Hans Fallada – Gesammelte Werke

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12

An ei­nem Frei­tag er­klärt Sei­den­zopf beim Abendes­sen mit sanf­ter Stim­me: »Ich möch­te ger­ne, dass mei­ne jun­gen Freun­de am Sonn­tag ein­mal die schö­ne Got­tes­na­tur um Ham­burgs Mau­ern ken­nen­ler­nen, Herr Pe­ter­sen. Ich habe vor, Sie für einen gan­zen Tag zu be­ur­lau­ben. Sie dür­fen mor­gens zei­tig auf­bre­chen, und Sie brau­chen aus­nahms­wei­se erst um elf oder gar zwölf Uhr nachts zu­rück zu sein. Was mei­nen Sie dazu, mei­ne Her­ren?«

Und wie aus der Pis­to­le ge­schos­sen ant­wor­tet Pe­ter­sen: »Ich wür­de einen Aus­flug nach Blan­ke­ne­se vor­schla­gen, Herr Sei­den­zopf. Vi­el­leicht kann man schon ba­den. Und am Abend viel­leicht ein gu­tes Thea­ter.«

»Sehr hübsch. Sehr gut«, lä­chelt Sei­den­zopf. »Und ich wür­de je­dem un­se­rer jun­gen Freun­de aus der Heim­kas­se fünf Mark be­wil­li­gen, ein Ge­schenk also, das nicht auf Ar­beits­lohn oder Rück­la­ge an­ge­rech­net wird.«

»Au fein!« sagt Beer­boom.

»Und Sie, mein lie­ber Ku­falt, Sie sind ja so still?«

»Selbst­ver­ständ­lich wür­de das sehr schön sein. Aber wenn wir den gan­zen Tag drau­ßen sind, Fahr­geld und Thea­ter, da rei­chen fünf Mark nicht.«

»Man kann sich ein­rich­ten, Sie be­kom­men But­ter­bro­te mit, aus­rei­chend But­ter­bro­te.«

»Fünf Mark sind gar nichts«, fängt nun auch Beer­boom an. »Sie müs­sen min­des­tens noch fünf Mark drauf­le­gen, Herr Sei­den­zopf.«

Der üb­li­che Streit setzt ein. Ku­falt grü­belt.

Am nächs­ten Tag warnt Maack: »Pass Ach­tung, Ge­nos­se. Es stinkt. Mor­gen fei­ert das Heim Ju­bi­lä­um.«

Ku­falt sagt: »Dan­ke, Kum­pel«, und grü­belt tiefer.

Am Sonn­tag­vor­mit­tag sit­zen die drei dann auf der ho­hen Steil­küs­te an der Elbe und be­trach­ten Strom, Schif­fe und Land. Es ist drückend heiß, die Au­tos wir­beln di­cke Staub­wol­ken auf, Scha­ren von Aus­flüg­lern zie­hen auf al­len We­gen, schwit­zend und über Hit­ze jam­mernd.

Ku­falt sagt brum­mig: »Hier kann ei­nem ja mies wer­den. Al­les stinkt nach Schweiß und Ben­zin. Ge­hen wir wei­ter.«

Pe­ter­sen pro­tes­tiert: »Aber wo­hin? Heu­te ist es über­all so.«

»Ach, wir wer­den schon was fin­den.«

Was sie schließ­lich fin­den, ist ein großer, ver­wil­der­ter Gar­ten.

»Halt, hier ist es rich­tig«, ruft Ku­falt, »hier kön­nen wir durch den Draht krie­chen. Drin­nen ist es si­cher kühl und ru­hig.«

»Das ist si­cher ver­bo­ten«, sagt Pe­ter­sen.

»Na­tür­lich ist das ver­bo­ten«, lacht Ku­falt. »Wenn Sie nicht mit­ma­chen wol­len, war­ten Sie drau­ßen, bis wir wie­der­kom­men. Sie ma­chen doch mit, Beer­boom?«

Beer­boom macht mit, und schon kriecht Ku­falt zwi­schen den Dräh­ten durch. Beer­boom folgt, bleibt aber an den Sta­cheln hän­gen.

»Mach schon rasch, Mensch«, drängt Ku­falt, »da kom­men Leu­te.«

Pe­ter­sen, ver­le­gen, ver­zwei­felt, reißt den Draht los, es gibt einen Ruck, einen Riss, Beer­boom jam­mert, Pe­ter­sen kriecht nach – und schon drücken sie sich durch die Bü­sche.

