Hans Fallada – Gesammelte Werke

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7. Nächtlicher Einbruch

Am spä­ten Abend, ei­gent­lich ist es schon Nacht, ei­gent­lich ist es schon viel zu spät für das Verab­re­de­te, hat der Herr Emil Bark­hau­sen sei­nen Enno doch noch ge­trof­fen, im Re­stau­rant »Fer­ner lie­fen«. Das hat die Brief­trä­ge­rin Eva Klu­ge mit ih­rem hei­li­gen Zorn doch noch zu­we­ge ge­bracht. Die Her­ren ha­ben sich bei ei­nem Gla­se Bier an ei­nem Eck­tisch zu­sam­men­ge­setzt, und dort ha­ben sie ge­flüs­tert, sie ha­ben so lan­ge ge­flüs­tert – bei ei­nem Gla­se Bier –, bis der Wirt sie dar­auf auf­merk­sam ge­macht hat, dass er schon drei­mal Po­li­zei­stun­de ge­bo­ten hat, und sie möch­ten doch se­hen, dass sie end­lich bei ihre Wei­ber kämen.

Auf der Stra­ße ha­ben die bei­den ihre Un­ter­hal­tung fort­ge­setzt; sie sind erst ein Stück nach der Prenz­lau­er Al­lee zu ge­gan­gen, und dann hat der Enno wie­der zu­rück­ver­langt, weil es ihm ein­ge­fal­len ist, es wäre viel­leicht doch bes­ser, es bei ei­ner zu ver­su­chen, die er ein­mal ge­habt hat und die Tut­ti ge­nannt wird. Tut­ti, der Pa­vi­an. Bes­ser als sol­che fau­len Ge­schich­ten …

Der Emil Bark­hau­sen ist fast aus der Haut ge­platzt vor so viel Un­ver­stand. Er hat dem Enno zum zehn­ten, er hat ihm zum hun­derts­ten Male ver­si­chert, dass hier von fau­len Ge­schich­ten nicht die Rede sein kön­ne. Es han­de­le sich viel­mehr um eine – bei­na­he ge­setz­mä­ßi­ge – Be­schlag­nah­me, die un­ter dem Schut­ze der SS er­fol­ge, und au­ßer­dem sei’s doch bloß eine olle Jüd­sche, nach der kein Hahn krä­he. Sie wür­den sich bei­de für eine Zeit lang ge­sund­ma­chen, und die Po­li­zei und das Ge­richt hät­ten da­mit gar nichts zu tun.

Worauf der Enno wie­der ge­sagt hat: Nein, nein, in sol­chen Sa­chen habe er noch nie sei­ne Fin­ger ge­habt, er ver­stün­de gar nichts da­von. Wei­ber ja und Renn­wet­ten drei­mal ja, aber mit fau­len Fi­schen habe er noch nicht ge­han­delt. Die Tut­ti sei im­mer ganz gut­mü­tig ge­we­sen, ob­wohl sie »der Pa­vi­an« ge­nannt wer­de, die den­ke si­cher nicht mehr dar­an, dass sie ihm da­mals mit ein biss­chen Geld und Le­bens­mit­tel­kar­ten aus­ge­hol­fen habe, ohne es zu wis­sen.

Da­bei sind sie schon in der Prenz­lau­er Al­lee ge­we­sen.

Der Bark­hau­sen, die­ser ei­gent­lich im­mer zwi­schen Krie­che­rei und Dro­hen hin und her pen­deln­de Mann, hat är­ger­lich ge­sagt, wo­bei er an sei­nem lo­cke­ren, flie­gen­den Schnurr­bart riss: »Wer zum Kuckuck hat denn von dir ver­langt, dass du was von der Sa­che ver­stehst? Ich wer­de das Kind schon al­lei­ne schau­keln, von meins­we­gen kanns­te mit den Hän­den in der Ta­sche da­bei­ste­hen. Ich pack dir so­gar noch dei­ne Kof­fer, wenn du das auch noch ver­langst! Ver­steh doch end­lich, dass ich dich nur dar­um mit­neh­me, Enno, um mich vor ei­nem Streich von der SS zu schüt­zen, als Zeu­ge ge­wis­ser­ma­ßen, dass es bei der Tei­lung auch rich­tig zu­geht. Denk doch bloß mal dran, was al­les bei ei­ner so rei­chen jü­di­schen Ge­schäfts­frau zu ho­len ist, selbst wenn die Ge­sta­po da­mals, als sie den Mann hol­te, schon ei­ni­ges hat mit­ge­hen las­sen!«

Plötz­lich hat der Enno Klu­ge Ja ge­sagt, ohne wei­te­res Weh­ren und Be­denk­lich­keit, ohne Über­gang. Nun hat er gar nicht schnell ge­nug in die Ja­blons­ki­stra­ße kom­men kön­nen. Was ihn aber zu der Über­win­dung sei­ner Angst und zu ei­nem so rück­halt­lo­sen Ja be­stimmt hat, das ist we­der das Ge­re­de von dem Bark­hau­sen ge­we­sen noch die Aus­sicht auf eine rei­che Beu­te, son­dern schlicht­weg sein Hun­ger. Plötz­lich hat er an die Spei­se­kam­mer der Ro­sen­thal den­ken müs­sen, und dass die Ju­den im­mer ger­ne gut ge­ges­sen ha­ben, und dass ihm ei­gent­lich nichts im Le­ben so schön ge­schmeckt hat wie ge­füll­ter Gän­se­hals, zu dem er ein ein­zi­ges Mal von ei­nem rei­chen Klei­der­ju­den ein­ge­la­den wor­den ist.

