Hans Fallada – Gesammelte Werke

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4

Nein, Ku­falt be­kam es nicht über­mä­ßig gut. Von dem Tage an, da er aus dem Kitt­chen ge­kom­men war, war es im­mer auf­wärts­ge­gan­gen, er hat­te dies er­reicht und je­nes, er hat­te ge­lernt, die Men­schen wie­der an­zu­schau­en auf der Stra­ße, die Ar­beits­leis­tung war ge­stie­gen, lang­sam, aber ste­tig, Kitt­chen da­hin­ten mit dei­nen to­ten Zo­ten­ge­sprä­chen – vor­bei, vor­bei! Im Le­ben hat­te er sich ein­ge­rich­tet mit Zim­mer und Sa­chen und bür­ger­li­chem Aus­kom­men und nun …

Nun stand da ei­ner hin­ter sei­nem Stuhl, ein di­cker, pick­li­ger Knub­ben, stand, re­de­te, ächz­te: »O Gott, o Gott, wo­mit habe ich das ver­dient! Gleich­mä­ßig sol­len Sie an­schla­gen, Sie Mensch, Sie! Se­hen Sie denn nicht, dass das R einen Schat­ten dunk­ler ist als das E? Und so was lebt – aus­ge­rech­net in mei­ner Schreib­stu­be.«

Ku­falt sitzt da, mit ei­nem wei­ßen, ver­schlos­se­nen Ge­sicht, die Lip­pen fest auf­ein­an­der, und tippt.

Und wäh­rend er sitzt und wei­ter­tippt, denkt er vie­le Din­ge …: Zum Bei­spiel könn­te ich auf­ste­hen und weg­ge­hen für im­mer, ich brau­che die hier nicht, eine Wei­le habe ich noch zu le­ben, es gibt vie­le Wege, und Batz­ke wird sich schon fin­den las­sen. Hin­ten links in der Ecke sitzt Jäns­ch, der hat zu mir ge­sagt: Wenn er’s zu schlimm treibt, lau­ern wir ihm mal auf und ver­trim­men ihn gründ­lich. Jäns­ch hat mir auch er­zählt, dass Jauch ge­nau­so ei­ner ist wie wir, der hat auch mal ge­ses­sen, im­mer sind das die Schlimms­ten. – Ach, halt den Sab­bel, däm­li­ches Aas, sie­ben Uhr fünf­zehn bin ich zu Hau­se, und viel­leicht sehe ich die Lie­se Behn, Don­ners­tag­abend stand die Kü­chen­tür of­fen, wie sie sich wusch, der hel­le, nack­te Rücken und die wei­ßen, ra­schen Arme …

Er hört wirk­lich nichts mehr, es wird ihm jetzt im­mer schwind­lig, wenn er an eine be­stimm­te Frau denkt, das Herz geht dann ganz zö­gernd, als wol­le es nicht mehr, al­les Blut drängt zum Schoß …

Müss­te zu ei­ner Hure ge­hen, denkt er. Den Dreck mal los­wer­den, macht mich noch ver­rückt, die Lie­se krie­ge ich doch nie … Und wacht auf über dem Ge­schrei: »Ver­rückt sind Sie ge­wor­den, ich schmeiß Sie raus, ste­hen Sie auf, pa­cken Sie Ihre Sa­chen zu­sam­men! Schreibt man Dok­tor mit c …?«

Ja, rich­tig – Ku­falt starrt auf den Brief­bo­gen, säu­ber­li­che Schrei­ben ei­nes La­bo­ra­to­ri­ums an Ärz­te, eine Pa­tent­me­di­zin an­zu­prei­sen, Ku­falt hat nur Adres­se und An­re­de ein­zu­set­zen …

»Sehr ge­ehr­ter Herr Doc­tor Matt­hies!« steht da.

Sieht nicht ganz rich­tig aus. Wäh­rend er träum­te, weg war, weiter­schrieb, war das biss­chen ers­te Schul­jah­re hoch­ge­kom­men mit La­tein, do­ce­re, ja so – oder war es, weil er un­ter dem Ge­pras­sel von Nör­ge­lei­en alle Fä­hig­kei­ten ver­lor, ein zwei­ter Beer­boom, alle Fä­hig­kei­ten ver­lor, von sie­ben­hun­dert Adres­sen in die drei­hun­dert rutsch­te …?

