Hans Fallada – Gesammelte Werke

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»Doch das sind an­de­re Men­schen heu­te«, wi­der­sprach Frau Ro­sen­thal.

»Sag­te ich Ih­nen nicht, dass die­se Dro­hun­gen von Ver­bre­chern und ih­ren Kom­pli­cen aus­gin­gen? Nun also!« Er lä­chel­te leicht. »Es sind kei­ne an­de­ren Men­schen. Es sind ein biss­chen mehr ge­wor­den, und die an­de­ren sind ein biss­chen fei­ger ge­wor­den, aber die Ge­rech­tig­keit ist die­sel­be ge­blie­ben, und ich hof­fe, wir bei­de er­le­ben noch ih­ren Sieg.« Ei­nen Au­gen­blick stand er da, ge­ra­de auf­ge­rich­tet. Dann nahm er sei­ne Wan­de­rung wie­der auf. Er sag­te lei­se: »Und der Sieg der Ge­rech­tig­keit wird nicht der Sieg die­ses deut­schen Vol­kes sein!«

Er schwieg einen Au­gen­blick, dann be­gann er wie­der leich­teren Tons: »Nein, Sie kön­nen nicht in Ihre Woh­nung zu­rück. Die Per­sickes sind heu­te Nacht dort ge­we­sen, die­se Par­tei­leu­te über mir, wis­sen Sie. Die Woh­nungs­schlüs­sel sind in ih­rem Be­sitz, sie wer­den Ihr Heim jetzt un­ter stän­di­ger Beo­b­ach­tung hal­ten. Dort wä­ren Sie wirk­lich völ­lig nutz­los in Ge­fahr.«

»Aber ich muss dort sein, wenn mein Mann zu­rück­kommt!«, bat Frau Ro­sen­thal fle­hend.

»Ihr Mann«, sag­te der Kam­mer­ge­richts­rat Fromm freund­lich be­ru­hi­gend, »Ihr Mann kann Sie vor­läu­fig nicht be­su­chen. Er be­fin­det sich zur­zeit im Un­ter­su­chungs­ge­fäng­nis Moa­bit un­ter der Be­schul­di­gung, meh­re­re Aus­lands­gut­ha­ben ver­heim­licht zu ha­ben. Er ist also in Si­cher­heit, so­lan­ge es ge­lingt, das In­ter­es­se der Staats­an­walt­schaft und der Steu­er­be­hör­de an die­sem Ver­fah­ren wach­zu­hal­ten.«

Der alte Rat lä­chel­te lei­se, er sah Frau Ro­sen­thal er­mu­ti­gend an und nahm dann sei­ne Wan­de­rung wie­der auf.

»Aber wo­her kön­nen Sie wis­sen?«, rief Frau Ro­sen­thal aus.

Er mach­te eine be­schwich­ti­gen­de Hand­be­we­gung. Er sag­te: »Ein al­ter Rich­ter hört im­mer dies und das, auch wenn er nicht mehr im Amte ist. Es wird Sie auch in­ter­es­sie­ren, dass Ihr Mann einen tüch­ti­gen An­walt hat und ver­hält­nis­mä­ßig an­stän­dig ver­sorgt wird. Den Na­men und die Adres­se des An­walts sage ich Ih­nen nicht, er wünscht kei­ne Be­su­che in die­ser Sa­che …«

»Aber viel­leicht kann ich mei­nen Mann in Moa­bit be­su­chen!«, rief Frau Ro­sen­thal auf­ge­regt aus. »Ich könn­te ihm fri­sche Wä­sche brin­gen – wer sorgt denn dort für sei­ne Wä­sche? Und Toi­let­ten­sa­chen und viel­leicht et­was zu es­sen …«

»Lie­be Frau Ro­sen­thal«, sag­te der Kam­mer­ge­richts­rat a.D. und leg­te sei­ne al­ters­fle­cki­ge Hand mit den ho­hen blau­en Adern fest auf ihre Schul­tern. »Sie kön­nen Ihren Mann eben­so we­nig be­su­chen, wie er Sie be­su­chen kann. Ein sol­cher Be­such nützt ihm nichts, denn Sie kom­men nicht bis zu ihm, und er scha­det nur Ih­nen.«

Er sah sie an. Plötz­lich lä­chel­ten sei­ne Au­gen nicht mehr, auch sei­ne Stim­me klang streng. Sie be­griff, dass die­ser klei­ne, sanf­te, gü­ti­ge Mann ein­mal der blu­ti­ge Fromm, der Scharf­rich­ter Fromm ge­nannt wor­den war, dass er ei­nem un­er­bitt­li­chen Ge­setz in sich folg­te, wohl die­ser Ge­rech­tig­keit, von der er ge­spro­chen hat­te.

