»Apfelstraße?« fragt der Schupo und sieht Kufalt an. »Na natürlich. Da gehen Sie hier runter und die zweite Querstraße rechts rein.«
»Danke«, sagt Kufalt und marschiert los. Hat’s mir auch angesehen. Es muss an meiner gelben Farbe liegen. Ich wollte, ich säh erst anders aus, keinen kann man gerade anschauen …
Apfelstraße. Nummer 28 soll es sein. »Vereinshaus der Stadt-Mission. Schlafsäle über den Hof. Bett fünfzig Pfennig.«
Das ist doch nicht das?
In dem Torweg steht ein dicker Mann mit unfreundlichem Gesicht. Kufalt geht ihm zögernd näher. Der Mann hat so eine besondere Mütze auf. Noch ehe Kufalt bei ihm ist, schreit er los: »Was wollen Sie denn jetzt schon? Um sieben werden die Schlafsäle aufgemacht!«
Was ist das mit mir? fragt sich Kufalt angstvoll. Ich bin doch genauso anständig gekleidet wie früher, und doch sehen es mir alle gleich an. Er sagt: »Ich will doch nicht in die Schlafsäle. Ich will nur fragen, ob hier Friedensheim ist.«
»Friedensheim? Meinetwegen können Sie’s ja Friedensheim nennen. Heute Abend. Morgen früh werden Sie’s wohl anders heißen.«
»Friedensheim ist ein Heim für stellungslose Kaufleute.
Ist das auch hier?«
»Nein, das ist nicht hier.«
»Können Sie mir denn sagen, wo das ist?«
»Nein, was weiß ich, wo ihr Brüder alle abbleibt.«
Der Mann geht in den Torweg, und Kufalt tritt auf die Straße zurück. Es ist zwecklos, hier weiterzusuchen. Nummer 28 stimmt. Es ist also doch in Hamburg. Er fasst seinen Koffer fester und geht wieder gegen den Bahnhof. –
Auf sein Klingeln öffnet dem Kufalt ein Mädchen in blauer Schürze, jung, doch unerfreulich anzusehen. Sie fixiert ihn, er fühlt das, wenn er es schon nicht sehen kann, so stark schielt sie.
Wenn die nicht Fürsorge ist …, denkt Kufalt. Aber hier bin ich richtig.
»Was wollen Sie denn?« fragt das Mädchen im Ton der Entrüstung. »Wieso kommen Sie denn hierher am Abend?«
»Ich soll in Friedensheim aufgenommen werden.«
»Davon weiß ich nichts. Ihr Geld haben Sie versaubeutelt, und jetzt kommen Sie zu uns. Sind Sie nüchtern?« Sie geht gegen ihn an. »Ein bisschen zurück, junger Mann, ein bisschen zurück ins Licht, dass ich sehen kann, ob Sie nicht dun sind.«
Sie drängt ihn, Schritt um Schritt, bis er wieder draußen steht, da aber schrammt sie die Tür vor seiner Nase zu.
Kufalt steht wieder auf der Straße oder, genauer, im eingegitterten, gepflasterten »Vorgarten«.
Was für ’ne Rübe! denkt er interessiert und schielt zu den gotischen Lettern »Friedensheim« empor. Sehr friedlich kann es nicht sein, wo die kommandiert.
Durch die Haustür hört er ihre gellende Stimme: »Herr Seidenzopf, es ist einer da. Besoffen ist er nicht. Hat ’nen Handkoffer. Nee – kommen Sie selbst runter, er steht draußen im Gärtchen.«
Dann Stille.
Es ist eine Vorstadtstraße, die Apfelstraße in Hamburg. Dreißig kleine zweistöckige Häuschen wie das Friedensheim, manche noch mit richtigen Gärten und Baum und Busch, und achtzig fünfstöckige Mietskasernen.
Viele Leute unterwegs. Kleine Leute. Kufalt hat das Gefühl, hier braucht er sich nicht zu genieren, wenn sie auch alle erraten, wieso er hier vor Friedensheim mit seinem Handkoffer steht. Die wissen Bescheid, die regt das nicht mehr auf. Überhaupt hat ihm der Empfang nicht missfallen, es war der beste Empfang von der Welt, ein vertrauter Ton klang: Auch im Kittchen gab man gerne so an.
Mittlerweile könnte der sogenannte Seidenzopf kommen.
