An einem Freitag erklärt Seidenzopf beim Abendessen mit sanfter Stimme: »Ich möchte gerne, dass meine jungen Freunde am Sonntag einmal die schöne Gottesnatur um Hamburgs Mauern kennenlernen, Herr Petersen. Ich habe vor, Sie für einen ganzen Tag zu beurlauben. Sie dürfen morgens zeitig aufbrechen, und Sie brauchen ausnahmsweise erst um elf oder gar zwölf Uhr nachts zurück zu sein. Was meinen Sie dazu, meine Herren?«
Und wie aus der Pistole geschossen antwortet Petersen: »Ich würde einen Ausflug nach Blankenese vorschlagen, Herr Seidenzopf. Vielleicht kann man schon baden. Und am Abend vielleicht ein gutes Theater.«
»Sehr hübsch. Sehr gut«, lächelt Seidenzopf. »Und ich würde jedem unserer jungen Freunde aus der Heimkasse fünf Mark bewilligen, ein Geschenk also, das nicht auf Arbeitslohn oder Rücklage angerechnet wird.«
»Au fein!« sagt Beerboom.
»Und Sie, mein lieber Kufalt, Sie sind ja so still?«
»Selbstverständlich würde das sehr schön sein. Aber wenn wir den ganzen Tag draußen sind, Fahrgeld und Theater, da reichen fünf Mark nicht.«
»Man kann sich einrichten, Sie bekommen Butterbrote mit, ausreichend Butterbrote.«
»Fünf Mark sind gar nichts«, fängt nun auch Beerboom an. »Sie müssen mindestens noch fünf Mark drauflegen, Herr Seidenzopf.«
Der übliche Streit setzt ein. Kufalt grübelt.
Am nächsten Tag warnt Maack: »Pass Achtung, Genosse. Es stinkt. Morgen feiert das Heim Jubiläum.«
Kufalt sagt: »Danke, Kumpel«, und grübelt tiefer.
Am Sonntagvormittag sitzen die drei dann auf der hohen Steilküste an der Elbe und betrachten Strom, Schiffe und Land. Es ist drückend heiß, die Autos wirbeln dicke Staubwolken auf, Scharen von Ausflüglern ziehen auf allen Wegen, schwitzend und über Hitze jammernd.
Kufalt sagt brummig: »Hier kann einem ja mies werden. Alles stinkt nach Schweiß und Benzin. Gehen wir weiter.«
Petersen protestiert: »Aber wohin? Heute ist es überall so.«
»Ach, wir werden schon was finden.«
Was sie schließlich finden, ist ein großer, verwilderter Garten.
»Halt, hier ist es richtig«, ruft Kufalt, »hier können wir durch den Draht kriechen. Drinnen ist es sicher kühl und ruhig.«
»Das ist sicher verboten«, sagt Petersen.
»Natürlich ist das verboten«, lacht Kufalt. »Wenn Sie nicht mitmachen wollen, warten Sie draußen, bis wir wiederkommen. Sie machen doch mit, Beerboom?«
Beerboom macht mit, und schon kriecht Kufalt zwischen den Drähten durch. Beerboom folgt, bleibt aber an den Stacheln hängen.
»Mach schon rasch, Mensch«, drängt Kufalt, »da kommen Leute.«
Petersen, verlegen, verzweifelt, reißt den Draht los, es gibt einen Ruck, einen Riss, Beerboom jammert, Petersen kriecht nach – und schon drücken sie sich durch die Büsche.
»Sicher ist meine Hose entzwei«, klagt Beerboom, »so was passiert immer mir.«
»Das lässt sich stopfen«, tröstet Kufalt. »Außerdem ist es im Schritt, da sieht es keiner, und Sie haben bei der Hitze Luft.«
»Und wer bezahlt es? O Gott, o Gott, wenn die Minna einem noch was nähen würde! Immer habe ich im Zet gebeten, dass ich in die Schneiderei käme!«
»Wir hätten wirklich nicht durch den Zaun kriechen sollen, Kufalt. Wenn das Pastor Marcetus erfährt …«
»Natürlich hätten wir nicht. Sehen Sie das …«
Sie stehen hinter den letzten Büschen und sehen in einen großen Obstgarten. Dort geht ein alter Mann mit einem gelben Strohhut von Bienenkasten zu Kasten, er raucht aus einer urmächtigen Piepe. Massen von Bauernblumen blühen.