»Frau Ro­sen­thal«, sag­te die­ser blu­ti­ge Fromm lei­se, »Sie sind mein Gast – so­lan­ge Sie die Ge­set­ze der Gast­freund­schaft be­fol­gen, von de­nen ich Ih­nen gleich ein paar Wor­te sa­gen wer­de. Die­ses ist das ers­te Ge­bot der Gast­freund­schaft: So­bald Sie ei­gen­mäch­tig han­deln, so­bald ein­mal, ein ein­zi­ges Mal nur, die Tür die­ser Woh­nung hin­ter Ih­nen zu­ge­schla­gen ist, öff­net sich die­se Tür Ih­nen nie wie­der, ist Ihr und Ihres Man­nes Name für im­mer aus­ge­löscht hin­ter die­ser Stirn. Sie ha­ben mich ver­stan­den?«

Er be­rühr­te leicht sei­ne Stirn, er sah sie durch­drin­gend an.

Sie flüs­ter­te lei­se ein »Ja«.

Erst jetzt nahm er die Hand wie­der von ih­rer Schul­ter. Sei­ne vor Ernst dun­kel ge­wor­de­nen Au­gen wur­den wie­der hel­ler, lang­sam nahm er sei­ne Wan­de­rung von Neu­em auf. »Ich bit­te Sie«, fuhr er leich­ter fort, »das Zim­mer, das ich Ih­nen gleich zei­gen wer­de, bei Tage nicht zu ver­las­sen, auch sich dort nicht am Fens­ter auf­zu­hal­ten. Mei­ne Be­die­ne­rin ist zwar zu­ver­läs­sig, aber …« Er brach un­mu­tig ab, er sah jetzt nach dem Buch un­ter der Le­se­lam­pe hin­über. Er fuhr fort: »Ver­su­chen Sie es wie ich, die Nacht zum Tage zu ma­chen. Ein leich­tes Schlaf­mit­tel wer­den Sie auf dem Ti­sche dort fin­den. Mit Es­sen ver­sor­ge ich Sie des Nachts. Wenn Sie mir jetzt fol­gen wol­len?«

Sie folg­te ihm auf den Kor­ri­dor hin­aus. Sie war jetzt wie­der et­was ver­wirrt und ver­ängs­tigt, ihr Gast­ge­ber war so völ­lig ver­än­dert. Aber sie sag­te sich ganz rich­tig, dass der alte Herr sei­ne Stil­le über al­les lieb­te und kaum noch den Um­gang mit Men­schen ge­wohnt war. Er war jetzt ih­rer müde, er sehn­te sich nach sei­nem Plut­arch zu­rück, wer das im­mer auch sein moch­te.

Der Rat öff­ne­te eine Tür vor ihr, schal­te­te das Licht ein. »Die Ja­lou­si­en sind ge­schlos­sen«, sag­te er. »Es ist hier auch ver­dun­kelt, las­sen Sie das bit­te so, es könn­te Sie sonst ei­ner aus dem Hin­ter­haus se­hen. Ich den­ke, Sie wer­den hier al­les fin­den, was Sie brau­chen.«

Er ließ sie einen Au­gen­blick dies hel­le, fröh­li­che Zim­mer be­trach­ten mit sei­nen Bir­ken­holz­mö­beln, ei­nem voll­be­setz­ten, hoch­bei­ni­gen Toi­let­ten­tisch­chen und ei­nem Bett, das noch einen »Him­mel« aus ge­blüm­tem Chintz be­saß. Er sah das Zim­mer an wie et­was, das er lan­ge nicht ge­se­hen und nun wie­der­er­kann­te. Dann sag­te er mit tie­fem Ernst: »Es ist das Zim­mer mei­ner Toch­ter. Sie starb im Jah­re 1933 – nicht hier, nein, nicht hier. Ängs­ti­gen Sie sich nicht!«

Er gab ihr rasch die Hand. »Ich schlie­ße das Zim­mer nicht ab, Frau Ro­sen­thal«, sag­te er, »aber ich bit­te Sie, sich jetzt so­fort ein­zu­rie­geln. Sie ha­ben eine Uhr bei sich? Gut! Um zehn Uhr abends wer­de ich bei Ih­nen klop­fen. Gute Nacht!«

Er ging. In der Tür wand­te er sich noch ein­mal um. »Sie wer­den in den nächs­ten Ta­gen sehr al­lein sein mit sich, Frau Ro­sen­thal. Ver­su­chen Sie, sich dar­an zu ge­wöh­nen. Al­lein­sein kann et­was sehr Gu­tes be­deu­ten. Und ver­ges­sen Sie nicht: Es kommt auf je­den Über­le­ben­den an, auch auf Sie, ge­ra­de auf Sie! Den­ken Sie an das Abrie­geln!«

Er war so lei­se ge­gan­gen, so lei­se hat­te er die Tür ge­schlos­sen, dass sie erst zu spät merk­te, sie hat­te ihm we­der gute Nacht ge­sagt noch ge­dankt. Sie ging rasch zur Tür, aber schon wäh­rend des Ge­hens be­sann sie sich. Sie dreh­te nur den Rie­gel zu, dann ließ sie sich auf den nächs­ten Stuhl nie­der, ihre Bei­ne zit­ter­ten. Aus dem Spie­gel des Toi­let­ten­tisch­chens schau­te sie ein blei­ches, von Trä­nen und Wa­chen ge­dun­se­nes Ge­sicht an. Sie nick­te lang­sam, trü­be die­sem Ge­sicht zu.