Wie gerufen erscheint er. Die Tür geht schnell auf, ein kleiner Mann in schwarzem, sehr weitem Anzug schiebt sich geschwind durch, und schon ist die Tür wieder zu.
Herr Seidenzopf steht vor Willi Kufalt, etwa anzusehen wie ein Schnauzhund, so dicht ist sein Gesicht mit wolligen schwarzen Haaren bewachsen, aus denen nur eine bleiche große Nase und grelle schwarze Augen leuchten. Das Kopfhaar aber ist glatt angeklatscht und glänzt mit öligen Lichtern.
Herr Seidenzopf betrachtet den jungen Mann lange und schweigend. Die Betrachtung erstreckt sich nicht nur auf Gesicht und Hände, nein, Mantel und Hosen, Schuhe und Handkoffer, Kragen und Hut – alles wird genau besichtigt.
Die Prüfung ist scheinbar beschlossen, der kleine Mann räuspert sich. Sein Räuspern erfolgt sehr laut in überraschend tiefem Bass.
»Ich kann warten«, antwortet Kufalt bescheiden.
»Können Sie es, so fragt es sich, ob es Zweck hat. Angemeldet sind Sie nicht«, sagt der Mann. Seine Stimme ist ein löwenhaft brüllender Bass, ein paar Kinder, die ihre Kreisel schlugen, sammeln sich am Gitter.
»Angemeldet bin ich. Und die Anmeldung müsste hier sein. Ich habe gestern früh schon unterschrieben.«
»Gestern früh!« schreit der Kleine. »Und ›schon‹! Sie verstehen nichts, Sie wissen nichts, aber hier stehen Sie und sagen, Sie können warten.«
»Kann ich auch«, sagt Kufalt, der immer leiser spricht, je mehr der Kleine brüllt.
»Anmeldungen gehen zuerst an unseren Herrn Vorsitzenden, Herrn Diakonus Doktor Hermann Marcetus. In vier Tagen sind sie vielleicht bei uns. – Können Sie so lange vor der Tür warten?«
»Nein«, sagt Kufalt, der das Gefühl hat, ausgezeichnet aufgenommen zu sein.
Hauptwachtmeister Rusch hat es auch immer auf die Tour gemacht, sagt er zu sich. Soviel Theater macht man nur für jemanden, an dem einem gelegen ist.
»Wenn Sie also nicht so lange warten können, dann werden Sie fein bitten müssen, mein junger Freund.« Mit gesteigerter Stimme: »Bitten ist keine Schande, wie Sie vielleicht denken werden, auch unser lieber Herr Jesus Christus hat sich nicht geschämt zu bitten, seine Jünger sowohl wie seinen himmlischen Vater.«
»Ich bitte also um Aufnahme am heutigen Abend in das Friedensheim«, sagt Kufalt sanft.
»Sehen Sie! Und wen bitten Sie …?«
»Herrn Seidenzopf, wenn ich recht verstanden habe.«
»Auch. Aber sagen Sie Vater zu mir. Ich bin der Vater von euch allen.« Mit ganz anderer Stimme, nicht mehr für das Publikum auf der Straße berechnet: »Das andere erledigen wir drinnen. Nicht, dass ich Sie schon aufgenommen hätte, aber …« Wieder mit brüllender Stimme, aber nun zur anderen Straßenseite hinüber: »Es hat gar keinen Zweck, dass Sie da umherschleichen und lauern, Berthold. Habe Sie längst gesehen. Sie kriegen kein Bett bei mir, Sie kriegen kein Essen bei mir, denn Sie sind wieder – besoffen! Gehen Sie dahin!«
Die schlotternde Gestalt drüben im Lodenmantel hebt beide Arme und schreit in höchster Fistel über die Straße: »Erbarmen Sie sich, Herr Seidenzopf! Wo soll ich denn schlafen heute Nacht? In den Anlagen ist es noch so kalt.«
Die Gestalt hastet über die Straße.
»Kommen Sie rasch!« flüstert Seidenzopf. Die Tür öffnet sich, Kufalt wird hindurchgedrängt, Seidenzopf nach – und rasch schlägt sie vor dem nahenden Berthold zu. »Klingel abstellen, Minna!« brüllt Seidenzopf. »Berthold ist an der Tür!«
Der Vorplatz ist dunkel, aber nicht so dunkel, dass Kufalt nicht auf einer ins obere Stockwerk führenden Treppe zwei Frauengestalten sähe, die eine die Maid von vorhin, die andere voluminös, zerfließend, drei Stufen höher.
