Hans Fallada – Gesammelte Werke

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2

»Ap­fel­stra­ße?« fragt der Schu­po und sieht Ku­falt an. »Na na­tür­lich. Da ge­hen Sie hier run­ter und die zwei­te Qu­er­stra­ße rechts rein.«

»Dan­ke«, sagt Ku­falt und mar­schiert los. Hat’s mir auch an­ge­se­hen. Es muss an mei­ner gel­ben Far­be lie­gen. Ich woll­te, ich säh erst an­ders aus, kei­nen kann man ge­ra­de an­schau­en …

Ap­fel­stra­ße. Num­mer 28 soll es sein. »Ver­eins­haus der Stadt-Mis­si­on. Schlaf­sä­le über den Hof. Bett fünf­zig Pfen­nig.«

Das ist doch nicht das?

In dem Tor­weg steht ein di­cker Mann mit un­freund­li­chem Ge­sicht. Ku­falt geht ihm zö­gernd nä­her. Der Mann hat so eine be­son­de­re Müt­ze auf. Noch ehe Ku­falt bei ihm ist, schreit er los: »Was wol­len Sie denn jetzt schon? Um sie­ben wer­den die Schlaf­sä­le auf­ge­macht!«

Was ist das mit mir? fragt sich Ku­falt angst­voll. Ich bin doch ge­nau­so an­stän­dig ge­klei­det wie frü­her, und doch se­hen es mir alle gleich an. Er sagt: »Ich will doch nicht in die Schlaf­sä­le. Ich will nur fra­gen, ob hier Frie­dens­heim ist.«

»Frie­dens­heim? Mei­net­we­gen kön­nen Sie’s ja Frie­dens­heim nen­nen. Heu­te Abend. Mor­gen früh wer­den Sie’s wohl an­ders hei­ßen.«

»Frie­dens­heim ist ein Heim für stel­lungs­lo­se Kauf­leu­te.

Ist das auch hier?«

»Nein, das ist nicht hier.«

»Kön­nen Sie mir denn sa­gen, wo das ist?«

»Nein, was weiß ich, wo ihr Brü­der alle ab­bleibt.«

Der Mann geht in den Tor­weg, und Ku­falt tritt auf die Stra­ße zu­rück. Es ist zweck­los, hier wei­ter­zu­su­chen. Num­mer 28 stimmt. Es ist also doch in Ham­burg. Er fasst sei­nen Kof­fer fes­ter und geht wie­der ge­gen den Bahn­hof. –

Auf sein Klin­geln öff­net dem Ku­falt ein Mäd­chen in blau­er Schür­ze, jung, doch un­er­freu­lich an­zu­se­hen. Sie fi­xiert ihn, er fühlt das, wenn er es schon nicht se­hen kann, so stark schielt sie.

Wenn die nicht Für­sor­ge ist …, denkt Ku­falt. Aber hier bin ich rich­tig.

»Was wol­len Sie denn?« fragt das Mäd­chen im Ton der Ent­rüs­tung. »Wie­so kom­men Sie denn hier­her am Abend?«

»Ich soll in Frie­dens­heim auf­ge­nom­men wer­den.«

»Da­von weiß ich nichts. Ihr Geld ha­ben Sie ver­sau­beu­telt, und jetzt kom­men Sie zu uns. Sind Sie nüch­tern?« Sie geht ge­gen ihn an. »Ein biss­chen zu­rück, jun­ger Mann, ein biss­chen zu­rück ins Licht, dass ich se­hen kann, ob Sie nicht dun sind.«

Sie drängt ihn, Schritt um Schritt, bis er wie­der drau­ßen steht, da aber schrammt sie die Tür vor sei­ner Nase zu.

Ku­falt steht wie­der auf der Stra­ße oder, ge­nau­er, im ein­ge­git­ter­ten, ge­pflas­ter­ten »Vor­gar­ten«.

Was für ’ne Rübe! denkt er in­ter­es­siert und schielt zu den go­ti­schen Let­tern »Frie­dens­heim« em­por. Sehr fried­lich kann es nicht sein, wo die kom­man­diert.

Durch die Haus­tür hört er ihre gel­len­de Stim­me: »Herr Sei­den­zopf, es ist ei­ner da. Be­sof­fen ist er nicht. Hat ’nen Hand­kof­fer. Nee – kom­men Sie selbst run­ter, er steht drau­ßen im Gärt­chen.«

Dann Stil­le.

Es ist eine Vor­stadt­stra­ße, die Ap­fel­stra­ße in Ham­burg. Drei­ßig klei­ne zwei­stö­cki­ge Häu­schen wie das Frie­dens­heim, man­che noch mit rich­ti­gen Gär­ten und Baum und Busch, und acht­zig fünf­stö­cki­ge Miets­ka­ser­nen.

Vie­le Leu­te un­ter­wegs. Klei­ne Leu­te. Ku­falt hat das Ge­fühl, hier braucht er sich nicht zu ge­nie­ren, wenn sie auch alle er­ra­ten, wie­so er hier vor Frie­dens­heim mit sei­nem Hand­kof­fer steht. Die wis­sen Be­scheid, die regt das nicht mehr auf. Über­haupt hat ihm der Empfang nicht miss­fal­len, es war der bes­te Empfang von der Welt, ein ver­trau­ter Ton klang: Auch im Kitt­chen gab man ger­ne so an.

Mitt­ler­wei­le könn­te der so­ge­nann­te Sei­den­zopf kom­men.