»Si­cher ist mei­ne Hose ent­zwei«, klagt Beer­boom, »so was pas­siert im­mer mir.«

»Das lässt sich stop­fen«, trös­tet Ku­falt. »Au­ßer­dem ist es im Schritt, da sieht es kei­ner, und Sie ha­ben bei der Hit­ze Luft.«

»Und wer be­zahlt es? O Gott, o Gott, wenn die Min­na ei­nem noch was nä­hen wür­de! Im­mer habe ich im Zet ge­be­ten, dass ich in die Schnei­de­rei käme!«

»Wir hät­ten wirk­lich nicht durch den Zaun krie­chen sol­len, Ku­falt. Wenn das Pas­tor Mar­ce­tus er­fährt …«

»Na­tür­lich hät­ten wir nicht. Se­hen Sie das …«

Sie ste­hen hin­ter den letz­ten Bü­schen und se­hen in einen großen Obst­gar­ten. Dort geht ein al­ter Mann mit ei­nem gel­ben Stroh­hut von Bie­nen­kas­ten zu Kas­ten, er raucht aus ei­ner ur­mäch­ti­gen Pie­pe. Mas­sen von Bau­ern­blu­men blü­hen.

»Ist das schön? Ist das still? Ist das hier kühl? War­tet, dort ist die rich­ti­ge Stel­le, da hau­en wir uns hin und pen­nen eine Stun­de. Gott, ist das hier schön still!«

Sie la­gern sich, Pe­ter­sen legt gleich den Kopf auf den Arm, Ku­falt hockt war­tend da und sieht Beer­boom zu, der sei­ne Hose aus­ge­zo­gen hat und lei­se vor sich hin jam­mert. Dann aber macht Beer­boom aus der Hose ein Kis­sen, legt den Kopf dar­auf und schläft ein. Es ist ganz still, kein Wind­hauch be­wegt die Äste der Bäu­me. Die Luft scheint vor Hit­ze zu sin­gen, und das Sum­men der Bie­nen aus dem Bie­nen­gar­ten schwillt auf und ab.

Ku­falt setzt sich vor­sich­tig hoch und späht nach den Schlä­fern.

Er steht lei­se auf und späht wie­der, den Atem an­hal­tend. Dann schleicht er sach­te über den Gras­bo­den da­von, läuft einen Weg in der Rich­tung des Zauns, und als er durch die Ein­stei­ge­lücke kriecht, taucht ge­ra­de eine Hor­de von Aus­flüg­lern auf.

Sie stut­zen und se­hen ihn miss­trau­isch an. Er grölt ein über­mü­ti­ges »Bäh«, rast in wil­den Sprün­gen den stei­len Ufer­weg hin­un­ter nach dem Damp­fer­kai.

In ei­ner Vier­tel­stun­de geht der nächs­te Damp­fer nach Ham­burg. Nun kommt es dar­auf an, dass die ihn bis da­hin nicht ver­mis­sen. Er at­met tief auf, als der Damp­fer von der Brücke ab­legt.

Drei Stun­den spä­ter taucht Ku­falt er­hitzt und atem­los in der Ap­fel­stra­ße auf. Als er Frie­dens­heim sieht, pfeift er lei­se und ge­dan­ken­voll vor sich hin. Von den Flag­gen­mas­ten we­hen die Ham­bur­gi­sche und die Reichs­fah­ne. Über der Tür hän­gen Gir­lan­den. Vor der Tür hal­ten zwei große Au­to­bus­se.

»Die Äs­ter«, mur­melt er. »Die­se schlei­mi­gen Äs­ter. Ha­ben uns nur weg­ha­ben wol­len!«

Die Tür ist of­fen, und über den Vor­platz hin, die von ihm so oft ge­boh­ner­te Trep­pe hin­auf, liegt ein schö­ner ro­ter Läu­fer. Rechts in der Schreib­stu­be hört er das Ge­mur­mel vie­ler Stim­men.

Er schleicht lei­se die Trep­pen hin­auf, öff­net die Tür zum Schlaf­saal. Nun sperrt er doch den Mund auf.

Über den sonst so öden Fenster­höh­len hän­gen hel­le, freund­li­che Mull­gar­di­nen. Ein ro­ter Läu­fer auch hier auf dem Bo­den. Auf dem Tisch eine De­cke, eine schö­ne, bun­te, freund­li­che De­cke. Auf der Fens­ter­bank Blu­men­töp­fe mit blü­hen­den Pflan­zen. An der Wand Bil­der, große und klei­ne hüb­sche Stein­dru­cke. Und die Bet­ten …

»O Gott, die Bet­ten …«, flüs­tert Ku­falt ent­zückt.

Sie sind schnee­weiß be­zo­gen, ei­nes wie das an­de­re, nichts mehr von blau­ge­wür­fel­ter, baum­wol­le­ner Ge­fäng­nis­wä­sche. Schö­ne wei­ße Lei­nen­tü­cher.

»Nein, so was!« sagt Ku­falt.

Das Ge­mur­mel zieht nä­her, schwillt trepp­an.