Von dieser kommt die klagende, weinerliche Stimme: »O Vater! Am späten Abend bringst du noch einen Mann ins Heim. Sicher ist er betrunken und hat sein Geld vertan bei den Weibern, Vater. So spät kommt keiner aus dem Gefängnis, Vater!«
Und die helle scharfe Stimme der Schielenden: »Betrunken ist er nicht, Frau Seidenzopf. Aus dem Kittchen kommt er frisch, kann keinen grade ansehen. Seine Hosen sind ganz frisch gebügelt, noch nicht verknautscht, bei Weibern ist er also nicht gewesen …«
»Stille!« brüllt der Löwe. »An euer Geschäft, Frauen! Kein Wort mehr!«
Die beiden Gestalten entschwinden.
Durch die Tür klingt eine weinerliche Stimme: »Vater Seidenzopf, wo soll ich schlafen?! Vater Seidenzopf …«
»Husch! Husch!« macht Seidenzopf gegen die Tür. »Pflicht ist es, dass auch manchmal die Stimme des Mitleids schweige … Kommen Sie, junger Freund.«
Durch das Schlüsselloch jammert es: »Vater Seidenzopf, ach, Vater Seidenzopf …«
Sie aber gehen vom Flur in ein noch einigermaßen helles Zimmer. Auf einen Riesensessel mit Ohrenklappen hinter einem Schreibtisch setzt sich der Kleine, wie Fittiche stehen die Ohrenklappen über seinem Haupt. Auf die andere Seite des Schreibtisches darf sich Kufalt setzen.
»Meine Frau, junger Freund«, sagt der Kleine, »hat die Sache getroffen. Wo kommen Sie so spät noch her?«
»Aus dem Zentralgefängnis.«
»Aber das Zentralgefängnis entlässt um sieben Uhr früh. Sie hätten um zwölf Uhr hier sein können. Wo sind Sie solange gewesen?«
»Ich …«, fängt Kufalt an.
Der Kleine richtet sich steil auf. »Halt, halt, mein Lieber! Reden Sie nicht unbedachtsam! Leicht entschlüpft uns eine Lüge. Sagen Sie lieber: Ich schäme mich, es Ihnen zu sagen, Vater. Dann wollen wir eine Weile schweigen und bedenken, wie schwach wir sind, allzumal.«
»Ich bin doch erst um ein Uhr zwanzig entlassen, Herr Seidenzopf.«
»Vater«, verbessert der. »Vater. Ich glaube Ihnen, Freund, aber besser ist es, Sie zeigen mir Ihren Entlassungsschein.«
Kufalt nimmt seine Brieftasche, sucht, entnimmt ihr den Entlassungsschein und reicht ihn Herrn Seidenzopf.
Der kennt solche Dinger, er wirft nur einen Blick darauf. »Gut. Sie haben die Wahrheit gesprochen. Aber immerhin … Nein, lassen Sie die Brieftasche auf dem Tisch liegen. Wir sprechen sofort darüber. – Jetzt nur …«
Mit einem Ruck wendet sich der Kleine zum Fenster und trommelt wild gegen die Scheiben. »Gehst du weg? Gehst du weg? Soll ich die Polizei rufen? Gehst du weg!«
Kufalt sieht gerade noch das bleiche langnäsige Gesicht Bertholds hinter der Scheibe verschwinden.
Seidenzopf aber sagt strahlend: »Angst hat er vor mir! Haben Sie gesehen, was er für Angst hat vor mir? Ja, wir machen keine Wippchen. Wir sind streng. Streng muss man sein mit den Verlorenen, streng und mild. – Nun aber zu uns. Auch noch mit ein Uhr zwanzig hätten Sie eine Stunde früher hier sein können!«
»Ich bin erst in Altona in die Apfelstraße gegangen, das war gut eine Stunde hierher zu laufen mit dem schweren Handkoffer.«
»Kommen Sie rum!« ruft Seidenzopf. »Kommen Sie rum! Sehen Sie doch mal Ihre Brieftasche!« Er hat sie geöffnet und sieht staunend in ein Fach, in dem nichts zu sein scheint.
Kufalt blickt, ungewiss, abwartend, sieht nichts wie ein leeres Fach.
»Pusten Sie doch rein, Mensch. Sehen Sie da nicht die Spinne?«
Kufalt sieht keine, aber er pustet kräftig.
