Am unangenehmsten in meiner augenblicklichen Situation war es, dass ich praktisch ohne einen Pfennig Geld auf der Straße stand. Nach Haus an meinen Schreibtisch, wo wenigstens etwas lag, konnte ich nicht gehen, denn ich musste mit Bestimmtheit annehmen, dass die Ärzte, sobald sie mein Fehlen merkten, dort zuerst nach mir sehen und Madame Magda Bericht erstatten würden. Für einen Bankbesuch war es zu spät, die Schalter waren schon seit zwei Stunden geschlossen. Eben, als ich dies auf meiner Uhr festgestellt hatte, fiel mir ein, dass ich ja noch diese Uhr besaß, dazu einen schweren goldenen Siegelring und schließlich einen auch ganz durablen Ehering, der nach meinem heutigen Auftritt mit Magda auch seinen eigentlichen Sinn verloren hatte.
Ich war also keinesfalls von allen Mitteln entblößt, und getrost lenkte ich meine Schritte in die eine enge und schmutzige Gasse, die durch »Klein-Russland« führte. Diese Kolonie war in den Elendsjahren nach dem Weltkrieg aus einem Lager für russische Gefangene entstanden. In der Hauptsache wohnten dort jetzt Polen, auch andere Ausländer. Die ehemaligen Baracken waren durch mancherlei An- und Umbauten verändert, aber nicht verschönert worden. Dazwischen standen kleine rohe Steinhäuschen, die schon wieder verfielen, ehe sie noch recht fertig geworden waren. Zögernd ging ich die Gasse entlang, selbst sehr unsicher, was ich hier eigentlich sollte und wollte, als mein Blick auf ein Fenster in einem solchen Steinkasten fiel, in dem das bekannte rote Schild hing, das meist Vermietungen anzeigt. Ich trat näher und las, dass hier tatsächlich ein behaglich möbliertes Zimmer an einen anständigen Herrn zu vermieten sei.
Eine Klingel gab es nicht an diesem Haus, ich trat durch eine offene Tür und geriet sofort in eine Küche, die ganz vom Wrasen kochender Wäsche erfüllt war. Ich konnte niemanden sehen, so rief ich mit lauter Stimme ein »Hallo!«, und aus dem Wrasen tauchte ein langer, vornübergebeugter, aber noch junger Mann auf, gelblich bleich, mit einem weichen dunklen Vollbart und etwas hellerem bräunlichem Haar, das in der Strähne über der Stirn einen goldigen Schein hatte. Dieser Mann musterte mich mit einigem Erstaunen und fragte dann sehr höflich, mit sanfter Stimme, was mir zu Diensten stünde.
»Ich möchte mir das Zimmer ansehen, das zu vermieten ist.«
»Für Sie selbst?«, fragte der Mann und rieb hüstelnd seine Hände aneinander.
Ich bejahte.
»Es wird kein Zimmer für den Herrn sein, nicht fein genug für den Herrn. Es ist ein Arbeiterzimmer, mein Herr.«
»Immerhin, zeigen Sie es mir«, beharrte ich.
Er ging mir schweigend voran, eine Treppe hinauf, über einen unausgebauten Boden, öffnete die Tür zu einem einfenstrigen Zimmerchen mit schrägen Wänden, das im Giebel ausgebaut war. In seiner Einrichtung ähnelte es fast ganz dem primitiven Zimmer von Elinor, und unwillkürlich trat ich an das Fenster, um zu sehen, ob auch hier ein schräges Pappdach Fluchtmöglichkeiten bei überraschendem Besuch böte.
Nein, dieses Pappdach fehlte hier, dafür aber gab es einen ganz überraschenden Ausblick auf meine Vaterstadt. Sie lag vor mir, ein wenig unter mir, mit ihren rotbraunen Dächern, ihren drei spitzen Kirchtürmen und ihrem einen rundköpfigen Rathausturm. Grün umlaubt schlängelte sich die Schmie1 hindurch, verschwand hier und blitzte dort auf, und indem ich ihren Lauf mit dem Auge verfolgte, sah ich in der Ferne, schon zwischen dem Grün der Gärten und Felder, von bläulichem Dunst verschleiert, ein Dach, mein Dach.