»Ist das schön? Ist das still? Ist das hier kühl? Wartet, dort ist die richtige Stelle, da hauen wir uns hin und pennen eine Stunde. Gott, ist das hier schön still!«
Sie lagern sich, Petersen legt gleich den Kopf auf den Arm, Kufalt hockt wartend da und sieht Beerboom zu, der seine Hose ausgezogen hat und leise vor sich hin jammert. Dann aber macht Beerboom aus der Hose ein Kissen, legt den Kopf darauf und schläft ein. Es ist ganz still, kein Windhauch bewegt die Äste der Bäume. Die Luft scheint vor Hitze zu singen, und das Summen der Bienen aus dem Bienengarten schwillt auf und ab.
Kufalt setzt sich vorsichtig hoch und späht nach den Schläfern.
Er steht leise auf und späht wieder, den Atem anhaltend. Dann schleicht er sachte über den Grasboden davon, läuft einen Weg in der Richtung des Zauns, und als er durch die Einsteigelücke kriecht, taucht gerade eine Horde von Ausflüglern auf.
Sie stutzen und sehen ihn misstrauisch an. Er grölt ein übermütiges »Bäh«, rast in wilden Sprüngen den steilen Uferweg hinunter nach dem Dampferkai.
In einer Viertelstunde geht der nächste Dampfer nach Hamburg. Nun kommt es darauf an, dass die ihn bis dahin nicht vermissen. Er atmet tief auf, als der Dampfer von der Brücke ablegt.
Drei Stunden später taucht Kufalt erhitzt und atemlos in der Apfelstraße auf. Als er Friedensheim sieht, pfeift er leise und gedankenvoll vor sich hin. Von den Flaggenmasten wehen die Hamburgische und die Reichsfahne. Über der Tür hängen Girlanden. Vor der Tür halten zwei große Autobusse.
»Die Äster«, murmelt er. »Diese schleimigen Äster. Haben uns nur weghaben wollen!«
Die Tür ist offen, und über den Vorplatz hin, die von ihm so oft gebohnerte Treppe hinauf, liegt ein schöner roter Läufer. Rechts in der Schreibstube hört er das Gemurmel vieler Stimmen.
Er schleicht leise die Treppen hinauf, öffnet die Tür zum Schlafsaal. Nun sperrt er doch den Mund auf.
Über den sonst so öden Fensterhöhlen hängen helle, freundliche Mullgardinen. Ein roter Läufer auch hier auf dem Boden. Auf dem Tisch eine Decke, eine schöne, bunte, freundliche Decke. Auf der Fensterbank Blumentöpfe mit blühenden Pflanzen. An der Wand Bilder, große und kleine hübsche Steindrucke. Und die Betten …
»O Gott, die Betten …«, flüstert Kufalt entzückt.
Sie sind schneeweiß bezogen, eines wie das andere, nichts mehr von blaugewürfelter, baumwollener Gefängniswäsche. Schöne weiße Leinentücher.
»Nein, so was!« sagt Kufalt.
Das Gemurmel zieht näher, schwillt treppan.
Kufalt geht durch die Tür in sein Zimmer. Er sieht sich um, nach einem Ausweg, aber es gibt keinen Ausweg, er liefe den Kommenden direkt in die Arme.
Jetzt sieht er: Neben dem Tisch stehen zwei bequeme Stühle, scheinbar über Morgen aus dem Linoleum aufgewachsen. Aber er wagt es nicht, sich darauf zu setzen, er geht hilflos hin und her, in diesem allzu feinen Raum. Dann, als schon die Tür des anstoßenden Schlafraums (wo Beerboom sein Bett hat) sich öffnet, setzt er sich entschlossen auf sein Bett.