Ku­falt steht et­was ver­lo­ren ne­ben sei­ner Schreib­ma­schi­ne, es ist ja jetzt Som­mer, neun Stun­den an der Ma­schi­ne, die Aben­de durch Stra­ßen, in de­nen er nie­mand kennt, und die Näch­te bei of­fe­nem Fens­ter, man kann nicht schla­fen, was fünf Jah­re half, hilft nun nicht mehr, er ist un­fä­hig …

Er steht da mit ei­nem ver­lo­re­nen Lä­cheln, er ist sich nur noch nicht klar, wie er den Ab­gang zu be­werk­stel­li­gen hat, er kriegt doch noch Pa­pie­re und et­was Geld, an sich gin­ge er schon …

»Steht noch da und feixt, Dok­tor mit c! In mei­nem gan­zen Le­ben habe ich das noch nicht ge­hört! Ich soll Ih­nen wohl Bei­ne ma­chen!«

In die­sem Au­gen­blick ge­schieht et­was.

In der großen Schreib­stu­be, in der an die zwan­zig Leu­te sit­zen, er­klingt aus ei­ner Ecke eine Stim­me: »Ge­mein­heit!«

Jauch fährt her­um, in ei­nem Au­gen­blick ist er graubleich, er starrt in die Ecke, er mur­melt fas­sungs­los: »Wie?! Was?!«

Als in sei­nem Rücken, kaum zwei Me­ter ab, ei­ner halb­laut sagt: »Ver­trim­men, den Schin­der!«

Jauch sieht Maack an, aber Maack ist viel zu be­schäf­tigt, einen neu­en Bo­gen in die Ma­schi­ne zu span­nen, Maack merkt über­haupt nichts.

Und ehe Herr Jauch sich noch ent­schlie­ßen kann, klingt es wie­der von ei­ner an­de­ren Sei­te, nein, von zwei, drei Stel­len: »Schnau­ze, du Aas!« – »Dich ko­chen wir ab.« – »Hast lan­ge dein ei­ge­nes Ge­schrei nicht ge­hört, was?«

Ach, es sind wohl nur vier oder fünf un­ter den zwan­zig, die so was ris­kie­ren, die sich nicht ewig schin­den las­sen, bei de­nen’s mal platzt …

Ku­falt ist wach ge­wor­den, er be­greift plötz­lich, was er eben bei­na­he kampf­los preis­ge­ge­ben hät­te, er gibt sich einen Ruck, sitzt schon wie­der an der Schreib­ma­schi­ne, schmet­tert los: »Sehr ge­ehr­ter Herr Dok­tor Matt­hies …«

Wäh­rend Jauch, jetzt dun­kel­rot, mit zit­tern­den Lip­pen, sich um­sieht. Aber die schrei­ben ja alle, kein Laut au­ßer dem Ge­trom­mel der Ma­schi­nen – und dann geht Jauch plötz­lich has­tig mit ganz klei­nen, trip­peln­den Schrit­ten in sein Zim­mer. Auf der Schwel­le aber ruft er: »Herr Pat­zig, bit­te!«

Pat­zig, ein lan­ger, schlenk­ri­ger Jüng­ling, mit ei­ner Bril­le (tod­si­cher Por­to­kas­se), steht auf, sieht sich ängst­lich um, geht zum Büro von Herrn Jauch – und Jäns­ch sagt: »Wenn du Lam­pen machst …! Jung­chen …!«

Pat­zig mur­melt et­was, ganz hilf­los, und ist weg. Wird er die Na­men der Zwi­schen­ru­fer aus­quat­schen?

Nein, er tut es nicht. Es er­folgt nichts. Die ha­ben alle Angst, Jauch ge­nau­so wie sei­ne Mus­ter­kna­ben. Wei­ter darf Ku­falt an sei­ner Ma­schi­ne sit­zen, aber – hilft das was …?

Es hilft nicht ein­mal et­was, dass Jauch nun nicht mehr schimpft und nör­gelt. Jauch kennt ja sei­ne Leu­te, mit ziem­li­cher Si­cher­heit wür­de er die Rich­ti­gen tref­fen, wenn er fünf oder sechs auf die Stra­ße setz­te, aber mit ziem­li­cher Si­cher­heit wür­de es ihn dann auch tref­fen, har­te Abrei­bung.