»Es ist eine schöne Aussicht«, sagte ich nach einer Weile.
Der Mann hinter mir hüstelte. »Ein Arbeiter«, sagte er, »fragt nicht nach der Aussicht, er fragt, ob das Bett auch gut ist. Das Bett ist gut, Herr.«
»Was soll das Zimmer kosten?«, fragte ich.
»Sieben Mark die Woche«, sagte der Mann, »und wir wechseln jede Woche die Wäsche.«
»Ich möchte hier auch essen«, sagte ich, »ich will in aller Stille hier ungestört zwei bis drei Wochen wohnen und an einer Arbeit schreiben. Ich werde das Haus kaum verlassen. Lässt sich das einrichten? Ich stelle keine großen Ansprüche.«
»Unser Essen ist für den Herrn zu einfach«, sagte der Mann. »Aber ich kann für Sie Essen aus einem Gasthaus holen lassen, wenn Ihnen das recht ist.«
»Gut«, sagte ich, »ich nehme das Zimmer. Mein Koffer kommt morgen. Lassen Sie mir dann Abendessen holen.« Und ich setzte mich an den Tisch.
»Ich bitte um eine kleine Anzahlung, mein Herr«, sagte mein Wirt und zog an seinen Händen, dass die Knöchel knackten. »Wir sind arme Leute, mein Herr …«
»Setzen Sie sich«, sagte ich zu meinem Wirt. »Ach, bitte, ich sehe da auf dem Waschtisch ein Wasserglas, wenn Sie das bitte holen wollten.«
Mein Wirt tat es und nahm auf meine nochmalige Aufforderung am Tische Platz.
»Wie heißen Sie?«
»Polakowski«, antwortete er. »Aber wir sind keine Polen. Meine Eltern schon sind aus Ostpreußen zugewandert, dort gibt es so komische Namen …«
»Ich kümmere mich nicht darum, ob Ihr Name komisch ist oder nicht, Herr Polakowski«, sagte ich gönnerhaft. »Jetzt wollen wir erst einmal anstoßen.« Ich goss ihm das Glas halb voll – trotz seines Protestes – und griff nach der Flasche. »Ich kann ja auch einmal aus der Flasche trinken«, sagte ich lachend. »In unserer Jugend haben wir das alle getan.«
Er lächelte matt und nahm ein Schlückchen, während ich kräftig trank.
»Ich muss Sie bitten, Herr Polakowski«, sagte ich dann geläufig, »dass Sie mir auch eine Flasche Korn mit dem Abendessen mitbringen lassen, aber keinen Fusel, bitte, sondern den besten, der für Geld zu haben ist.«
Ich sah, wie er die Lippen bewegte, und ahnte schon, was er sagen wollte.
»Was nun die Anzahlung angeht, so muss ich Ihnen sagen, dass ich mich ganz plötzlich zu dieser Arbeit entschlossen habe.«
Ich fing den Blick meines Wirtes auf, der nachdenklich meine offene und völlig leere Aktentasche betrachtete.
Ich lachte. »Nun, ich will Ihnen die Wahrheit gestehen, Herr Polakowski. Das von der Arbeit, die ich hier in aller Stille schreiben will, ist natürlich Schwindel. Die Wahrheit ist, dass ich mich heute Nachmittag ziemlich heftig mit meiner Frau verzankt habe. Und um die etwas zu ängstigen, will ich für ein oder zwei Wochen verschwinden. Verstehen Sie, ich will sie ein bisschen auf den Proppen setzen!«
Herr Polakowski nickte.
»Ich will ihr begreiflich machen, wie das ist ohne Mann, nicht wahr?«
Wieder nickte Herr Polakowski.