Wie ge­ru­fen er­scheint er. Die Tür geht schnell auf, ein klei­ner Mann in schwar­zem, sehr wei­tem An­zug schiebt sich ge­schwind durch, und schon ist die Tür wie­der zu.

Herr Sei­den­zopf steht vor Wil­li Ku­falt, etwa an­zu­se­hen wie ein Schnauz­hund, so dicht ist sein Ge­sicht mit wol­li­gen schwar­zen Haa­ren be­wach­sen, aus de­nen nur eine blei­che große Nase und grel­le schwar­ze Au­gen leuch­ten. Das Kopf­haar aber ist glatt an­ge­klatscht und glänzt mit öli­gen Lich­tern.

Herr Sei­den­zopf be­trach­tet den jun­gen Mann lan­ge und schwei­gend. Die Be­trach­tung er­streckt sich nicht nur auf Ge­sicht und Hän­de, nein, Man­tel und Ho­sen, Schu­he und Hand­kof­fer, Kra­gen und Hut – al­les wird ge­nau be­sich­tigt.

Die Prü­fung ist schein­bar be­schlos­sen, der klei­ne Mann räus­pert sich. Sein Räus­pern er­folgt sehr laut in über­ra­schend tie­fem Bass.

»Ich kann war­ten«, ant­wor­tet Ku­falt be­schei­den.

»Kön­nen Sie es, so fragt es sich, ob es Zweck hat. An­ge­mel­det sind Sie nicht«, sagt der Mann. Sei­ne Stim­me ist ein lö­wen­haft brül­len­der Bass, ein paar Kin­der, die ihre Krei­sel schlu­gen, sam­meln sich am Git­ter.

»An­ge­mel­det bin ich. Und die An­mel­dung müss­te hier sein. Ich habe ges­tern früh schon un­ter­schrie­ben.«

»Ges­tern früh!« schreit der Klei­ne. »Und ›schon‹! Sie ver­ste­hen nichts, Sie wis­sen nichts, aber hier ste­hen Sie und sa­gen, Sie kön­nen war­ten.«

»Kann ich auch«, sagt Ku­falt, der im­mer lei­ser spricht, je mehr der Klei­ne brüllt.

»An­mel­dun­gen ge­hen zu­erst an un­se­ren Herrn Vor­sit­zen­den, Herrn Dia­ko­nus Dok­tor Her­mann Mar­ce­tus. In vier Ta­gen sind sie viel­leicht bei uns. – Kön­nen Sie so lan­ge vor der Tür war­ten?«

»Nein«, sagt Ku­falt, der das Ge­fühl hat, aus­ge­zeich­net auf­ge­nom­men zu sein.

Haupt­wacht­meis­ter Rusch hat es auch im­mer auf die Tour ge­macht, sagt er zu sich. So­viel Thea­ter macht man nur für je­man­den, an dem ei­nem ge­le­gen ist.

»Wenn Sie also nicht so lan­ge war­ten kön­nen, dann wer­den Sie fein bit­ten müs­sen, mein jun­ger Freund.« Mit ge­stei­ger­ter Stim­me: »Bit­ten ist kei­ne Schan­de, wie Sie viel­leicht den­ken wer­den, auch un­ser lie­ber Herr Je­sus Chris­tus hat sich nicht ge­schämt zu bit­ten, sei­ne Jün­ger so­wohl wie sei­nen himm­li­schen Va­ter.«

»Ich bit­te also um Auf­nah­me am heu­ti­gen Abend in das Frie­dens­heim«, sagt Ku­falt sanft.

»Se­hen Sie! Und wen bit­ten Sie …?«

»Herrn Sei­den­zopf, wenn ich recht ver­stan­den habe.«

»Auch. Aber sa­gen Sie Va­ter zu mir. Ich bin der Va­ter von euch al­len.« Mit ganz an­de­rer Stim­me, nicht mehr für das Pub­li­kum auf der Stra­ße be­rech­net: »Das an­de­re er­le­di­gen wir drin­nen. Nicht, dass ich Sie schon auf­ge­nom­men hät­te, aber …« Wie­der mit brül­len­der Stim­me, aber nun zur an­de­ren Stra­ßen­sei­te hin­über: »Es hat gar kei­nen Zweck, dass Sie da um­her­schlei­chen und lau­ern, Bert­hold. Habe Sie längst ge­se­hen. Sie krie­gen kein Bett bei mir, Sie krie­gen kein Es­sen bei mir, denn Sie sind wie­der – be­sof­fen! Ge­hen Sie da­hin!«

Die schlot­tern­de Ge­stalt drü­ben im Lo­den­man­tel hebt bei­de Arme und schreit in höchs­ter Fis­tel über die Stra­ße: »Er­bar­men Sie sich, Herr Sei­den­zopf! Wo soll ich denn schla­fen heu­te Nacht? In den An­la­gen ist es noch so kalt.«

Die Ge­stalt has­tet über die Stra­ße.

»Kom­men Sie rasch!« flüs­tert Sei­den­zopf. Die Tür öff­net sich, Ku­falt wird hin­durch­ge­drängt, Sei­den­zopf nach – und rasch schlägt sie vor dem na­hen­den Bert­hold zu. »Klin­gel ab­stel­len, Min­na!« brüllt Sei­den­zopf. »Bert­hold ist an der Tür!«

Der Vor­platz ist dun­kel, aber nicht so dun­kel, dass Ku­falt nicht auf ei­ner ins obe­re Stock­werk füh­ren­den Trep­pe zwei Frau­en­ge­stal­ten sähe, die eine die Maid von vor­hin, die an­de­re vo­lu­mi­nös, zer­flie­ßend, drei Stu­fen hö­her.

