Hans Fallada – Gesammelte Werke

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38

Ich wur­de vom Ober­pfle­ger ein­ge­klei­det, ich be­kam eine brau­ne Ja­cke und eine ge­streif­te Hose aus Tuch, dazu Le­der­pan­tof­feln. Die Sa­chen, die ich be­kam, wa­ren neu, ich wur­de vom Ober­pfle­ger mit Aus­zeich­nung be­han­delt. Aber viel­leicht wäre es bes­ser ge­we­sen, er hät­te mir alte Lum­pen wie den an­de­ren ge­ge­ben; sie sa­hen es ja, dass ich neu­es Zeug trug, das be­stärk­te sie in ih­rer Ab­nei­gung ge­gen mich. »Der will was Bes­se­res sein, der Speck­jä­ger!«, sag­ten sie und war­fen böse Bli­cke auf mich.

Üb­ri­gens tat ich et­was Selt­sa­mes bei die­sem Ein­klei­den. Ich durf­te aus mei­nem Kof­fer Sei­fe und Zahn­bürs­te neh­men, und da­bei ge­lang es mir, in ei­nem un­be­wach­ten Au­gen­blick eine Ra­sier­klin­ge zu steh­len. Ich hat­te das schon ein­mal ge­tan, aber da­mals war ich noch schlapp und fei­ge ge­we­sen, ich hat­te noch nicht ge­ahnt, welch Un­heil mir al­les noch be­vor­stand. Jetzt wür­de ich an­ders han­deln, ohne Angst vor Schmer­zen wür­de ich zu­schnei­den. Nein, noch nicht jetzt, mei­ne Tat, die­se heim­li­che Fort­nah­me ei­ner Ra­sier­klin­ge, war mir selbst über­ra­schend ge­kom­men. Noch nicht jetzt – erst wür­de ich noch kämp­fen. Soll­te aber mein Kampf er­folg­los aus­ge­hen … Nun gut, wenn ich mei­nen Ter­min ge­habt habe und mei­ne dau­ern­de Über­füh­rung in die­se Heil­an­stalt an­ge­ord­net wird, dann, ja, dann … In die­ser Höl­le wer­de ich mein Le­ben nicht ver­brin­gen, so­viel ist ge­wiss.

Ich habe zum ers­ten Mal mein Früh­stück mit mei­nen Lei­dens­ge­fähr­ten ge­nom­men, mor­gens um halb sie­ben, im Licht der Früh­son­ne sa­hen die­se Ge­sich­ter völ­lig trost­los aus. Rohe Ge­sich­ter, tie­ri­sche Ge­sich­ter, stump­fe Ge­sich­ter. Über­ent­wi­ckel­te Kin­ne, oder sie fehl­ten ganz. Schie­len­de Men­schen, buck­li­ge Men­schen, ver­küm­mer­te Men­schen. So fahl und düs­ter wie ihre ver­schlis­se­ne Tracht. Der Ober­pfle­ger hat mir einen Platz am letz­ten Tisch, ganz hin­ten an der Wand, an­ge­wie­sen. Das ist gut, ich kann alle se­hen und be­ob­ach­ten und sit­ze ganz un­ge­stört.

Vom Kal­fak­tor habe ich mir einen Be­cher mit hei­ßer Zi­cho­ri­en­brü­he ge­holt, und der Ober­pfle­ger hat mir drei di­cke Schei­ben Brot ge­ge­ben, zwei sind mit Mar­ga­ri­ne be­schmiert, eine mit Mar­me­la­de. Ich esse sie lang­sam und mit großem Ap­pe­tit, ich kaue sie gründ­lich, wer weiß, was es heu­te zum Mit­ta­ges­sen gibt. Das Kohl­was­ser hat mich sehr er­schreckt. Man­che be­kom­men mehr Brot, sie be­kom­men auch »Be­lag« drauf; der Be­lag be­steht aus Schnitt­lauch oder Zwie­beln oder Quark. Das sind, wie ich er­fah­re, die Au­ßen­ar­bei­ter, sie müs­sen den gan­zen Tag schwer ar­bei­ten, dar­um be­kom­men sie auch so wert­vol­le Zu­la­ge!