»Sie soll einmal fühlen lernen, wie nützlich ich ihr bin, wie unentbehrlich!«
Wieder nickte Herr Polakowski, dann sagte er mit seiner sanften, fast flüsternden Stimme: »Trotzdem, mein Herr, ohne Anzahlung kann ich Sie nicht aufnehmen. Wir sind sehr arme Leute hier in Klein-Russland, mein Herr, und ein Abendessen aus einem guten Gasthof und eine Flasche Korn vom besten kosten viel Geld.«
»Sie werden Geld, soviel Sie brauchen, morgen früh bekommen, Herr Polakowski«, sagte ich überredend. »Morgen früh um neun Uhr stehe ich auf meiner Bank und hole Geld ab.«
»Nein«, sagte mein Wirt. »Es tut mir leid, mein Herr, ich hätte Sie gerne als Gast gehabt, einen gebildeten Mann, der seine Frau ein bisschen ängstigen will – nach Herrenart. Wir, wir schlagen unsere Frauen, das ist einfacher und billiger.«
»Nun ja, nun ja«, lachte ich ein bisschen verlegen. »Ich weiß nur nicht, ob ich bei einer Schlägerei mit meiner Frau nicht den Kürzeren ziehen würde, ich fürchte, sie ist die Stärkere.« Ich lachte und trank. »Aber da es Ihnen so um eine Anzahlung zu tun ist, will ich Ihnen einen Ring zum Pfand geben.« Ich zog erst den Siegel-, dann den Ehering vom Ringfinger der rechten Hand. Einen Augenblick schwankte ich, dann gab ich Polakowski den Ehering. »Es wäre mir lieb, wenn Sie ihn in Pfand behielten, als Sicherheit bis morgen früh, und ihn nicht weitergäben.«
Herr Polakowski nahm den Ring aus meiner Hand. »Wir sind sehr arme Leute, mein Herr«, sagte er wieder mit seiner flüsternden Stimme. »Wir haben keine drei Mark im Hause. Aber ich werde den Ring bei einem ganz sicheren Mann in Pfand geben, und morgen Mittag lösen wir ihn dann wieder aus.«
»Schön, schön«, antwortete ich plötzlich gelangweilt und doch auch wieder durch all diese Umständlichkeiten gereizt. »Aber sehen Sie jetzt auch zu, dass Essen und Korn möglichst bald kommen, vor allem der Korn. Sie sehen, in der Flasche ist fast nichts mehr, und wie Sie wissen, muss man Kummer ersäufen.«
»Es wird alles ganz schnell gehen, mein Herr«, flüsterte mein Wirt sanft und schloss die Tür.
Ich aber warf mich auf das Bett und trank.
So wurde ich mit Polakowski bekannt, einem der gemeinsten Schurken und Heuchler, die ich in meinem Leben kennengelernt habe.
1 2 km langer linker Zufluss der Enz <<<
Für diese Nacht hatte ich mir den festen Plan gemacht, nach Mitternacht in mein Heim zu gehen, dort einen Koffer mit Wäsche, Kleidern und Toilettenzeug zu packen und an Geld zu holen, was dort in meinem Schreibtisch lag. Denn ich hatte wirklich vor, einige Wochen bei Polakowski in aller Verborgenheit zu leben. Mir schwebte vor, mich dort selbst in aller Stille des Alkohols zu entwöhnen; den ersten Tag wollte ich noch das gewohnte Quantum trinken, den folgenden Tag um ein drittel weniger und so immer weiter, bis ich nach etwa zwei oder drei Wochen als nüchterner Mann vor Magda und die Ärzte treten und fragen konnte: »Was wollt ihr nun eigentlich von mir?!«
Ich hielt es für sehr möglich, dass mich Magda bei dieser nächtlichen Packerei überraschte, aber ein Zusammentreffen mit ihr scheute ich nicht, nein, ich wünschte es eher. In der Stille der Nacht würde ich ihr ungestört einige bittere Wahrheiten über die Gemeinheit sagen können, einem Mann, mit dem sie immerhin eine fünfzehnjährige Ehe verband, hinterlistig Ärzte auf den Hals zu hetzen. Sie hatte die Kameradschaft zwischen uns gebrochen, und ich zweifelte je länger, je weniger daran, dass sie letzten Endes nur nach einer Vormundschaft über mich und nach meinem Besitz trachtete. Das alles wollte ich ihr ganz unverblümt sagen.