Plötz­lich hat er sich in sei­nen Hun­ger­fan­tasi­en fest ein­ge­bil­det, er fin­de sol­chen ge­füll­ten Gän­se­hals in der Ro­sent­hal’­schen Spei­se­kam­mer. Er hat die Por­zel­lan­schüs­sel, in der er liegt, ganz deut­lich vor sich ge­se­hen, und den Hals, wie er in der zu Fett er­starr­ten Soße liegt, ganz dick ge­stopft und an bei­den En­den mit ei­nem Fa­den zu­ge­bun­den. Er wird die Schüs­sel neh­men und sich das Gan­ze auf der Gas­flam­me warm ma­chen, und al­les an­de­re ist ihm ganz egal. Der Bark­hau­sen kann tun, was er will, das ist ohne In­ter­es­se für ihn. Er wird Brot in die war­me, fet­ti­ge, stark ge­würz­te Soße tun­ken, und den Gän­se­hals wird er aus der Hand es­sen, dass die Fet­tig­keit nach al­len Sei­ten raus­quatscht.

»Leg noch ’nen Zahn zu, Emil, ich hab das ei­lig!«

»Wa­rum so plötz­lich?«, hat Bark­hau­sen ge­fragt, aber ei­gent­lich ist es ihm recht ge­we­sen, und er hat wil­lig noch einen Zahn zu­ge­legt. Auch er wür­de froh sein, wenn die Sa­che erst ab­ge­macht war, auch in sei­ne Bran­che schlug sie ei­gent­lich nicht. Er hat nicht etwa we­gen der Po­li­zei oder we­gen der ol­len Jü­din Angst – was könn­te ihm groß pas­sie­ren, wenn er de­ren Be­sitz ari­sier­te? –, son­dern we­gen der Per­sickes. Das ist so eine ver­fluch­te, ver­rä­te­rische Aas­ban­de, de­nen ist so­gar die Ge­mein­heit zu­zu­trau­en, dass sie auch ei­nem Kum­pel einen Streich spie­len. Nur we­gen der Per­sickes hat er die­sen blö­den Han­nes, den Enno, mit­ge­nom­men, das ist ein Zeu­ge, den sie nicht ken­nen, der wird sie schon brem­sen.

In der Ja­blons­ki­stra­ße ist dann al­les schön glatt­ge­gan­gen. Es wird un­ge­fähr halb elf ge­we­sen sein, als sie die Haus­tür auf­ge­schlos­sen ha­ben mit ei­nem rich­ti­gen, le­ga­len Haus­schlüs­sel. Dann ha­ben sie ins Trep­pen­haus ge­lauscht, und als sich dort nichts rühr­te, das Trep­pen­licht an­ge­knipst und sich bei sei­nem Schein die Schu­he aus­ge­zo­gen, denn: »Wir müs­sen doch auf die Nachtru­he der an­de­ren Mie­ter Rück­sicht neh­men«, hat Bark­hau­sen ge­grinst.

Als das Licht wie­der aus war, sind sie lei­se und rasch die Trep­pe hoch­ge­pin­schert, und es ist al­les glatt und ru­hig ge­gan­gen. Sie ha­ben kei­nen von den An­fän­ger­feh­lern ge­macht, dass sie mit Krach ge­gen was an­ge­rannt sind oder dass ih­nen ein Schuh hin­ge­pol­tert ist, nein, in al­ler Stil­le sind sie die vier Stock­wer­ke hoch­ge­pin­schert. Also, sie ha­ben ein fei­nes Stück Trep­pen­ar­beit ge­leis­tet, ob­wohl sie doch bei­de kei­ne rich­ti­gen Ga­no­ven sind und ob­wohl sie sich bei­de in ziem­li­cher Auf­re­gung be­fin­den, der eine be­son­ders we­gen des ge­füll­ten Gän­se­hal­ses, der an­de­re we­gen der Beu­te und der Per­sickes.

Das mit der Tür von der Ro­sen­thal hat sich der Bark­hau­sen hun­dert­mal schwie­ri­ger vor­ge­stellt, nur ins Schloss ge­zo­gen ist sie, ganz ein­fach auf­zu­ma­chen, nicht mal ab­ge­schlos­sen. Was das für ’ne leicht­sin­ni­ge Frau ist, wo sie doch als Jü­din be­son­ders vor­sich­tig sein müss­te! So sind die bei­den in die Woh­nung ge­kom­men, sie wis­sen ei­gent­lich nicht mal, wie, so schnell ging das.

Dann hat der Bark­hau­sen ganz un­ge­niert auf dem Flur Licht ge­macht; er ist jetzt ganz un­ge­niert ge­we­sen, und: »Wenn die olle Ju­densau quiekt, hau ich ihr ein­fach ei­nes vor den Deez!«, hat er ver­kün­det, ge­nau wie er’s am Vor­mit­tag dem Bal­dur Per­si­cke an­ge­kün­digt hat. Sie hat aber nicht ge­quiekt. So ha­ben sie sich zu­erst mal in al­ler Ruhe auf dem klei­nen Flur um­ge­se­hen, der ziem­lich voll­ge­stan­den hat mit Mö­beln und Kof­fern und Kis­ten. Nun ja, die Ro­sent­hals ha­ben ja eine große Woh­nung bei ih­rem La­den ge­habt, und wenn man da so plötz­lich raus muss und kriegt nur zwei Stu­ben mit Kam­mer und Kü­che, so quillt das ziem­lich über, nicht wahr? Das muss man ver­ste­hen.