Das bist du, Sara, sag­te es in ihr. Lore, die jetzt Sara ge­nannt wird. Du bist eine tüch­ti­ge Ge­schäfts­frau ge­we­sen, im­mer tä­tig. Du hast fünf Kin­der ge­habt, ei­nes lebt nun in Dä­ne­mark, ei­nes in Eng­land, zwei in den USA, und ei­nes liegt hier auf dem Jü­di­schen Fried­hof an der Schön­hau­ser Al­lee. Ich bin nicht böse, wenn sie dich Sara nen­nen. Aus der Lore ist im­mer mehr eine Sara ge­wor­den; ohne dass sie es woll­ten, ha­ben sie mich zu ei­ner Toch­ter mei­nes Vol­kes ge­macht, nur zu sei­ner Toch­ter. Er ist ein gu­ter, fei­ner al­ter Herr, aber so fremd, so fremd … Ich könn­te nie rich­tig mit ihm re­den, wie ich mit Sieg­fried ge­spro­chen habe. Ich glau­be, er ist kalt. Trotz­dem er gü­tig ist, ist er kalt. Selbst sei­ne Güte ist kalt. Das macht das Ge­setz, dem er un­ter­tan ist, die­se Ge­rech­tig­keit. Ich bin im­mer nur ei­nem Ge­setz un­ter­tan ge­we­sen: die Kin­der und den Mann lieb­zu­ha­ben und ih­nen vor­wärts­zu­hel­fen im Le­ben. Und nun sit­ze ich hier bei die­sem al­ten Mann, und al­les, was ich bin, ist von mir ab­ge­fal­len. Das ist das Al­lein­sein, von dem er sprach. Es ist jetzt noch nicht halb sie­ben Uhr mor­gens, und vor zehn Uhr abends wer­de ich ihn nicht wie­der­se­hen. Fünf­zehn und eine hal­be Stun­de al­lein mit mir – was wer­de ich al­les er­fah­ren über mich, das ich noch nicht wuss­te? Mir ist angst, mir ist so sehr angst! Ich glau­be, ich wer­de schrei­en, noch im Schla­fe wer­de ich schrei­en vor Angst! Fünf­zehn und eine hal­be Stun­de! Die hal­be Stun­de hät­te er noch bei mir sit­zen kön­nen. Aber er woll­te durch­aus in sei­nem al­ten Buch le­sen. Men­schen be­deu­ten ihm trotz all sei­ner Güte nichts, ihm be­deu­tet nur sei­ne Ge­rech­tig­keit et­was. Er tut es, weil sie es von ihm ver­langt, nicht um mei­net­wil­len. Es hät­te erst Wert für mich, wenn er’s um mei­net­wil­len täte!

Sie nickt die­sem grament­stell­ten Ge­sicht Sa­ras im Spie­gel lang­sam zu. Sie sieht sich nach dem Bett um. Das Zim­mer mei­ner Toch­ter. Sie starb 1933. Nicht hier! Nicht hier!, schießt es ihr durch den Kopf. Sie schau­dert. Wie er es sag­te. Si­cher ist die Toch­ter auch durch – die ge­stor­ben, aber er wird nie dar­über spre­chen, und ich wer­de ihn auch nie zu fra­gen wa­gen. Nein, ich kann nicht in die­sem Zim­mer schla­fen, es ist grau­en­voll, un­mensch­lich. Er soll mir die Kam­mer sei­ner Be­die­ne­rin ge­ben, ein Bett noch warm vom Leib ei­nes wirk­li­chen Men­schen, der dar­in schlief. Ich kann hier nie schla­fen. Ich kann hier nur schrei­en …

Sie tippt die Dö­schen und die Schäch­tel­chen auf dem Toi­let­ten­tisch an. Ver­trock­ne­te Cre­mes, krü­me­li­ger Pu­der, grün be­lau­fe­ne Lip­pen­stif­te – und sie ist seit 1933 tot. Sie­ben Jah­re. Ich muss et­was tun. Wie es jagt in mir – das ist die Angst. Jetzt, da ich auf die­ser In­sel des Frie­dens an­ge­langt bin, kommt mei­ne Angst her­vor. Ich muss et­was tun. Ich darf nicht so al­lein sein mit mir.

