ab­tritt ge­sucht hat, den Tisch­ler Doll­fuß. Aber der Tisch­ler Doll­fuß trägt jetzt kei­ne Ar­beits­kluft, er trägt einen fei­nen Sonn­tags­an­zug und re­det mit den zwei Her­ren in Par­tei­uni­form ganz so, als sei­en sie sei­nes­glei­chen. Und jetzt trägt auch der Tisch­ler Doll­fuß ein Ha­ken­kreuz, die­ser Mann, der ihm schon ein paar­mal in der Werk­statt durch sein leicht­sin­ni­ges Ge­re­de auf­ge­fal­len ist! So ist das also!, denkt Quan­gel. Das ist also ein rich­ti­ger Spit­zel. Wo­mög­lich ist der Mann gar kein rich­ti­ger Tisch­ler und heißt auch nicht Doll­fuß. War Doll­fuß nicht ein Kanz­ler in Ös­ter­reich, den sie er­mor­det ha­ben? Al­les Schie­bung – und ich habe nie was ge­merkt, ich dum­mes Aas!

Und er fängt an, dar­über nach­zu­grü­beln, ob der Doll­fuß schon in sei­ner Werk­statt war, als der La­den­dorf und der Tritsch ab­ge­löst wur­den und alle mun­kel­ten, sie sei­en ins KZ ge­wan­dert.

Quan­gels Hal­tung hat sich ge­strafft. Ach­tung!, hat es in ihm ge­sagt. Und: Hier sitz ich ja wie un­ter Mör­dern! Spä­ter denkt er: Ich wer­de mich auch von die­sen Brü­dern nicht krie­gen las­sen. Ich bin eben nur ein ol­ler, duss­li­ger Werk­meis­ter, ich ver­steh von nischt was. Aber mit­ma­chen, nee, das tu ich nicht. Ich hab’s heu­te früh ge­se­hen, wie es die Anna ge­packt hat und da­nach die Tru­del; ich mach bei so was nicht mit. Ich will nicht, dass eine Mut­ter oder Braut durch mich so hin­ge­rich­tet wird. Die sol­len mich raus­las­sen aus ih­ren Sa­chen …

So denkt er. Un­ter­des hat sich der Saal bis auf den letz­ten Platz ge­füllt. Der Vor­stand­s­tisch ist eng von brau­nen Uni­for­men und schwar­zen Rö­cken be­setzt, und auf dem Red­ner­pult steht jetzt ein Ma­jor oder Oberst (Quan­gel hat es nie ge­lernt, Uni­for­men und Rang­ab­zei­chen aus­ein­an­der­zu­hal­ten) und spricht von der Kriegs­la­ge.

Na­tür­lich ist die groß­ar­tig, der Sieg über Frank­reich wird ge­büh­rend ge­fei­ert, und es kann nur eine Fra­ge von we­ni­gen Wo­chen sein, dass auch Eng­land am Bo­den liegt. Dann kommt der Red­ner all­mäh­lich dem Punk­te nä­her, der ihm am Her­zen liegt: wenn näm­lich die Front so große Er­fol­ge er­zielt, so wird er­war­tet, dass auch die Hei­mat ihre Pf­licht tut. Was nun folgt, das klingt bei­na­he so, als kom­me der Herr Ma­jor (oder Oberst oder Haupt­mann) di­rekt aus dem Haupt­quar­tier, um der Be­leg­schaft der Mö­bel­fa­brik Krau­se & Co. vom Füh­rer zu sa­gen, dass sie un­be­dingt ihre Leis­tun­gen stei­gern müs­se. Der Füh­rer er­war­tet, dass die Fa­brik in drei Mo­na­ten ihre Leis­tung um fünf­zig Pro­zent, in ei­nem hal­b­en Jahr aber aufs Dop­pel­te ge­stei­gert hat. Vor­schlä­ge, um die­ses Ziel zu er­rei­chen, wer­den aus der Ver­samm­lung ger­ne ent­ge­gen­ge­nom­men. Wer aber nicht mit­macht, ist als Sa­bo­teur zu be­trach­ten und ent­spre­chend zu be­han­deln.

Wäh­rend der Red­ner noch ein »Sieg­heil« auf den Füh­rer aus­bringt, denkt Otto Quan­gel: Dumm sind die, dumm wie Schif­fer­schei­ße! Eng­land liegt in ein paar Wo­chen am Bo­den, der Krieg ist alle, und wir stei­gern in ei­nem hal­b­en Jah­re un­se­re Kriegs­pro­duk­ti­on um hun­dert Pro­zent! Wer de­nen bloß so was ab­nimmt?