Kurz nach dem Früh­stück er­tönt der Ruf: »An­tre­ten!«, und alle, die ar­bei­ten, tre­ten an, wer­den von ei­nem Wacht­meis­ter durch die Git­ter­tür hin­aus­ge­las­sen, und zu­rück blei­ben nur die Haus­ar­bei­ter, Kal­fak­to­ren ge­nannt, die Kran­ken und ich. Es gibt vie­le Kran­ke …

Ich ste­he dann am Fens­ter und sehe zu, wie die Leu­te aus al­len Häu­sern auf dem Hof an­tre­ten. Es sind vie­le, vie­le Leu­te, links steht auch eine Ko­lon­ne Wei­ber. Vie­le Uni­for­men, die die­se Kran­ken be­wa­chen, bei der Ar­beit be­auf­sich­ti­gen, an­trei­ben, jede Flucht ver­ei­teln wer­den. Und dann wird der Hof leer. Ein weiß­berock­ter, di­cker Mann, der Herr Obe­rin­spek­tor, teil­te sie zur Ar­beit ein, man­che rück­ten mit Sen­sen ab, an­de­re mit Ha­cken, vie­le gin­gen in die Fa­brik.

Nun gehe ich mit Hiel­scher den Gang auf und ab, auf und ab. Hiel­scher ist ein klei­ner Buck­li­ger, der mit ei­ner sanf­ten, sehr deut­li­chen Stim­me ein ge­pfleg­tes Deutsch spricht. Hiel­scher nennt mich »Herr Som­mer« und »Sie«; das tut mir gut. Er er­zählt mir vie­les in sei­ner sanf­ten, deut­li­chen Spra­che von die­sem Hau­se und sei­nen In­sas­sen. Sonst schält er Kar­tof­feln, seit sechs Jah­ren schält er Kar­tof­feln, seit elf Jah­ren ist er in die­sem Haus.

»Ich bin Sitt­lich­keits­ver­bre­cher«, sagt er sanft und ge­wählt zu mir. »Der Me­di­zi­nal­rat hat mir ein Gut­ach­ten ab­ge­nom­men. Ich habe an­ge­bo­re­nen Schwach­sinn be­kom­men und dann man­geln­de Hem­mun­gen und stark ver­min­der­te Zu­rech­nungs­fä­hig­keit. Und dann habe ich einen Bu­ckel, das sieht man na­tür­lich, und hin­ken tue ich auch. Ist das schlimm, Herr Som­mer?«

Ich bin ganz über­rascht von die­ser Fra­ge. »Schlimm?«, fra­ge ich ver­wirrt. »Wie­so mei­nen Sie schlimm?«

»Nun, ob es eine schlim­me Krank­heit ist, oder ist es leicht, Herr Som­mer?« Und er sieht mich mit sei­nen leb­haf­ten und doch trau­ri­gen Au­gen an.

»Nein, das ist wohl nicht so schlimm.«

»Das den­ke ich auch«, sagt Hiel­scher. »Si­cher las­sen sie mich bald frei. Ha­ben Sie wohl ein biss­chen Ta­bak für mich, Herr Som­mer?«

Ich sag­te dem Hiel­scher, dass ich selbst Sehn­sucht nach Ta­bak hät­te, ihm also lei­der kei­nen ge­ben kön­ne. Da­rauf er­losch Hiel­schers In­ter­es­se an mir ra­pi­de, er ver­ließ mich, und ich wan­der­te den Gang al­lein auf und ab.

Die­ser Vor­mit­tag war end­los. Ich mar­schier­te und mar­schier­te, aber der Zei­ger der Uhr rück­te nicht vor­an. Manch­mal sah ich in einen der bei­den Ta­ges­räu­me, aber die dort ta­ten­los sit­zen­den, vor sich hin­dö­sen­den Ge­stal­ten, die­se Wracks, stie­ßen mich ab.

Ge­schäf­tig mit Be­sen und Ei­mern wa­ren nur die Kal­fak­to­ren, wie in al­len Ge­fäng­nis­sen ja, jene ei­ni­ger­ma­ßen gut und sau­ber aus­se­hen­den Men­schen, ge­schickt und be­den­ken­los, vor den Be­am­ten krie­chend, jede Klei­nig­keit von ih­ren Mit­ge­fan­ge­nen hin­ter­brin­gend, be­stech­lich und roh ge­gen ihre Ka­me­ra­den. Ich sah sie von Zel­le zu Zel­le ge­hen, vor­geb­lich auf­räu­mend, in der Haupt­sa­che aber die Bet­ten nach ei­ner ver­steck­ten Schei­be Brot oder ei­ner Pfei­fe Ta­bak durch­su­chend.