Es hat ih­nen in den Fin­gern ge­zuckt, schon jetzt mit Stö­bern und Nach­su­chen und Pa­cken an­zu­fan­gen, aber der Bark­hau­sen fand es dann doch rich­ti­ger, sich erst ein­mal nach der Ro­sen­thal um­zu­se­hen und der ein Tuch vor den Mund zu bin­den, da­mit es kei­ne Schwie­rig­kei­ten gibt. In der Stu­be hat’s so voll­ge­stan­den, dass man sich kaum hat rüh­ren kön­nen, und sie ha­ben schon be­grif­fen, was hier steht, schaf­fen sie bei­de auch in zehn Näch­ten nicht weg, sie kön­nen sich nur das Bes­te aus­su­chen. In der an­de­ren Stu­be hat’s nicht an­ders aus­ge­se­hen und in der Kam­mer auch so. Nur kei­ne Ro­sen­thal ha­ben sie ge­fun­den, das Bett ist un­be­rührt ge­we­sen. Der Ord­nung hal­ber hat der Bark­hau­sen noch in der Kü­che und auf der Toi­let­te nach­ge­se­hen, aber die Frau ist nicht da ge­we­sen, und das ist das, was man Mas­sel nennt, denn es spart Sche­re­rei­en und er­leich­tert die Ar­beit ge­wal­tig.

Der Bark­hau­sen ist in die ers­te Stu­be zu­rück­ge­gan­gen und hat mit Kra­men an­ge­fan­gen. Er hat gar nicht ge­merkt, dass ihm sein Kum­pel, der Enno, ver­lo­ren­ge­gan­gen ist. Der hat in der Spei­se­kam­mer ge­stan­den und ist bit­ter­lich ent­täuscht ge­we­sen, dass es da kei­nen ge­füll­ten Gän­se­hals ge­ge­ben hat, son­dern nur ein paar Bol­len und ein hal­b­es Brot. Aber er hat doch mit Es­sen an­ge­fan­gen, hat sich die Bol­len in Schei­ben ge­schnit­ten und hat sie aufs Brot ge­packt, und auch das hat ihm nach sei­ner Hun­ge­rei gut ge­schmeckt.

Wie Enno Klu­ge da aber so rum­ge­kaut hat, ist sein Blick aufs un­te­re Ab­teil des Re­gals ge­fal­len, und er hat plötz­lich ge­se­hen, die Ro­sent­hals, wenn sie auch nichts mehr zu bei­ßen ha­ben, zu trin­ken ha­ben sie doch noch. Denn da un­ten im Re­gal ha­ben Fla­schen über Fla­schen ge­stan­den, Wein und auch Schnaps. Der Enno, der in al­lem im­mer ein mä­ßi­ger Mensch war, wenn’s nicht gra­de um Pfer­de­wet­ten ging, hat sich eine Fla­sche Süß­wein ge­schnappt und zu­erst dann und wann sei­ne Zwie­bel­stul­len mit Süß­wein an­ge­feuch­tet. Aber weiß der Him­mel, wie das ge­kom­men ist, plötz­lich ist ihm das labb­ri­ge Gesöff zu­wi­der ge­we­sen, ihm, dem Enno, der sonst drei Stun­den hin­ter dem­sel­ben Glas Bier hocken konn­te. Jetzt hat er sich eine Fla­sche Ko­gnak auf­ge­macht und rasch hin­ter­ein­an­der ein paar Schlu­cke ge­nom­men, die hal­be Fla­sche hat er in fünf Mi­nu­ten leer ge­macht. Vi­el­leicht ist’s der Hun­ger ge­we­sen oder die Auf­re­gung, was ihn so ver­än­dert hat. Das Es­sen hat er ganz auf­ge­ge­ben.

 

Dann hat ihn auch der Schnaps nicht mehr in­ter­es­siert, und er ist den Bark­hau­sen su­chen ge­gan­gen. Der hat noch im­mer in der großen Stu­be ge­stö­bert, hat die Schrän­ke und die Kof­fer auf­ge­macht, und was drin ver­packt war, auf die Erde ge­schmis­sen, im­mer auf der Su­che nach et­was noch Bes­se­rem.

»Jun­ge, Jun­ge, die ha­ben wohl ih­ren gan­zen Wä­sche­la­den mit­ge­nom­men!«, hat Enno ganz über­wäl­tigt ge­sagt.