Drüben Gescharre, Gemurmel vieler. Räuspern, eine helle weibliche Stimme: »Nein, wie entzückend!«
Und eine tiefe männliche: »Das grenzt ja an Verwöhnung.«
»Verwöhnung«, hört er die Stimme von Pastor Marcetus. »Nein, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht Verwöhnung ist das, sondern Eingewöhnung in ein geordnetes bürgerliches Leben. Der Strafentlassene soll das Leben bei uns schön finden, wir wollen ihm gewissermaßen noch nachträglich Grauen und Ekel vor dem Gefängnisdasein einimpfen. Wenn er wieder in Versuchung gerät, dann soll er an das freundliche Zimmer in Friedensheim denken – und die kahle, trostlose Zelle wird ihm doppelt furchtbar erscheinen.«
Der Strafentlassene auf seinem Bett, den Kopf in den Händen, denkt an den Raum, den er heute früh verließ: die Betten nackt mit den hässlichen grauen Matratzen, keine Gardinen, keine Bilder, keine Teppiche, keine bequemen Stühle, keine Blumen … Drüben, der fünfundzwanzigjährige Jubilar, antwortet auf eine Frage: »Nein, nein, wir haben immer zu tun, dass wir die Entlassenen aus dem Heim loswerden. Sie, die Sie zu den Gönnern und Spendern des Heims gehören, wissen, wie sehr es ein Zuschussbetrieb ist. Wir müssen immer wieder an Ihre Mildtätigkeit appellieren. Und wir dürfen Ihre Gabe nicht einigen wenigen zukommen lassen. Zu viele klopfen an unsere Tür. Vier Wochen ist die höchste Zeit, die wir den Einzelnen behalten können. Dann ist er akklimatisiert, und wir lassen ihm ein Zimmer durch unsern Fürsorger, Herrn Petersen, mieten. Wir behalten ihn natürlich im Auge, er arbeitet weiter bei uns …«
»Das Heim ist voll besetzt?« fragt eine Stimme.
»Im Moment? Ich kann es nicht genau sagen. Jedenfalls nahezu. Aber wir wollen nicht noch mehr Betten aufstellen. Es soll den Charakter eines Familienheims bewahren. – Dort, durch jene Tür, kommen wir in einen zweiten Schlafraum, genau wie diesen …«
Kufalt behält den Kopf in den Händen. Er hört das Gescharre näherkommen. Er will sitzen bleiben, aber nun steht er doch auf. Fünfzehn, zwanzig Menschen drängen sich da durch die Türöffnung, alle sehen ihn an. Auch Pastor Marcetus, aber diesen Blick vermeidet er. Er macht ein ernstes, demütiges Gesicht, er kann das von den Zellenbesichtigungen her, und verbeugt sich.
Ein paar von den Herren verbeugen sich wirklich auch.
»Herr Kufalt«, sagt nach einem langen Schweigen Pastor Marcetus. Er räuspert sich, setzt von Neuem an, leichter im Ton: »Mein lieber Kufalt, Sie sind nicht von der Partie?« Und zu den Hörern gewendet: »Unsere Gäste machen, wie ich schon erzählte, zur Feier des heutigen Tages einen Ausflug elbabwärts.«
»Mir wurde schlecht«, murmelt Kufalt. »Es muss die Sonne gewesen sein.«
»Herr Petersen hat Sie zurückgeschickt?«
»Nicht eigentlich.«
»So. Ach so. Ich verste–he …« Wieder zu den Hörern: »Sie sehen, ein Schlafraum wie der eben. Hell … friedlich … also eben ein Schlafraum wie nebenan.« Wieder zu Kufalt: »Wir werden Sie leider noch drei- oder viermal stören müssen, mein lieber Herr Kufalt. Herr Seidenzopf und Herr Mergenthal haben noch zwei Führungen. Und ich weiß nicht, ob Fräulein Matzke schon durch ist. Also gute Besserung.«
Er wendet sich zum Gehen.
Die Geführten sehen noch alle auf Kufalt, vielleicht finden sie, dass der einzige Strafentlassene, der ihnen präsentiert ist, nicht ausgiebig genug behandelt wurde. Ein großer Herr, mit starker Mundpartie, mit einem glatten, fleischigen Pastorengesicht, sagt: »Sie fühlen sich wohl hier? Es gefällt Ihnen?«
Pastor Marcetus lässt gottergeben die Schultern sinken.
»Es gefällt mir jetzt sehr gut«, sagt Kufalt artig. »Es ist jetzt sehr schön hier.«
»Und die Arbeit schmeckt?«
»Auch die, jawohl«, sagt Kufalt und lächelt freundlich und demütig.