Ku­falt geht durch die Tür in sein Zim­mer. Er sieht sich um, nach ei­nem Aus­weg, aber es gibt kei­nen Aus­weg, er lie­fe den Kom­men­den di­rekt in die Arme.

Jetzt sieht er: Ne­ben dem Tisch ste­hen zwei be­que­me Stüh­le, schein­bar über Mor­gen aus dem Lin­ole­um auf­ge­wach­sen. Aber er wagt es nicht, sich dar­auf zu set­zen, er geht hilf­los hin und her, in die­sem all­zu fei­nen Raum. Dann, als schon die Tür des an­sto­ßen­den Schlaf­raums (wo Beer­boom sein Bett hat) sich öff­net, setzt er sich ent­schlos­sen auf sein Bett.

Drü­ben Ge­schar­re, Ge­mur­mel vie­ler. Räus­pern, eine hel­le weib­li­che Stim­me: »Nein, wie ent­zückend!«

Und eine tie­fe männ­li­che: »Das grenzt ja an Ver­wöh­nung.«

»Ver­wöh­nung«, hört er die Stim­me von Pas­tor Mar­ce­tus. »Nein, mei­ne sehr ver­ehr­ten Da­men und Her­ren, nicht Ver­wöh­nung ist das, son­dern Ein­ge­wöh­nung in ein ge­ord­ne­tes bür­ger­li­ches Le­ben. Der Straf­ent­las­se­ne soll das Le­ben bei uns schön fin­den, wir wol­len ihm ge­wis­ser­ma­ßen noch nach­träg­lich Grau­en und Ekel vor dem Ge­fäng­nis­da­sein ein­imp­fen. Wenn er wie­der in Ver­su­chung ge­rät, dann soll er an das freund­li­che Zim­mer in Frie­dens­heim den­ken – und die kah­le, trost­lo­se Zel­le wird ihm dop­pelt furcht­bar er­schei­nen.«

Der Straf­ent­las­se­ne auf sei­nem Bett, den Kopf in den Hän­den, denkt an den Raum, den er heu­te früh ver­ließ: die Bet­ten nackt mit den häss­li­chen grau­en Ma­trat­zen, kei­ne Gar­di­nen, kei­ne Bil­der, kei­ne Tep­pi­che, kei­ne be­que­men Stüh­le, kei­ne Blu­men … Drü­ben, der fünf­und­zwan­zig­jäh­ri­ge Ju­bi­lar, ant­wor­tet auf eine Fra­ge: »Nein, nein, wir ha­ben im­mer zu tun, dass wir die Ent­las­se­nen aus dem Heim los­wer­den. Sie, die Sie zu den Gön­nern und Spen­dern des Heims ge­hö­ren, wis­sen, wie sehr es ein Zu­schuss­be­trieb ist. Wir müs­sen im­mer wie­der an Ihre Mild­tä­tig­keit ap­pel­lie­ren. Und wir dür­fen Ihre Gabe nicht ei­ni­gen we­ni­gen zu­kom­men las­sen. Zu vie­le klop­fen an un­se­re Tür. Vier Wo­chen ist die höchs­te Zeit, die wir den Ein­zel­nen be­hal­ten kön­nen. Dann ist er ak­kli­ma­ti­siert, und wir las­sen ihm ein Zim­mer durch un­sern Für­sor­ger, Herrn Pe­ter­sen, mie­ten. Wir be­hal­ten ihn na­tür­lich im Auge, er ar­bei­tet wei­ter bei uns …«

»Das Heim ist voll be­setzt?« fragt eine Stim­me.

»Im Mo­ment? Ich kann es nicht ge­nau sa­gen. Je­den­falls na­he­zu. Aber wir wol­len nicht noch mehr Bet­ten auf­stel­len. Es soll den Cha­rak­ter ei­nes Fa­mi­li­en­heims be­wah­ren. – Dort, durch jene Tür, kom­men wir in einen zwei­ten Schlaf­raum, ge­nau wie die­sen …«

Ku­falt be­hält den Kopf in den Hän­den. Er hört das Ge­schar­re nä­her­kom­men. Er will sit­zen blei­ben, aber nun steht er doch auf. Fünf­zehn, zwan­zig Men­schen drän­gen sich da durch die Tür­öff­nung, alle se­hen ihn an. Auch Pas­tor Mar­ce­tus, aber die­sen Blick ver­mei­det er. Er macht ein erns­tes, de­mü­ti­ges Ge­sicht, er kann das von den Zel­len­be­sich­ti­gun­gen her, und ver­beugt sich.

Ein paar von den Her­ren ver­beu­gen sich wirk­lich auch.