Seidenzopf schnuppert. »Alkohol haben Sie getrunken, junger Freund! Aber nicht viel. Ein Glas, nicht wahr? Na ja, aber Sie sollten es ganz lassen. Sehen Sie den Berthold, so ein kluger Mensch, ein Mann mit Gemüt und Religiosität, aber säuft. Dreimal schon hat er das Gelübde im Blauen Kreuz abgelegt – ich bin da der Leiter, ich kam vom Blauen Kreuz als Vater in dieses Friedensheim – und immer gebrochen! Immer gebrochen!«
»Ich hätte Sie auch so angepustet, ohne Theater.«
»Glaub ich, glaub ich. Sie sind ein ehrlicher Mensch. Ich sehe es Ihnen an. An Ihnen werden wir Freude haben, Sie sollen mal sehen, wie Sie bei uns hochkommen. – Na, und Ihr Geld, das geben Sie mir in Verwahrung …«
»Nein. Mein Geld will ich behalten.«
»Aber, aber, Sie wollen doch nicht, dass es Ihnen abhandenkommt? Sie wissen doch, was wir hier für Gäste haben! Wir haften nicht, wenn Sie’s bei sich behalten. Und natürlich bekommen Sie eine Quittung, und wenn Sie was brauchen, gebe ich Ihnen was. So: vierhundertneun Mark siebenundsiebzig. Gleich die Quittung.«
Kufalt sieht sein Geld ärgerlich an. »Aber ich brauche Geld, sofort. Ich muss Sockenhalter kaufen und Hausschuhe. Ich bin die Lederschuhe nicht gewöhnt, meine Füße tun mir weh.«
»Sie werden sich daran gewöhnen. Ich gebe Ihnen drei Mark. Aber Sie gehen achtsam mit dem Geld um, nicht wahr? Drei Mark sind schwer verdient.«
»Ich brauche mindestens zehn Mark«, sagt Kufalt mürrisch.
»O was! O was! Sind wir Millionäre? Sie können ja immer frisches haben, wenn die drei Mark alle sind. Sie kriegen’s, lieber Freund. Aber wenn man erst zu Vater Seidenzopf gehen muss, überlegt man sich’s zweimal. Und wieder hat man Geld gespart.«
Der Kleine ist schon am Schrank, die Brieftasche ist fort.
Hätt ich das geahnt, denkt Kufalt verblüfft, hätt ich mir was beiseite gesteckt. Immer wieder fällt man auf diese Brüder rein.
»Und nun unterschreiben Sie noch schnell die Heimordnung und die Schreibstubenordnung, und dann gehen Sie hinauf und packen aus und rüsten Ihr Bett.«
»Können wir nicht Licht machen?« fragt Kufalt, vor dem zwei enggedruckte Formulare liegen. »Ich möchte doch auch gerne wissen, was ich unterschreibe.«
»Das wollen Sie alles lesen? Lieber Freund, was hat denn das für einen Sinn? Tausend Menschen haben das unterschrieben, da werden Sie’s doch auch unterschreiben.«
»Aber wissen möcht ich doch, was hier los ist. Lassen Sie mich lieber lesen.«
»Aber Sie ärgern sich unnütz, lieber Freund. Natürlich, wenn Sie wollen. Am Fenster ist noch Licht genug.«
Am Fenster ist nicht mehr Licht genug. Kufalt sieht nach dem Schalter, auf die dämmerige Straße, in den Vorgarten. Da hockt eine Gestalt, ein bleiches, weißnasiges Geschöpf, und macht Grimassen zu ihm hin. »Da sitzt doch der Berthold!« ruft er.
»Wo …? Oh, dieser Unglückselige! Nun muss ich ihn wieder wegschaffen lassen durch die Polizei. Lieber Herr Kufalt, tun Sie mir die Liebe, unterschreiben Sie schnell. Ich muss zu dem Unseligen, das Ärgernis muss weg. Unser Haus darf nicht auffallen, ein wahres Friedensheim muss es sein. Sehen Sie, nun haben Sie unterschrieben. Ich schüttele Ihre Hand. Mein Sohn sind Sie nun. Gott segne Ihren Eingang.«
»Interkonfessionell ist das Heim aber doch?« grinst Kufalt.
»Aber natürlich! Ganz interkonfessionell! Minna, bringen Sie Herrn Kufalt seine Bettwäsche und ein Handtuch. Minna, dies ist Ihr Bruder Kufalt. Kufalt, dies ist Ihre Schwester Minna.«
Ogottogott, denkt Kufalt.