Leider wurde aus meinem schönen Plan nichts. Wieder einmal spielte mir der Alkohol einen bösen Streich. Nicht, dass er mich, wie schon einige Male vorher, in einen betäubten, traumlosen Schlaf niederwarf, der mich die richtige Stunde versäumen ließ, nein, diesmal hatte ich ein viel schlimmeres Erlebnis: Mein Körper verweigerte mir den Dienst, mein Magen streikte.
Ich hatte noch, mit einigem Widerwillen wohl, aber aus Pflichtgefühl, einen Teil des geholten ganz ordentlichen Abendessens zu mir genommen und hinterher kräftig getrunken. Ich hatte mich wieder aufs Bett gelegt und war bereit, in einem dämmernden Halbschlummer die Stunde meines Fortgehens heranzuwarten; da fing mein Magen an zu würgen, er empörte sich, ich musste hoch, ich musste endlos und unter qualvollen Schmerzen erbrechen. Mein ganzer Körper war mit Schweiß bedeckt, meine Hände und meine Knie zitterten, mein Herz pochte laut und schmerzhaft, zögernd, als wollte es jeden Augenblick aussetzen. In meinen Augen standen Tränen, es flimmerte vor ihnen, durch mein Hirn zogen Schleier, oft war ich wie bewusstlos.
Endlich lag ich wieder auf meinem Bett, zu Tode erschöpft, von einer wahnsinnigen Angst gepackt: Nahte jetzt schon das Ende? So schnell schon? Ich hatte doch noch gar nicht lange und gar nicht übermäßig viel getrunken? Wurde man so schnell zu einem Trinker? So rasch also baute der Alkohol einen Körper ab? Nein, ich wollte noch nicht sterben! Ich hatte diese Trinkerzeit immer nur als ein Durchgangsstadium angesehen; ich war überzeugt gewesen, dass ich mit ihr jederzeit Schluss machen könnte, ohne Schädigung für mich – und nun schon sollte alles zu Ende sein? Nein, das war unmöglich! Ich wollte nicht, ich würde wieder gesund sein, bald schon, vielleicht morgen schon; dieses gallenbittere Brechen musste eine andere Ursache haben! Sicher war etwas an dem Abendessen gewesen!
Es ist seltsam, dass ich auch in diesem Zustand schwerster Vergiftung mit keinem Gedanken dem Alkohol abschwor. Im Gegenteil, ich vermied es ängstlich, an ihn auch nur zu denken. Er konnte nicht die Ursache sein, ihn konnte ich nicht aufgeben. Er war mein einziger guter Freund in diesen Tagen der Verlassenheit und Erniedrigung! Und kaum hatte ich mich ein wenig erholt, kaum gingen Atem und Herz etwas ruhiger, da griff ich wieder zur Flasche, trank von Neuem, die Träume zu rufen, das Vergessen zu rufen, einzugehen in das süße Nichts, in dem man weder Sorgen noch Freuden kennt, in dem man weder Vergangenheit noch Zukunft hat.
Eine Weile tat der Schnaps auch seine Schuldigkeit; entspannt und ein wenig glücklich lag ich da. Dann jagte mich wieder das Erbrechen hoch, ein noch viel qualvolleres, würgenderes Erbrechen, da der Magen nun nichts mehr enthielt als die paar Schlucke Schnaps.
So verbrachte ich diese Nacht, zwischen Trinken und Brechen; schließlich konzentrierte ich meinen ganzen Willen nur darauf, mit aller Kraft das Brechen möglichst lange zurückzuhalten, damit der Alkohol doch einige Minuten Zeit hätte, durch die Schleimhäute des Magens in den Körper überzugehen, ehe ihn neues Würgen heraustrieb. Es war so schade um den schönen Schnaps!