 

Sie kram­te in ih­rer Ta­sche. Sie fand Pa­pier und Blei­stift. Ich wer­de den Kin­dern schrei­ben, Ger­da in Ko­pen­ha­gen, Eva in Il­ford, dem Bern­hard und dem Ste­fan in Broo­klyn. Aber es hat kei­nen Sinn, die Post geht nicht mehr, es ist Krieg. Ich wer­de an Sieg­fried schrei­ben, ir­gend­wie schmug­gle ich den Brief schon durch nach Moa­bit. Wenn die­se alte Be­die­ne­rin wirk­lich zu­ver­läs­sig ist. Der Rat braucht nichts zu mer­ken, und ich kann ihr Geld oder Schmuck ge­ben. Ich habe noch ge­nug …

Sie hol­te auch das aus der Hand­ta­sche, sie leg­te es vor sich hin, das in Pa­ke­te ge­pack­te Geld, den Schmuck. Sie nahm ein Arm­band in die Hand. Das hat mir Sieg­fried ge­schenkt, als ich die Eva be­kam. Es war mei­ne ers­te Ge­burt, ich habe viel aus­hal­ten müs­sen. Wie er ge­lacht hat, als er das Kind sah! Der Bauch hat ihm ge­wa­ckelt vor La­chen. Alle muss­ten la­chen, wenn sie das Kind sa­hen mit sei­nen schwar­zen Rin­gellöck­chen über den gan­zen Schä­del und sei­nen Wulstlip­pen. Ein wei­ßes Ne­ger­ba­by, sag­ten sie. Ich fand Eva schön. Da­mals schenk­te er mir das Arm­band. Es hat sehr viel ge­kos­tet; al­les Geld, das er in ei­ner Wei­ßen Wo­che ver­dient hat­te, gab er da­für. Ich war sehr stolz, eine Mut­ter zu sein. Das Arm­band be­deu­te­te mir nichts. Jetzt hat Eva schon drei Mä­dels, und ihre Har­riet ist neun. Wie oft sie an mich den­ken mag, da drü­ben in Il­ford. Aber was sie auch den­ken mag, sie wird sich nie vor­stel­len, wie ihre Mut­ter hier sitzt, in ei­nem To­ten­zim­mer beim blu­ti­gen Fromm, der nur der Ge­rech­tig­keit ge­horcht. Ganz al­lein mit sich …

Sie leg­te das Arm­band hin, sie nahm einen Ring. Sie saß den gan­zen Tag vor ih­ren Sa­chen, sie mur­mel­te mit sich, sie klam­mer­te sich an ihre Ver­gan­gen­heit, sie woll­te nicht dar­an den­ken, wer sie heu­te war.

Da­zwi­schen ka­men Aus­brü­che wil­der Angst. Ein­mal war sie schon an der Tür, sie sag­te zu sich: Wenn ich nur wüss­te, sie quä­len einen nicht lan­ge, sie mach­ten es schnell und schmerz­los, ich gin­ge zu ih­nen. Ich er­tra­ge die­ses War­ten nicht mehr, und wahr­schein­lich ist es ganz zweck­los. Ei­nes Ta­ges krie­gen sie mich doch. Wie­so kommt es auf je­den Über­le­ben­den an, wie­so gra­de auf mich? Die Kin­der wer­den sel­te­ner an mich den­ken, die En­kel gar nicht, Sieg­fried dort in Moa­bit wird auch bald ster­ben. Ich ver­ste­he nicht, was der Kam­mer­ge­richts­rat da­mit ge­meint hat, ich muss ihn heu­te Abend da­nach fra­gen. Aber wahr­schein­lich wird er nur lä­cheln und ir­gen­det­was sa­gen, mit dem ich gar nichts an­fan­gen kann, weil ich ein rich­ti­ger Mensch bin, heu­te noch, aus Fleisch und Blut, eine alt ge­wor­de­ne Sara.

Sie stütz­te sich mit der Hand auf den Toi­let­ten­tisch, sie be­trach­te­te düs­ter ihr Ge­sicht, das von ei­nem Netz von Fält­chen über­zo­gen war. Fält­chen, die Sor­ge, Angst, Hass und Lie­be ge­zo­gen hat­ten. Dann kehr­te sie wie­der zu ih­rem Tisch zu­rück, zu ih­ren Schmuck­sa­chen. Sie zähl­te, nur um die Zeit hin­zu­brin­gen, die Schei­ne im­mer wie­der durch; spä­ter ver­such­te sie, alle Schei­ne nach Se­ri­en und Num­mern zu ord­nen. Dann und wann schrieb sie auch einen Satz in dem Brief an ih­ren Mann. Aber es wur­de kein Brief, nur ein paar Fra­gen: Wie er denn un­ter­ge­bracht sei, was er zu es­sen be­kom­me, ob sie nicht für sei­ne Wä­sche sor­gen kön­ne? Klei­ne, be­lang­lo­se Fra­gen. Und: Ihr ging es gut. Sie war in Si­cher­heit.