Jauch nimmt sich in acht. Wort­los steht er nun halb­stun­den­lang hin­ter Ku­falts Stuhl, und – alle zwei Mi­nu­ten etwa – fährt sein Zei­ge­fin­ger nach dem Ge­tipp­ten, wort­los zeigt Jauch einen Tipp­feh­ler. Und wei­ter – und wie­der der Zei­ge­fin­ger mit den häss­li­chen Reiß­nä­geln, dem di­cken, ein­ge­drück­ten Na­gel, gelb von Ni­ko­tin …

»Kannst du dich denn nicht ein biss­chen zu­sam­men­rei­ßen, Ku­falt?« fragt Maack. »Im Grun­de hat er ja recht: Du ver­tippst dich viel zu viel.«

»Es wird im­mer schlim­mer«, sagt Ku­falt. »Ich will und ich will, aber je mehr ich will, um so schlim­mer wird es. Und plötz­lich bin ich weg, al­les leer in mir, als wäre ich gar nicht mehr …«

»Rich­tig«, sagt Maack und nickt. »Al­les rich­tig. Ha­ben wir alle ge­habt, wir Langstra­fi­gen. Kitt­chen­krank­heit. Sieh, dass du schnell da­von los­kommst. Hast du noch im­mer kein Mäd­chen? Ein biss­chen hilft das doch.«

Nein, Ku­falt hat noch im­mer kei­nes, und es sieht auch nicht aus, als käme von die­ser Sei­te bald die Er­lö­sung. Am Stein­damm gab’s zwar ge­nug Mäd­chen, die bil­lig zu ha­ben ge­we­sen wä­ren. Aber war man da­für fünf Jah­re im Kitt­chen ge­we­sen, um so wie­der an­zu­fan­gen? Es ließ sich doch wirk­lich ein biss­chen an wie ein ganz neu­es Le­ben – soll­te es so an­fan­gen? Nein, nein, ganz ab­ge­se­hen von Fräu­lein Behn …

Trotz­dem Fräu­lein Behn – von je­nem Abend im Ham­mer Park an, über eine falsch ge­mie­te­te Woh­nung, die dann zur rich­ti­gen wur­de, von dem Ge­spräch mit der Mut­ter über die Toch­ter – bis hin zum Blick in die nächt­li­che Kü­che auf die, die sich wusch – eine gab es nur für ihn: Fräu­lein Behn.

Es war hoff­nungs­los, aus­sichts­los, sie hat­te an­de­re, sie war ein kal­tes Lu­der, er wag­te nicht, sie an­zu­re­den – aber lag er denn nicht nachts im Bett und be­schwor sie: »Komm! Komm! Du musst kom­men! Ich ver­re­cke nach dir! Komm doch ein ein­zi­ges Mal! O du!«

Man hät­te das al­les viel­leicht bes­ser er­tra­gen, wenn man’s für sich al­lein zu er­tra­gen ge­habt hät­te. Aber – und das war das Schlimms­te – man wuss­te ge­nau: Sie fühl­te es. Man spür­te es durch drei Wän­de, zwei Zim­mer: Sie lag da und fühl­te es. Es war in ihr, sie ge­noss es viel­leicht, das war ihr Glück, aber sie kam nie.

Das Fens­ter stand of­fen, gu­ter Som­mer­wind, lei­se schleif­ten die Gar­di­nen, die Stadt­bahn­zü­ge ka­men, klirr­ten hell un­ter dem Fens­ter und wa­ren schon fer­ner – lie­ber Ku­falt, es war eine große, grau­si­ge Sa­che, dass man so lag und war ver­rückt vor Sehn­sucht und Be­geh­ren. Fünf Jah­re hat­te man ge­le­gen, die klei­ne Zel­le mit dem schräg­ge­stell­ten Milch­glas­fens­ter –: Heraus, oh, lasst mich doch her­aus, ihr Schur­ken, nur eine Nacht, nur eine Stun­de drau­ßen sein, ich wer­de ja ver­rückt hier …!

Wer hat­te ihm, Ku­falt, ge­sagt: »Wenn man erst wie­der drau­ßen ist, wird es erst rich­tig schlimm!«?

Egal wer, es war rich­tig schlim­mer ge­wor­den.