Endlich fiel ich gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf der Erschöpfung, durch den wüste, mich quälende Traumbilder gaukelten. Polakowski weckte mich aus ihm, er stand unter der Tür und bemerkte hüstelnd, dass es gleich neun sei, ob er den Kaffee bringen solle? Ich sagte ihm unwillig, dass ich auf Kaffee verzichte, er solle mir sofort eine neue Flasche holen lassen.
Ohne auf meine Worte zu achten, fing er an, die wüste Unordnung im Zimmer zu beseitigen, öffnete auch das Fenster, durch das frische Luft und Sonne eindrangen.
Erschöpft, matt, wehrlos blinzelte ich ins Licht. »Machen Sie doch zu, Polakowski«, bat ich ärgerlich. »Ich habe eben die Flasche leer getrunken, sorgen Sie sofort für eine neue!«
»Sie wollten doch um neun auf Ihre Bank gehen, mein Herr«, erinnerte mich Polakowski auf seine leise, flüsternde Art. »Es ist neun.«
»Ich kann jetzt nicht gehen«, sagte ich ärgerlich. »Sie sehen doch, dass ich krank bin, Polakowski. Ich werde morgen gehen oder heute Nachmittag. Jetzt holen Sie erst den Schnaps.«
»Dann muss ich den Ring verkaufen, mein Herr«, sagte Polakowski. »Der Jude hat mir nur fünfzehn Mark drauf geben wollen; wenn ich ihn verkaufe, bekomme ich fünfundzwanzig Mark.«
»Fünfundzwanzig Mark!«, rief ich empört. »Der Ring hat neu neunzig Mark gekostet!«
»Jetzt ist es ein alter Ring, und der Jude will auch leben, Herr«, flüsterte Polakowski gleichmütig. »Wenn ich den Ring für fünfundzwanzig Mark verkaufen darf, ist der Korn sofort hier.«
»Und wie können fünfzehn Mark schon alle sein?«, rief ich erbittert. »Ein Abendessen und eine Flasche Korn – das macht doch keine fünfzehn Mark!«
»Und die Zimmermiete, mein Herr?«, fragte Polakowski einschmeichelnd. »Soll ich armer Mann gar nichts haben? Ich muss Ihnen übrigens zwölf Mark für die Stube rechnen, Herr … Ich weiß, ich weiß«, sagte er eilig und knackte wieder einmal besonders laut und ekelhaft mit seinen Gelenken. »Ich habe sieben Mark gesagt, und ich bin ein Mann von Wort. Aber Sie machen viel Wirtschaft, Herr, und Sie richten das Zimmer hin, und Sie gehen mit Kleidern und Schuhen ins Bett, das ruiniert die Wäsche! Das kostet alles Geld, und wir sind sehr arme Leute …«
»Spitzbuben seid ihr«, schrie ich wütend. »Scheren Sie sich zum Teufel, ich ziehe!«
»Sehr wohl, mein Herr«, sagte Polakowski und ging.
Aber natürlich blieb er der Sieger. Nach einer Weile stand ich, vom Durst gepeinigt, auf und ächzte die Treppe hinab und rief ihn (lange ließ Polakowski sich rufen), und ich schmeichelte ihm und gab ihm die Erlaubnis, meinen Ehering für fünfundzwanzig Mark zu verkaufen – und dann endlich, nach einer langen, langen Zeit qualvollen Wartens, bekam ich eine neue Flasche Korn und konnte wieder trinken und brechen, trinken und brechen.