 

»Herr Ku­falt«, sagt nach ei­nem lan­gen Schwei­gen Pas­tor Mar­ce­tus. Er räus­pert sich, setzt von Neu­em an, leich­ter im Ton: »Mein lie­ber Ku­falt, Sie sind nicht von der Par­tie?« Und zu den Hö­rern ge­wen­det: »Un­se­re Gäs­te ma­chen, wie ich schon er­zähl­te, zur Fei­er des heu­ti­gen Ta­ges einen Aus­flug elb­ab­wärts.«

»Mir wur­de schlecht«, mur­melt Ku­falt. »Es muss die Son­ne ge­we­sen sein.«

»Herr Pe­ter­sen hat Sie zu­rück­ge­schickt?«

»Nicht ei­gent­lich.«

»So. Ach so. Ich vers­te–he …« Wie­der zu den Hö­rern: »Sie se­hen, ein Schlaf­raum wie der eben. Hell … fried­lich … also eben ein Schlaf­raum wie ne­ben­an.« Wie­der zu Ku­falt: »Wir wer­den Sie lei­der noch drei- oder vier­mal stö­ren müs­sen, mein lie­ber Herr Ku­falt. Herr Sei­den­zopf und Herr Mer­gen­thal ha­ben noch zwei Füh­run­gen. Und ich weiß nicht, ob Fräu­lein Matz­ke schon durch ist. Also gute Bes­se­rung.«

Er wen­det sich zum Ge­hen.

Die Ge­führ­ten se­hen noch alle auf Ku­falt, viel­leicht fin­den sie, dass der ein­zi­ge Straf­ent­las­se­ne, der ih­nen prä­sen­tiert ist, nicht aus­gie­big ge­nug be­han­delt wur­de. Ein großer Herr, mit star­ker Mund­par­tie, mit ei­nem glat­ten, flei­schi­gen Pas­to­ren­ge­sicht, sagt: »Sie füh­len sich wohl hier? Es ge­fällt Ih­nen?«

Pas­tor Mar­ce­tus lässt gott­er­ge­ben die Schul­tern sin­ken.

»Es ge­fällt mir jetzt sehr gut«, sagt Ku­falt ar­tig. »Es ist jetzt sehr schön hier.«

»Und die Ar­beit schmeckt?«

»Auch die, ja­wohl«, sagt Ku­falt und lä­chelt freund­lich und de­mü­tig.

»Ar­bei­ten müs­sen wir alle«, sagt der große star­ke Pfaff und lacht. »Wir sind alle lei­der kei­ne Li­li­en auf dem Fel­de, was? Nicht wahr?« Vie­le la­chen bei­fäl­lig. »Und wie lan­ge wei­len Sie schon bei un­serm Bru­der Mar­ce­tus?«

»Über drei Wo­chen.«

»Dann wer­den Sie ja bald das Heim ver­las­sen?«

»Ja, lei­der wer­de ich wohl bald ge­hen müs­sen.«

Pas­tor Mar­ce­tus sieht Ku­falt mit Be­deu­tung an. »Herr Ku­falt wird uns schon An­fang der kom­men­den Wo­che ver­las­sen. Er hat den Wunsch, nun in der Stadt zu woh­nen. Wir er­fül­len sei­nen Wunsch. Aber er wird wei­ter hier bei uns ar­bei­ten, bis wir eine schö­ne dau­ern­de Stel­lung für ihn ge­fun­den ha­ben.«

Ku­falt ver­beugt sich.

»Nun, dann ist ja al­les schön«, sagt der große Pfaff. »Wei­ter Mut, mein jun­ger Freund. – Wis­sen Sie auch schon, dass heu­te Ihr Be­schüt­zer, hier un­ser lie­ber Amts­bru­der Mar­ce­tus, für sei­ne Ver­diens­te um Sie alle zum Ehren­dok­tor er­nannt ist? Doc­tor ho­no­ris cau­sa!«

»Ich gra­tu­lie­re Herrn Pas­tor Mar­ce­tus von Her­zen!« sagt Ku­falt und ver­beugt sich wie­der.

Pas­tor Mar­ce­tus macht drei Schrit­te und reicht Ku­falt sei­ne Hand. »Ich dan­ke Ih­nen, mein lie­ber Ku­falt. Und wie schon ge­sagt, wir hof­fen, recht bald eine schö­ne Stel­lung für Sie zu fin­den, die Ihren großen Fä­hig­kei­ten an­ge­mes­sen ist.«

Ku­falt ver­beugt sich, die Be­su­cher ge­hen. Ku­falt stellt sich ans Fens­ter und sieht in den ver­bo­te­nen Frie­dens­gar­ten.

Er pfeift lei­se vor sich hin, er ist wie­der ein­mal äu­ßerst zu­frie­den mit sich.