»Gebt euch die Hand. Natürlich nennt ihr euch weiter Sie. Kufalt, einfach die Treppe hinauf. Suchen Sie sich Ihr Bett aus. Sie sind jetzt hier zu Haus. Sie werden einen Bruder oben finden …«
»Der spinnt ja, Vater«, sagt Minna, das Mädchen im Friedensheim.
»Ja, er ist krank. Er ist krank noch, der Bruder Beerboom, liebe Minna. Die lange Haft …«
»Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen will«, sagt Minna mit den Schielaugen.
»Oh! Oh! Oh! Aber es braucht nichts Unsittliches zu sein, wenn er mit Ihnen ausgehen möchte, natürlich werde ich ihn aber vermahnen. Gehen Sie jetzt, Kufalt, ich muss zu dem gefallenen Bruder.«
Ein Blick aus dem Fenster zeigt Kufalt, dass sein Bruder Berthold wirklich gefallen ist: Jetzt kriecht er auf allen vieren durch den Vorgarten und trägt seinen Hut in den Zähnen.
»Ich muss wirklich die Wache anrufen«, sagt Seidenzopf angesichts der Menge, die sich am Gitter des Vorgartens drängt.
Er reißt das Fenster auf und ruft: »Geht doch fort, ihr Neugierigen, ihr Gaffer! Erbarmt sich euer Herz nicht …«
Eine grobe Stimme ruft aus der Menge: »Wolle-Teddy, mach dir keinen Fleck ins Hemde …«
Kufalt tastet sich die fast dunkle Treppe hinauf.
Oben auf dem Flur ist es kaum noch hell. Mit Mühe unterscheidet Kufalt eine Tür. Er drückt auf die Klinke, und die Tür geht auf. Ein dunkler Raum, der groß zu sein scheint. Kufalts Hände suchen nach dem Schalter, finden ihn schließlich, das Licht brennt, eine funzlige Sechzehn-Kerzen-Birne in einer langen Schlucht.
Zwölf schnurgerade ausgerichtete Betten. Zwölf schmalbrüstige schwarze Schränke. Dazu ein einziger eichener Tisch.
Üppig ist das nicht, denkt Kufalt, das trauliche Friedensheim. Wenigstens sind die Fenster nicht vergittert. Sonst ist es eigentlich Kittchen. Die Betten sind auch nicht besser.
Erst jetzt sieht er, dass auch die Bettwäsche über seinem Arm Gefängnisbettwäsche ist, blau gewürfelt. Haben sie geschnorrt von der Justizverwaltung. – Hier wohnt jedenfalls keiner. Wollen mal die nächste Tür versuchen.
Die nächste Tür ist verschlossen.
Die letzte Tür führt in einen erleuchteten Raum, wo auf einem Bett ein Mann liegt. Der Mann hebt den Kopf, betrachtet Kufalt und sagt: »Na, bist du endlich auch da, oller Knastschieber, Stubben, elender? Wird Zeit. Wie viel abgerissen? Hat dir Wolle-Teddy Geld gelassen? Hast du Schnaps im Koffer? Hast dich schon ausgeschlämmt vom Knast bei den kleinen Mädchen …?«
»Guten Abend«, sagt Kufalt.
Der Mann steht auf und lacht verlegen. Es ist ein mittelgroßer, breiter Kerl mit grauer lederartiger Haut, dunklen, stumpfen, schwarzen Augen, krausem, schwarzem Haar. »Entschuldigen Sie bloß. Diese Begrüßung sollte nämlich ein Witz sein. Wir sind ja jetzt in der sogenannten goldenen Freiheit. Mein Name ist Beerboom …«
»Kufalt«, sagt Kufalt.
»Mein Vater ist Universitätsprofessor, kennt mich aber nicht mehr. Elf Jahre Zet abgerissen, wegen Raubmord. Ich hab ’ne kleine Schwester, die war süß, muss jetzt ein großes Mädel sein. Haben Sie ’ne Schwester?«
»Ja.«
»So. Ich möchte meine gerne wiedersehen. Darf aber nicht. Mein Vater meldet mich sofort bei der Polente, wenn ich in sein Kaff komme und – Schluss mit der Bewährungsfrist! Wenn ich Sie übrigens störe, dahinten ist noch ein Zimmer, da können Sie auch schlafen.«
»Ich will mal sehen«, sagt Kufalt. »Sind wir die beiden einzigen hier?«
»Ja. Ich bin zwei Tage hier. Dachte schon, ich bliebe der einzige Idiot, der freiwillig in diese Besserungsanstalt geht. Ich hau mich wieder hin. Bis zum Abendessen ist noch ’ne halbe Stunde Zeit.«
»Ich will mal sehen«, sagt Kufalt zu dem Raum hin, der hinter diesem liegt.