So wurden aus einem Tag ein zweiter und ein dritter und eine Reihe von Tagen, und ich verließ die Stube bei Polakowski nie …
In dieser ersten Woche, die ich bei Polakowski zubrachte, gingen meine beiden Ringe, meine goldene Uhr und meine Aktentasche in seinen Besitz über. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Jude nur eine vorgeschobene Person und dass der eigentliche Erwerber meiner Goldsachen der »sehr arme Mann« Polakowski selbst war. Was ich dafür bekam, war lächerlich wenig. Vielleicht zwölf bis vierzehn Flaschen Schnaps, die Flasche zu vier Mark gerechnet (übrigens holte er auch immer mindere Qualitäten), und dann und wann ein wenig Essen. Denn ich aß fast gar nichts mehr.
Sah ich mich jetzt gelegentlich im Spiegel an, so betrachtete ich mit grausamer Wollust mein Gesicht, das, von alten Bartstoppeln bedeckt, gedunsen und doch abgezehrt, ja wie ausgebrannt aussah. ›So zerstört man sich selbst‹, sagte ich mir dann frohlockend. Und gleich dachte ich weiter an Magda und wie sie erschrecken würde, wenn sie mich in diesem Zustand sähe, und wie ich es ihr dann ins Gesicht schleudern würde, dass sie, sie allein die schmähliche Ursache dieser Veränderung sei!
Gesundheitlich ging es mir sehr wechselnd in diesen Tagen. An die geplante Entwöhnung dachte ich natürlich mit keinem Gedanken mehr, ich trank, soviel ich in meinen Magen bekommen konnte. Meistens streikte er, und ich hatte viel Mühe, mein Quantum in mich hineinzubekommen; zu anderen Zeiten war er aus rätselhaften Gründen willig genug, zu schlucken und zu behalten, was er bekam.
Dann hatte ich gute Stunden. Dann saß ich am Fenster, die Flasche immer dicht bei mir, ich sang leise vor mich hin, alte Volks- und Wanderlieder, und sah dabei hinaus auf die Stadt unter mir, bis zu dem Haus hin, das fern im bläulichen Dunste lag und das das Meine war. Dann dachte ich daran, was Magda jetzt wohl tun würde; und in diesen Stunden war ich fest davon überzeugt, dass ich sie liebte wie eh und je, und dass sie es war, die unsere Liebe verraten hatte. Dann malte ich mir aus, wie ich eines Tages gesund und fröhlich heimkehren würde: Irgendwie war ich auf geheimnisvolle, aber sehr rechtliche Weise in den Besitz von viel Geld gelangt, und ich machte alle glücklich, und alle bewunderten mich, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
Aus solchen kindischen Träumen erweckte mich Polakowski rau genug. Er eröffnete mir, dass es weder Schnaps noch Quartier bei ihm mehr gäbe, wenn ich nicht sofort Geld herbeischaffte …
Wir gerieten in ein endloses Gezänke, von seiner Seite immer höflich, leise, einschmeichelnd, von der meinen grob, mit jähzornigem Aufflammen und dann fast wieder in Tränen schwimmend. Aber es half mir gar nichts, dass ich ihm immer wieder vorwarf, zu welchen Wucherpreisen er meine Goldsachen an sich gebracht, wie wenig, fast nichts, er dafür geliefert; er verschanzte sich hinter seinem Juden, der eben nicht mehr geben wollte, schwor Stein und Bein, dass er noch nicht einen Pfennig an mir verdient habe, und blieb unerbittlich dabei, dass ich Geld schaffen oder ziehen müsste.
Ja, schon jetzt machte er dunkle Andeutungen, dass sich die Polizei vielleicht sehr für Personen wie mich interessieren würde, und dass eigentlich solch Wohnen ohne jede Anmeldung gar nicht zulässig sei und ihn in Gefahr bringe. Auf dieses drohende Geschwätz gab ich damals noch gar nichts, aber gewiss war es mir, dass ich Geld schaffen musste, der sanfte Polakowski war hart wie ein Kieselstein.
Das Einzige, was ich von ihm erreichte, war, dass er mir noch eine Flasche Korn »in Vorschuss« besorgte, damit ich für meine nächtliche Expedition auch »frisch« sei. Ich hatte gerade einen meiner »guten« Tage, das heißt, einen Tag, an dem mein Körper dem Alkohol gut gesinnt war; das war noch ein Glück. An einem anderen Tag hätte ich eine solche Wanderung unmöglich unternehmen können.