»Arbeiten müssen wir alle«, sagt der große starke Pfaff und lacht. »Wir sind alle leider keine Lilien auf dem Felde, was? Nicht wahr?« Viele lachen beifällig. »Und wie lange weilen Sie schon bei unserm Bruder Marcetus?«
»Über drei Wochen.«
»Dann werden Sie ja bald das Heim verlassen?«
»Ja, leider werde ich wohl bald gehen müssen.«
Pastor Marcetus sieht Kufalt mit Bedeutung an. »Herr Kufalt wird uns schon Anfang der kommenden Woche verlassen. Er hat den Wunsch, nun in der Stadt zu wohnen. Wir erfüllen seinen Wunsch. Aber er wird weiter hier bei uns arbeiten, bis wir eine schöne dauernde Stellung für ihn gefunden haben.«
Kufalt verbeugt sich.
»Nun, dann ist ja alles schön«, sagt der große Pfaff. »Weiter Mut, mein junger Freund. – Wissen Sie auch schon, dass heute Ihr Beschützer, hier unser lieber Amtsbruder Marcetus, für seine Verdienste um Sie alle zum Ehrendoktor ernannt ist? Doctor honoris causa!«
»Ich gratuliere Herrn Pastor Marcetus von Herzen!« sagt Kufalt und verbeugt sich wieder.
Pastor Marcetus macht drei Schritte und reicht Kufalt seine Hand. »Ich danke Ihnen, mein lieber Kufalt. Und wie schon gesagt, wir hoffen, recht bald eine schöne Stellung für Sie zu finden, die Ihren großen Fähigkeiten angemessen ist.«
Kufalt verbeugt sich, die Besucher gehen. Kufalt stellt sich ans Fenster und sieht in den verbotenen Friedensgarten.
Er pfeift leise vor sich hin, er ist wieder einmal äußerst zufrieden mit sich.
Das Vertrauen, das Pastor Marcetus in die Klugheit seines Schützlings gesetzt hatte, rechtfertigte Kufalt, kaum hatte der letzte Besucher Friedensheim verlassen, vollkommen. Mit einem nicht zu überbietenden Eifer half er Minna und der elegischen Frau Seidenzopf, Gardinen abzunehmen, Bilder in eine Truhe zu verstauen, Läufer einzurollen und auf den Boden zu bringen. Dann legte er mit Minna die weiße Bettwäsche schön sauber in die alten Plättbrüche, und als die beiden zum Schluss noch eilig über die Straße zum Gärtner gelaufen waren, um die entliehenen Topfpflanzen zurückzugeben, als auf dem neu gebohnerten Boden die Spur der vielen geistlichen und fürsorgerischen Gummiabsätze beseitigt war –: Da lagen die Räume wieder in jenem Zustand öder Schlichtheit, die dem Entlassenen den Übergang aus dem Gefängnis so unmerklich machte.
Dann, als gegen halb sieben Petersen und Beerboom angeprescht kamen, gab es natürlich eine hübsche kleine Auseinandersetzung mit dem Studenten wegen Fortlaufens. Aber Kufalt war nicht gesonnen, sich noch irgendetwas sagen zu lassen, nein. »Ich will Ihnen etwas sagen, Petersen«, äußerte er. »Was Sie da erzählen von Sorgen meinetwegen, das ist alles Kohl, an mir liegt Ihnen gar nichts.«
»O bitte!«
»Reden Sie doch nicht. Gar nichts. Sie haben bloß Angst um Ihre Stellung. Alles, was da gequatscht wird, dass Sie unser Freund sind und Berater, das ist Scheibe. Denn wenn Sie für uns sind, dann sind Sie gegen Marcetus und Seidenzopf, und dann werden Sie entlassen.«
»O bitte! So ist das aber doch nicht. Ich kann immer vermitteln.«
»Jawohl, den Pflaumenweichen markieren. Sagen Sie doch mal, wieso kriegen wir für die Adressen, wo die Schreibstube zwölf Mark einsackt, nur sechs und manchmal sogar nur viereinhalb?«
»Mit den Geldgeschichten habe ich nichts zu tun.«
»Das wäre aber das erste, worum Sie sich kümmern müssten. Jede Woche hören Sie den Krakeel bei der Abrechnung mit Seidenzopf und sehen, wie sich alle dabei aufregen, und da sagen Sie, Sie haben nichts damit zu tun. Und Sie wissen genauso gut wie ich, dass es ein Wahnsinn ist, den Beerboom neun und zehn Stunden Büro absitzen zu lassen, der wird doch immer verrückter …«