5

Abends kam manch­mal Beer­boom zu Be­such. Beer­boom war nun doch nicht der ein­zi­ge Hei­min­sas­se in der Ap­fel­stra­ße ge­blie­ben, neue Straf­ent­las­se­ne wa­ren ge­kom­men, er hat­te Ge­sell­schaft ge­nug. Aber er kam doch im­mer wie­der zum al­ten Ku­falt, aus An­häng­lich­keit viel­leicht, in Erin­ne­rung an jene Zeit, da sie bei­de al­lein im Frie­dens­heim ge­haust hat­ten.

Beer­boom ging es auch nicht bes­ser, sah man ihn an, merk­te man, es ging ihm schlech­ter, noch viel schlech­ter. Gelb und zer­knit­tert; di­cke, graublaue, kör­ni­ge Trä­nen­sä­cke; ein hu­schen­der, fei­ger, schwar­zer Blick, der stach, sah er einen an; tö­rich­tes halt­lo­ses Ge­schwätz ohne Sinn und Ver­stand …

 

»Ach die, der Sei­den­zopf und der Mer­gen­thal und ihr schö­ner Pfaf­fe, der Mar­ce­tus, den Bu­ckel kön­nen sie mir run­ter­rut­schen, alle! Ich ma­che über­haupt nichts mehr, ges­tern hab ich vier­zig Adres­sen ge­tippt – was die ge­tobt ha­ben!«

Er grinst.

»Da wird Ihr Geld aber rasch alle wer­den«, sagt Ku­falt.

»Mein Geld? Ist schon bei­na­he alle. Ist mir ja so egal. Ich brauch bald über­haupt kein Geld mehr.«

Ku­falt be­trach­tet auf­merk­sam das grüb­le­ri­sche gel­be Ge­sicht. »Den­ken Sie bloß nicht an so was, Beer­boom. Sie ge­hen tod­si­cher gleich beim ers­ten Mal hoch.«

»Das macht nichts«, grinst Beer­boom wie­der. »Egal, wenn ich hoch­ge­he. Was ich ha­ben will, hab ich dann ge­habt.«

Ku­falt über­legt, dann fragt er wei­ter, aber in die­sem Punkt hält der schwatz­haf­te, ewig kla­gen­de Beer­boom dicht: »Sie wer­den’s ja se­hen. Und üb­ri­gens mach ich es viel­leicht über­haupt nicht.«

Ku­falt über­legt im­mer wei­ter: »Ha­ben Sie den Bert­hold mal wie­der ge­se­hen?«

Beer­boom macht eine weg­wer­fen­de Hand­be­we­gung. »Bert­hold? Ja, der wohnt jetzt in der Lan­gen Rei­he. Fei­ne Bude, scheint ihm gut zu ge­hen.«

»Las­sen Sie sich bloß nicht mit dem Bert­hold ein!« warnt Ku­falt.

»Ich mit dem? So blau! Mei­ne drei Mark woll­te ich wie­der, aber dann hat er mir noch fünf Mark ab­ge­knöpft. Er hat mir eh­ren­wört­lich ver­spro­chen, am Ers­ten kann ich mir da­für zwan­zig Mark ab­ho­len von ihm.« Und ganz im al­ten Ton­fall, ganz der alte Beer­boom: »Glau­ben Sie, dass ich sie krie­ge? Glau­ben Sie, dass er sie mir gibt? Er muss sie mir doch ge­ben, nicht wahr? Ich kann ihn doch dar­auf ver­kla­gen, was?«

»Ich den­ke, Sie brau­chen bald kein Geld mehr?« fragt Ku­falt.

»Ach was«, sagt Beer­boom plötz­lich wie­der mür­risch. »Geld braucht man im­mer. Den­ken Sie, ich schenk dem Bert­hold Geld? So doof!«

Nein, die rich­ti­ge Ge­sell­schaft ist Beer­boom nicht, aber Ku­falt fin­det ihn noch im­mer bes­ser als das War­ten al­lein, bis die Fl­ur­tür klappt, der leich­te, ra­sche Schritt über den Vor­platz geht, er die halb­lau­te Stim­me dann hört mit zwei gleich­gül­ti­gen Sät­zen zu Mut­ter Behn.

»Sei­en Sie doch einen Au­gen­blick still!« ruft Ku­falt auf­ge­regt und ver­bie­tet Beer­boom das Wort. »He­rein, bit­te!«

Ja, sie hat­te ge­klopft, aus­ge­rech­net, da Beer­boom da war, kam sie.