Von die­ser kommt die kla­gen­de, wei­ner­li­che Stim­me: »O Va­ter! Am spä­ten Abend bringst du noch einen Mann ins Heim. Si­cher ist er be­trun­ken und hat sein Geld ver­tan bei den Wei­bern, Va­ter. So spät kommt kei­ner aus dem Ge­fäng­nis, Va­ter!«

Und die hel­le schar­fe Stim­me der Schie­len­den: »Be­trun­ken ist er nicht, Frau Sei­den­zopf. Aus dem Kitt­chen kommt er frisch, kann kei­nen gra­de an­se­hen. Sei­ne Ho­sen sind ganz frisch ge­bü­gelt, noch nicht ver­knautscht, bei Wei­bern ist er also nicht ge­we­sen …«

»Stil­le!« brüllt der Löwe. »An euer Ge­schäft, Frau­en! Kein Wort mehr!«

Die bei­den Ge­stal­ten ent­schwin­den.

Durch die Tür klingt eine wei­ner­li­che Stim­me: »Va­ter Sei­den­zopf, wo soll ich schla­fen?! Va­ter Sei­den­zopf …«

»Husch! Husch!« macht Sei­den­zopf ge­gen die Tür. »Pf­licht ist es, dass auch manch­mal die Stim­me des Mit­leids schwei­ge … Kom­men Sie, jun­ger Freund.«

Durch das Schlüs­sel­loch jam­mert es: »Va­ter Sei­den­zopf, ach, Va­ter Sei­den­zopf …«

Sie aber ge­hen vom Flur in ein noch ei­ni­ger­ma­ßen hel­les Zim­mer. Auf einen Rie­sen­ses­sel mit Ohren­klap­pen hin­ter ei­nem Schreib­tisch setzt sich der Klei­ne, wie Fit­ti­che ste­hen die Ohren­klap­pen über sei­nem Haupt. Auf die an­de­re Sei­te des Schreib­ti­sches darf sich Ku­falt set­zen.

»Mei­ne Frau, jun­ger Freund«, sagt der Klei­ne, »hat die Sa­che ge­trof­fen. Wo kom­men Sie so spät noch her?«

»Aus dem Zen­tral­ge­fäng­nis.«

»Aber das Zen­tral­ge­fäng­nis ent­lässt um sie­ben Uhr früh. Sie hät­ten um zwölf Uhr hier sein kön­nen. Wo sind Sie so­lan­ge ge­we­sen?«

»Ich …«, fängt Ku­falt an.

Der Klei­ne rich­tet sich steil auf. »Halt, halt, mein Lie­ber! Re­den Sie nicht un­be­dacht­sam! Leicht ent­schlüpft uns eine Lüge. Sa­gen Sie lie­ber: Ich schä­me mich, es Ih­nen zu sa­gen, Va­ter. Dann wol­len wir eine Wei­le schwei­gen und be­den­ken, wie schwach wir sind, all­zu­mal.«

 

»Ich bin doch erst um ein Uhr zwan­zig ent­las­sen, Herr Sei­den­zopf.«

»Va­ter«, ver­bes­sert der. »Va­ter. Ich glau­be Ih­nen, Freund, aber bes­ser ist es, Sie zei­gen mir Ihren Ent­las­sungs­schein.«

Ku­falt nimmt sei­ne Brief­ta­sche, sucht, ent­nimmt ihr den Ent­las­sungs­schein und reicht ihn Herrn Sei­den­zopf.

Der kennt sol­che Din­ger, er wirft nur einen Blick dar­auf. »Gut. Sie ha­ben die Wahr­heit ge­spro­chen. Aber im­mer­hin … Nein, las­sen Sie die Brief­ta­sche auf dem Tisch lie­gen. Wir spre­chen so­fort dar­über. – Jetzt nur …«

Mit ei­nem Ruck wen­det sich der Klei­ne zum Fens­ter und trom­melt wild ge­gen die Schei­ben. »Gehst du weg? Gehst du weg? Soll ich die Po­li­zei ru­fen? Gehst du weg!«

Ku­falt sieht ge­ra­de noch das blei­che langnä­si­ge Ge­sicht Bert­holds hin­ter der Schei­be ver­schwin­den.

Sei­den­zopf aber sagt strah­lend: »Angst hat er vor mir! Ha­ben Sie ge­se­hen, was er für Angst hat vor mir? Ja, wir ma­chen kei­ne Wipp­chen. Wir sind streng. Streng muss man sein mit den Ver­lo­re­nen, streng und mild. – Nun aber zu uns. Auch noch mit ein Uhr zwan­zig hät­ten Sie eine Stun­de frü­her hier sein kön­nen!«

»Ich bin erst in Al­to­na in die Ap­fel­stra­ße ge­gan­gen, das war gut eine Stun­de hier­her zu lau­fen mit dem schwe­ren Hand­kof­fer.«

»Kom­men Sie rum!« ruft Sei­den­zopf. »Kom­men Sie rum! Se­hen Sie doch mal Ihre Brief­ta­sche!« Er hat sie ge­öff­net und sieht stau­nend in ein Fach, in dem nichts zu sein scheint.

Ku­falt blickt, un­ge­wiss, ab­war­tend, sieht nichts wie ein lee­res Fach.

»Pus­ten Sie doch rein, Mensch. Se­hen Sie da nicht die Spin­ne?«

Ku­falt sieht kei­ne, aber er pus­tet kräf­tig.