Aber er schreit brav sein »Sieg­heil« mit, setzt sich wie­der und blickt dann auf den nächs­ten Red­ner, der in brau­ner Uni­form das Pult be­tritt, die Brust dick mit Me­dail­len, Or­den und Ab­zei­chen ge­schmückt. Die­ser Par­tei­red­ner ist eine ganz an­de­re Sor­te Mann als sein mi­li­tä­ri­scher Vor­red­ner. Von al­lem An­fang an spricht er scharf und za­ckig von dem Un­geist, der im­mer noch in den Be­trie­ben um­geht, trotz der herr­li­chen Er­fol­ge des Füh­rers und der Wehr­macht. Er re­det so scharf und za­ckig, dass er nur brüllt, und er nimmt kein Blatt vor den Mund, als er von den Mies­ma­chern und Me­cke­rern spricht. Jetzt soll und wird der letz­te Rest von ih­nen aus­ge­tilgt wer­den, Schlit­ten wird man mit ih­nen fah­ren, man wird ih­nen was über die Schnau­ze ge­ben, dass sie nie wie­der die Zäh­ne aus­ein­an­der­krie­gen! Suum cui­que, das hat auf den Kop­pel­sch­lös­sern ge­stan­den im Ers­ten Welt­krieg, und: Je­dem das Sei­ne, das steht jetzt über den To­ren der Kon­zert­la­ger! Da wird de­nen was bei­ge­bracht, und wer da­für sorgt, dass so ’n Kerl oder so ’n Weib rein­kommt, der hat was ge­leis­tet für das deut­sche Volk, und der ist ein Mann des Füh­rers.

»Euch aber alle hier, die ihr hier sitzt«, brüllt der Red­ner zum Schluss, »ihr Werk­stät­ten­lei­ter, Ab­tei­lungs­vor­ste­her, Di­rek­to­ren – euch ma­che ich per­sön­lich da­für haft­bar, dass euer Be­trieb sau­ber ist! Und Sau­ber­keit, das ist na­tio­nal­so­zia­lis­ti­sches Den­ken! Nur das! Wer da schlapp­schwän­zig ist und weich­mäu­lig und wer nicht al­les an­zeigt, auch die ge­rings­te Klei­nig­keit, der fliegt sel­ber ins KZ. Da­für ste­he ich euch per­sön­lich, ob ihr nun Di­rek­tor seid oder Werk­meis­ter, ich bring euch zu­recht, und wenn ich euch die Schlapp­heit mit den Stie­beln aus dem Lei­be tre­ten soll!«

Der Red­ner steht noch einen Au­gen­blick da, er hat sei­ne Hän­de wut­ver­krampft er­ho­ben, er ist blau­rot im Ge­sicht. In der Ver­samm­lung ist es nach die­sem Aus­bruch to­ten­still ge­wor­den, sie ma­chen alle ziem­lich be­knif­fe­ne Ge­sich­ter, sie, die so plötz­lich und un­ver­hüllt zu Spit­zeln ih­rer Ka­me­ra­den ge­macht wur­den. Dann stampft der Red­ner mit schwe­ren Schrit­ten von sei­nem Pult hin­un­ter, wo­bei die Ab­zei­chen auf sei­ner Brust lei­se klin­geln, und nun er­hebt sich der blas­se Ge­ne­ral­di­rek­tor Schrö­der und fragt mit sanf­ter, lei­ser Stim­me, ob etwa Wort­mel­dun­gen vor­lä­gen.

Ein Au­fat­men geht durch die Ver­samm­lung, ein Zu­recht­rücken – als wäre ein bö­ser Traum aus­ge­träumt, und der Tag kom­me wie­der zu sei­nem Recht. Es scheint nie­mand zu sein, der jetzt noch spre­chen will, alle ha­ben sie wohl den Wunsch, mög­lichst bald die­sen Saal zu ver­las­sen, und der Ge­ne­ral­di­rek­tor will eben die Ver­samm­lung mit ei­nem »Heil Hit­ler« schlie­ßen, da steht plötz­lich im Hin­ter­grund ein Mann in blau­er Ar­beits­blu­se auf und sagt, was die Leis­tungs­stei­ge­rung in sei­ner Werk­statt an­ge­he, so sei das ganz ein­fach. Man müs­se nur noch die und die Ma­schi­nen auf­stel­len, er zählt sie auf und er­klärt, wie sie auf­ge­stellt wer­den müs­sen. Ja, und dann müs­se man noch sechs oder acht Leu­te aus sei­ner Werk­statt raus­set­zen, Bum­me­lan­ten und Nichts­kön­ner. Dann schaf­fe er das mit den hun­dert Pro­zent schon in ei­nem Vier­tel­jahr.