Es be­stärk­te mir mei­ne An­ti­pa­thie, als ich sah, dass der so ver­hass­te Lexer auch eine Art Kal­fak­tor war, ein Hilfs­kal­fak­tor, der wohl die längs­te Zeit des Ta­ges drü­ben in ei­ner der Ar­beits­zel­len des An­baus beim Bürs­ten­ma­chen steck­te, der sich aber im­mer wie­der ein Ge­wer­be auf der Sta­ti­on zu ma­chen wuss­te.

Das Trep­pen­haus rei­nig­te ein Mann in mitt­le­ren Jah­ren mit ei­nem einst klu­gen, jetzt ver­wirr­ten und hoff­nungs­los trau­ri­gen Ge­sicht; von Zeit zu Zeit un­ter­brach er sei­ne Fe­ge­rei, riss ein Fens­ter auf und schrie durch die Git­ter­stä­be un­flä­ti­ge Schimp­fe­rei­en ge­gen ima­gi­näre Per­so­nen hin­aus.

Ich be­ob­ach­te­te den Lexer, wie er sich an den Schel­ten­den her­an­sch­lich, ihn von hin­ten an­sprang und mit dem Kopf im­mer wie­der ge­gen die Ei­sen­tral­jen schlug. Gel­lend schrie er da­bei: »Sollst du nicht ar­bei­ten, du Lump? Musst du im­mer schrei­en? Fres­sen willst du, aber dei­ne Ar­beit tust du nicht! War­te nur, du!« Und er schlug von Neu­em.

Ich wäre dem Ver­wirr­ten ger­ne zu Hil­fe ge­kom­men, aber das Ei­sen­git­ter zum Trep­pen­haus war ver­schlos­sen, und ich hat­te mir zu­dem in der letz­ten Nacht fest vor­ge­nom­men, mich in kei­ne der Strei­tig­kei­ten hier zu mi­schen und voll­kom­men neu­tral zu blei­ben. Je un­auf­fäl­li­ger ich leb­te, um so güns­ti­ger muss­te mich der Arzt be­ur­tei­len. Au­ßer­dem hat­te ich vor die­sem Lexer Angst. Ich hat­te auch alle Ur­sa­che dazu.

Ich habe die­sen Mann oder viel­mehr Ben­gel – er war erst Mit­te der Zwan­zi­ger und weit in der Ent­wick­lung zu­rück­ge­blie­ben – lan­ge mit den im­mer wach­sa­men Au­gen des Has­ses be­ob­ach­tet. Er war der ge­bo­re­ne Blut­hund. Sein Schöns­tes war es, die Mit­ge­fan­ge­nen zu quä­len, im­mer kniff er an ih­nen her­um, schubs­te sie um­her, schlug sie, ver­klatsch­te sie beim Ober­pfle­ger. Nichts war ihm zu ge­ring. Brach­te ein Ge­fan­ge­ner von sei­nem Spa­zier­gang ein heim­lich er­gat­ter­tes Zwie­bel­chen heim – ent­we­der Lexer jag­te es ihm ab oder zeig­te den Kum­pel beim Ober­pfle­ger we­gen Dieb­stahls an. Und da die Zwie­bel wirk­lich ge­stoh­len war, frei­lich nur aus dem An­stalts­gar­ten, so muss­te der Dieb für vier­zehn Tage in Ar­rest. Schwä­che­re lock­te Lexer in stil­le Ecken und schlug sie so lan­ge, bis sie ih­ren Ta­bak, oder was ihm sonst von ih­ren Be­sitz­tü­mern be­geh­rens­wert er­schi­en, her­aus­ga­ben. Bei Stär­ke­ren ver­such­te er es mit List, täusch­te sie mit großen Ver­spre­chun­gen von Brot und hielt nie et­was.