Sei­den­zopf schnup­pert. »Al­ko­hol ha­ben Sie ge­trun­ken, jun­ger Freund! Aber nicht viel. Ein Glas, nicht wahr? Na ja, aber Sie soll­ten es ganz las­sen. Se­hen Sie den Bert­hold, so ein klu­ger Mensch, ein Mann mit Ge­müt und Re­li­gio­si­tät, aber säuft. Drei­mal schon hat er das Ge­lüb­de im Blau­en Kreuz ab­ge­legt – ich bin da der Lei­ter, ich kam vom Blau­en Kreuz als Va­ter in die­ses Frie­dens­heim – und im­mer ge­bro­chen! Im­mer ge­bro­chen!«

»Ich hät­te Sie auch so an­ge­pus­tet, ohne Thea­ter.«

»Glaub ich, glaub ich. Sie sind ein ehr­li­cher Mensch. Ich sehe es Ih­nen an. An Ih­nen wer­den wir Freu­de ha­ben, Sie sol­len mal se­hen, wie Sie bei uns hoch­kom­men. – Na, und Ihr Geld, das ge­ben Sie mir in Ver­wah­rung …«

»Nein. Mein Geld will ich be­hal­ten.«

»Aber, aber, Sie wol­len doch nicht, dass es Ih­nen ab­han­den­kommt? Sie wis­sen doch, was wir hier für Gäs­te ha­ben! Wir haf­ten nicht, wenn Sie’s bei sich be­hal­ten. Und na­tür­lich be­kom­men Sie eine Quit­tung, und wenn Sie was brau­chen, gebe ich Ih­nen was. So: vier­hun­dert­neun Mark sie­ben­und­sieb­zig. Gleich die Quit­tung.«

Ku­falt sieht sein Geld är­ger­lich an. »Aber ich brau­che Geld, so­fort. Ich muss So­cken­hal­ter kau­fen und Haus­schu­he. Ich bin die Le­der­schu­he nicht ge­wöhnt, mei­ne Füße tun mir weh.«

»Sie wer­den sich dar­an ge­wöh­nen. Ich gebe Ih­nen drei Mark. Aber Sie ge­hen acht­sam mit dem Geld um, nicht wahr? Drei Mark sind schwer ver­dient.«

»Ich brau­che min­des­tens zehn Mark«, sagt Ku­falt mür­risch.

»O was! O was! Sind wir Mil­lio­näre? Sie kön­nen ja im­mer fri­sches ha­ben, wenn die drei Mark alle sind. Sie krie­gen’s, lie­ber Freund. Aber wenn man erst zu Va­ter Sei­den­zopf ge­hen muss, über­legt man sich’s zwei­mal. Und wie­der hat man Geld ge­spart.«

Der Klei­ne ist schon am Schrank, die Brief­ta­sche ist fort.

Hätt ich das ge­ahnt, denkt Ku­falt ver­blüfft, hätt ich mir was bei­sei­te ge­steckt. Im­mer wie­der fällt man auf die­se Brü­der rein.

»Und nun un­ter­schrei­ben Sie noch schnell die Hei­m­ord­nung und die Schreib­stu­ben­ord­nung, und dann ge­hen Sie hin­auf und pa­cken aus und rüs­ten Ihr Bett.«

»Kön­nen wir nicht Licht ma­chen?« fragt Ku­falt, vor dem zwei eng­ge­druck­te For­mu­la­re lie­gen. »Ich möch­te doch auch ger­ne wis­sen, was ich un­ter­schrei­be.«

»Das wol­len Sie al­les le­sen? Lie­ber Freund, was hat denn das für einen Sinn? Tau­send Men­schen ha­ben das un­ter­schrie­ben, da wer­den Sie’s doch auch un­ter­schrei­ben.«

»Aber wis­sen möcht ich doch, was hier los ist. Las­sen Sie mich lie­ber le­sen.«

»Aber Sie är­gern sich un­nütz, lie­ber Freund. Na­tür­lich, wenn Sie wol­len. Am Fens­ter ist noch Licht ge­nug.«

Am Fens­ter ist nicht mehr Licht ge­nug. Ku­falt sieht nach dem Schal­ter, auf die däm­me­ri­ge Stra­ße, in den Vor­gar­ten. Da hockt eine Ge­stalt, ein blei­ches, weiß­na­si­ges Ge­schöpf, und macht Gri­mas­sen zu ihm hin. »Da sitzt doch der Bert­hold!« ruft er.

»Wo …? Oh, die­ser Un­glück­se­li­ge! Nun muss ich ihn wie­der weg­schaf­fen las­sen durch die Po­li­zei. Lie­ber Herr Ku­falt, tun Sie mir die Lie­be, un­ter­schrei­ben Sie schnell. Ich muss zu dem Un­se­li­gen, das Är­ger­nis muss weg. Un­ser Haus darf nicht auf­fal­len, ein wah­res Frie­dens­heim muss es sein. Se­hen Sie, nun ha­ben Sie un­ter­schrie­ben. Ich schüt­te­le Ihre Hand. Mein Sohn sind Sie nun. Gott seg­ne Ihren Ein­gang.«

»In­ter­kon­fes­sio­nell ist das Heim aber doch?« grinst Ku­falt.

»Aber na­tür­lich! Ganz in­ter­kon­fes­sio­nell! Min­na, brin­gen Sie Herrn Ku­falt sei­ne Bett­wä­sche und ein Hand­tuch. Min­na, dies ist Ihr Bru­der Ku­falt. Ku­falt, dies ist Ihre Schwes­ter Min­na.«

Ogot­to­gott, denkt Ku­falt.