Sie blieb auf der Tür­schwel­le, Beer­boom stand zö­gernd auf, sah nach ihr hin.

»Darf ich Ihrem Freund und Ih­nen noch et­was Tee brin­gen?« Oh, sie war gnä­dig heu­te, ir­gend­was saß ihr im Kopf, viel­leicht war ihr et­was schief­ge­gan­gen am Tage, sie be­sann sich auf den Mie­ter ih­rer Mut­ter, sie bot ihm und sei­nem Freun­de Tee an.

Beer­boom sag­te rasch: »Für mich bit­te nicht. Ich muss gleich weg. Ich muss um zehn im Heim sein.«

Und Ku­falt wü­tend: »Beer­boom, ich habe Ih­nen doch ge­sagt, wenn Sie je wie­der …«

Lie­se Behn stand auf der Schwel­le, sie sah von ei­nem zum an­de­ren.

Beer­boom woll­te has­tig wie­der­gut­ma­chen: »Ich bin üb­ri­gens gar nicht sein Freund. Herr Ku­falt nimmt mich hier nur manch­mal so auf.« Be­teu­ernd: »Er hat gar nichts mit mir zu tun.«

Sie trug ein bläu­li­ches, sehr hel­les Kleid, ohne Är­mel, mit ei­nem klei­nen vier­e­cki­gen Aus­schnitt. Wohl we­gen der Hit­ze hing ihr Haar lose und leicht um ihr Ge­sicht, ihr Mund, halb ge­öff­net, sah kind­lich aus.

»Also ich ma­che Ih­nen dann Tee«, sag­te sie. »Das Was­ser kocht gleich.«

Aber sie ging nicht. Sie zog viel­mehr die Tür hin­ter sich zu und sag­te: »Wol­len Sie mir nicht Ihren Freund vor­stel­len?«

»Beer­boom«, sag­te Ku­falt. »Fräu­lein Behn.«

»In was für ei­nem Heim le­ben Sie denn, Herr Beer­boom?« frag­te sie.

Sie sah Ku­falt nicht an.

»Ja, wie soll ich sa­gen?« sag­te Beer­boom ver­wirrt. »Ich weiß nicht …« Und als habe er plötz­lich eine Er­leuch­tung: »’ne rich­ti­ge Klaps­müh­le ist es nicht, aber ein biss­chen me­schug­ge bin ich schon.« Er war sehr stolz auf die­sen Aus­weg, er setz­te er­klä­rend hin­zu: »Da­rum darf ich ja auch manch­mal zu Herrn Ku­falt kom­men.«

Ku­falt spür­te – vor lau­ter Verzweif­lung – einen fast un­wi­der­steh­li­chen Lach­reiz, aber Lie­se lach­te nicht. Sie hat­te sich auf den Rand ei­nes Plüsch­ses­sels ge­setzt und sah Beer­boom freund­lich an. »Wie­so sind Sie denn me­schug­ge? Ein biss­chen, mei­ne ich.«

»Ach, wis­sen Sie«, sag­te Beer­boom. »Das ist eine lan­ge Ge­schich­te, und ich muss wirk­lich gleich weg.« Er dach­te nach, er gab sich Mühe, Ku­falt nicht zu scha­den. »Wis­sen Sie, Fräu­lein, es ist was mit Frau­en. So was kann ich Ih­nen nicht er­zäh­len, nicht wahr?«

»So«, sag­te Lie­se. »Ich glau­be, ich weiß mehr da­von, als Sie den­ken.«

Nach­denk­lich be­trach­tet sie Beer­boom, dann Ku­falt. Ku­falt zit­ter­te, es war ja so leicht, al­les zu ka­pie­ren, wenn man sie bei­de so vor sich hat­te. Sie hat­te es in den Näch­ten ge­spürt, wie er sie be­gehr­te und sich ver­kroch, be­gehr­te und ver­kroch. Ge­lähm­te Män­ner, be­schä­dig­te Män­ner, Män­ner mit ei­nem Wurm im Hirn – leicht zu ka­pie­ren.

Sie sag­te plötz­lich lä­chelnd: »Also er­zäh­len Sie schon, ein ganz klein biss­chen. Ich sage be­stimmt halt, wenn es zu schlimm wird.«

Quä­le­rin, denkt Ku­falt. Und dann laut: »Üb­ri­gens kocht das Tee­was­ser si­cher längst, Fräu­lein Behn. Ich mei­ne nur … Sie woll­ten doch Tee …«

Er ver­wirrt sich un­ter ih­rem Blick, hält inne.