VIERTES KAPITEL – Der Weg ins Freie

1

Das Ver­trau­en, das Pas­tor Mar­ce­tus in die Klug­heit sei­nes Schütz­lings ge­setzt hat­te, recht­fer­tig­te Ku­falt, kaum hat­te der letz­te Be­su­cher Frie­dens­heim ver­las­sen, voll­kom­men. Mit ei­nem nicht zu über­bie­ten­den Ei­fer half er Min­na und der ele­gi­schen Frau Sei­den­zopf, Gar­di­nen ab­zu­neh­men, Bil­der in eine Tru­he zu ver­stau­en, Läu­fer ein­zu­rol­len und auf den Bo­den zu brin­gen. Dann leg­te er mit Min­na die wei­ße Bett­wä­sche schön sau­ber in die al­ten Plätt­brü­che, und als die bei­den zum Schluss noch ei­lig über die Stra­ße zum Gärt­ner ge­lau­fen wa­ren, um die ent­lie­he­nen Topf­pflan­zen zu­rück­zu­ge­ben, als auf dem neu ge­boh­ner­ten Bo­den die Spur der vie­len geist­li­chen und für­sor­ge­ri­schen Gum­mi­ab­sät­ze be­sei­tigt war –: Da la­gen die Räu­me wie­der in je­nem Zu­stand öder Sch­licht­heit, die dem Ent­las­se­nen den Über­gang aus dem Ge­fäng­nis so un­merk­lich mach­te.

Dann, als ge­gen halb sie­ben Pe­ter­sen und Beer­boom an­ge­prescht ka­men, gab es na­tür­lich eine hüb­sche klei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Stu­den­ten we­gen Fort­lau­fens. Aber Ku­falt war nicht ge­son­nen, sich noch ir­gen­det­was sa­gen zu las­sen, nein. »Ich will Ih­nen et­was sa­gen, Pe­ter­sen«, äu­ßer­te er. »Was Sie da er­zäh­len von Sor­gen mei­net­we­gen, das ist al­les Kohl, an mir liegt Ih­nen gar nichts.«

»O bit­te!«

»Re­den Sie doch nicht. Gar nichts. Sie ha­ben bloß Angst um Ihre Stel­lung. Al­les, was da ge­quatscht wird, dass Sie un­ser Freund sind und Be­ra­ter, das ist Schei­be. Denn wenn Sie für uns sind, dann sind Sie ge­gen Mar­ce­tus und Sei­den­zopf, und dann wer­den Sie ent­las­sen.«

»O bit­te! So ist das aber doch nicht. Ich kann im­mer ver­mit­teln.«

»Ja­wohl, den Pflau­men­wei­chen mar­kie­ren. Sa­gen Sie doch mal, wie­so krie­gen wir für die Adres­sen, wo die Schreib­stu­be zwölf Mark ein­sackt, nur sechs und manch­mal so­gar nur vier­ein­halb?«

»Mit den Geld­ge­schich­ten habe ich nichts zu tun.«

»Das wäre aber das ers­te, worum Sie sich küm­mern müss­ten. Jede Wo­che hö­ren Sie den Kra­keel bei der Abrech­nung mit Sei­den­zopf und se­hen, wie sich alle da­bei auf­re­gen, und da sa­gen Sie, Sie ha­ben nichts da­mit zu tun. Und Sie wis­sen ge­nau­so gut wie ich, dass es ein Wahn­sinn ist, den Beer­boom neun und zehn Stun­den Büro ab­sit­zen zu las­sen, der wird doch im­mer ver­rück­ter …«

Beer­boom be­stä­tigt es kla­gend: »Wer­de ich auch!«

»… aber un­ser Für­sor­ger ris­kiert kei­nen Ton.«

»Er muss sich eben all­mäh­lich an ge­re­gel­te Tä­tig­keit ge­wöh­nen.«

»Und ges­tern kom­me ich in den Zi­gar­ren­la­den, hier, zehn Häu­ser wei­ter, und kauf mir mei­ne sechs Juno, und da sagt das Mäd­chen im La­den doch wirk­lich zu mir: ›Sie sind doch auch von da?‹ – ›Von wo bin ich?‹ fra­ge ich. ›Na, Sie wis­sen schon‹, sagt sie. ›Ist das wahr, dass der dunkle Herr bei Ih­nen Raub­mör­der ist? Der hat mich näm­lich ge­fragt, ob ich nicht mal mit ihm aus­ge­hen möch­te, oder ob ich zu stolz wäre, mit ei­nem Raub­mör­der aus­zu­ge­hen. Ich wär ja ge­gan­gen‹, sagt sie, ›a­ber mei­ne Mut­ti hat es nicht er­laub­t‹ …«