»Gebt euch die Hand. Na­tür­lich nennt ihr euch wei­ter Sie. Ku­falt, ein­fach die Trep­pe hin­auf. Su­chen Sie sich Ihr Bett aus. Sie sind jetzt hier zu Haus. Sie wer­den einen Bru­der oben fin­den …«

»Der spinnt ja, Va­ter«, sagt Min­na, das Mäd­chen im Frie­dens­heim.

»Ja, er ist krank. Er ist krank noch, der Bru­der Beer­boom, lie­be Min­na. Die lan­ge Haft …«

»Er hat mich ge­fragt, ob ich mit ihm aus­ge­hen will«, sagt Min­na mit den Schielau­gen.

»Oh! Oh! Oh! Aber es braucht nichts Un­sitt­li­ches zu sein, wenn er mit Ih­nen aus­ge­hen möch­te, na­tür­lich wer­de ich ihn aber ver­mah­nen. Ge­hen Sie jetzt, Ku­falt, ich muss zu dem ge­fal­le­nen Bru­der.«

Ein Blick aus dem Fens­ter zeigt Ku­falt, dass sein Bru­der Bert­hold wirk­lich ge­fal­len ist: Jetzt kriecht er auf al­len vie­ren durch den Vor­gar­ten und trägt sei­nen Hut in den Zäh­nen.

»Ich muss wirk­lich die Wa­che an­ru­fen«, sagt Sei­den­zopf an­ge­sichts der Men­ge, die sich am Git­ter des Vor­gar­tens drängt.

Er reißt das Fens­ter auf und ruft: »Geht doch fort, ihr Neu­gie­ri­gen, ihr Gaf­fer! Er­barmt sich euer Herz nicht …«

Eine gro­be Stim­me ruft aus der Men­ge: »Wol­le-Ted­dy, mach dir kei­nen Fleck ins Hem­de …«

Ku­falt tas­tet sich die fast dunkle Trep­pe hin­auf.

3

Oben auf dem Flur ist es kaum noch hell. Mit Mühe un­ter­schei­det Ku­falt eine Tür. Er drückt auf die Klin­ke, und die Tür geht auf. Ein dunk­ler Raum, der groß zu sein scheint. Ku­falts Hän­de su­chen nach dem Schal­ter, fin­den ihn schließ­lich, das Licht brennt, eine funz­li­ge Sech­zehn-Ker­zen-Bir­ne in ei­ner lan­gen Schlucht.

Zwölf schnur­ge­ra­de aus­ge­rich­te­te Bet­ten. Zwölf schmal­brüs­ti­ge schwar­ze Schrän­ke. Dazu ein ein­zi­ger ei­che­ner Tisch.

Üp­pig ist das nicht, denkt Ku­falt, das trau­li­che Frie­dens­heim. We­nigs­tens sind die Fens­ter nicht ver­git­tert. Sonst ist es ei­gent­lich Kitt­chen. Die Bet­ten sind auch nicht bes­ser.

Erst jetzt sieht er, dass auch die Bett­wä­sche über sei­nem Arm Ge­fäng­nis­bett­wä­sche ist, blau ge­wür­felt. Ha­ben sie ge­schnorrt von der Jus­tiz­ver­wal­tung. – Hier wohnt je­den­falls kei­ner. Wol­len mal die nächs­te Tür ver­su­chen.

Die nächs­te Tür ist ver­schlos­sen.

Die letz­te Tür führt in einen er­leuch­te­ten Raum, wo auf ei­nem Bett ein Mann liegt. Der Mann hebt den Kopf, be­trach­tet Ku­falt und sagt: »Na, bist du end­lich auch da, ol­ler Knast­schie­ber, Stub­ben, elen­der? Wird Zeit. Wie viel ab­ge­ris­sen? Hat dir Wol­le-Ted­dy Geld ge­las­sen? Hast du Schnaps im Kof­fer? Hast dich schon aus­ge­schlämmt vom Knast bei den klei­nen Mäd­chen …?«

»Gu­ten Abend«, sagt Ku­falt.

Der Mann steht auf und lacht ver­le­gen. Es ist ein mit­tel­großer, brei­ter Kerl mit grau­er le­der­ar­ti­ger Haut, dunklen, stump­fen, schwar­zen Au­gen, krau­sem, schwar­zem Haar. »Ent­schul­di­gen Sie bloß. Die­se Be­grü­ßung soll­te näm­lich ein Witz sein. Wir sind ja jetzt in der so­ge­nann­ten gol­de­nen Frei­heit. Mein Name ist Beer­boom …«

»Ku­falt«, sagt Ku­falt.

»Mein Va­ter ist Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor, kennt mich aber nicht mehr. Elf Jah­re Zet ab­ge­ris­sen, we­gen Raub­mord. Ich hab ’ne klei­ne Schwes­ter, die war süß, muss jetzt ein großes Mä­del sein. Ha­ben Sie ’ne Schwes­ter?«

»Ja.«

»So. Ich möch­te mei­ne ger­ne wie­der­se­hen. Darf aber nicht. Mein Va­ter mel­det mich so­fort bei der Po­len­te, wenn ich in sein Kaff kom­me und – Schluss mit der Be­wäh­rungs­frist! Wenn ich Sie üb­ri­gens stö­re, da­hin­ten ist noch ein Zim­mer, da kön­nen Sie auch schla­fen.«

»Ich will mal se­hen«, sagt Ku­falt. »Sind wir die bei­den ein­zi­gen hier?«

»Ja. Ich bin zwei Tage hier. Dach­te schon, ich blie­be der ein­zi­ge Idi­ot, der frei­wil­lig in die­se Bes­se­rungs­an­stalt geht. Ich hau mich wie­der hin. Bis zum Abendes­sen ist noch ’ne hal­be Stun­de Zeit.«

»Ich will mal se­hen«, sagt Ku­falt zu dem Raum hin, der hin­ter die­sem liegt.