»Genieren Sie sich nicht. Kann ich verstehen, ich verstehe alles. Übrigens heule ich meistens abends vor dem Einschlafen ’ne Stunde, würde Sie stören. Im Zet haben sie mich deswegen auf Gemeinschaft immer vertrimmt, ich kann es aber nicht lassen. Ist übrigens ein guter Name, Kufalt, ich denke an Einfalt und Dreifaltigkeit. Was ist eigentlich Dreifaltigkeit?«
»Irgendwas mit dem Heiligen Geist. Ich weiß auch nicht. – Ich will jetzt aber mal sehen …«
»Gehen Sie ruhig los, Mensch, Kufalt, Heiliger Geist. Genieren Sie sich nicht. Ich rede immer weiter, wenn ich ’nen Menschen sehe. Hab ich mir so angewöhnt im Knast. Brauchen Sie nicht zuzuhören. Ich hör auch nicht zu …«
»Also, dann gehe ich …«
»Haben Sie schon gesehen, das Affentheater mit den Fenstern? Schlimmer als im Kittchen. Keine Gitter, nee, aber die schmalen Scheiben gehen immer nur zehn Zentimeter weit um ’ne Stahlachse. Und Rahmen und Leisten sind Eisen. Türmen, nachts auf die kleinen Mädchen, mulle, mulle, oller Jenießer, is nich. Vater Seidenzopf, der weiß Bescheid.«
»Ich gehe also.«
»Mensch, gehen Sie doch! Sie sind genauso ein Trottel wie ich. Wenn ich abends heule, denk ich immer, so ’nen Idioten wie mich gibt’s nicht wieder. Es gibt aber auch andere. Zum Beispiel Sie, dass Sie hier immer noch stehen …«
»Bin schon drüben«, sagt Kufalt und lacht.
Das Zimmer dahinter ist genauso ein Loch, vier kahle Wände, vier schmale Schränke, vier unbezogene Betten. Kufalt wählt das Bett an der Wand zuhinterst. Er wirft den Koffer auf das Bett und schließt ihn auf. Die Schranktür steht offen, kein Schlüssel steckt darin. Das Schloss ist auch nur Tinnef, Blech, eine Zuhalte, mit jedem Draht aufzutändeln. Kufalt probiert daran herum.
»Kleb den Schrank mit Spucke zu«, ruft der von drüben. »Hab bloß keine Angst um dein Gelumpe. Wenn ich’s dir schon klaute, ich käm ja nicht raus aus dem Haus, das Schielauge passt uns auf, noch und noch …«
»Und mit der wollten Sie ausgehen?« fragt Kufalt und legt seine Oberhemden in den Schrank.
»Warum nicht, Weib ist Weib. Hat sie’s also dem Wolle-Teddy erzählt. Na warte, Mariechen! Der lackieren wir auch mal die Fassade. Es passt schon mal so …«
Kufalt packt aus. Der ist ja alle, denkt er. Der spinnt ja. Elf Jahre Zet, der ist hübsch gründlich fertig geworden, der wird nicht wieder.