»Red nicht, hilf lie­ber!«, ist des Bark­hau­sen Ant­wort ge­we­sen. »Be­stimmt ist hier noch Schmuck ver­steckt und Geld – das sind doch rei­che Leu­te ge­we­sen, die Ro­sent­hals, Mil­lio­näre sind die ge­we­sen –, und du hast von fau­len Fi­schen ge­re­det, Och­se, der du bist!«

Eine Wei­le ha­ben die bei­den schwei­gend ge­ar­bei­tet, das heißt, sie ha­ben im­mer mehr auf die Erde ge­ris­sen, und die hat mit Klei­dern und Wä­sche und Gerät schon so voll ge­le­gen, dass sie mit ih­ren Schu­hen drauf rum­ge­tre­ten sind. Dann hat Enno, der vom Schnaps ganz be­nom­men war, ge­sagt: »Ich seh nichts mehr. Ich muss mir erst ’nen kla­ren Kopf trin­ken. Hol mal ein biss­chen Ko­gnak aus der Spei­se­kam­mer, Emil!«

Der Bark­hau­sen ist ohne Wi­der­re­de ge­gan­gen und mit zwei Fla­schen Schnaps zu­rück­ge­kom­men, und da ha­ben sie sich denn ein­träch­tig zu­sam­men auf die Wä­sche ge­setzt, ha­ben einen Schluck um den an­de­ren ge­trun­ken und den gan­zen Fall ernst­haft und gründ­lich dis­ku­tiert.

»Das ist ja klar, Bark­hau­sen, den gan­zen Kram krie­gen wir so schnell nicht weg, und zu lan­ge wol­len wir hier auch nicht sit­zen. Ich den­ke, je­der von uns nimmt sich zwei Kof­fer, und da­mit hau­en wir erst mal ab. Ich den­ke, mor­gen Abend kommt wie­der ’ne an­de­re Nacht!«

»Recht has­te, Enno, zu lan­ge will ich hier nicht sit­zen, schon we­gen der Per­sickes.«

»Wer ist denn das?«

»Ach, so Leu­te … Aber wenn ich den­ke, ich haue mit zwei Kof­fern voll Wä­sche ab und las­se hier einen Kof­fer mit Geld und Schmuck ste­hen, dann möch­te ich mir selbst den Kopf ab­bei­ßen. Ein biss­chen muss­te mich noch su­chen las­sen. Prost, Enno!«

»Prost, Emil! Wa­rum solls­te nich noch ein biss­chen su­chen? Die Nacht ist lang, und wir be­zah­len die Licht­rech­nung doch nicht. Aber was ich dich fra­gen woll­te: Wo willst du denn mit dei­nen Kof­fern hin?«

»Wie­so? Was meins­te denn da­mit, Enno?«

»Na, wo du die hin­brin­gen willst? Wohl in dei­ne Woh­nung?«

»Na, denks­te, ich schaff sie aufs Fund­amt? Klar schaff ich die in mei­ne Woh­nung, bei mei­ne Otti. Und mor­gen früh nischt wie ab da­mit in die Münz­stra­ße und die gan­ze Sore ver­scheu­ert, da­mit der Vo­gel wie­der zwit­schert!«

Enno ließ den Kor­ken am Fla­schen­hals zwit­schern. »Hör mal lie­ber, wie der Vo­gel zwit­schert! Prost, Emil! Ich, wenn ich du wäre, ich mach­te das nicht wie du, in die Woh­nung und über­haupt bei die Frau – was braucht die Frau von dei­nen Ne­ben­ein­nah­men zu wis­sen? Nein, ich, wenn ich du wäre, ich mach­te es wie ich, näm­lich, ich gäbe die Kof­fer auf dem Stet­ti­ner in die Ge­päck­auf­be­wah­rung, und den Hin­ter­le­gungs­schein, den schick­te ich mir selbst, aber post­la­gernd. Dann könn­te nie was bei mir ge­fun­den wer­den, und kei­ner könn­te mir was be­wei­sen.«

»Das hast du dir nicht un­flott aus­ge­dacht, Enno«, sag­te Bark­hau­sen bei­fäl­lig. »Und wann hol­s­te dir den Kram wie­der?«

»Na, wenn die Luft wie­der rein ist, Emil, denn doch!«

»Und wo­von lebs­te so lan­ge?«

»Na, ich hab dir doch ge­sagt, ich gehe bei die Tut­ti. Wenn ich der er­zäh­le, was ich für ’n Ding ge­dreht habe, nimmt sie mich lie­bend mit bei­den Ba­cken auf!«

»Gut, sehr gut!«, stimm­te Bark­hau­sen zu. »Und wenn du auf den Stet­ti­ner gehst, mach ich auf den An­hal­ter. Weiß­te, das fällt we­ni­ger auf!«

»Auch nicht schlecht aus­ge­dacht, Emil, hast auch ein hel­les Köpf­chen!«

»Man kommt un­ter Leu­te«, sag­te Bark­hau­sen be­schei­den. »Man hört dies und das. Der Mensch ist wie ’ne Kuh, er lernt im­mer noch zu.«

»Recht has­te! Na, denn prost, Emil!«

»Prost, Enno!«

Eine Wei­le lang be­trach­te­ten sie sich schwei­gend, mit wohl­ge­fäl­li­gem Auge und nah­men ab und zu einen. Dann sag­te Bark­hau­sen: »Wenn du dich um­drehst, Enno, es braucht aber nicht gleich sein, hin­ter dir steht ein Ra­dio, der hat min­des­tens sei­ne zehn Röh­ren. Den möch­te ich mir ger­ne ein­pa­cken.«

»Das mach, das tu, Emil! Ra­dio ist im­mer gut, zum Be­hal­ten und zum Ver­kau­fen! Im­mer ist Ra­dio gut!«

»Na, denn wol­len wir mal se­hen, ob wir das Ding in einen Kof­fer ver­stau­en kön­nen, und dann stop­fen wir Wä­sche rund­her­um.«