Beerboom bestätigt es klagend: »Werde ich auch!«
»… aber unser Fürsorger riskiert keinen Ton.«
»Er muss sich eben allmählich an geregelte Tätigkeit gewöhnen.«
»Und gestern komme ich in den Zigarrenladen, hier, zehn Häuser weiter, und kauf mir meine sechs Juno, und da sagt das Mädchen im Laden doch wirklich zu mir: ›Sie sind doch auch von da?‹ – ›Von wo bin ich?‹ frage ich. ›Na, Sie wissen schon‹, sagt sie. ›Ist das wahr, dass der dunkle Herr bei Ihnen Raubmörder ist? Der hat mich nämlich gefragt, ob ich nicht mal mit ihm ausgehen möchte, oder ob ich zu stolz wäre, mit einem Raubmörder auszugehen. Ich wär ja gegangen‹, sagt sie, ›aber meine Mutti hat es nicht erlaubt‹ …«
»O Gott«, jammert Beerboom, »ich hab es ihr doch nur darum gesagt …«
»Du hältst jetzt die Klappe, Beerboom! Du willst dich bloß interessant machen. – Aber warum wissen Sie das alles nicht, Petersen, Sie, unser Freund und Berater …? Sie hätten längst mit dem Marcetus sprechen müssen, von wegen weicher Birne und so. Im Prospekt steht auch, Sie schlafen mit uns, Sie haben alles wie wir. Warum haben Sie denn da ein Extrazimmer und weiße Bettwäsche, und warum bohnern Sie Ihre Bude nicht selbst, sondern wir müssen das für Sie machen …?«
»Und warum sagen Sie mir das alles?« fragt Petersen böse. »Wenn Sie das alles wissen, dann wissen Sie doch auch, dass ich hier gar nichts zu sagen habe!«
»Weil Sie sich aufspielen! Weil Sie hier große Töne quatschen von Sorgen meinetwegen! Weil Sie nichts sind wie ein Aufpasser! Weil ich Sie zum Kotzen überhabe! Weil Sie mich in Ruhe lassen sollen!«
»Herr Kufalt …«
»Ach was, lassen Sie mich zufrieden!«
»Hören Sie doch, Herr Kufalt!«
»Zufrieden sollen Sie mich lassen!«
»Sie sind ungerecht!«
»Gerecht soll ich auch noch sein! Ausgerechnet ich! Guten Abend, meine Herren!« Und er geht in den Schlafraum, wütend die Türen schmetternd.
Aber in Wirklichkeit ist er gar nicht wütend, in Wirklichkeit jubiliert und psalmodiert es in ihm: In die Freiheit! Ins Freie! Geschafft!! –
Und dann wird es wieder Morgen, ein strahlend frischer Morgen in der Junimitte. Kufalt hat es langsam dämmerig werden sehen, er hat sich noch einen Augenblick umgedreht und die Augen zugemacht, und als er wieder zum Fenster schaut, ist es schon ganz hell, und die Sonne scheint, und die Vögel lärmen.
Dann, wie am Vormittag Vater Seidenzopf bei seinem gewohnten Rundgang eilig an seinem Tisch vorüberstreicht, sagt Kufalt halblaut: »Ich möchte heute mal zwei Stunden früher Schluss machen, Herr Seidenzopf.«
»Ja, ja«, sagt Wolle-Teddy und will eilig weiter.
»Ich will mir ein Zimmer mieten.«
»Wie? Was? Zimmer mietet Herr Petersen für unsere Herren.«
»Bei mir aber nicht«, sagt Kufalt und guckt.
»Ähemm! Ähemm! – Also gehen Sie schon«, murmelt Seidenzopf und rennt weiter.
Vom Nebentisch der Maack sieht Kufalt einmal an, nickt und kliert weiter. Kufalt hämmert auf seine Maschine. Frei, denkt er. Endlich frei …
Am Nachmittag geht er dann los. Er findet sich glatt hin nach der Marienthaler Straße. Gut im Gedächtnis geblieben, ja, ja. Doch in welchem Hauseingang verschwand sie? Er hat es schon in jener Nacht nicht genau gesehen, und nun ist er ganz unsicher. Es wäre so wichtig, wenn er das richtige Haus träfe, immer hat er an das kleine zierliche Herzgesicht gedacht.