Er packt weiter aus. Plötzlich steht der andere in der Tür, lautlos auf Socken angeschlichen. »Ein richtiger Raubmord war es gar nicht. Hab meinen Leutnant alle gemacht, und als das Schwein dalag, dacht ich erst daran, dass ich kein Geld zum Türmen hatte. – Saubere Sachen hast du, muss man sagen. Mir haben sie im Zet lauter Powel gegeben, meine Sachen waren ja alle hin vom langen Liegen. Die Hemden nichts wie Baumwolle. Und der Anzug – was ist denn das für ein Anzug? So ein Ding von der Stange – dreißig Mark. Aber der Pfaffe, der schwarze Mann, hat mich nie ausstehen können. Verkaufen Sie die Socken? Die mag ich. Was wollen Sie haben für die lilanen?«
»Nein, verkaufen nicht«, antwortet Kufalt. »Aber ich schenke sie Ihnen, ich mag sie nicht besonders.«
»Immer her damit, wenn einer so dumm ist. – Erst war das Urteil: Kohlrübe weg bei mir, dann lebenslänglich, dann fünfzehn Jahre. Und jetzt mit elf haben sie mich rausgelassen. Und dabei keine gute Führung, keine Fürsprache. Und doch raus? Weil mein Fall stinkt, zum Himmel stinkt er. Zu den Roten müsste man gehen und denen erzählen …«
»Jetzt sind Sie ja draußen.«
»Aber Polizeiaufsicht. Verlust der Ehrenrechte auf Lebenszeit. Ach was, ich scheiß auf die Ehrenrechte, ich will gar keine Ehre von denen haben. Aber dem Pfaffen möcht ich es besorgen. In vier Wochen kommt er hierher, unser Pfaffe aus dem Zuchthaus. Wissen Sie, dass die hier dann fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feiern, die hier vom Friedensheim …?«
»Nee.«
»Räuber sind das hier. Der geölte Aal, der Seidenzopf, ist ein Räuber, aber die kalte Wasserschlange, der Pfaffe, der Marcetus, der ist noch zehnmal so schlimm, und am schlimmsten ist der Bürovorsteher, der Eierkopf, der Mergenthal. Von unserm Blut leben die. Deswegen haben die doch den ganzen Apparat hier aufgemacht, die Speckjäger, sogenannte Wohltätigkeit, dass die was zu fressen haben durch unsere Arbeit. Ich könnte Ihnen was erzählen …«
»Sie sind doch erst zwei Tage hier …?«
»Wieso denn? – Wollen wir rauchen? Es ist verboten, aber die schmeißen uns nicht raus, solange sie so wenig Leute im Heim haben. Eine stoßen, zum Fenster raus, genau wie im Zet … Was das Erzählen angeht, ich seh was, wissen Sie, irgendwas, der Pfaffe sagt: ›Gehen Sie da rauf!‹, oder Seidenzopf: ›Sie sind ein Lügner!‹ Und wenn ich dann abends im Bett liege und heule, dann spinn ich das aus, dann mach ich mir Geschichten da draus, dann seh ich durch die Wände, darum weine ich ja auch, weil ich mir so leid tue …«
»Jetzt haben Sie es ja überstanden.«
»Gar nicht überstanden. Mein Lieber, jetzt geht es los. Jetzt fängt es erst richtig an. Wenn ich hier aus diesem Heim rauskomme, dann in ’ne Klapsmühle oder wieder ins Zet, was anderes gibt es nicht. – Hören Sie bloß, was für ein Krach! Kommen Sie, wollen mal lauschen, oben an der Treppe. Schmeißen Sie die Kippe nicht zum Fenster raus, draußen ist der Heimgarten, da findet sie morgen sonst Schielebock …«
Ein toller Lärm brandet von unten herauf. Seidenzopfs Bass rollt tief und sonor, spitz schreit die Minna, Frau Seidenzopf protestiert weinerlich in den höchsten Tönen, dazwischen eine flehende Stimme …
»Ich fordere Sie auf«, schreit Seidenzopf. »Verlassen Sie dieses Haus, dessen Sie unwürdig …«
Die flehende Stimme schreit: »Erbarmen Sie sich, Vater!«
Kufalt flüstert: »Das ist der Saufkopp, der Berthold …«
Und Beerboom: »Welcher Berthold …?«
»Hausfriedensbruch«, grunzt Seidenzopf. »Zum ersten. Zum zweiten. Zum dritten …«
Ein schwerer Fall.
Die Weiber kreischen: »Ogottogottogottogottogott!«
Seidenzopf: »Mich täuschen Sie nicht …«
Frau Seidenzopf jammert: »Er blutet …«
Und Minna: »Mein schönes blankes Linoleum!«
Seidenzopf brüllt: »Herr Beerboom! Herr Kufalt! Ich bitte Sie …«
In fünf Sprüngen sind sie die Treppe hinunter. Auf der Erde, in seinem Lodenmantel, mit offenem Mund, bleich, bewusstlos, mit blutig geschlagener Stirn, liegt Berthold.
»Ich bitte Sie, meine Söhne, tragen Sie den Unglückseligen in Ihr Gemach. Auf die Stirn genügt eine nasse Kompresse. Minna, geben Sie Ihrem Bruder Kufalt ein Handtuch …«
Es ist nicht ganz leicht, einen Bewusstlosen, dessen Glieder schwer wie Blei sind und die Tendenz haben, wie Quecksilber fortzurollen, eine steile, schlechtbeleuchtete Treppe hinaufzutragen, deren Linoleumbelag eisglatt ist.