Bei den Be­am­ten aber war Lexer gar nicht un­be­liebt. Er spiel­te da eine Haus­nar­ren­rol­le, sein fre­ches, gel­les Mund­werk hat­te im­mer einen schlag­fer­ti­gen Witz be­reit, meist auf Kos­ten ei­nes Mit­ge­fan­ge­nen, er ver­rich­te­te je­den Dienst für die Be­am­ten rasch, ge­schickt und wil­lig und ließ sich, bei ir­gend­ei­ner Ge­mein­heit er­wi­scht, mit ko­misch jam­mern­der Mie­ne durch­prü­geln. »Man kann dem Schwei­ne­hund nicht böse sein«, sag­ten die Wacht­meis­ter und dul­de­ten ihn und sei­ne scham­lo­se Ty­ran­nei über die an­de­ren Ge­fan­ge­nen wei­ter. Vor al­lem war er ih­nen wohl nütz­lich, sie er­fuh­ren durch ihn al­les, was im Bau vor­ging.

Lexer war schon mit sechs Jah­ren in ein Wai­sen­haus ge­kom­men, und von da an hat­te er im­mer nur we­ni­ge Wo­chen oder Mo­na­te in der Frei­heit zu­ge­bracht, im­mer wie­der war er in die fes­ten Häu­ser des Staa­tes zu­rück­ge­kehrt: in die Für­sor­ge­er­zie­hung, ins Ju­gend­ge­fäng­nis, ins Ge­fäng­nis. Schließ­lich hat­te man ihn als un­ver­bes­ser­lich in die­ser Heil- und Pfle­gean­stalt un­ter­ge­bracht, und zwar, wie er sehr wohl wuss­te, auf Le­bens­zeit. Aber das stör­te ihn gar nicht. Er fühl­te sich in die­sem Haus, das mir eine Höl­le dünk­te, sau­wohl. Hier kam er sich so recht in sei­nem Ele­ment vor. Hier konn­te er je­der Ge­mein­heit frei­en Lauf las­sen. Er spiel­te den Hilfs­kal­fak­tor, den Hilfs­wacht­meis­ter, den Ober­teu­fel. Hier schlug er einen Geis­tes­schwa­chen, einen Schi­zo­phre­nen, mit dem Kopf ge­gen die Git­ter­stä­be und er­war­te­te wo­mög­lich noch ein Lob, dass er die Leu­te so stramm zur Ar­beit an­hielt.

 

39

Auch ein end­lo­ser Vor­mit­tag nimmt sein Ende. Es kam das Mit­ta­ges­sen, und die Ge­fan­ge­nen lä­chel­ten: Sie hat­ten einen gu­ten Tag, sie be­ka­men ein gu­tes Es­sen. Je­der Mann be­kam in ei­nem bind­fa­den­ge­knüpf­ten Netz an­dert­halb Pfund Pell­kar­tof­feln und dazu in sei­ne Alu­mi­ni­um­schüs­sel eine Kel­le ei­ner scharf ge­würz­ten Sau­ce, in der ei­ni­ge Fleisch­fa­sern schwam­men.

Ich schäl­te müh­sam mei­ne Kar­tof­feln mit dem Löf­fel; Ga­bel und Mes­ser wa­ren in die­sem Haus der stän­di­gen Schlä­ge­rei­en zu ge­fähr­lich. Wenn ich die mit mir Es­sen­den be­trach­te­te, so sah ich ei­ni­ge, die ta­ten wie ich; sie leg­ten ihre Kar­tof­feln in die Sau­ce und war­te­ten mit dem Es­sen, bis sie fer­tig mit Schä­len wa­ren. Aber wir wa­ren bei Wei­tem in der Min­der­zahl, vie­le Schä­ler wa­ren so aus­ge­hun­gert, dass sie nicht war­ten konn­ten: Die meis­ten Kar­tof­feln ver­schwan­den eben ge­schält im Mun­de, nur we­ni­ge er­reich­ten die Brü­he.

Schä­len ta­ten, wie ich sah, alle die Kar­tof­feln, aber ich sah in mei­ner Nähe einen di­cken, un­ter­setz­ten Mann mit ei­sen­grau­em Kopf und dem rot­braun ge­brann­ten Ge­sicht ei­nes Land­ar­bei­ters, der wäh­rend des Schä­lens auch die Scha­len auf­fraß. Kaum hat­te ich fer­tig­ge­schält, warf er einen fra­gen­den Blick auf mich, und schon fuhr sei­ne schwie­li­ge Hand über den Tisch, kratz­te auf ein­mal all mei­nen Ab­fall zu­sam­men und schob ihn in den Mund.