»Ge­nie­ren Sie sich nicht. Kann ich ver­ste­hen, ich ver­ste­he al­les. Üb­ri­gens heu­le ich meis­tens abends vor dem Ein­schla­fen ’ne Stun­de, wür­de Sie stö­ren. Im Zet ha­ben sie mich des­we­gen auf Ge­mein­schaft im­mer ver­trimmt, ich kann es aber nicht las­sen. Ist üb­ri­gens ein gu­ter Name, Ku­falt, ich den­ke an Ein­falt und Drei­fal­tig­keit. Was ist ei­gent­lich Drei­fal­tig­keit?«

»Ir­gend­was mit dem Hei­li­gen Geist. Ich weiß auch nicht. – Ich will jetzt aber mal se­hen …«

»Ge­hen Sie ru­hig los, Mensch, Ku­falt, Hei­li­ger Geist. Ge­nie­ren Sie sich nicht. Ich rede im­mer wei­ter, wenn ich ’nen Men­schen sehe. Hab ich mir so an­ge­wöhnt im Knast. Brau­chen Sie nicht zu­zu­hö­ren. Ich hör auch nicht zu …«

»Also, dann gehe ich …«

»Ha­ben Sie schon ge­se­hen, das Af­fen­thea­ter mit den Fens­tern? Schlim­mer als im Kitt­chen. Kei­ne Git­ter, nee, aber die schma­len Schei­ben ge­hen im­mer nur zehn Zen­ti­me­ter weit um ’ne Stahl­ach­se. Und Rah­men und Leis­ten sind Ei­sen. Tür­men, nachts auf die klei­nen Mäd­chen, mul­le, mul­le, ol­ler Je­nie­ßer, is nich. Va­ter Sei­den­zopf, der weiß Be­scheid.«

»Ich gehe also.«

»Mensch, ge­hen Sie doch! Sie sind ge­nau­so ein Trot­tel wie ich. Wenn ich abends heu­le, denk ich im­mer, so ’nen Idio­ten wie mich gib­t’s nicht wie­der. Es gibt aber auch an­de­re. Zum Bei­spiel Sie, dass Sie hier im­mer noch ste­hen …«

»Bin schon drü­ben«, sagt Ku­falt und lacht.

Das Zim­mer da­hin­ter ist ge­nau­so ein Loch, vier kah­le Wän­de, vier schma­le Schrän­ke, vier un­be­zo­ge­ne Bet­ten. Ku­falt wählt das Bett an der Wand zu­hin­terst. Er wirft den Kof­fer auf das Bett und schließt ihn auf. Die Schrank­tür steht of­fen, kein Schlüs­sel steckt dar­in. Das Schloss ist auch nur Tin­nef, Blech, eine Zu­hal­te, mit je­dem Draht auf­zutän­deln. Ku­falt pro­biert dar­an her­um.

»Kleb den Schrank mit Spu­cke zu«, ruft der von drü­ben. »Hab bloß kei­ne Angst um dein Ge­lum­pe. Wenn ich’s dir schon klau­te, ich käm ja nicht raus aus dem Haus, das Schiel­au­ge passt uns auf, noch und noch …«

»Und mit der woll­ten Sie aus­ge­hen?« fragt Ku­falt und legt sei­ne Ober­hem­den in den Schrank.

»Wa­rum nicht, Weib ist Weib. Hat sie’s also dem Wol­le-Ted­dy er­zählt. Na war­te, Ma­rie­chen! Der la­ckie­ren wir auch mal die Fassa­de. Es passt schon mal so …«

Ku­falt packt aus. Der ist ja alle, denkt er. Der spinnt ja. Elf Jah­re Zet, der ist hübsch gründ­lich fer­tig ge­wor­den, der wird nicht wie­der.

Er packt wei­ter aus. Plötz­lich steht der an­de­re in der Tür, laut­los auf So­cken an­ge­schli­chen. »Ein rich­ti­ger Raub­mord war es gar nicht. Hab mei­nen Leut­nant alle ge­macht, und als das Schwein dalag, dacht ich erst dar­an, dass ich kein Geld zum Tür­men hat­te. – Sau­be­re Sa­chen hast du, muss man sa­gen. Mir ha­ben sie im Zet lau­ter Po­wel ge­ge­ben, mei­ne Sa­chen wa­ren ja alle hin vom lan­gen Lie­gen. Die Hem­den nichts wie Baum­wol­le. Und der An­zug – was ist denn das für ein An­zug? So ein Ding von der Stan­ge – drei­ßig Mark. Aber der Pfaf­fe, der schwar­ze Mann, hat mich nie aus­ste­hen kön­nen. Ver­kau­fen Sie die So­cken? Die mag ich. Was wol­len Sie ha­ben für die li­la­nen?«

 

»Nein, ver­kau­fen nicht«, ant­wor­tet Ku­falt. »Aber ich schen­ke sie Ih­nen, ich mag sie nicht be­son­ders.«