Nein, kein Brief, ein sinn­lo­ses, un­nö­ti­ges Ge­schwätz, dazu auch un­wahr. Sie war nicht in Si­cher­heit. Noch nie hat­te sie sich in den letz­ten grau­en­vol­len Mo­na­ten so in Ge­fahr ge­fühlt wie in die­sem stil­len Zim­mer. Sie wuss­te, sie muss­te sich hier ver­än­dern, sie wür­de sich nicht ent­wi­schen kön­nen. Und sie hat­te Angst vor dem, was aus ihr wer­den konn­te. Vi­el­leicht muss­te sie dann noch Schreck­li­che­res er­lei­den und er­tra­gen, sie, die schon ohne ih­ren Wil­len aus ei­ner Lore zu ei­ner Sara ge­wor­den war. Sie woll­te nicht, sie hat­te Angst.

Spä­ter leg­te sie sich doch auf das Bett, und als ihr Gast­ge­ber um zehn Uhr ge­gen ihre Tür klopf­te, schlief sie so fest, dass sie ihn nicht hör­te. Er öff­ne­te die Tür vor­sich­tig mit ei­nem Schlüs­sel, der den Rie­gel zu­rück­schob, und als er die Schla­fen­de sah, nick­te er und lä­chel­te. Er hol­te ein Ta­blett mit Es­sen, setz­te es auf den Tisch, und als er da­bei die Schmuck­sa­chen und das Geld bei­sei­te­schob, nick­te und lä­chel­te er wie­der. Lei­se ging er aus dem Zim­mer, drück­te den Rie­gel wie­der her­um, ließ sie schla­fen …

So kam es, dass Frau Ro­sen­thal in den ers­ten drei Ta­gen ih­rer »Schutz­haft« kei­nen ein­zi­gen Men­schen zu se­hen be­kam. Sie ver­schlief stets die Nacht, um zu ei­nem schreck­li­chen, angst­ge­quäl­ten Tag zu er­wa­chen. Am vier­ten Tage, halb von Sin­nen, tat sie dann et­was …

1 Um­gangs­sprach­li­che Ab­kür­zung für Schutz­po­li­zist bzw. Schutz­po­li­zei <<<

11. Es ist immer noch Mittwoch

Die Gesch hat­te es doch nicht über sich ge­bracht, den klei­nen Mann auf ih­rem Sofa nach ei­ner Stun­de zu we­cken. Er sah so be­mit­lei­dens­wert aus, wie er dalag in sei­nem Er­schöp­fungs­schlaf, die Fle­cke auf sei­nem Ge­sicht fin­gen jetzt an, rot­blau an­zu­lau­fen. Er hat­te die Un­ter­lip­pe vor­ge­scho­ben wie ein trau­ri­ges Kind, und manch­mal zit­ter­ten sei­ne Li­der, und sei­ne Brust hob sich in ei­nem schwe­ren Seuf­zer, als wol­le er gleich jetzt in sei­nem Schlaf los­wei­nen.

Als sie ihr Mit­ta­ges­sen fer­tig hat­te, weck­te sie ihn und gab ihm zu es­sen. Er mur­mel­te et­was wie einen Dank. Er aß wie ein Wolf und warf da­bei Bli­cke auf sie, aber er sprach mit kei­nem Wort von dem, was ge­sche­hen war.

Schließ­lich sag­te sie: »So, mehr kann ich Ih­nen nicht ge­ben, sonst bleibt für Gu­stav nicht ge­nug. Le­gen Sie sich nur auf das Sofa und schla­fen Sie noch ein biss­chen. Ich wer­de dann selbst mit Ih­rer Frau …«

Er mur­mel­te wie­der et­was, un­kennt­lich, ob Zu­stim­mung oder Ab­leh­nung. Aber er ging wil­lig zum Sofa, und eine Mi­nu­te spä­ter war er wie­der fest ein­ge­schla­fen.

Als am spä­ten Nach­mit­tag Frau Gesch die Fl­ur­tür der Nach­ba­rin ge­hen hör­te, schlich sie lei­se hin­über und klopf­te. Eva Klu­ge öff­ne­te so­fort, aber sie stell­te sich so in die Tür, dass sie den Ein­tritt ver­wehr­te. »Nun?«, frag­te sie feind­lich.

»Ent­schul­di­gen Sie, Frau Klu­ge«, fing die Gesch an, »wenn ich Sie noch mal stö­re. Aber Ihr Mann liegt drü­ben bei mir. So ’n Bul­le von der SS hat ihn heu­te früh an­ge­schleppt, Sie kön­nen kaum weg ge­we­sen sein.«

Eva Klu­ge ver­harr­te in ih­rem feind­li­chen Schwei­gen, und die Gesch fuhr fort: »Sie ha­ben ihn ganz schön zu­ge­rich­tet, da ist kein Fleck an ihm, der nicht was ab­ge­kriegt hat. Ihr Mann mag sein, wie er will, aber so kön­nen Sie ihn nicht vor die Tür set­zen. Se­hen Sie ihn sich bloß mal an, Frau Klu­ge!«

Sie sag­te un­beug­sam: »Ich habe kei­nen Mann mehr, Frau Gesch. Ich hab’s Ih­nen ge­sagt, ich will nichts mehr da­von hö­ren.«