Dass der Weg zur Bank mir versperrt war, wusste ich: Dort hatte man bestimmt schon längst mein Verschwinden angezeigt und die Weisung gegeben, bei einem etwaigen Auftauchen von mir nichts ohne vorherige Benachrichtigung zu zahlen. Ich musste also in mein eigenes Haus einbrechen. Der Gedanke, dabei Magda zu begegnen, war mir heute, da mir eine solche Begegnung ziemlich sicher war, nicht so angenehm wie vor einer Woche, da ich von ihr nur geträumt hatte. Aber es musste sein.
Ich schob die Kornflasche in meine Hosentasche – der sanfte Polakowski hatte mir hartnäckig die leihweise Hergabe meiner Aktentasche verweigert – und machte mich auf den Weg. Es war kurz nach Mitternacht. Polakowski ließ mich aus dem Haus und flüsterte mir zu, dass es sehr dunkel sei. Ich solle mich besonders auf der Brücke über die Schmie in acht nehmen.
»Ich warte auf Sie, Herr«, flüsterte er. »Es kann noch so spät werden. Ich halte eine Flasche für Sie bereit. Und dann, Herr«, er flüsterte immer leiser, »dann, Herr, wenn Sie noch etwas Schmuck oder auch Silber haben – ich habe jetzt einen Händler an der Hand, der sehr anständige Preise zahlt, nicht so wie dieser Scheißjude! – bringen Sie, was Sie kriegen können, ich werde schon gut für Sie sorgen.«
›So fängt man Gimpel‹, dachte ich im Gehen und war dabei doch Gimpel genug, dem geschickten Polakowski meine Anerkennung nicht zu versagen, weil er als Preis für meine Rückkunft eine Flasche Korn bereithielt. Freilich hatte ich ganz andere Pläne, von denen er nichts ahnte.
Das Gehen wurde mir viel leichter, als ich gedacht hatte, ich empfand auch kaum ein Bedürfnis, zu trinken. Ich war wohl ziemlich aufgeregt. Gut erinnere ich mich, dass ich mich den ganzen langen Weg ängstlich bemühte, nicht an das Bevorstehende zu denken. Ich sagte mir alle Gedichte, die ich aus meiner Schulzeit noch auswendig wusste, immer wieder her und ertappte mich doch dabei, dass ich zwischen zwei Versen mit Magda sprach oder überlegte, welchen Handkoffer ich als den zweckmäßigsten wählen sollte.
Schließlich, nach fast dreiviertelstündigem Marsch, war ich vor der Gartenpforte meiner Villa angelangt. Vor Kurzem hatte es von den drei Kirchtürmen der Stadt ein Uhr geschlagen. Ich zog die Pforte leise hinter mir zu und ging, unter Vermeidung der gekiesten Wege, über das Gras um mein Haus herum. Es lag alles still und dunkel. Lange stand ich unter Magdas Schlafzimmerfenster und meinte, ihren ruhigen Atem zu hören; es war aber nur mein eigenes Herz, das unruhig und laut in der eigenen Brust pochte.
Als ich darüber nachdachte, dass ich hier bei meinem eigenen Haus, fünf Meter von meiner eigenen Frau als ein mittelloser Fremdling in der Nacht stand, seit einer Woche nicht mehr gewaschen und rasiert, da überkam mich ein solches Mitleid mit mir selbst, dass ich in bittere Tränen ausbrach. Ich weinte lange und schmerzlich, am liebsten wäre ich zu Magda ins Zimmer gedrungen und hätte mich von ihr trösten lassen. Schließlich erwies sich aber auch hier der Schnaps als der beste Tröster; ich trank lange und sehr viel. Mein Schmerz beruhigte sich. Ich kämpfte eine Neigung, erst eine Weile zu schlafen, nieder und ging zurück an die Vorderseite des Hauses.