Schließlich geht er aufs Geratewohl, wenn’s stimmen soll, wird’s schon stimmen!
»Darf ich das Zimmer mal sehen?«
Die kleine rundliche Frau mit dem weißen Scheitel zeigt es ihm. (Kann das ihre Mutter sein?)
»Haben Sie sonst noch Mieter?«
»Nein, niemanden. Nur meine Tochter lebt noch bei mir, ich bin Witwe. Meine Tochter geht ins Geschäft.«
»Was soll das Zimmer denn kosten?«
»Dreißig Mark mit Morgenkaffee. Aber Schuhe putzen wir nicht.«
»Ist auch nicht nötig.« Kufalt tut einen Blick rundum. »Also gut, ich miete das Zimmer. Ich zahle gleich zehn Mark an. Und hier sind noch sechs Mark. Es ist möglich, dass meine Sachen in den nächsten Tagen mit Fracht kommen. Die bezahlen Sie dann. Ich ziehe am Ersten zu. Also gut … schön …«
Er sieht sich wieder um und sagt plötzlich, ganz unerwartet herzlich: »Also auf gute Freundschaft, Frau Wendland. Guten Abend.«
Es geht alles geradezu beängstigend glatt. Da ist die Abrechnung mit Vater Seidenzopf, schön, abends im Einschlafen hat Kufalt mit Wolle-Teddy Kämpfe bestanden. »Sie haben kein Recht, mir mein Geld länger vorzuenthalten, es ist mein Arbeitsverdienst …«
Und nun zahlt ihm Seidenzopf das Geld glatt auf den Tisch. Er knüpft nicht einmal eine Bemerkung daran, es scheint die selbstverständlichste Sache, dass Kufalt Friedensheim verlässt. Der letzte Heiminsasse, Beerboom, hilft ihm die Sachen tragen.
Sie gehen durch das abendliche Hamburg, Kufalt sagt zu Beerboom: »Nun sind Sie der nächste.«
Beerboom ist heute auch vergnügt. »Natürlich, die können mich doch nicht ewig halten.«
»Gespannt bin ich nur, ob meine Sachen schon da sind«, sagt Kufalt.
Ja, sie sind da, in dem hellen Zimmer stehen zwei Kisten und ein großer Koffer.
»Das Geld hat nicht gereicht«, klagt die alte Wendland. »Drei Mark zehn habe ich noch ausgelegt.«
»Kriegen Sie gleich wieder. – Wie ist es, haben Sie vielleicht Zange und Brecheisen, dass ich die Kisten aufmachen kann …? Nein, nicht …? Gar nichts? Aber Sie müssen doch so was im Haus haben! Wirklich nicht? Wo ist denn die nächste Eisenhandlung? Schön. Zehn Minuten vor sieben, da muss ich laufen. Sie warten hier solange, Beerboom, ich bin gleich wieder da.«
Er läuft. Seine Backen glühen. Guter Gott im Himmel, zwei Kisten, ein großer Koffer, ein Handkoffer, zwei Kartons – und vor sechs Wochen in der kahlen Zelle, mit nichts, ohne alles. Ich komme mir, jubiliert er. Was in den Kisten wohl drin sein mag? Ich bin ja sooo gespannt!
Hammer und Zange in der einen, das Brecheisen in der anderen Hand, stürmt er die Treppen wieder hinauf. Er klingelt, hinter der Tür tuschelt es, weinerlich die alte, spitz eine junge Stimme (das ist nicht die Stimme vom Herzgesicht!), er klingelt wieder, heftigeres Tuscheln, und noch einmal klingelt er, nun aber feste!!!