Und sie woll­te in ihre Woh­nung zu­rück. Die Gesch sag­te eif­rig: »Sei­en Sie nicht so ei­lig, Frau Klu­ge. Schließ­lich ist es Ihr Mann. Sie ha­ben Kin­der mit ihm ge­habt …«

»Da­rauf bin ich be­son­ders stolz, Frau Gesch, dar­auf be­son­ders!«

»Man kann auch un­mensch­lich sein, Frau Klu­ge, und was Sie tun wol­len, das ist un­mensch­lich. So kann der Mann nicht auf die Stra­ße.«

»Und war das, was er mit mir all die Jah­re ge­tan hat, etwa mensch­lich? Er hat mich ge­quält, er hat mir mein gan­zes Le­ben ka­putt­ge­macht, schließ­lich hat er mir noch mei­nen Lieb­lings­jun­gen weg­ge­nom­men – und zu so ei­nem soll ich mensch­lich sein, bloß weil er Dre­sche von der SS be­kom­men hat? Ich den­ke gar nicht dar­an! Den än­dern auch noch so vie­le Schlä­ge nicht!«

Nach die­sen hef­tig und böse aus­ge­sto­ße­nen Wor­ten zog Frau Klu­ge der Gesch ein­fach die Tür vor der Nase zu und schnitt ihr so je­des wei­te­re Wort ab. Sie war ein­fach nicht fä­hig, noch wei­te­res Ge­re­de aus­zu­hal­ten. Bloß um al­lem Ge­re­de zu ent­ge­hen, hät­te sie den Mann wo­mög­lich doch noch wie­der in die Woh­nung auf­ge­nom­men und es im­mer und ewig be­reut!

Sie setz­te sich auf einen Kü­chen­stuhl, starr­te in die bläu­li­che Gas­flam­me und dach­te an die­sen Tag zu­rück. Ge­re­de, nichts wie Ge­re­de. Seit sie dem Vor­ste­her des Am­tes er­öff­net hat­te, sie wol­le aus der Par­tei aus­tre­ten und das so­fort, hat­te es nur noch Ge­re­de ge­ge­ben. Sie war von ih­rem Be­stell­gang be­freit wor­den, aber da­für war sie un­un­ter­bro­chen ver­nom­men wor­den; vor al­lem woll­ten sie durch­aus von ihr er­fah­ren, warum sie denn aus der Par­tei aus­zu­tre­ten wünsch­te. Was für Grün­de sie denn habe. Sie hat­te starr und un­ver­än­dert geant­wor­tet: »Das geht kei­nen was an. Dar­über sprech ich nicht, warum ich raus will. Und das heu­te noch!«

Aber je mehr sie sich wei­ger­te, umso hart­nä­cki­ger wur­den die. Al­les an­de­re schi­en sie nicht zu in­ter­es­sie­ren, nur das ›Wa­rum‹ woll­ten sie er­fah­ren. Ge­gen Mit­tag wa­ren dann noch zwei Zi­vi­lis­ten mit Ak­ten­ta­schen auf­ge­taucht und hat­ten sie un­un­ter­bro­chen be­fragt. Ihr gan­zes Le­ben soll­te sie er­zäh­len, von den El­tern, den Ge­schwis­tern, ih­rer Ehe …

Erst war sie ganz be­reit­wil­lig ge­we­sen, froh, dem end­lo­sen Ge­fra­ge über die Grün­de ih­res Austritts zu ent­ge­hen. Aber dann, schon als sie von ih­rer Ehe be­rich­ten soll­te, war sie wie­der bock­bei­nig ge­wor­den. Nach der Ehe wür­den die Kin­der dran­kom­men, und sie wür­de nicht von Kar­le­mann er­zäh­len kön­nen, ohne dass die­se ge­witz­ten Füch­se merk­ten, dass da et­was nicht stimm­te.

Nein, auch dar­über sag­te sie nichts aus. Auch das war pri­vat. Ihre Ehe und ihre Kin­der gin­gen nie­man­den et­was an.

Aber die­se Leu­te wa­ren zähe. Sie wuss­ten vie­le Wege. Der eine griff in sei­ne Ak­ten­ta­sche und fing an, in ei­nem Ak­ten­stück zu le­sen. Sie hät­te ger­ne ge­wusst, was er da las: Es konn­te doch über sie nicht solch ein Ak­ten­stück bei der Kri­mi­nal­po­li­zei ge­ben, denn dass die­se Zi­vi­lis­ten ir­gend­was Po­li­zei­li­ches wa­ren, das hat­te sie un­ter­des doch ge­merkt.

Dann fin­gen sie wie­der an zu fra­gen, und nun er­wies es sich, dass in dem Ak­ten­stück et­was über Enno ste­hen muss­te. Denn nun wur­de sie über sei­ne Krank­hei­ten, sei­ne Ar­beits­scheu, sei­ne Wett­lei­den­schaft und über sei­ne Wei­ber aus­ge­fragt. Es fing wie­der ganz harm­los an, dann plötz­lich sah sie die Ge­fahr, schloss fest den Mund und sag­te nichts mehr.