»Mann!«, rief ich. »Da war ja eine völ­lig ver­faul­te Kar­tof­fel zwi­schen!«

»Macht nichts, Kum­pel«, sag­te er, eif­rig kau­end. »Ich muss den gan­zen Tag mä­hen, ich werd’ nie satt. Vi­el­leicht kann ich mir heu­te Abend Schwei­ne­kar­tof­feln klau­en. Hof­fent­lich …«

Er war nicht ein ein­zel­ner Ver­fres­se­ner, alle hat­ten Hun­ger, im­mer, auch di­rekt nach dem Es­sen. Ich sah Kran­ke her­um­ge­hen und die kleins­ten Kar­tof­fel­krü­mel­chen von dem Tisch fort­steh­len, an­de­re kratz­ten die schon ach so blan­ken Schüs­seln nach; einen sah ich auf dem Flur den Sau­cen­kes­sel mit dem im­mer wie­der ab­ge­leck­ten Fin­ger blank po­lie­ren. All dies ge­sch­ah un­ter den Au­gen der Wacht­meis­ter, die es als selbst­ver­ständ­lich an­sa­hen.

Mir schi­en es un­säg­lich jäm­mer­lich und ge­mein, Kran­ke so hun­gern zu las­sen, aber auch sich zu sol­cher Schüs­sel­le­cke­rei und Ab­fall­fres­se­rei zu ent­wür­di­gen. Nur we­ni­ge Tage soll­ten ver­ge­hen, da dach­te ich we­sent­lich an­ders dar­über und war selbst sehr groß­zü­gig beim Schä­len von Kar­tof­feln, das heißt, glat­te Stel­len ließ ich grund­sätz­lich un­ge­schält. Es ist ein sehr ein­fa­cher Satz: »Hun­ger tut weh«, aber sei­ne Ein­fach­heit nimmt nichts von sei­ner Wahr­heit. Wer Nacht für Nacht vor Hun­ger nicht in den Schlaf kom­men kann, wer am Tage schwind­lig wird vor Hun­ger, der hat nur noch we­nig Be­den­ken hin­sicht­lich der Nah­rungs­mit­tel, mit de­nen er sei­nen Hun­ger stil­len kann.

Ich grei­fe hier vor, aber ich möch­te die­ses Ka­pi­tel vom Es­sen in ei­ner »Heil«-An­stalt end­gül­tig zu Ende brin­gen, ob­wohl ich es für mich bis heu­te noch nicht zu Ende ge­bracht habe. In der gan­zen An­stalt herrsch­te ein ein­fach schmut­zi­ger Geiz. Nie be­ka­men wir fri­sches Fleisch zu es­sen, nur manch­mal schwam­men Fa­sern – nie­mals auch nur Bröck­chen! – ei­nes ro­ten, al­ten Pö­kel­flei­sches im Es­sen oder in der Sau­ce, sehr rare Fa­sern üb­ri­gens! Nie gab es But­ter, nie Wurst, nie Käse. Nie einen Ap­fel. Und al­les, was es gab, war dann auch noch un­zu­läng­lich, end­los mit Was­ser ver­mischt, schlecht zu­be­rei­tet.

Wa­rum das al­les so war, ahne ich noch heu­te nicht. Die Ge­fan­ge­nen be­haup­te­ten, der Obe­rin­spek­tor frä­ße al­les selbst auf. Aber auch der ge­frä­ßigs­te Obe­rin­spek­tor kann nicht das Es­sen von ein paar Hun­dert Men­schen ver­til­gen. Vi­el­leicht woll­te man uns nicht zu üp­pig wer­den las­sen, und ich muss zu­ge­ben, selbst bei die­ser Hun­ger­kost wa­ren die Lei­den­schaf­ten noch leb­haft ge­nug im Gan­ge.