»O Gott«, jam­mert Beer­boom, »ich hab es ihr doch nur dar­um ge­sagt …«

»Du hältst jetzt die Klap­pe, Beer­boom! Du willst dich bloß in­ter­essant ma­chen. – Aber warum wis­sen Sie das al­les nicht, Pe­ter­sen, Sie, un­ser Freund und Be­ra­ter …? Sie hät­ten längst mit dem Mar­ce­tus spre­chen müs­sen, von we­gen wei­cher Bir­ne und so. Im Pro­spekt steht auch, Sie schla­fen mit uns, Sie ha­ben al­les wie wir. Wa­rum ha­ben Sie denn da ein Ex­tra­zim­mer und wei­ße Bett­wä­sche, und warum boh­nern Sie Ihre Bude nicht selbst, son­dern wir müs­sen das für Sie ma­chen …?«

»Und warum sa­gen Sie mir das al­les?« fragt Pe­ter­sen böse. »Wenn Sie das al­les wis­sen, dann wis­sen Sie doch auch, dass ich hier gar nichts zu sa­gen habe!«

»Weil Sie sich auf­spie­len! Weil Sie hier große Töne quat­schen von Sor­gen mei­net­we­gen! Weil Sie nichts sind wie ein Auf­pas­ser! Weil ich Sie zum Kot­zen über­ha­be! Weil Sie mich in Ruhe las­sen sol­len!«

»Herr Ku­falt …«

»Ach was, las­sen Sie mich zu­frie­den!«

»Hö­ren Sie doch, Herr Ku­falt!«

»Zufrie­den sol­len Sie mich las­sen!«

»Sie sind un­ge­recht!«

»Ge­recht soll ich auch noch sein! Aus­ge­rech­net ich! Gu­ten Abend, mei­ne Her­ren!« Und er geht in den Schlaf­raum, wü­tend die Tü­ren schmet­ternd.

Aber in Wirk­lich­keit ist er gar nicht wü­tend, in Wirk­lich­keit ju­bi­liert und psalm­odiert es in ihm: In die Frei­heit! Ins Freie! Ge­schafft!! –

Und dann wird es wie­der Mor­gen, ein strah­lend fri­scher Mor­gen in der Ju­ni­mit­te. Ku­falt hat es lang­sam däm­me­rig wer­den se­hen, er hat sich noch einen Au­gen­blick um­ge­dreht und die Au­gen zu­ge­macht, und als er wie­der zum Fens­ter schaut, ist es schon ganz hell, und die Son­ne scheint, und die Vö­gel lär­men.

Dann, wie am Vor­mit­tag Va­ter Sei­den­zopf bei sei­nem ge­wohn­ten Rund­gang ei­lig an sei­nem Tisch vor­über­streicht, sagt Ku­falt halb­laut: »Ich möch­te heu­te mal zwei Stun­den frü­her Schluss ma­chen, Herr Sei­den­zopf.«

»Ja, ja«, sagt Wol­le-Ted­dy und will ei­lig wei­ter.

»Ich will mir ein Zim­mer mie­ten.«

»Wie? Was? Zim­mer mie­tet Herr Pe­ter­sen für un­se­re Her­ren.«

»Bei mir aber nicht«, sagt Ku­falt und guckt.

»Ähemm! Ähemm! – Also ge­hen Sie schon«, mur­melt Sei­den­zopf und rennt wei­ter.

Vom Ne­ben­tisch der Maack sieht Ku­falt ein­mal an, nickt und kliert wei­ter. Ku­falt häm­mert auf sei­ne Ma­schi­ne. Frei, denkt er. End­lich frei …

Am Nach­mit­tag geht er dann los. Er fin­det sich glatt hin nach der Ma­ri­entha­ler Stra­ße. Gut im Ge­dächt­nis ge­blie­ben, ja, ja. Doch in wel­chem Haus­ein­gang ver­schwand sie? Er hat es schon in je­ner Nacht nicht ge­nau ge­se­hen, und nun ist er ganz un­si­cher. Es wäre so wich­tig, wenn er das rich­ti­ge Haus trä­fe, im­mer hat er an das klei­ne zier­li­che Herz­ge­sicht ge­dacht.

Schließ­lich geht er aufs Ge­ra­te­wohl, wenn’s stim­men soll, wird’s schon stim­men!

»Darf ich das Zim­mer mal se­hen?«

Die klei­ne rund­li­che Frau mit dem wei­ßen Schei­tel zeigt es ihm. (Kann das ihre Mut­ter sein?)