Quan­gel steht kühl und ge­las­sen da, er hat den Kampf auf­ge­nom­men. Er fühlt, wie sie ihn alle an­star­ren, die­sen ein­fa­chen Ar­bei­ter, der so gar nicht zwi­schen die­se fei­nen Her­ren ge­hört. Aber er hat sich nie was aus den Men­schen ge­macht, ihm ist es egal, ob sie ihn an­star­ren. Jetzt, wo er aus­ge­re­det hat, ste­cken sie am Vor­stand­s­tisch die Köp­fe über ihn zu­sam­men. Die Red­ner er­kun­di­gen sich, wer das wohl ist, die­ser Mann in der blau­en Blu­se. Dann steht der Ma­jor oder Oberst auf und sagt Quan­gel, die tech­ni­sche Lei­tung wer­de sich mit ihm we­gen der Ma­schi­nen be­spre­chen, aber wie er das mei­ne mit den sechs oder acht Leu­ten, die aus sei­ner Werk­statt raus soll­ten?

Lang­sam und hart­nä­ckig ant­wor­tet Quan­gel: »Ja, man­che kön­nen eben nicht so ar­bei­ten, und man­che wol­len es nicht. Da sitzt gleich ei­ner von de­nen!« Und er zeigt mit dem großen, star­ren Zei­ge­fin­ger ganz un­ver­hoh­len auf den Tisch­ler Doll­fuß, der ei­ni­ge Rei­hen vor ihm sitzt.

Jetzt plat­zen ei­ni­ge mit La­chen her­aus, und zu den La­chern ge­hört auch der Tisch­ler Doll­fuß, der den Kopf nach ihm um­ge­dreht hat und ihn an­lacht.

Aber Quan­gel sagt kalt und ohne eine Mie­ne zu ver­zie­hen: »Ja, leicht­sin­nig re­den, Zi­ga­ret­ten auf dem Ab­tritt rau­chen und die Ar­beit ver­säu­men, das kannst du, Doll­fuß!«

Am Vor­stand­s­tisch ha­ben sie wie­der die Köp­fe über die­sen ver­dreh­ten Kauz zu­sam­men­ge­steckt. Aber jetzt hält nichts mehr den brau­nen Red­ner, er springt auf und schreit: »Du bist nicht in der Par­tei – warum bist du nicht in der Par­tei?«

Und Quan­gel ant­wor­tet, was er im­mer auf die­se Fra­ge geant­wor­tet hat: »Weil ich je­den Gro­schen brau­che, weil ich Fa­mi­lie habe, dar­um kann ich mir das nicht leis­ten!«

Der Brau­ne brüllt: »Weil du ein gei­zi­ger Hund bist! Weil du nichts über hast für dei­nen Füh­rer und dein Volk! Wie groß ist denn dei­ne Fa­mi­lie?«

Und kalt ant­wor­tet ihm Quan­gel ins Ge­sicht hin­ein: »Von mei­ner Fa­mi­lie re­den Sie mir heut nicht, lie­ber Mann! Ich habe ge­ra­de heu­te die Nach­richt be­kom­men, dass mir mein Sohn ge­fal­len ist!«

Ei­nen Au­gen­blick ist es to­ten­still im Saal, über die Stuhl­rei­hen weg star­ren sich der brau­ne Bon­ze und der alte Werk­meis­ter an. Dann setzt sich Otto Quan­gel plötz­lich, als sei nun al­les er­le­digt, und ein we­nig spä­ter setzt sich auch der Brau­ne. Wie­der er­hebt sich der Ge­ne­ral­di­rek­tor Schrö­der und bringt nun das »Sieg­heil!« auf den Füh­rer aus: Es klingt et­was dünn. Dann ist die Ver­samm­lung ge­schlos­sen.