»Ja, was ich noch sa­gen woll­te, Herr Ku­falt«, sagt sie. »Mut­ter er­zählt, neu­lich war ei­ner da, ei­ner in Zi­vil mit der Mar­ke, ver­ste­hen Sie, und hat sich nach Ih­nen er­kun­digt. Ob Sie abends lan­ge aus­ge­hen, ob Sie viel Geld ha­ben, mit wem Sie ver­keh­ren und all so was.«

Sie macht eine Pau­se, sie sieht nicht mehr Ku­falt, sie sieht Beer­boom an.

»Ich ver­steh nicht, wie­so …« Ku­falt ist wie vor den Kopf ge­schla­gen.

»Nur, dass Sie Be­scheid wis­sen«, sagt Lie­se. »Mut­ter und mich stör­t’s nicht. – Also, was ist das mit Ih­nen, Herr Beer­boom?«

Ku­falt steht da. Er ist zer­schmet­tert und glück­lich, er darf woh­nen blei­ben und schämt sich, sie hat al­les ver­stan­den, viel­leicht lan­ge schon – und was nun?

Er sieht auf sie, aber sie ist längst nicht mehr bei ihm, sie spricht mit Beer­boom, sieh doch, ihre Wan­gen sind ganz ro­sig, ihre Au­gen glän­zen, so eif­rig ist sie. Nun steht sie auf von ih­rem Ses­sel, sie geht zu Beer­boom, sie setzt sich zu ihm auf das Sofa, die bei­den flüs­tern – wie alt ist sie? Ein­und­zwan­zig? Zwei­und­zwan­zig? Mehr si­cher nicht.

»Es ist«, sagt Beer­boom, »ich kann kei­ne ein­zi­ge Frau an­se­hen, ich muss im­mer dar­an den­ken. Ver­ste­hen Sie. Im­mer nur dar­an. Und wenn ich mit ei­ner spre­chen möch­te, mit ei­ner aus­ge­hen, muss ich im­mer an alle an­de­ren den­ken. Ich ent­schlie­ße mich nicht. Es ist so lan­ge her …«

»Wie lan­ge her?«

»Elf Jah­re. Alle elf Jah­re ist es im­mer nur das eine ge­we­sen, und nun ist es so vie­les, so vie­ler­lei, ver­ste­hen Sie …«

Er be­trach­tet sie hilf­los.

»Und nun ist es im­mer noch so wie … wie im Ge­fäng­nis?«

Sie hat die Un­ter­lip­pe vor­ge­scho­ben, sie sieht ihn un­ver­wandt an. Wie der sach­te Flü­gel ei­nes Vo­gels steht wei­ches lo­ses Haar über ih­rer Stirn.

»Ge­fäng­nis, nein«, ver­bes­sert Beer­boom eif­rig. »Ich bin Zet, Zucht­haus, Ku­falt ist Kitt­chen …« Er sieht schuld­be­wusst auf. »Es macht Ih­nen doch nichts, Ku­falt? Fräu­lein weiß doch al­les.«

Ku­falt sieht zu, ant­wor­tet nicht.

»Nein«, sagt Beer­boom. »Oder doch. Bis ganz vor kur­z­em. Aber jetzt ist al­les an­ders ge­wor­den …«

Er hält inne. Sie sit­zen, war­ten laut­los, alle zwei, ob er es sa­gen wird. Es ist wie ein schwü­ler Dunst im Zim­mer, eine hei­ße, tro­ckene Luft … Sie se­hen vor sich hin, kei­nes sieht das an­de­re an.

»Wis­sen Sie …«, fängt Beer­boom wie­der an und stockt von Neu­em.

Ku­falt wagt einen Blick. Das ver­knif­fe­ne gel­be Ge­sicht ist hell ge­wor­den, sieht glatt aus, es glänzt, strahlt. Wie eine Land­schaft ist es, Ber­ge und Tä­ler und wei­te Flä­chen … Ist es Glück, kann so et­was das Glück sein?