»Soll das gleich sein, oder trin­ken wir noch einen vor­her?«

»Ei­nen kön­nen wir vor­her noch ge­neh­mi­gen, Enno. Aber nur einen!«

Also ge­neh­mig­ten sie einen und einen zwei­ten und einen drit­ten, und dann ka­men sie lang­sam auf die Bei­ne und müh­ten sich da­mit ab, einen großen Zehn­röh­ren-Ra­dio­ap­pa­rat in einen Hand­kof­fer zu pa­cken, der einen Volks­emp­fän­ger ge­fasst hät­te. Nach ei­ner Wei­le an­ge­streng­ten Ar­bei­tens sag­te Enno: »Es geht nich und es geht nich! Lass den ol­len Scheiß­ra­dio doch sein, Emil, nimm lie­ber ’nen Kof­fer mit An­zü­gen!«

»Mei­ne Otti hört aber ger­ne Ra­dio!«

»Ich den­ke, du willst dei­ner Ol­len von dem gan­zen Ge­schäft nichts er­zäh­len? Du bist ja blau, Emil!«

»Und du und dei­ne Tut­ti? Ihr seid ja alle bei­de blau! Wo has­te denn dei­ne Tut­ti?«

»Die zwit­schert! Ich sage dir, und wie die zwit­schert!« Und er lässt wie­der den feuch­ten Kor­ken am Fla­schen­hals zwit­schern. »Neh­men wir noch einen!«

»Prost, Enno!«

Sie trin­ken, und Bark­hau­sen fährt dann fort: »Aber den Ra­dio, den möch­te ich doch mit­neh­men. Wenn das olle Dings durch­aus nicht in den Kof­fer rein will, häng ich mir den Kas­ten mit ei­nem Strick vor die Brust. Dann habe ich die Hän­de im­mer noch frei.«

»Das mach, Mensch. Na, denn wol­len wir mal zu­sam­men­pa­cken!«

»Ja, das wol­len wir. Wird Zeit!«

Aber sie blei­ben bei­de ste­hen und star­ren ein­an­der blö­de grin­send an.

»Wenn man denkt«, fängt Bark­hau­sen dann wie­der an, »es ist doch ein schö­nes Le­ben. All die­se gu­ten Sa­chen hier«, er nickt mit dem Kopf, »und wir kön­nen uns neh­men, was wir wol­len, und tun noch di­rekt ein gu­tes Werk, wenn wir’s so ’ner Jüd­schen fort­neh­men, die doch al­les ge­stoh­len hat …«

»Da has­te recht, Emil – ein gu­tes Werk tun wir, am deut­schen Volk und un­serm Füh­rer. Das sind die gu­ten Zei­ten, wo er uns ver­spro­chen hat.«

»Und un­ser Füh­rer hält Wort, der hält Wort, Enno!«

Sie be­trach­ten sich ge­rührt, Trä­nen in den Au­gen.

»Was macht ihr denn hier, ihr bei­de?«, klingt eine schar­fe Stim­me von der Tür her.

Sie fah­ren zu­sam­men und er­bli­cken einen klei­nen Bur­schen in brau­ner Uni­form.

Dann nickt Bark­hau­sen dem Enno lang­sam und trau­rig zu: »Das ist der Herr Bal­dur Per­si­cke, von dem ich dir ge­sagt habe, Enno! Jetzt kom­men die Schwie­rig­kei­ten!«

8. Kleine Überraschungen

Wäh­rend die bei­den Be­trun­ke­nen so mit­ein­an­der spre­chen, hat sich der gan­ze männ­li­che Teil der Fa­mi­lie Per­si­cke in der Stu­be ver­sam­melt. Zu­nächst dem Enno und Emil steht der klei­ne, drah­ti­ge Bal­dur, die Au­gen fun­kelnd hin­ter der scharf ge­schlif­fe­nen Bril­le, kurz hin­ter ih­nen die bei­den Brü­der in ih­ren schwar­zen SS-Uni­for­men, aber ohne Müt­zen, und nahe der Tür, als traue er dem Frie­den nicht ganz, der alte Ex­k­nei­pier Per­si­cke. Auch die Fa­mi­lie Per­si­cke ist al­ko­ho­li­siert, aber bei ihr hat der Schnaps eine we­sent­lich an­de­re Wir­kung ge­habt als bei den bei­den Ein­bre­chern. Sie sind nicht rühr­se­lig, dumm und ver­ge­ss­lich ge­wor­den, son­dern die Per­sickes sind noch schär­fer, noch gie­ri­ger, noch bru­ta­ler als in ih­rem Nor­mal­zu­stand.

Bal­dur Per­si­cke fragt scharf: »Nun, wird’s bald? Was macht ihr bei­de hier? Oder ist das etwa eure Woh­nung?«

»Aber, Herr Per­si­cke!«, sagt Bark­hau­sen mit kla­gen­der Stim­me.