»Ha­ben Sie sonst noch Mie­ter?«

»Nein, nie­man­den. Nur mei­ne Toch­ter lebt noch bei mir, ich bin Wit­we. Mei­ne Toch­ter geht ins Ge­schäft.«

»Was soll das Zim­mer denn kos­ten?«

»Drei­ßig Mark mit Mor­gen­kaf­fee. Aber Schu­he put­zen wir nicht.«

»Ist auch nicht nö­tig.« Ku­falt tut einen Blick rund­um. »Also gut, ich mie­te das Zim­mer. Ich zah­le gleich zehn Mark an. Und hier sind noch sechs Mark. Es ist mög­lich, dass mei­ne Sa­chen in den nächs­ten Ta­gen mit Fracht kom­men. Die be­zah­len Sie dann. Ich zie­he am Ers­ten zu. Also gut … schön …«

Er sieht sich wie­der um und sagt plötz­lich, ganz un­er­war­tet herz­lich: »Also auf gute Freund­schaft, Frau Wend­land. Gu­ten Abend.«

Es geht al­les ge­ra­de­zu be­ängs­ti­gend glatt. Da ist die Abrech­nung mit Va­ter Sei­den­zopf, schön, abends im Ein­schla­fen hat Ku­falt mit Wol­le-Ted­dy Kämp­fe be­stan­den. »Sie ha­ben kein Recht, mir mein Geld län­ger vor­zuent­hal­ten, es ist mein Ar­beits­ver­dienst …«

Und nun zahlt ihm Sei­den­zopf das Geld glatt auf den Tisch. Er knüpft nicht ein­mal eine Be­mer­kung dar­an, es scheint die selbst­ver­ständ­lichs­te Sa­che, dass Ku­falt Frie­dens­heim ver­lässt. Der letz­te Hei­min­sas­se, Beer­boom, hilft ihm die Sa­chen tra­gen.

Sie ge­hen durch das abend­li­che Ham­burg, Ku­falt sagt zu Beer­boom: »Nun sind Sie der nächs­te.«

Beer­boom ist heu­te auch ver­gnügt. »Na­tür­lich, die kön­nen mich doch nicht ewig hal­ten.«

»Ge­spannt bin ich nur, ob mei­ne Sa­chen schon da sind«, sagt Ku­falt.

Ja, sie sind da, in dem hel­len Zim­mer ste­hen zwei Kis­ten und ein großer Kof­fer.

»Das Geld hat nicht ge­reicht«, klagt die alte Wend­land. »Drei Mark zehn habe ich noch aus­ge­legt.«

»Krie­gen Sie gleich wie­der. – Wie ist es, ha­ben Sie viel­leicht Zan­ge und Brech­ei­sen, dass ich die Kis­ten auf­ma­chen kann …? Nein, nicht …? Gar nichts? Aber Sie müs­sen doch so was im Haus ha­ben! Wirk­lich nicht? Wo ist denn die nächs­te Ei­sen­hand­lung? Schön. Zehn Mi­nu­ten vor sie­ben, da muss ich lau­fen. Sie war­ten hier so­lan­ge, Beer­boom, ich bin gleich wie­der da.«

Er läuft. Sei­ne Ba­cken glü­hen. Gu­ter Gott im Him­mel, zwei Kis­ten, ein großer Kof­fer, ein Hand­kof­fer, zwei Kar­tons – und vor sechs Wo­chen in der kah­len Zel­le, mit nichts, ohne al­les. Ich kom­me mir, ju­bi­liert er. Was in den Kis­ten wohl drin sein mag? Ich bin ja sooo ge­spannt!

Ham­mer und Zan­ge in der einen, das Brech­ei­sen in der an­de­ren Hand, stürmt er die Trep­pen wie­der hin­auf. Er klin­gelt, hin­ter der Tür tu­schelt es, wei­ner­lich die alte, spitz eine jun­ge Stim­me (das ist nicht die Stim­me vom Herz­ge­sicht!), er klin­gelt wie­der, hef­ti­ge­res Tu­scheln, und noch ein­mal klin­gelt er, nun aber fes­te!!!

»Das hat ja end­los ge­dau­ert! – Wo ist denn mein Freund? Schon fort­ge­gan­gen? Wie­so fort­ge­gan­gen? – Was ha­ben Sie denn? Was ist denn los?«

 

Die Alte sagt zit­ternd, stam­melnd: »Ach bit­te, lie­ber Herr, tun Sie mir die Lie­be, zie­hen Sie gleich wie­der aus. Ich gebe Ih­nen auch all Ihr Geld wie­der.«

Ku­falt ver­steht gar nichts. »Aus­zie­hen? Aber wie­so denn?«

Sie stot­tert: »Was mein Sohn ist, mein Schwie­ger­sohn – wir brau­chen das Zim­mer, er kommt gleich.«

»Sie brau­chen das Zim­mer? Sie ha­ben mir das Zim­mer ver­mie­tet!«

»Lie­ber Herr, ma­chen Sie mich nicht un­glück­lich, zie­hen Sie aus.«

»Ich den­ke ja gar nicht dar­an! Jetzt am spä­ten Abend …«

Da er­tönt eine spit­ze Mäd­chen­stim­me hin­ter der Tür: »Wenn der Herr nicht gleich zieht, ru­fen wir die Schu­po. An sol­che braucht man nicht zu ver­mie­ten. Ihr Freund hat selbst ge­sagt, er ist ein Raub­mör­der.«