»Im­mer her da­mit, wenn ei­ner so dumm ist. – Erst war das Ur­teil: Kohl­rü­be weg bei mir, dann le­bens­läng­lich, dann fünf­zehn Jah­re. Und jetzt mit elf ha­ben sie mich raus­ge­las­sen. Und da­bei kei­ne gute Füh­rung, kei­ne Für­spra­che. Und doch raus? Weil mein Fall stinkt, zum Him­mel stinkt er. Zu den Ro­ten müss­te man ge­hen und de­nen er­zäh­len …«

»Jetzt sind Sie ja drau­ßen.«

»Aber Po­li­zei­auf­sicht. Ver­lust der Ehren­rech­te auf Le­bens­zeit. Ach was, ich scheiß auf die Ehren­rech­te, ich will gar kei­ne Ehre von de­nen ha­ben. Aber dem Pfaf­fen möcht ich es be­sor­gen. In vier Wo­chen kommt er hier­her, un­ser Pfaf­fe aus dem Zucht­haus. Wis­sen Sie, dass die hier dann fünf­und­zwan­zig­jäh­ri­ges Ju­bi­lä­um fei­ern, die hier vom Frie­dens­heim …?«

»Nee.«

»Räu­ber sind das hier. Der ge­öl­te Aal, der Sei­den­zopf, ist ein Räu­ber, aber die kal­te Was­ser­schlan­ge, der Pfaf­fe, der Mar­ce­tus, der ist noch zehn­mal so schlimm, und am schlimms­ten ist der Bü­ro­vor­ste­her, der Eier­kopf, der Mer­gen­thal. Von un­serm Blut le­ben die. Des­we­gen ha­ben die doch den gan­zen Ap­pa­rat hier auf­ge­macht, die Speck­jä­ger, so­ge­nann­te Wohl­tä­tig­keit, dass die was zu fres­sen ha­ben durch un­se­re Ar­beit. Ich könn­te Ih­nen was er­zäh­len …«

»Sie sind doch erst zwei Tage hier …?«

»Wie­so denn? – Wol­len wir rau­chen? Es ist ver­bo­ten, aber die schmei­ßen uns nicht raus, so­lan­ge sie so we­nig Leu­te im Heim ha­ben. Eine sto­ßen, zum Fens­ter raus, ge­nau wie im Zet … Was das Er­zäh­len an­geht, ich seh was, wis­sen Sie, ir­gend­was, der Pfaf­fe sagt: ›Ge­hen Sie da rauf!‹, oder Sei­den­zopf: ›Sie sind ein Lüg­ner!‹ Und wenn ich dann abends im Bett lie­ge und heu­le, dann spinn ich das aus, dann mach ich mir Ge­schich­ten da draus, dann seh ich durch die Wän­de, dar­um wei­ne ich ja auch, weil ich mir so leid tue …«

»Jetzt ha­ben Sie es ja über­stan­den.«

»Gar nicht über­stan­den. Mein Lie­ber, jetzt geht es los. Jetzt fängt es erst rich­tig an. Wenn ich hier aus die­sem Heim raus­kom­me, dann in ’ne Klaps­müh­le oder wie­der ins Zet, was an­de­res gibt es nicht. – Hö­ren Sie bloß, was für ein Krach! Kom­men Sie, wol­len mal lau­schen, oben an der Trep­pe. Schmei­ßen Sie die Kip­pe nicht zum Fens­ter raus, drau­ßen ist der Heim­gar­ten, da fin­det sie mor­gen sonst Schie­le­bock …«

Ein tol­ler Lärm bran­det von un­ten her­auf. Sei­den­zopfs Bass rollt tief und so­nor, spitz schreit die Min­na, Frau Sei­den­zopf pro­tes­tiert wei­ner­lich in den höchs­ten Tö­nen, da­zwi­schen eine fle­hen­de Stim­me …

»Ich for­de­re Sie auf«, schreit Sei­den­zopf. »Ver­las­sen Sie die­ses Haus, des­sen Sie un­wür­dig …«

Die fle­hen­de Stim­me schreit: »Er­bar­men Sie sich, Va­ter!«

Ku­falt flüs­tert: »Das ist der Sauf­kopp, der Bert­hold …«

Und Beer­boom: »Wel­cher Bert­hold …?«

»Haus­frie­dens­bruch«, grunzt Sei­den­zopf. »Zum ers­ten. Zum zwei­ten. Zum drit­ten …«

Ein schwe­rer Fall.

Die Wei­ber krei­schen: »Ogot­to­got­to­got­to­got­to­gott!«

Sei­den­zopf: »Mich täu­schen Sie nicht …«

Frau Sei­den­zopf jam­mert: »Er blu­tet …«

Und Min­na: »Mein schö­nes blan­kes Lin­ole­um!«

Sei­den­zopf brüllt: »Herr Beer­boom! Herr Ku­falt! Ich bit­te Sie …«

In fünf Sprün­gen sind sie die Trep­pe hin­un­ter. Auf der Erde, in sei­nem Lo­den­man­tel, mit of­fe­nem Mund, bleich, be­wusst­los, mit blu­tig ge­schla­ge­ner Stirn, liegt Bert­hold.

»Ich bit­te Sie, mei­ne Söh­ne, tra­gen Sie den Un­glück­se­li­gen in Ihr Ge­mach. Auf die Stirn ge­nügt eine nas­se Kom­pres­se. Min­na, ge­ben Sie Ihrem Bru­der Ku­falt ein Hand­tuch …«

Es ist nicht ganz leicht, einen Be­wusst­lo­sen, des­sen Glie­der schwer wie Blei sind und die Ten­denz ha­ben, wie Queck­sil­ber fort­zu­rol­len, eine stei­le, schlecht­be­leuch­te­te Trep­pe hin­auf­zu­tra­gen, de­ren Lin­ole­um­be­lag eis­glatt ist.