Bal­dur tut, als er­ken­ne er den Mann erst jetzt. »Aber das ist ja der Bark­hau­sen aus der Kel­ler­woh­nung im Hin­ter­haus!«, ruft er ganz er­staunt sei­nen Brü­dern zu. »Aber, Herr Bark­hau­sen, was ma­chen Sie denn hier?« Sein Er­stau­nen wan­delt sich in Spott. »Wär’s nicht bes­ser, Sie küm­mer­ten sich – zu­mal mit­ten in der Nacht – ein biss­chen um ihre Frau, das gute Ot­ti­chen? Ich habe so was ge­hört, es wer­den da Fes­te mit bes­se­ren Her­ren ge­fei­ert, und Ihre Kin­der sol­len noch am spä­ten Abend be­trun­ken auf dem Hof her­um­ge­tor­kelt sein. Brin­gen Sie die Kin­der zu Bett, Herr Bark­hau­sen!«

»Schwie­rig­kei­ten!«, mur­melt der. »Ich hab’s gleich ge­wusst, wie ich die Bril­len­schlan­ge sah: Schwie­rig­kei­ten.« Er nickt Enno noch ein­mal trau­rig zu.

Enno Klu­ge steht ganz blö­de da. Er schwankt lei­se auf sei­nen Fü­ßen hin und her, hält die Ko­gnak­bud­del in der schlaff nie­der­hän­gen­den Hand und ver­steht kein Wort von dem, was ge­spro­chen wird.

Bark­hau­sen wen­det sich wie­der an Bal­dur Per­si­cke. Sein Ton ist nicht mehr so kla­gend wie an­kla­gend, er ist plötz­lich tief ge­kränkt. »Wenn mei­ne Frau was tut, was nicht recht ist«, sagt er, »so ver­ant­wor­te ich das, Herr Per­si­cke. Ich bin der Gat­te und Va­ter – nach dem Ge­setz. Und wenn mei­ne Kin­der be­sof­fen sind, Sie sind auch be­sof­fen, und Sie sind auch noch ein Kind, ja­wohl, das sind Sie, Mensch!«

Er sieht Bal­dur zor­nig an, und Bal­dur starrt fun­kelnd zu­rück. Dann macht er sei­nen Brü­dern ein un­merk­li­ches Zei­chen, sich be­reit­zu­hal­ten.

»Und was ma­chen Sie hier in der Woh­nung von der Ro­sen­thal?«, fragt der jüngs­te Per­si­cke dann scharf.

»Aber ganz nach Verab­re­dung!«, ver­si­chert Bark­hau­sen jetzt eif­rig. »Al­les wie ver­ab­re­det. Ich und mein Freund, wir ge­hen jetzt gleich. Wir woll­ten ei­gent­lich schon ge­hen. Er auf den Stet­ti­ner; ich auf den An­hal­ter. Je­der zwei Kof­fer, für Sie bleibt ge­nug.«

Er mur­melt die letz­ten Wor­te nur, er ist halb im Ein­dö­sen.

Bal­dur be­trach­tet ihn auf­merk­sam. Es geht viel­leicht ohne alle Ge­walt­tä­tig­keit, die bei­den Kerls sind ja so blö­de be­sof­fen. Aber sei­ne Vor­sicht warnt ihn. Er fasst den Bark­hau­sen bei der Schul­ter und fragt scharf: »Und was ist das für ein Mann? Wie heißt der?«

»Enno!«, ant­wor­tet Bark­hau­sen mit schwe­rer Zun­ge. »Mein Freund Enno …«

»Und wo wohnt dein Freund Enno?«

»Weiß ich nicht, Herr Per­si­cke. Nur aus der Knei­pe. Steh­bier­freund. Lo­kal: ›Fer­ner lie­fen‹ …«

Bal­dur hat sich ent­schie­den. Er stößt plötz­lich dem Bark­hau­sen die Faust ge­gen die Brust, dass der mit ei­nem lei­sen Schrei hin­ter­rücks auf die Mö­bel und die Wä­sche fällt. »Schwein ver­fluch­tes!«, brüllt er. »Wie kannst du zu mir Bril­len­schlan­ge sa­gen? Ich wer­de dir zei­gen, was ich für ein Kind bin!«

Aber sein Schimp­fen ist schon nutz­los ge­wor­den, die bei­den hö­ren ihn nicht mehr. Die bei­den SS-Brü­der sind schon zu­ge­sprun­gen und ha­ben je­den mit ei­nem bru­tal ge­führ­ten Schlag er­le­digt.

»So!«, sagt Bal­dur be­frie­digt. »In ei­ner klei­nen Stun­de lie­fern wir die bei­den als er­tapp­te Ein­bre­cher bei der Po­li­zei ab. Un­ter­des räu­men wir run­ter, was wir ge­brau­chen kön­nen. Aber lei­se auf den Trep­pen! Ich habe so ge­lauscht, aber ich habe nicht ge­hört, dass der alte Quan­gel von sei­ner Spät­schicht nach Haus ge­kom­men ist.«

Die bei­den Brü­der ni­cken. Bal­dur sieht erst auf die be­täub­ten, blu­ti­gen Op­fer, dann auf all die Kof­fer, die Wä­sche, den Ra­dio­ap­pa­rat. Plötz­lich lä­chelt er. Er wen­det sich zum Va­ter: »Na, Va­ter, wie habe ich das Dings ge­dreht? Du mit dei­ner ewi­gen Angst! Siehst du …«

Aber er spricht nicht wei­ter. In der Tür steht nicht, wie er­war­tet, der Va­ter, son­dern der Va­ter ist ver­schwun­den, spur­los weg. Statt sei­ner steht dort der Werk­meis­ter Quan­gel, die­ser Mann mit dem schar­fen, kal­ten Vo­gel­ge­sicht, und sieht ihn mit sei­nen dunklen Au­gen schwei­gend an.