»Ich hab ’ne Schwes­ter«, sagt Beer­boom lang­sam. »Wie ich weg kam von Haus – da­hin, war sie noch ganz klein, zehn Jah­re, zwölf Jah­re?«

Er schweigt, fängt neu an: »Ich weiß al­les von den Kin­dern, wis­sen Sie, von den klei­nen Mäd­chen, ich hab doch die Schwes­ter. Ich hab im Zet schon da­mit an­ge­fan­gen, dass ich im­mer an die den­ke. – Und nun …«

Wie­der Pau­se, Schwei­gen.

Der Beer­boom steht auf, geht hin und her, schnell, setzt sich wie­der, sagt: »Die Kin­der, die klei­nen Mäd­chen, in den An­la­gen, ver­ste­hen Sie …«

Pau­se, Vor-sich-hin-Se­hen.

Wenn man sich rüh­ren könn­te, das Fens­ter wei­ter auf­sto­ßen, Luft, Nacht­wind, dass der Spuk ver­bla­sen wird. Es ist Spuk, Hexe­rei, aber sie, sie sitzt da, sie ist eine Hexe, Quä­le­rin …

»Ich steh da so und sehe zu, im­mer, wenn ich fort­kom­men kann aus dem Heim, sehe ich zu. Es ist schreck­lich, was man da den­ken kann. Im Zet war es nicht so schreck­lich, man dach­te, das ist nur hier hin­ter den Git­tern so, nach­her wird al­les an­ders.«

Wie­der lan­ge Stil­le. Ku­falt regt sich, zwingt sich dazu, setzt an, räus­pert sich: »Also …«

»Mit den Frau­en und Mäd­chen«, sagt Beer­boom. »Die wis­sen doch al­les. Oder ich weiß al­les, wie es mit de­nen ist. Mit die­sen … Sie ver­ste­hen, jede kann mei­ne Schwes­ter sein, es ist so neu …«

Er grü­belt. Sei­ne lan­ge gel­be Hand, schwarz be­haart, mit den bläu­li­chen di­cken Adern, kommt auf den Tisch ge­kro­chen, streckt sich, und plötz­lich schließt sie sich mit ei­nem Ruck, als zer­drücke sie et­was, zer­stö­re sie et­was …

»Ich hab ge­dacht«, flüs­tert er, »sie ha­ben mich fer­tig­ge­macht drin, für das gan­ze Le­ben, und nun fängt doch al­les von Neu­em an … «

Er schluchzt bei­na­he vor Glück. »Die Kin­der«, flüs­tert er. »Die klei­nen Mä­dels mit den nack­ten Bei­nen … Es ist schlimm für mich, man sieht so we­nig, aber viel­leicht, viel­leicht …«

Er hält inne, sieht die bei­den an. Sein Mund zit­tert.

»Ge­hen Sie!« schreit Fräu­lein Behn. »Ge­hen Sie so­fort!«

Sie steht da, sie zit­tert am gan­zen Leib. Sie hält sich am Stuhl fest, sie mur­melt: »Sie Mör­der, Sie, ge­hen Sie …«

Weg al­les bei Beer­boom, weg al­ler Glanz, al­les Glück, al­les Re­den­kön­nen. »Ich«, stam­melt er. »Sie hat­ten doch selbst …«

»Geh los, Mensch!« schreit Ku­falt und schiebt ihn ge­gen die Tür. »Ver­fluch­te Quat­sche­rei, per­ver­se! Hier hast du mei­nen Haus­schlüs­sel, mach, dass du weg­kommst. Ich hol ihn mir mor­gen wie­der.«

»Aber ich … Fräu­lein, Sie ha­ben doch selbst ge­wollt …«

»Ge­hen sollst du!« Ku­falt schiebt ihn hin­aus.

Die En­tree­tür fällt hin­ter ihm zu, Ku­falt geht zu­rück in sein Zim­mer, zö­gert an der Schwel­le …

Ach, sie ist viel­leicht doch nur eine Hure, kalt, et­was Un­na­tür­li­ches, ver­pfuscht von der Na­tur, viel­leicht braucht sie Kit­zel und Dunst und Blut­ge­ruch …

Sie hat sich über sein Bett ge­wor­fen, sie weint – und da er ein­tritt, hebt sie, mit ver­wein­tem Ge­sicht, die nack­ten Arme ihm ent­ge­gen. »Ach, komm doch, komm doch nur schnell! Er ist schreck­lich, dein Freund. Komm nur schnell zu mir, du!«