»Le­gen Sie ihn hier auf das Bett ne­ben mei­nem«, sagt Beer­boom. »Dann kann ich ihm im­mer eins in die Fres­se ge­ben, wenn er heu­te Nacht auf­wacht, so was macht mir Lau­ne …«

»Ich will ihm gleich einen Um­schlag ma­chen.«

»I was! Der braucht doch kei­nen Um­schlag für das biss­chen Schram­men. Soll­ten Sie ge­se­hen ha­ben, wie die mich manch­mal im Zet in der Ma­che ge­habt ha­ben!«

»Wa­rum ha­ben Sie denn so ’ne Wut auf den Bert­hold? Der hat Ih­nen doch nichts ge­tan.«

»Ich woll­te, ich wäre so schön be­sof­fen wie der! Das kann einen doch nei­disch ma­chen. Das letz­te Mal war ich’s Weih­nach­ten 28 im Zet, da ha­ben wir Mö­bel­spi­ri­tus aus der Tisch­le­rei ge­trun­ken …«

»Gu­ten Abend, Kin­der«, sagt der Be­trun­ke­ne und rich­tet sich auf. »Bin schein­bar ein biss­chen dol­ler ge­fal­len als be­ab­sich­tigt. Na, Wol­le-Ted­dy hat klein bei­ge­ge­ben, hat mich doch wie­der auf­ge­nom­men! Was dem mor­gen sein Pas­tor für ’nen Marsch bla­sen wird!«

»Sie sind ja gar nicht be­sof­fen«, sagt Beer­boom mür­risch. »Dann ist es eine Ge­mein­heit, sich so die Trep­pen rauf­schlep­pen zu las­sen.«

»Na­tür­lich bin ich be­sof­fen. Nur so wie ihr Kind­lein kann ich nicht mehr be­sof­fen sein. Ich bin frei, wenn ich trin­ke. Ihr seid ge­fan­gen, wenn ihr trinkt. Ich kann al­les, wenn ich trin­ke. Ihr gar nichts. Kin­der, ich habe eine glän­zen­de Idee. Ei­ner von euch, du da, du Dun­kel­blon­der, du siehst so un­ver­dor­ben aus, du sagst Ted­dy, dass du noch mal auf die Stra­ße musst, und holst ’ne Fla­sche Schnaps.«

»Quatsch«, sagt Beer­boom. »Der lässt uns jetzt um acht doch nicht mehr aus dem Haus. Und wer gibt Geld?«

»Geld. Geld. Ihr habt doch Geld, ihr Kitt­chen­jung­fern. Ihr ar­bei­tet doch für Geld. Ich – seht mei­ne Hän­de, nichts kann ich mehr hal­ten, so einen Tat­te­rich.«

»Bist noch stolz drauf, ol­les Sauf­loch!«

»Nein«, schluchzt Bert­hold. »Eine Pla­ge ist das. Und ich tu jetzt dem Ted­dy auch die Lie­be. Ich tret wie­der dem Blau­en Kreuz bei. Ich schwör den Schwur. Und ich halt ihn auch. Ein Mann muss kön­nen, was er will. Und wenn ich ihn nicht hal­te, fan­ge ich nur ganz, ganz lang­sam zu sau­fen an …«

»Sag mal«, fragt Beer­boom, »bist du ei­gent­lich vor­be­straft?«

Bert­hold grient schon wie­der. »Nee, mein Jun­ge, nichts zu ma­chen. Ich bin nur Säu­fer und ar­beits­scheu.«

»Und was willst du da hier?« fragt Beer­boom wü­tend. »Das ist hier für Vor­be­straf­te! Ar­bei­ten willst du nicht, aber fres­sen willst du. Sol­len wir etwa für dich ar­bei­ten …?«

»Fang doch kei­nen Streit an«, jam­mert der Be­trun­ke­ne. »Ich ver­trag kei­nen Streit. Ich bin so glück­lich, dass ich bei oll Vad­der Ted­dy bin. – Hör zu, ich hab ’ne glän­zen­de Idee. War­te, hier in der Ta­sche habe ich was.« Er kramt und bringt einen Block zum Vor­schein. »Re­zep­te. Re­zept­for­mu­la­re. Hab ich heu­te früh ei­nem Arzt ge­klaut.«

»Wie kommst du denn zu ei­nem Arzt?«

»Bin ein­fach in sei­ne Sprech­stun­de ge­gan­gen, das kann man doch. Wie ich drin bin in sei­nem Zim­mer, bit­te ich ihn um ein Dar­le­hen von fünf Mark. Er sagt, es ist eine Frech­heit, ich soll ma­chen, dass ich raus­kom­me. Ich sag, ich geh erst, wenn ich fünf Mark habe. Er rennt rum wie ein Huhn ohne Kopf, ich bleib ru­hig sit­zen. Schließ­lich läuft er nach Leu­ten zum Raus­schmei­ßen. Un­ter­des hab ich die Re­zep­te ge­klaut und mich lei­se ver­drückt.«

»Und? Wozu? Was willst du denn mit den Re­zep­ten?«

»Das ist doch das Fei­ne. Da schrei­ben wir Mor­phi­um drauf und Koks und so’­ne gu­ten Sa­chen und ver­scheu­ern das nach­her vor den Nacht­lo­ka­len.«