 

Als Otto Quan­gel von sei­ner Spät­schicht nach Haus ging – er hat­te, ob­wohl es we­gen des Rück­stan­des sehr spät ge­wor­den war, kei­ne Elek­tri­sche ge­nom­men, den Gro­schen konn­te er spa­ren –, da hat­te er, vor dem Hau­se an­ge­kom­men, ge­se­hen, dass trotz des Ver­dunk­lungs­be­fehls in der Woh­nung der Frau Ro­sen­thal Licht brann­te. Und bei nä­he­rem Zu­se­hen hat­te er fest­ge­stellt, dass auch bei den Per­sickes und dar­un­ter bei Fromm Licht war, es schim­mer­te an den Rän­dern der Rou­le­aus. Beim Kam­mer­ge­richts­rat Fromm, von dem man nicht ge­nau wuss­te, ob er 33 sei­nes Al­ters oder der Na­zis we­gen in Pen­si­on ge­gan­gen war, brann­te ei­gent­lich stets die hal­be Nacht Licht, bei dem war es nicht ver­wun­der­lich. Und Per­sickes fei­er­ten wohl noch im­mer den Sieg über Frank­reich. Aber dass die alte Ro­sen­thal Licht brann­te und das of­fen in al­len Fens­tern, da stimm­te et­was nicht. Die alte Frau war so ängst­lich und ver­schüch­tert, die wür­de nie ihre Woh­nung so il­lu­mi­nie­ren.

Da stimmt was nicht!, dach­te Otto Quan­gel, wäh­rend er die Haus­tür auf­schloss und lang­sam an­fing, die Trep­pen hin­auf­zu­stei­gen. Er hat­te es wie im­mer un­ter­las­sen, das Licht ein­zu­schal­ten, er war nicht nur für sich spar­sam, das heißt ge­nau. Er war es für alle, auch für den Haus­wirt. Da stimmt was nicht! Aber was geht es mich an? Die Leu­te ge­hen mich gar nichts an! Ich lebe für mich al­lein. Mit der Anna. Nur wir bei­de. Au­ßer­dem macht viel­leicht die Ge­sta­po da oben gra­de Haus­su­chung. Hübsch, wenn ich da rein­plat­ze! Nein, ich gehe schla­fen …

Aber der durch den Vor­wurf ›Du und dein Hit­ler‹ so ver­stärk­te Sinn für Ge­nau­ig­keit, den man fast schon Ge­rech­tig­keits­sinn nen­nen konn­te, fand dies Er­geb­nis sei­ner Über­le­gun­gen doch recht dürf­tig. Er stand jetzt war­tend, die Schlüs­sel in der Hand, vor sei­ner Woh­nungs­tür, den Kopf nach oben ge­dreht. Die Tür muss­te dort of­fen­ste­hen, es war eine dämm­ri­ge Hel­le da oben, auch hör­te er eine schar­fe Stim­me spre­chen. Eine alte Frau ganz für sich al­lein, dach­te er plötz­lich zu sei­ner ei­ge­nen Über­ra­schung. Ohne je­den Schutz. Ohne Gna­de …

In die­sem Au­gen­blick war es, dass eine klei­ne, doch kräf­ti­ge Män­ner­hand ihn aus dem Dun­kel her­aus an der Brust fass­te und ge­gen die Trep­pe hin­dreh­te. Eine sehr höf­li­che, ge­pfleg­te Stim­me sag­te dazu: »Ge­hen Sie bit­te vor­aus, Herr Quan­gel. Ich fol­ge und tau­che im pas­sen­den Au­gen­blick auf.«

Ohne zu zö­gern, ging Quan­gel nun die Trep­pe hin­auf, eine sol­che über­re­den­de Ge­walt hat­te in die­ser Hand und in die­ser Stim­me ge­le­gen. Das kann nur der alte Rat Fromm ge­we­sen sein, dach­te er. So ein Heim­li­cher. Ich glau­be, ich habe ihn in all den Jah­ren, die ich hier woh­ne, kei­ne zwan­zig­mal bei Tage ge­se­hen, und nun kriecht er hier zur Nacht­zeit auf den Trep­pen her­um!

Wäh­rend er so dach­te, war er, ohne zu zö­gern, die Trep­pen hin­auf­ge­stie­gen und in der Ro­sent­hal’­schen Woh­nung an­ge­langt. Er hat­te noch ge­se­hen, wie sich bei sei­nem Er­schei­nen eine dick­li­che Ge­stalt – wohl der alte Per­si­cke – über­stürzt in die Kü­che zu­rück­zog, er hat­te auch noch die letz­ten Wor­te Bal­durs ge­hört von dem Ding, das ge­dreht wor­den war, und dass man nicht ewig Angst ha­ben soll­te … Nun stan­den sich die bei­den, Quan­gel und Bal­dur, schwei­gend Auge in Auge ge­gen­über.