Nein, auch das war pri­vat. Es ging kei­nen was an. Was sie mit ih­rem Mann hat­te, das war ihre Sa­che al­lein. Üb­ri­gens leb­te sie ge­trennt von dem Man­ne.

Da war sie wie­der er­wi­scht. Seit wann sie ge­trennt von ihm lebe? Wann hat­te sie ihn zum letz­ten Male ge­se­hen? Hing ihr Wunsch nach Austritt aus der Par­tei etwa mit dem Man­ne zu­sam­men?

Sie schüt­tel­te nur den Kopf. Aber sie dach­te mit Schau­dern dar­an, dass sie sich wahr­schein­lich nun den Enno vor­neh­men wür­den, und aus dem schlap­pen Kerl wür­den sie in ei­ner hal­b­en Stun­de al­les aus­ge­quetscht ha­ben! Dann stand sie mit ih­rer Schan­de, von der bis­her sie al­lein wuss­te, vor al­len nackt und bloß da. Dann schrie­ben sie wo­mög­lich über sie, und auf der Par­tei wür­den sie end­los über die Mut­ter schwät­zen, die solch einen Sohn ge­bo­ren hat­te.

»Pri­vat! Rein pri­vat!«

Die Brief­trä­ge­rin, die in Ge­dan­ken ver­lo­ren das Zit­tern und Be­ben des blau­en Gas­flämm­chens be­ob­ach­tet hat, fährt zu­sam­men. Sie hat vor­hin einen schwe­ren Feh­ler be­gan­gen, sie hat­te ja Ge­le­gen­heit, den Enno für ein paar Wo­chen zu ver­ste­cken. Sie brauch­te ihm nur für ein paar Wo­chen Geld zu ge­ben und die Wei­sung, sich bei ei­ner sei­ner Freun­din­nen zu ver­ste­cken.

Sie klin­gelt bei der Gesch. »Hö­ren Sie, Frau Gesch, ich habe es mir noch mal über­legt, ich möch­te we­nigs­tens ein paar Wor­te mit mei­nem Man­ne spre­chen!«

Jetzt, wo die an­de­re ihr den Wil­len tut, wird die Gesch böse. »Das hät­ten Sie sich eher über­le­gen müs­sen. Jetzt ist Ihr Mann fort, schon gute zwan­zig Mi­nu­ten. Nun kom­men Sie zu spät!«

»Wo ist er denn hin, Frau Gesch?«

»Wie soll ich das denn wis­sen? Wo Sie ihn raus­ge­schmis­sen ha­ben! Bei eine von sei­nen Wei­bern wohl!«

»Wis­sen Sie nicht, zu wel­cher? Bit­te, sa­gen Sie es doch, Frau Gesch! Es ist wirk­lich sehr wich­tig …«

 

»Auf ein­mal!« Und wi­der­wil­lig setzt die Gesch hin­zu: »Er hat was von ’ner Tut­ti ge­sagt …«

»Tut­ti?«, fragt sie. »Das soll doch Tru­de, Ger­trud be­deu­ten … Wis­sen Sie den an­de­ren Na­men nicht, Frau Gesch?«

»Er hat ihn ja sel­ber nicht ge­wusst! Er hat nicht mal ge­nau ge­wusst, wo sie wohnt, er hat bloß ge­dacht, er fin­d’t sie. Aber bei dem Zu­stand, in dem der Mann ist …«

»Vi­el­leicht kommt er noch mal wie­der«, sagt Frau Eva Klu­ge nach­denk­lich. »Dann schi­cken Sie ihn zu mir. Je­den­falls dan­ke ich Ih­nen schön, Frau Gesch. Gu­ten Abend!«

Aber die Gesch grüßt nicht zu­rück, sie knallt bei sich die Tür zu. Sie hat noch nicht ver­ges­sen, wie die an­de­re ihr vor­hin die Tür vor der Nase zu­ge­macht hat. Das ist noch lan­ge nicht raus, dass sie den Mann schickt, wenn er wirk­lich noch mal hier auf­taucht. So ’ne Frau soll sich zur rech­ten Zeit be­sin­nen, nach­her ist es manch­mal zu spät.

Frau Klu­ge ist in ihre Kü­che zu­rück­ge­kehrt. Es ist selt­sam: ob­wohl doch das Ge­spräch eben mit der Gesch ohne Er­geb­nis ge­blie­ben ist, hat es sie er­leich­tert. Die Din­ge müs­sen eben ih­ren Lauf neh­men. Sie hat ge­tan, was sie tun konn­te, sich sau­ber zu hal­ten. Sie hat sich vom Va­ter wie vom Soh­ne los­ge­sagt, sie wird sie au­s­til­gen aus ih­rem Her­zen. Sie hat ih­ren Austritt aus der Par­tei er­klärt. Nun ge­schieht, was ge­sche­hen muss. Sie kann das nicht än­dern, auch das Schlimms­te kann sie nicht mehr sehr schre­cken, nach dem, was sie durch­ge­macht hat.