»Das hat ja endlos gedauert! – Wo ist denn mein Freund? Schon fortgegangen? Wieso fortgegangen? – Was haben Sie denn? Was ist denn los?«
Die Alte sagt zitternd, stammelnd: »Ach bitte, lieber Herr, tun Sie mir die Liebe, ziehen Sie gleich wieder aus. Ich gebe Ihnen auch all Ihr Geld wieder.«
Kufalt versteht gar nichts. »Ausziehen? Aber wieso denn?«
Sie stottert: »Was mein Sohn ist, mein Schwiegersohn – wir brauchen das Zimmer, er kommt gleich.«
»Sie brauchen das Zimmer? Sie haben mir das Zimmer vermietet!«
»Lieber Herr, machen Sie mich nicht unglücklich, ziehen Sie aus.«
»Ich denke ja gar nicht daran! Jetzt am späten Abend …«
Da ertönt eine spitze Mädchenstimme hinter der Tür: »Wenn der Herr nicht gleich zieht, rufen wir die Schupo. An solche braucht man nicht zu vermieten. Ihr Freund hat selbst gesagt, er ist ein Raubmörder.«
Pause, dann gesteigert, fast schreiend: »Und Sie sind auch aus dem Zuchthaus!«
Kufalt steht einen Augenblick da. Er macht einen raschen Schritt gegen die Tür. Dann merkt er, dass er neben einem Spiegel steht. Nun gut, das ist er also. Da steht er. Es ist schon Dämmerung, aber da steht er. Komisch, der Hammer tanzt ein bisschen in der Hand, hebt sich an, als wollte er schlagen. Er zittert, er ist aufgeregt, natürlich, da kann man schon aufgeregt sein – oder etwa?
Plötzlich sieht er – auch im Spiegel – die dunklen angstvollen Augen der Frau Wendland, ihr schneeweißes Gesicht.
»Erledigt«, sagt Kufalt und fasst den Hammer wieder fester. »In spätestens einer Stunde hole ich meine Sachen. Geben Sie das Mietgeld her. Los!«
*
Es ist abends neun Uhr.
Kufalt steht vor einer Kiste und überlegt, ob er sie noch aufbrechen darf. Vielleicht stört er Nachbarn, die Wirtin. Er darf nicht wieder Stunk haben, so was schwatzt sich herum. Nun gut, wenn es herauskommt, wird er wieder ausziehen müssen, wahrscheinlich wird er noch oft umziehen müssen, es wird immer irgendwie rauskommen.
Schön. Er wüsste gerne, was in dieser Kiste ist, aber er wagt es nicht. Er wagt es nicht. Er steht so da, die Fenster sind offen, es ist angenehm viel Luft im Zimmer, auch Friedensheim war stets wie Zelle.
Jetzt hat er Luft genug und ein großes offenes Fenster und ein weißes Bett. Aber er wagt es nicht.
Es ist eine große hagere Frau, bei der er gemietet hat. Eine Arbeiterfrau, auch Witwe, Frau Behn, Witwe Behn. Fünfundzwanzig Mark, und das Zimmer blitzt nur so. Eine zerarbeitete Frau, das Gesicht nicht sehr gut, etwas wüst und böse, magere gierige Hände, gebogene Finger.
Hierbleiben, denkt er. Eine Weile in Ruhe hierbleiben. Sie hat mir doch wahrhaftig in der kurzen Zeit, in der ich die Sachen holte, einen Strauß Flieder aufs Zimmer gestellt. Hoffentlich halte ich es immer aus. Es war schlecht, dass die Junge so eine spitze Stimme hatte, und ich hielt grade den Hammer in der Hand. Na ja, es ging noch mal.
Es klopft.
»Herein.«
Die Tür geht auf. Ein junges Mädchen steht in der Tür.
»Darf ich Ihnen noch eine Tasse Tee bringen?«
Sie kommt schon herein, trägt ein Tablett, der Löffel klirrt leise auf der Untertasse.
Sie ist zierlich und rasch, sie hat blondes Haar, ein Herzgesicht …
»Ich bin die Tochter von Frau Behn. Schön willkommen.« Sie gibt ihm die Hand.
»Ja, danke«, sagt er und sieht sie an.
»Nun wissen wir nicht, nehmen Sie Zitrone oder Milch zum Tee?«
»Ja, danke«, sagt er. »Sehr gut. Sehr gut.«
Sie sieht ihn an, sie wird ein bisschen rot. Ihre Unterlippe drückt sich fester gegen die Oberlippe. »Oder nehmen Sie gar nichts?« lacht sie plötzlich.
»Nein, natürlich gar nichts«, lacht auch er. Dabei sieht er sie weiter an. »Sehr schön – das Zimmer«, sagt er.
Aber vielleicht war es nun zu viel. »Sonst haben Sie alles?« fragt sie. »Mutter hat sich schon hingelegt. Gute Nacht.«
»Gu–te – Nacht!«