Pau­se, dann ge­stei­gert, fast schrei­end: »Und Sie sind auch aus dem Zucht­haus!«

Ku­falt steht einen Au­gen­blick da. Er macht einen ra­schen Schritt ge­gen die Tür. Dann merkt er, dass er ne­ben ei­nem Spie­gel steht. Nun gut, das ist er also. Da steht er. Es ist schon Däm­me­rung, aber da steht er. Ko­misch, der Ham­mer tanzt ein biss­chen in der Hand, hebt sich an, als woll­te er schla­gen. Er zit­tert, er ist auf­ge­regt, na­tür­lich, da kann man schon auf­ge­regt sein – oder etwa?

Plötz­lich sieht er – auch im Spie­gel – die dunklen angst­vol­len Au­gen der Frau Wend­land, ihr schnee­wei­ßes Ge­sicht.

»Er­le­digt«, sagt Ku­falt und fasst den Ham­mer wie­der fes­ter. »In spä­tes­tens ei­ner Stun­de hole ich mei­ne Sa­chen. Ge­ben Sie das Miet­geld her. Los!«

*

Es ist abends neun Uhr.

Ku­falt steht vor ei­ner Kis­te und über­legt, ob er sie noch auf­bre­chen darf. Vi­el­leicht stört er Nach­barn, die Wir­tin. Er darf nicht wie­der Stunk ha­ben, so was schwatzt sich her­um. Nun gut, wenn es her­aus­kommt, wird er wie­der aus­zie­hen müs­sen, wahr­schein­lich wird er noch oft um­zie­hen müs­sen, es wird im­mer ir­gend­wie raus­kom­men.

Schön. Er wüss­te ger­ne, was in die­ser Kis­te ist, aber er wagt es nicht. Er wagt es nicht. Er steht so da, die Fens­ter sind of­fen, es ist an­ge­nehm viel Luft im Zim­mer, auch Frie­dens­heim war stets wie Zel­le.

Jetzt hat er Luft ge­nug und ein großes of­fe­nes Fens­ter und ein wei­ßes Bett. Aber er wagt es nicht.

Es ist eine große ha­ge­re Frau, bei der er ge­mie­tet hat. Eine Ar­bei­ter­frau, auch Wit­we, Frau Behn, Wit­we Behn. Fün­f­und­zwan­zig Mark, und das Zim­mer blitzt nur so. Eine zer­ar­bei­te­te Frau, das Ge­sicht nicht sehr gut, et­was wüst und böse, ma­ge­re gie­ri­ge Hän­de, ge­bo­ge­ne Fin­ger.

Hier­blei­ben, denkt er. Eine Wei­le in Ruhe hier­blei­ben. Sie hat mir doch wahr­haf­tig in der kur­z­en Zeit, in der ich die Sa­chen hol­te, einen Strauß Flie­der aufs Zim­mer ge­stellt. Hof­fent­lich hal­te ich es im­mer aus. Es war schlecht, dass die Jun­ge so eine spit­ze Stim­me hat­te, und ich hielt gra­de den Ham­mer in der Hand. Na ja, es ging noch mal.

Es klopft.

»He­rein.«

Die Tür geht auf. Ein jun­ges Mäd­chen steht in der Tür.

»Darf ich Ih­nen noch eine Tas­se Tee brin­gen?«

Sie kommt schon her­ein, trägt ein Ta­blett, der Löf­fel klirrt lei­se auf der Un­ter­tas­se.

Sie ist zier­lich und rasch, sie hat blon­des Haar, ein Herz­ge­sicht …

»Ich bin die Toch­ter von Frau Behn. Schön will­kom­men.« Sie gibt ihm die Hand.

»Ja, dan­ke«, sagt er und sieht sie an.

»Nun wis­sen wir nicht, neh­men Sie Zitro­ne oder Milch zum Tee?«

»Ja, dan­ke«, sagt er. »Sehr gut. Sehr gut.«

Sie sieht ihn an, sie wird ein biss­chen rot. Ihre Un­ter­lip­pe drückt sich fes­ter ge­gen die Ober­lip­pe. »Oder neh­men Sie gar nichts?« lacht sie plötz­lich.

»Nein, na­tür­lich gar nichts«, lacht auch er. Da­bei sieht er sie wei­ter an. »Sehr schön – das Zim­mer«, sagt er.

Aber viel­leicht war es nun zu viel. »Sonst ha­ben Sie al­les?« fragt sie. »Mut­ter hat sich schon hin­ge­legt. Gute Nacht.«

»Gu–te – Nacht!«