Es hat sie auch nicht sehr er­schre­cken kön­nen, als die bei­den ver­neh­men­den Zi­vi­lis­ten vom nutz­lo­sen Fra­gen zum Dro­hen über­ge­gan­gen sind. Sie wis­se doch wohl, dass solch ein Austritt aus der Par­tei sie ihre Stel­lung bei der Post kos­ten kön­ne? Und noch viel mehr: wenn sie jetzt, un­ter Ver­wei­ge­rung von Grün­den, aus der Par­tei aus­tre­ten wol­le, so sei sie po­li­tisch un­zu­ver­läs­sig, und für sol­che gebe es so et­was wie ein KZ! Sie habe doch wohl schon da­von ge­hört? Da kön­ne man po­li­tisch Un­zu­ver­läs­si­ge sehr rasch zu­ver­läs­sig ma­chen, fürs gan­ze Le­ben sei­en die zu­ver­läs­sig. Sie ver­ste­he doch!

Frau Klu­ge hat­te kei­ne Angst be­kom­men. Sie ist da­bei ge­blie­ben, dass pri­vat pri­vat bleibt, und über Pri­va­tes re­det sie nicht. Schließ­lich hat man sie ge­hen las­sen. Nein, ihr Austritt aus der Par­tei ist vor­läu­fig nicht an­ge­nom­men, sie wird noch dar­über hö­ren. Aber vom Post­dienst ist sie vor­läu­fig sus­pen­diert. Sie hat sich aber in ih­rer Woh­nung zur Ver­fü­gung zu hal­ten …

Wäh­rend Eva Klu­ge den so lan­ge ver­ges­se­nen Sup­pentopf end­lich auf die Gas­flam­me rückt, be­schließt sie plötz­lich, auch in die­sem Punk­te nicht zu ge­hor­chen. Sie wird nicht ewig ta­ten­los in der Woh­nung sit­zen und auf die Quä­le­rei­en der Her­ren war­ten. Nein, sie wird mor­gen früh mit dem Sechs-Uhr-Zug zu ih­rer Schwes­ter bei Rup­pin fah­ren. Da kann sie zwei, drei Wo­chen un­an­ge­mel­det le­ben, die füt­tern sie schon so durch. Die ha­ben da Kuh und Schwei­ne und Kar­tof­fel­land. Sie wird ar­bei­ten, im Stall und auf dem Fel­de ar­bei­ten. Das wird ihr gut­tun, bes­ser als die­se Brief­trä­ge­rei für ewig: trab­trab!

Ihre Be­we­gun­gen sind, seit dem Be­schluss, aufs Land zu ge­hen, fri­scher ge­wor­den. Sie holt einen Hand­kof­fer her­vor und fängt an zu pa­cken. Ei­nen Au­gen­blick über­legt sie, ob sie Frau Gesch we­nigs­tens sa­gen soll, dass sie ver­reist, das Wo­hin braucht sie ihr ja nicht zu sa­gen. Aber sie be­schließt: nein, sie will lie­ber nichts sa­gen. Al­les, was sie nun tut, tut sie ganz für sich al­lein. Sie will kei­nen Men­schen da rein­zie­hen. Sie wird auch der Schwes­ter und dem Schwa­ger nichts sa­gen. Sie wird jetzt so al­lein le­ben wie noch nie. Im­mer war bis­her je­mand da, für den sie zu sor­gen hat­te: die El­tern, der Mann, die Kin­der. Nun ist sie al­lein. Es scheint ihr im Au­gen­blick sehr mög­lich, dass ihr die­ses Al­lein­sein gut ge­fal­len wird. Vi­el­leicht wird, wenn sie ganz al­lein mit sich ist, noch et­was aus ihr, jetzt, wo sie end­lich Zeit für sich sel­ber hat, das ei­ge­ne Ich nicht im­mer über all den an­de­ren ver­ges­sen muss.

In die­ser Nacht, die Frau Ro­sen­thal mit ih­rer Ein­sam­keit so ängs­tet, lä­chelt die Brief­trä­ge­rin Klu­ge zum ers­ten Mal wie­der im Schlaf. Träu­mend sieht sie sich auf ei­nem rie­si­gen Kar­tof­fela­cker ste­hen, die Ha­cke in den Hän­den. So weit sie sieht, nur Kar­tof­fel­land, und sie da­zwi­schen al­lein: Sie muss das Kar­tof­fel­land sau­ber­ha­cken. Sie lä­chelt, sie hebt die Ha­cke, hell klingt ein ge­trof­fe­ner Stein, ein Mel­dens­ten­gel1 sinkt um, sie hackt wei­ter und wei­ter.

1 eine der äl­tes­ten Kul­tur­pflan­zen und wird oder wur­de als Ge­mü­se, Salat-, Heil-, Fär­ber- so­wie Zier­pflan­ze ver­wen­det. <<<