Es gab aber doch im­mer Leu­te un­ter uns, die nicht sol­chen Hun­ger lit­ten, ja, die in ge­wis­sen Gren­zen aus dem Vol­len leb­ten, näm­lich die Kal­fak­to­ren, sie hat­ten die Bro­te für uns zu schnei­den, ab­zu­wie­gen, zu be­strei­chen. Of­fi­zi­ell stand ein Wacht­meis­ter da­bei und pass­te auf, aber klin­gel­te das Te­le­fon, so muss­te der Wacht­meis­ter aus der Kü­che her­aus in den Glas­kas­ten, und schon wa­ren ein paar Stul­len dick ge­schmiert und ver­schwun­den. Ge­fan­ge­ne ha­ben schar­fe Au­gen, und der Hun­ger macht sie nur noch schär­fer; es war un­ver­meid­lich, dass sie von die­sen Un­ter­schla­gun­gen er­fuh­ren. Der hat­te ge­se­hen, wie ein Kal­fak­tor auf dem Klo eine Stul­le kau­te, je­ner, wie er ei­nem »Freund« eine zu­steck­te oder sie für Ta­bak ver­han­del­te.

Aber an­zei­gen war sinn­los. Erst ein­mal war schwer et­was zu be­wei­sen, ja, es war fast un­mög­lich, denn selbst wenn das Brot ge­fun­den wird, was fast nie ge­schieht, weil näm­lich gar nicht erst nach ihm ge­sucht wird, kann der Kal­fak­tor sa­gen: »Das habe ich mir vom Früh­stück auf­ge­spart.« Und zum an­de­ren wa­ren die Kal­fak­to­ren das lie­be Kind der Be­am­ten, ihre Zu­trä­ger; die Be­am­ten woll­ten nichts ge­gen ihre Kal­fak­to­ren hö­ren. So ge­sch­ah prak­tisch nie et­was da­ge­gen, aber der Neid und der Hass wur­den da­durch stän­dig wach­ge­hal­ten. Im­mer­fort gab es Sti­che­lei­en, An­spie­lun­gen, auch Prü­ge­lei­en. Bei de­nen zo­gen die Prüg­ler im­mer den Kür­ze­ren, sie wan­der­ten in den Ar­rest; sie konn­ten ja nichts be­wei­sen.

Auch ich war, ich muss es ge­ste­hen, oft fast krank vor Neid, wenn ich sah, wie un­ser im­mer fet­ter wer­den­der Kal­fak­tor das Mit­ta­ges­sen nach ein paar Löf­feln satt bei­sei­te­schob, die­ses sel­be Mit­ta­ges­sen, bei dem ich mit je­dem Bis­sen geiz­te; er aber schenk­te es ei­nem an­de­ren oder ver­scheu­er­te es für einen Pfei­fen­kopf Ta­bak oder eine Zwie­bel oder zwei Streich­höl­zer.

›Du Speck­jä­ger!‹, sag­te ich mir dann, ge­nau wie die an­de­ren, ›du hast dich an mei­nem Brot und mei­ner Mar­ga­ri­ne satt ge­fres­sen, und nun ver­schmähst du das kost­ba­re Es­sen, das mei­nem Kör­per so not­wen­dig wäre. Dass du ver­re­cken mö­gest in dei­nem Fett!‹ – So fühl­te ich und schäm­te mich da­bei die­ses er­bärm­li­chen Fut­ter­nei­des um eine Schei­be Brot, die ich zu Hau­se für nichts ge­ach­tet hat­te, und lern­te die has­sen, die mich dazu ge­bracht hat­ten, so zu füh­len, so nied­rig und nei­disch!

Ei­gent­lich noch schlim­mer als die­se heim­li­che Art, sich Es­sens­vor­tei­le zu ver­schaf­fen, war eine ganz le­ga­le, die von der Ver­wal­tung ge­bil­ligt, ja so­gar ge­för­dert wur­de. Die­je­ni­gen der In­sas­sen näm­lich, die noch wil­li­ge Ver­wand­te drau­ßen hat­ten, durf­ten sich Pa­ke­te mit Le­bens­mit­teln schi­cken las­sen, so oft und so viel sie nur woll­ten.

Man soll­te den­ken, dass fast je­der der Kran­ken einen sol­chen An­ge­hö­ri­gen drau­ßen hat­te, der ihm we­nigs­tens dann und wann ein Brot ge­schickt hät­te – schon tro­cken Brot war eine heiß be­gehr­te Ware im Hau­se. Dem war aber nicht so.