»Legen Sie ihn hier auf das Bett neben meinem«, sagt Beerboom. »Dann kann ich ihm immer eins in die Fresse geben, wenn er heute Nacht aufwacht, so was macht mir Laune …«
»Ich will ihm gleich einen Umschlag machen.«
»I was! Der braucht doch keinen Umschlag für das bisschen Schrammen. Sollten Sie gesehen haben, wie die mich manchmal im Zet in der Mache gehabt haben!«
»Warum haben Sie denn so ’ne Wut auf den Berthold? Der hat Ihnen doch nichts getan.«
»Ich wollte, ich wäre so schön besoffen wie der! Das kann einen doch neidisch machen. Das letzte Mal war ich’s Weihnachten 28 im Zet, da haben wir Möbelspiritus aus der Tischlerei getrunken …«
»Guten Abend, Kinder«, sagt der Betrunkene und richtet sich auf. »Bin scheinbar ein bisschen doller gefallen als beabsichtigt. Na, Wolle-Teddy hat klein beigegeben, hat mich doch wieder aufgenommen! Was dem morgen sein Pastor für ’nen Marsch blasen wird!«
»Sie sind ja gar nicht besoffen«, sagt Beerboom mürrisch. »Dann ist es eine Gemeinheit, sich so die Treppen raufschleppen zu lassen.«
»Natürlich bin ich besoffen. Nur so wie ihr Kindlein kann ich nicht mehr besoffen sein. Ich bin frei, wenn ich trinke. Ihr seid gefangen, wenn ihr trinkt. Ich kann alles, wenn ich trinke. Ihr gar nichts. Kinder, ich habe eine glänzende Idee. Einer von euch, du da, du Dunkelblonder, du siehst so unverdorben aus, du sagst Teddy, dass du noch mal auf die Straße musst, und holst ’ne Flasche Schnaps.«
»Quatsch«, sagt Beerboom. »Der lässt uns jetzt um acht doch nicht mehr aus dem Haus. Und wer gibt Geld?«
»Geld. Geld. Ihr habt doch Geld, ihr Kittchenjungfern. Ihr arbeitet doch für Geld. Ich – seht meine Hände, nichts kann ich mehr halten, so einen Tatterich.«
»Bist noch stolz drauf, olles Saufloch!«
»Nein«, schluchzt Berthold. »Eine Plage ist das. Und ich tu jetzt dem Teddy auch die Liebe. Ich tret wieder dem Blauen Kreuz bei. Ich schwör den Schwur. Und ich halt ihn auch. Ein Mann muss können, was er will. Und wenn ich ihn nicht halte, fange ich nur ganz, ganz langsam zu saufen an …«
»Sag mal«, fragt Beerboom, »bist du eigentlich vorbestraft?«
Berthold grient schon wieder. »Nee, mein Junge, nichts zu machen. Ich bin nur Säufer und arbeitsscheu.«
»Und was willst du da hier?« fragt Beerboom wütend. »Das ist hier für Vorbestrafte! Arbeiten willst du nicht, aber fressen willst du. Sollen wir etwa für dich arbeiten …?«
»Fang doch keinen Streit an«, jammert der Betrunkene. »Ich vertrag keinen Streit. Ich bin so glücklich, dass ich bei oll Vadder Teddy bin. – Hör zu, ich hab ’ne glänzende Idee. Warte, hier in der Tasche habe ich was.« Er kramt und bringt einen Block zum Vorschein. »Rezepte. Rezeptformulare. Hab ich heute früh einem Arzt geklaut.«
»Wie kommst du denn zu einem Arzt?«
»Bin einfach in seine Sprechstunde gegangen, das kann man doch. Wie ich drin bin in seinem Zimmer, bitte ich ihn um ein Darlehen von fünf Mark. Er sagt, es ist eine Frechheit, ich soll machen, dass ich rauskomme. Ich sag, ich geh erst, wenn ich fünf Mark habe. Er rennt rum wie ein Huhn ohne Kopf, ich bleib ruhig sitzen. Schließlich läuft er nach Leuten zum Rausschmeißen. Unterdes hab ich die Rezepte geklaut und mich leise verdrückt.«
»Und? Wozu? Was willst du denn mit den Rezepten?«
»Das ist doch das Feine. Da schreiben wir Morphium drauf und Koks und so’ne guten Sachen und verscheuern das nachher vor den Nachtlokalen.«