Fünf Mi­nu­ten spä­ter steht Quan­gel wie­der in sei­ner Werk­statt; mit et­was er­ho­be­nem Kopf lässt er lang­sam den Blick von der Dick­ten­ho­bel­ma­schi­ne zu der Band­sä­ge wan­dern, von da wei­ter zu den Nag­lern, den Boh­rern, den Bret­ter­trä­gern … Aber es ist der alte Quan­gel nicht mehr, der dort steht. Er fühlt es, er weiß es, er hat sie alle über­lis­tet. Vi­el­leicht auf eine häss­li­che Wei­se über­lis­tet, in­dem er aus dem Tode des Soh­nes Ka­pi­tal schlug, aber soll man zu sol­chen Bies­tern an­stän­dig sein? Nee!, sagt er fast laut zu sich. Nee, Quan­gel, der alte wirst du nie wie­der. Ich bin doch mal neu­gie­rig, was Anna zu dem al­len sagt. Ob der Doll­fuß gar nicht wie­der auf sei­nen Ar­beits­platz kommt? Dann muss ich heu­te noch einen an­de­ren an­for­dern. Wir sind im Rück­stand …

Aber kei­ne Ban­ge, der Doll­fuß kommt. Er kommt so­gar in der Beglei­tung ei­nes Ab­tei­lungs­lei­ters, und dem Werk­meis­ter Otto Quan­gel wird er­öff­net, dass er zwar die tech­ni­sche Lei­tung die­ser Werk­statt be­hal­te, dass er aber sein Amt in der DAF hier an den Herrn Doll­fuß ab­zu­ge­ben und sich um Po­li­tik über­haupt nicht mehr zu küm­mern habe. »Ver­stan­den?«

 

»Und ob ich das ver­stan­den habe! Ich bin froh, dass du mir den Pos­ten ab­nimmst, Doll­fuß! Mein Ge­hör wird im­mer schlech­ter, und hin­hor­chen, wie der Herr sich das vor­hin vor­ge­stellt hat, das kann ich hier in dem Lärm über­haupt nicht.«

Doll­fuß nickt kurz mit dem Kopf, er sagt rasch: »Und was Sie da vor­hin ge­se­hen und ge­hört ha­ben, dar­über zu kei­nem Men­schen ein Wort, sonst …«

Fast ge­kränkt ant­wor­tet Quan­gel: »Zu wem soll ich denn re­den, Doll­fuß? Hast du mich schon mal mit ei­nem Men­schen re­den hö­ren? Das in­ter­es­siert mich nicht, mich in­ter­es­siert bloß mei­ne Ar­beit, und da weiß ich, dass wir heu­te fes­te im Rück­stand sind. Es wird Zeit, dass du wie­der an dei­ner Ma­schi­ne stehst!« Und mit ei­nem Blick auf die Uhr: »Eine Stun­de und sie­ben­und­drei­ßig Mi­nu­ten hast du jetzt ver­säumt!«

Ei­nen Au­gen­blick spä­ter steht der Tisch­ler Doll­fuß wirk­lich an sei­ner Säge, und mit Win­desei­le, kei­ner weiß, wo­her, ver­brei­tet sich in der Werk­statt das Gerücht, der Doll­fuß habe we­gen sei­ner ewi­gen Rau­che­rei und Schwät­ze­rei einen rein­ge­würgt ge­kriegt.

Der Werk­meis­ter Otto Quan­gel geht aber auf­merk­sam von Ma­schi­ne zu Ma­schi­ne, greift zu, starrt mal einen Schwät­zer an und denkt da­bei: Die bin ich los – für im­mer und ewig! Und sie ha­ben kei­nen Ver­dacht, ich bin bloß ein al­ter Trot­tel für die! Dass ich den Brau­nen mit »lie­ber Mann« an­ge­re­det habe, das hat de­nen den Rest ge­ge­ben! Nun bin ich bloß neu­gie­rig, was ich jetzt an­fan­ge. Denn ir­gend­was fan­ge ich an, das weiß ich. Ich weiß bloß noch nicht, was …

1 En­gel­bert Doll­fuß war ein ös­ter­rei­chi­scher Po­li­ti­ker. Er fun­gier­te von 1931 bis 1933 als Land­wirt­schafts­mi­nis­ter und von 1932 bis 1934 als Bun­des­kanz­ler, ab 5. März 1933 dik­ta­to­risch re­gie­rend. <<<