Ganz ab­ge­se­hen da­von, dass vie­le der In­sas­sen we­der schrei­ben noch le­sen konn­ten (in die­sem schreck­li­chen Hau­se lag wirk­lich nur der letz­te Aus­schuss der Mensch­heit) oder dass sie schon zu blö­de und stumpf da­für wa­ren, woll­ten die An­ge­hö­ri­gen von den meis­ten nichts mehr wis­sen. Sie hat­ten ih­nen, so­lan­ge sie noch drau­ßen wa­ren, Kum­mer und Schan­de ge­nug ge­macht, nun wa­ren sie schon fünf oder zehn oder gar zwan­zig Jah­re in die­sem Hau­se, sie wa­ren für die drau­ßen er­le­digt und ver­ges­sen, sie wa­ren für die drau­ßen tot, ge­stor­ben und be­gra­ben.

Nein, es wa­ren nur ganz we­ni­ge, die die­se Pa­ke­te be­ka­men, von den sechs­und­fünf­zig Män­nern, die auf mei­ner Sta­ti­on la­gen, viel­leicht nur fünf oder sechs. Die aber sa­ßen statt­lich und wohl­ge­nährt bei un­se­ren ge­mein­schaft­li­chen Mahl­zei­ten, ne­ben den Schüs­seln voll Was­ser­sup­pe la­gen bei ih­nen dick be­stri­che­ne Bro­te mit Wurst und Käse, die wir nie zu schme­cken be­ka­men; ja, ich habe es so­gar er­lebt, dass ein di­cker Bau­er, den sie we­gen stän­di­gen Que­ru­lan­ten­tums mit uns ein­ge­sperrt hat­ten, ge­müt­lich eine ge­bra­te­ne Ente in un­se­rer Ge­gen­wart ver­zehr­te, Kno­chen für Kno­chen ab­nag­te. Er trief­te von Fett, wir aber sa­ßen da­bei, und un­se­re Au­gen wur­den im­mer grö­ßer, das Was­ser lief uns im Mun­de zu­sam­men und schließ­lich aus ihm her­un­ter, un­se­re Hän­de zit­ter­ten, und nur Gier und Neid er­füll­ten un­se­re Her­zen.

Ich habe es nie ver­stan­den, warum man so et­was zuließ. Wenn man we­nigs­tens die­se Be­vor­zug­ten ihr Son­der­es­sen in al­ler Heim­lich­keit hät­te ver­til­gen las­sen, aber nein, vor un­se­ren Au­gen muss­te es ge­sche­hen! Frei­lich, es gab ja kei­ner­lei Heim­lich­keit auf die­ser Sta­ti­on, in die­sem Hau­se, alle la­gen zu sechs, acht Mann in ih­ren Zel­len, nichts, wo­hin man sich zu­rück­zie­hen konn­te, nicht ein­mal die Klos hat­ten Rie­gel, im­mer riss ei­ner die Tür auf, man saß eben erst auf der Bril­le.

Aus all­dem aber, aus dem stän­di­gen Hun­ger­ge­fühl und dem Hass ge­gen die die­bi­schen Kal­fak­to­ren und aus dem Neid ge­gen die Pras­ser ent­stan­den jene nie en­den­den Ge­reizt­hei­ten, Strei­te­rei­en, Schlä­ge­rei­en, Be­stra­fun­gen. Nie war auch nur einen ein­zi­gen Tag Ruhe im Bau, im­mer war ir­gen­det­was los. Man hör­te schon gar nicht mehr hin, wenn zwei sich in der un­flä­tigs­ten Wei­se be­schimpf­ten. Man ging fort, wenn sie sich die Au­gen blau und die Na­sen blu­tig schlu­gen. Man war froh, wenn man nicht selbst noch hin­ein­ge­zo­gen wur­de. Man muss­te auf je­des Wort ach­ten, was man sag­te, es wur­de so­fort wei­ter­ge­tra­gen, so­fort kehr­te es sich ge­gen sei­nen Spre­cher.