Ei­nen Au­gen­blick glaub­te selbst Bal­dur Per­si­cke al­les ver­lo­ren. Aber dann be­sann er sich auf einen sei­ner Le­bens­grund­sät­ze: Frech­heit siegt, und sag­te et­was her­aus­for­dernd: »Ja, da stau­nen Sie! Aber Sie sind ein biss­chen zu spät ge­kom­men, Herr Quan­gel, wir ha­ben die Ein­bre­cher er­wi­scht und un­schäd­lich ge­macht.« Er mach­te eine Pau­se, aber Quan­gel schwieg. Et­was mat­ter setz­te Bal­dur hin­zu: »Ei­ner von den bei­den Ra­ben scheint üb­ri­gens der Bark­hau­sen zu sein, der hier bei uns auf dem Hofe eine Nut­ten­wirt­schaft dul­det.«

Quan­gels Blick folg­te Bal­durs wei­sen­dem Fin­ger. »Ja«, sag­te er tro­cken, »ei­ner von den Ra­ben ist der Bark­hau­sen.«

»Und über­haupt«, ließ sich plötz­lich ganz un­er­war­tet der SS-Bru­der Adolf Per­si­cke ver­neh­men, »was ste­hen Sie hier und star­ren bloß? Sie könn­ten ganz ru­hig auf das Re­vier ge­hen, Quan­gel, und den Ein­bruch mel­den, da­mit die hier die Brü­der ab­ho­len! Wir pas­sen un­ter­des auf!«

»Stil­le bis­te, Adolf!«, zisch­te Bal­dur är­ger­lich. »Du hast dem Herrn Quan­gel gar kei­ne Be­feh­le zu ge­ben! Herr Quan­gel weiß schon, was er zu tun hat.«

Aber ge­ra­de das wuss­te Quan­gel in die­sem Au­gen­blick nicht. Wäre er für sich al­lein ge­we­sen, er hät­te so­fort einen Ent­schluss ge­fasst. Aber da war die­se Hand an sei­ner Brust, die­se höf­li­che Män­ner­stim­me ge­we­sen; er ahn­te nicht, was der alte Kam­mer­ge­richts­rat vor­hat­te, was er von ihm er­war­te­te. Er woll­te ihm sein Spiel nicht ver­der­ben. Wenn er nur wüss­te …

Aber ge­ra­de in die­sem Au­gen­blick tauch­te der alte Herr auf der Bild­flä­che auf, nicht, wie Quan­gel er­war­tet hat­te, ne­ben ihm, son­dern aus dem In­nern der Woh­nung kom­mend. Plötz­lich stand er wie eine Geis­terer­schei­nung zwi­schen ih­nen und jag­te den Per­sickes einen neu­en, noch grö­ße­ren Schre­cken ein.

Er sah üb­ri­gens höchst selt­sam aus, der alte Herr. Die zier­li­che, kaum mit­tel­große Ge­stalt war ganz in einen sei­de­nen schwarz­blau­en Schlaf­rock gehüllt, des­sen Kan­ten mit ro­ter Sei­de ein­ge­fasst wa­ren und der mit großen ro­ten Holz­knöp­fen ge­schlos­sen war. Der alte Herr trug einen eis­grau­en Kinn­bart und einen stark ge­stutz­ten wei­ßen Bart auf der Ober­lip­pe. Das sehr dün­ne, noch bräun­li­che Kopf­haar war sorg­fäl­tig über den blei­chen Schä­del fri­siert, konn­te aber die Blö­ße nicht ganz ver­de­cken. Hin­ter der schma­len gold­ge­fass­ten Bril­le fun­kel­ten ver­gnüg­te, spöt­ti­sche Au­gen zwi­schen tau­send Fält­chen.

»Nein, mei­ne Her­ren«, sag­te er zwang­los und schi­en da­durch eine längst be­gon­ne­ne und alle höchst be­frie­di­gen­de Un­ter­hal­tung fort­zu­set­zen. »Nein, mei­ne Her­ren, Frau Ro­sen­thal ist nicht in der Woh­nung. Aber viel­leicht be­müht sich ei­ner der jun­gen Her­ren Per­si­cke ein­mal auf die Toi­let­te. Ihr Herr Va­ter scheint nicht ganz wohl zu sein. Je­den­falls ver­sucht er stän­dig, sich mit ei­nem Hand­tuch dort auf­zu­hän­gen. Ich konn­te ihn nicht da­von ab­brin­gen …«

Der Kam­mer­ge­richts­rat lä­chelt, aber die bei­den äl­te­ren Per­sickes ver­las­sen so über­stürzt das Zim­mer, dass es schon fast ko­misch an­mu­tet. Der jun­ge Per­si­cke ist jetzt sehr blass und ganz nüch­tern ge­wor­den. Der alte Herr, der da eben das Zim­mer be­tre­ten hat und der mit sol­cher Iro­nie spricht, das ist ein Mann, des­sen Über­le­gen­heit so­gar Bal­dur ohne wei­te­res an­er­kennt. Der tut nicht nur über­le­gen, der ist es wirk­lich. Bal­dur Per­si­cke sagt fast bit­tend: »Ver­ste­hen Sie, Herr Kam­mer­ge­richts­rat, Va­ter ist, gra­de­her­aus ge­sagt, völ­lig be­sof­fen. Die Ka­pi­tu­la­ti­on von Frank­reich …«

»Ich ver­ste­he, ich ver­ste­he voll­kom­men«, sagt der alte Rat und macht eine be­schwich­ti­gen­de Hand­be­we­gung. »Wir sind alle Men­schen, nur, dass wir uns nicht gleich alle auf­hän­gen, wenn wir be­trun­ken sind.« Er schweigt einen Au­gen­blick und lä­chelt. Er sagt: »Er hat na­tür­lich auch al­les Mög­li­che ge­re­det, aber wer ach­tet schon auf das Ge­schwätz ei­nes Be­trun­ke­nen?« Wie­der lä­chelt er.