Ich für mei­ne Per­son muss ge­ste­hen, dass ich an­fäng­lich nicht nur mit Neid auf die Pa­ket­fres­ser sah. Ich hat­te es ja so ein­fach: Ich brauch­te nur einen Brief an Mag­da zu schrei­ben, und ich ge­hör­te auch zu die­sen Be­sit­zen­den. So wür­de Mag­da doch nicht sein, dass sie ih­ren ei­ge­nen an­ge­trau­ten Mann hun­gern ließ! Eine Wo­che lang kämpf­te ich mit mir, dann sieg­te der Hun­ger, und ich ent­schloss mich zu dem Brief.

Ich hat­te we­der Schreib­pa­pier noch einen Um­schlag, und ge­lie­fert wur­de ei­nem von der An­stalt gar nichts; aber ich spar­te mir eine Schei­be Brot ab und be­kam da­für, was mir not­tat. Ich schrieb den Brief, und von da an war­te­te ich. Ich mal­te mir abends im Bett aus, was al­les in dem Pa­ket sein wür­de; wenn ich an eine dick mit fet­ter Le­ber­wurst be­stri­che­ne Schei­be Brot dach­te, wur­de mir bei­na­he übel vor Hun­ger und Wol­lust.

Ich hat­te mir den frü­he­s­ten Tag aus­ge­rech­net, an dem das Pa­ket hier sein konn­te; aber der Tag ver­strich und man­cher Tag nach ihm, und das Pa­ket kam nicht. Dann er­fuhr ich, dass der Brief erst durch die Zen­sur des Me­di­zi­nal­ra­tes ge­hen muss­te, dann auf das Büro der Ver­wal­tung zum Fran­kie­ren ging und dass man die Brie­fe dort nicht etwa so­fort, son­dern nur ge­le­gent­lich, wenn man meh­re­re zu­sam­men­hat­te, ab­schick­te.

»Die ha­ben die Ruhe weg«, sag­ten die Ge­fan­ge­nen. »Glaubst du, die lau­fen, wenn du was möch­test? Die set­zen sich dann ge­ra­de erst recht fest auf ih­ren Arsch!«

So war­te­te ich wei­ter und hoff­te wei­ter.

Dann sag­te der Ober­pfle­ger ei­nes Ta­ges bei­läu­fig zu mir: »Auf dem Büro liegt ein Brief von Ih­nen, Som­mer. Die las­sen Ih­nen sa­gen, der kann nicht ab­ge­hen, Sie ha­ben kein Geld gut für Por­to.«

»Wie?«, rief ich. »We­gen zwölf Pfen­nig Por­to kann mein Brief nicht ab­ge­hen? Und ich habe aus dem Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis vier­tau­send Mark an mei­ne Frau zu­rück­ge­schickt!«

»Da hät­ten Sie sich eben ein paar Mark zu­rück­be­hal­ten sol­len«, sag­te der Ober­pfle­ger und woll­te wei­ter­ge­hen.

»Aber, Herr Ober­pfle­ger!«, rief ich. »Das geht doch nicht. We­gen zwölf Pfen­ni­gen! Die kön­nen doch an­ru­fen bei mei­ner Frau, und die wird be­stä­ti­gen …«

»Ein Te­le­fon­ge­spräch kos­tet auch zehn Pfen­nig, die Sie nicht ha­ben, Som­mer!«, sag­te der Ober­pfle­ger kühl. »Be­ru­hi­gen Sie sich nur, der Brief wird schon ab­ge­hen, nächs­ten Mo­nat, wenn Ih­nen Ihre ers­te Ar­beits­be­loh­nung gut­ge­schrie­ben ist!«

 

Ich habe kei­ne Ah­nung, ob der Brief an Mag­da schließ­lich wirk­lich ab­ge­gan­gen ist oder ob er in der Zwi­schen­zeit ver­lo­ren ging. Ein Fress­pa­ket habe ich je­den­falls nie be­kom­men, ich blieb im­mer un­ter den hung­ri­gen, gie­ri­gen Nei­dern. Denn als ich wirk­lich eine Ar­beits­be­loh­nung gut­hat­te, war ich längst viel zu mut­los ge­wor­den, noch ein­mal an Mag­da zu schrei­ben. Ich war dar­an ver­zwei­felt, dass ir­gend­ein Mensch es noch gut mit mir mein­te.